Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen! - Dora Heldt - E-Book

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen! E-Book

Dora Heldt

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Beschreibung

Dora Heldt at her best! »Ich bin genauso gut situiert wie du!« Dass ausgerechnet Walter (69) zu dem kleinen Kreis wohlhabender Senioren gehören soll, die eine exklusive Reise an die Schlei gewinnen können, wurmt Papa Heinz (75) gewaltig. Als sein Schwager mit einer kleinen Trickserei auch Heinz die Mitfahrt ermöglicht, ist der wieder versöhnt. Mit schickem Anzug und großen Erwartungen machen sich die beiden auf den Weg.  Zu ihrer Enttäuschung wirken die meisten Mitreisenden längst nicht so vermögend, wirklich elegant ist eigentlich nur Finchen (75), die von ihrer Großnichte, der Radiojournalistin Johanna (40) begleitet wird. Als sie statt einem Drei-Gänge-Menü nur Würstchen auf Pappteller erhalten und Walter sein Bier auch noch selbst bezahlen muss, geht ihnen auf, dass sie »exklusiv« mit »all inclusive« verwechselt haben ... 

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Dora Heldt

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

 

Für meine Eltern

 

 

 

Lottes Cremeschnittchenfabrik, einen schönen guten Tag.«

Der Anrufer schnappte kurz nach Luft, dann sagte er: »Heinz? Was soll der Blödsinn? Hier ist Walter.«

»Ich weiß.« Heinz nickte, obwohl sein Schwager es am anderen Ende nicht sehen konnte. »Dein Name steht ja im Display.«

»Ja, dann melde dich doch vernünftig und lass diesen pubertären Quatsch.«

»Ich brauche mich eigentlich gar nicht zu melden. Ich sehe, wer anruft, und du weißt, welche Nummer du gewählt hast. Also.« Heinz kratzte sich am Rücken. »Oder hast du schon vergessen, mit wem du sprechen wolltest?«

»Natürlich nicht.« Walter machte eine kurze Pause. »Wie um alles in der Welt kommst du auf Cremeschnittchenfabrik?«

»Die gibt es heute zum Kaffee. So kleine Dinger mit Creme in der Mitte. Hat Charlotte gebacken. Es gibt genug, ihr könnt auch kommen.«

»Inge ist in der Sauna. Und ich …«

Während Walter noch überlegte, ging Heinz mit dem Telefon am Ohr langsam in Richtung Küche. Da standen die beiden Platten mit den Cremeschnittchen. Sahen hervorragend aus. Walter würde es sich kaum entgehen lassen.

»… ich könnte mich eigentlich aufs Rad setzen und vorbeikommen.«

Heinz nickte. Walter kam immer, wenn es Kuchen gab. Dabei war sein Cholesterinspiegel viel zu hoch, das schob Walter aber auf die Gene.

Heinz war cholesterinmäßig topfit, er hatte sogar hervorragende Werte für sein Alter. Er war sich sicher, dass Walter das fuchste. Sechs Jahre jünger, aber schlechtere Werte. Nur vom undisziplinierten Essen. Und dabei wurde Walter erst in einem Jahr siebzig. Heinz hatte inzwischen durch das Küchenfenster den Nachbarn beobachtet, der sich mühte, den Rasenmäher auf den Friesenwall zu bugsieren, deshalb bekam er den Anfang von Walters Satz nicht mit. Nur das Ende: »… auch bekommen?«

»Was bekommen? Thomsen hat übrigens einen neuen Rasenmäher. Viel zu groß. Typisch für diesen Angeber. Und jetzt bekommt er ihn nicht den Wall hoch.«

»Diese Fahrt an die Schlei. Bist du da auch ausgewählt?«

»Wie? Schlei? Was für eine Fahrt?«

»Du hast mir nicht zugehört.« Walters Stimme klang unwirsch. »Ich erzähle dir etwas Bahnbrechendes und du interessierst dich nur für Thomsens Rasenmäher.«

Heinz seufzte. Wenn Walter sich nicht ernst genommen fühlte, war er sofort beleidigt. Das war eben seine Finanzbeamtenmentalität, sagte zumindest Charlotte.

Seit Walter mit Inge vor drei Jahren wieder nach Sylt gezogen war, sahen sie sich alle natürlich öfter als früher, deshalb fielen ihnen ihre jeweiligen Macken leider auch so auf. Wobei es nicht sehr viele waren, Heinz fand sich und Walter durchaus umgänglich. Nur manchmal war Walter anstrengend. Da hatte Charlotte ganz recht. Er müsste ihr noch schnell sagen, dass Walter gleich zum Kaffee kommen würde. In versöhnlichem Ton fuhr er fort: »Nun sei nicht so, Walter. Erzähl, was ist mit der Schlei?«

»Ich war da mal als Kind. Kurz nach dem Krieg. Dahin wurden blasse, dünne Stadtkinder geschickt, um aufgepäppelt zu werden. Es war sehr schön da. Ich habe zufällig in der letzten Zeit öfter daran gedacht.«

»Willst du wieder aufgepäppelt werden?« Heinz wusste nicht, worüber Walter redete. »Dann komm doch her. Cremeschnittchen päppeln.«

Walter blieb ernst. »Du verstehst mich nicht. Du bist so unkonzentriert am Telefon, man kann mit dir nicht über wichtige Dinge sprechen. Ich komme jetzt zu euch und zeig dir was. Du wirst dich wundern. Bis gleich.«

 

Umständlich schloss Walter sein Fahrrad an die Gartenlaterne. Heinz sah ihm kopfschüttelnd dabei zu. »Als ob das Rad aus dem Garten geklaut würde. Stell es doch einfach an die Hauswand.«

»Und dann ist es weg.« Mit zusammengekniffenen Augen gab Walter die Zahlen im Schloss ein. »Die Versicherung zahlt nicht und ich habe dann den Salat. Nein, nein.« Ächzend kam er aus seiner gebückten Stellung wieder hoch. »Das ist ein teures Rad gewesen. Und man weiß doch nicht, wer bei euch so durch den Garten marschiert.«

»Ausschließlich Schlepperbanden.« Heinz sah zu, wie sein Schwager die Fahrradtasche abschnallte und sie sich unter den Arm klemmte. »Spezialisiert auf Fahrräder und Zigaretten. Aber geraucht wird ja hier nicht. Was hast du denn da alles mit?«

»Unterlagen. Ist Charlotte nicht da?«

»Äh, nein, leider.« Heinz zupfte einen unsichtbaren Fussel von seinem Ärmel. »Die Cremeschnittchen waren für den Basar vom Roten Kreuz. Charlotte bringt sie gerade hin. Wir haben aber noch eine Packung Kekse.«

»Ach so.« Ein Anflug von Enttäuschung huschte über Walters Gesicht. »Ist aber egal. Ich wäre sowieso vorbeigekommen. Hast du deine Lesebrille parat?«

 

Am Tisch auf der Terrasse glättete Walter einen Briefbogen und schob ihn seinem Schwager zu. »Guck dir das mal an.«

Heinz putzte mit langsamen Bewegungen seine Brille, setzte sie auf und betrachtete das Blatt. Er wendete es, legte es wieder auf den Tisch und begann, halblaut vorzulesen.

 

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!

 

Sehr geehrter Herr Walter Müller,

 

Sie haben allen Grund, sich zu freuen, denn Sie gehören zu einem kleinen auserwählten Kreis, dem wir, die Firma »Ostseeglück«, ein Angebot machen, das Sie kaum ausschlagen können. In Zeiten der Unsicherheiten auf den Finanzmärkten, der unkalkulierbaren Risiken der Aktienmärkte und der nicht abreißenden Katastrophenmeldungen aus aller Welt fragen sich gerade die wohlsituierten Senioren: »Was passiert mit meinem Geld?«

Jahrzehntelang schaffen wir Rücklagen, die uns einen sorgenfreien Lebensabend ermöglichen sollen. Doch hat man wirklich alles richtig gemacht? Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Fragen für Sie zu beantworten. Unsere Klientel besteht ausschließlich aus gutsituierten Senioren, die auch gern unter sich bleiben wollen.

In einer der malerischsten Gegenden Norddeutschlands zeigen wir Ihnen Kapitalanlagen mit hoher Renditemöglichkeit, die Sie begeistern werden. Zusammen mit Gleichgesinnten verbringen Sie ein zauberhaftes Wochenende am Ostseefjord, wo unsere Reiseleitung kaum einen Ihrer Wünsche unerfüllt lässt. Da dieses exklusive Angebot natürlich nur einem kleinen, ausgesuchten Kreis offeriert werden kann, füllen Sie doch bitte sofort das beiliegende Formular aus. Sie können eine Begleitperson Ihrer Wahl mitnehmen, geben Sie auch deren Daten an. Aus den eingehenden Zuschriften wählen wir dann die Personen aus, die an diesem exklusiven Wochenende teilnehmen werden.

 

Die Firma »Ostseeglück« wünscht Ihnen viel Erfolg!

Es verbleibt mit herzlichen Grüßen aus dem herrlichen Feriengebiet der Schlei

Ihr Dr. Theo von Alsterstätten

Geschäftsführer

 

Langsam nahm Heinz seine Brille ab und schob den Brief zurück zu Walter. »Wie sind die denn auf dich gekommen?«

»Ich passe doch genau in ihr Profil.« Walter beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf den Brief. »Gutsituierte Senioren, die unter sich bleiben wollen. Hier steht es doch.«

»Ich bin genauso wohlsituiert.« Mit beleidigtem Gesicht riss Heinz die Kekspackung auf und fummelte ein Waffelröllchen aus dem Zellophan. »Als ob du mehr Pension kriegen würdest. Woher haben die denn deine Adresse?«

»Vermutlich von der Sparkasse.« Walter hielt die Hand auf, in die Heinz den Keks legte. »Da war doch vor ein paar Wochen eine Veranstaltung über Renten und Altersvorsorge. Es gab auch belegte Brötchen und Kaffee und Tee und Saft. Ich habe da kurz vorbeigeschaut.«

Sein Schwager war verwundert. »Das war doch nicht für Rentner. Wir haben doch schon alles.«

»Ich weiß.« Walter wischte sich die Schokoladenflecken mit einem Stofftaschentuch von der Hand. »Ich wollte Kontoauszüge holen und dabei sah ich die Brötchen im Nebenraum. Ich hatte so einen Hunger. Und außerdem bin ich Kunde. Aber damit keiner was sagt, habe ich dann eine Broschüre mitgenommen und einen Fragebogen ausgefüllt. Informationen über Renditen haben mich immer interessiert. Obwohl man einem ehemaligen Finanzbeamten natürlich nichts Neues erzählen kann. Ich kenne mich ja aus.«

»Ich bin auch Sparkassenkunde.« Heinz war immer noch beleidigt. »Ich finde es unmöglich, dass du eine Einladung bekommst und ich nicht. Was war das denn für ein Fragebogen, den du da ausgefüllt hast?«

»Das ist doch egal«, winkte Walter ab. »Irgendeine Werbung. Aber darum geht es jetzt nicht. Eine Einladung reicht nämlich. Pass auf: Ich trage dich hier unten als meine Begleitperson ein, siehst du? Hier unten: Heinz Schmidt. So. Und dann habe ich gesehen, dass die Anrede eine andere Schrift hat als der übrige Brief. Das haben die einfach hineinkopiert. Das geht mit Tipp-Ex weg, habe ich schon an einer Stelle probiert. Wir radieren Walter Müller weg, machen eine Kopie, schreiben einfach deinen Namen hin, du trägst mich als Begleitperson ein und schon haben wir eine höhere Gewinnchance. Wie findest du das?«

»Ich weiß nicht.« Walters Begeisterung prallte an Heinz ab. »Ist das nicht Urkundenfälschung?«

»Urkundenfälschung«, schnaubte Walter. »Das ist doch keine Urkunde, das ist eine Einladung. Und du hast doch selbst gesagt, dass du nicht verstehst, warum du nicht eingeladen bist. Wir machen da nur eine kleine Korrektur. Und dann fahren wir umsonst an die Schlei. Ich wollte da immer schon mal wieder hin. Das waren damals meine schönsten Ferien. Ich war jeden Tag schwimmen. Und es gab Streuselkuchen. Und schönes Wetter. Das wird ein Superwochenende.«

»Ich weiß nicht.«

»Heinz.« Walter war aufgestanden und starrte seinen Schwager wütend an. »Ich gebe mir hier alle Mühe, uns ein exklusives Wochenende zu verschaffen, für das wir keinen Cent bezahlen müssen, und du maulst rum. Wenn du so weitermachst, dann trage ich gleich Inge ein und ihr kommt nicht mit. Aber dann beschwer dich nicht.«

»Ach, du willst, dass wir alle zusammen fahren?« Heinz nahm den Tipp-Ex-Stift und radierte damit vorsichtig auf dem Briefbogen herum.

»Ja, natürlich«, antwortete Walter. »Aber überleg mal, was das kostet. Und so ist alles umsonst. Wir investieren nur eine Fotokopie.«

 

 

 

Heinz? Hier ist Post für dich. Von einem Reiseveranstalter.«

Mit fragendem Blick reichte Charlotte drei Tage später Heinz einen Umschlag. »Hast du was gebucht?«

»Gebucht?« Heinz hob nur kurz seine Augen von der Zeitung. »Nein. Was soll ich denn buchen? Der HSV hat schon wieder verloren.« Er las weiter, bis er plötzlich hochfuhr. »Ach, das. Das war ein Preisausschreiben. Da haben wir mitgemacht, also Walter und ich. Das ging ja schnell mit der Antwort.«

Er riss den Umschlag auf und überflog das Schreiben.

»Charlotte, ich habe gewonnen. Das gibt’s ja nicht.« Er blickte seine Frau strahlend an. »Wir fahren an die Schlei. Drei Nächte im Hotel, Anreise mit dem Bus, exklusiver Rahmen und ohne einen Cent Zuzahlung. Das ist ja toll. Wie findest du das?«

»Lass mal sehen.« Sie nahm ihm das Schreiben aus der Hand. Ihre Lippen bewegten sich beim Lesen, dann schüttelte sie den Kopf und sah ihren Mann zweifelnd an. »Mit dem Bus ab Bremen? Und Walter begleitet dich? Worauf habt ihr euch denn da eingelassen? Was heißt denn ›Kapitalanlagen‹? Das klingt aber nicht seriös.«

»Das ist eine Art Informationsreise.« Heinz stand schon und ging zum Telefon. »Ich muss Walter anrufen. Vielleicht hat er auch schon was gehört. Wir erklären euch alles in Ruhe. Ich habe gewonnen, das ist toll.«

Bevor er das Telefon erreicht hatte, klingelte es schon. Als er abhob, hörte er Walters Stimme. »Heinz, rate mal, was ich heute in der Post hatte …«

 

»Das ist doch wirklich eine Schnapsidee.« Inge schob den Brief in den Umschlag zurück und sah Charlotte hilfesuchend an. »Wie findest du das denn?«

Sie saßen zu viert in der »Strandhalle«, Inges Lieblingsrestaurant, in das Walter eingeladen hatte. Morgens hatte er noch gedacht, dass sie hier die gewonnene Reise feiern würden, jetzt sah das Ganze etwas anders aus.

Walter hatte es kaum fassen können, dass sie beide gewonnen hatten, und sofort bei der Firma »Ostseeglück« angerufen und den Geschäftsführer verlangt. Dr. Theo von Alsterstätten hatte schließlich den Brief unterschrieben. Lang und breit hatte Walter ihm am Telefon erklärt, dass es natürlich scherzhaft gemeint war, als er seinen Schwager und sein Schwager ihn als Begleitperson eingesetzt hätte. Selbstverständlich sollten die Ehefrauen mitfahren, das ließe sich doch bestimmt noch ändern.

»Nein«, hatte Dr. von Alsterstätten geantwortet. Das gehe natürlich nicht, da die Gewinner unter notarieller Aufsicht gezogen worden seien und es deshalb keine Änderungen mehr geben könne. »Wissen Sie, Herr Müller, dieser Kreis ist so exklusiv, dass wir da überhaupt keinen Spielraum haben. Und da Ihre Einladung auch für Ihren Schwager gilt, kann nur einer von Ihnen gewinnen. Dafür ist dann ein anderer Herr nachgerückt. Unsere Veranstaltungen sind sehr begehrt, das können Sie sich ja denken. Exklusivität ist das Stichwort.«

Walter hatte sich Dr. Theo von Alsterstätten wesentlich gesetzter vorgestellt, aber vielleicht hatte er auch einfach nur eine jugendliche Stimme. Und nachdem er ihm auch noch versichert hatte, dass er, Walter, als Gewinner und Heinz als Begleitperson eingetragen war, gab er sich zufrieden.

 

Walter und Heinz hatten sich kurz beraten und dann einhellig beschlossen, dass man diesen Gewinn nicht verfallen lassen dürfe. Ausgewählt war ausgewählt, und wenn man schon zu einem exklusiven Kreis gehörte, dann sollte man das annehmen. Allerdings hätten sie sich gewünscht, dass ihre Angetrauten etwas begeisterter reagiert hätten. Das war trotz des guten Essens leider nicht der Fall.

Stattdessen stimmte Charlotte ihrer Schwägerin zu. »Ostseefjord. Was wollt ihr da? Heinz, du machst doch immer einen mittleren Aufstand, wenn du Sylt mal verlassen sollst, und jetzt willst du mit Walter im Bus an die Schlei? Ihr beide zusammen?«

»Warum nicht?« Heinz bemühte sich um ein freundliches Gesicht. »Es ist ein Herzenswunsch von Walter. Noch einmal die Schlei sehen.«

»Heinz.« Seine Schwester Inge hob die Augenbrauen. »Du tust so, als hätte Walter nur noch zwei Wochen zu leben. Und von wegen Herzenswunsch. Ich habe in den letzten vierzig Jahren noch nie gehört, dass er mal von der Schlei geredet hat. Walter, sag was.«

Walter verschränkte seine Finger auf dem Tisch. Verträumt sah er in die Runde. »Es waren meine schönsten Ferien. Ich sehe die Landschaft noch vor mir, pure Idylle, viel Wasser, viel Raps und ich als achtjähriger Steppke mittendrin. Ein Traum.«

»Es ist sechzig Jahre her«, warf Charlotte ein. »Da bin ich ja gespannt, was du alles wiedererkennst. Wie auch immer, habt ihr euch denn mal erkundigt, was das für ein Veranstalter ist? Ich finde ja, dass diese ganze Sache ein bisschen komisch klingt. Exklusiv. Das kann doch alles heißen. Und dann gewinnt ihr auch noch beide. Findet ihr das nicht seltsam?«

»Ich weiß wirklich nicht, warum ihr so negativ seid.« Walter stieß Heinz unter dem Tisch an. »Diese Firma ist wirklich in Ordnung, das habe ich natürlich recherchiert. Die Klientel besteht aus gutsituierten Senioren, die an Wirtschaftsfragen interessiert sind. In diese Gruppe fallen Heinz und ich eben genau rein. Und deshalb haben die uns beide ausgesucht. Wahrscheinlich gibt es den einen oder anderen Vortrag über Finanzen und Politik. Das ist ja auch nicht so spannend für euch. Ich finde das alles interessant und wir bezahlen nichts dafür. Ihr könntet euch auch einfach mitfreuen.«

»Genau.« Heinz hatte den Tritt richtig verstanden. »Immerhin sind wir ausgewählt. Da kommt nicht jeder Hinz und Kunz mit, da muss man schon besondere Fähigkeiten und Voraussetzungen haben. Und außerdem muss man auch ab und zu mal über den Tellerrand gucken. Sonst rostet man ein.«

»Ach ja?« Zum Glück kam in diesem Moment die Bedienung mit dem gebratenen Dorsch, so dass Charlottes Kommentar unterbrochen wurde. Heinz und Walter wollten ihn eigentlich auch gar nicht hören.

 

»Ich sage es dir, Charlotte«, Inge setzte den Blinker und fuhr zügig vom Parkplatz, »ich fahre nicht Hals über Kopf an die Schlei, um den beiden aus irgendwelchen Schwierigkeiten zu helfen.«

Walter und Heinz hatten sich entschlossen, den Heimweg zu Fuß anzutreten, sie hätten viel zu viel gegessen und könnten in diesem pappsatten Zustand sowieso nicht ins Bett gehen. »Fahrt ihr mal mit dem Wagen, wir laufen zurück. Wir müssen auch noch ein paar Reisedetails besprechen. Bis später.«

Als Inge sie überholte, winkten beide ihnen synchron nach.

»Ausgewählt.« Charlotte schnalzte mit der Zunge. »Exklusiver Kreis. Das wird ja was sein. Inge, ich sage dir, die kommen mit Schnellkochtöpfen und Salatschleudern zurück. Das rieche ich doch.«

»Ein bisschen seltsam finde ich das auch alles.« Mit einer schnellen Bewegung stellte Inge den Rückspiegel ein. »Was soll das denn mit den Renditen? Und der Finanzkrise? Na ja, aber da werden sie sich an Walter die Zähne ausbeißen. Ich befürchte nur, dass sie die beiden auf halber Strecke an die Luft setzen, weil Walter sich bei den Vorträgen einmischt und immer alles besser weiß. Ich sehe uns schon mit dem ersten Autozug aufs Festland fahren, weil wir unsere Männer aus irgendeinem abgelegenen Waldstück bei Schleswig abholen müssen. Die sollen sich bloß warme Jacken einpacken, wer weiß, wie lange sie da stehen werden.«

Charlotte seufzte und sah ihre Schwägerin an. »Ich dachte, die beiden sind langsam zu alt für solche Unternehmungen. Aber das war ja wohl ein Irrtum. Ich hoffe nur, dass es keine zu große Katastrophe gibt.«

 

 

 

Johanna sah ihre Tante sofort, als sie das Restaurant betrat. Sie saß an einem Tisch am Fenster, ein Glas Sekt vor sich, und war in die Speisekarte vertieft.

»Hallo, Tante Finchen.«

Mit strahlendem Lächeln hob die den Kopf. »Johanna, wie schön, dass es geklappt hat. Setz dich, Kind, du siehst abgespannt aus. Und dünn bist du geworden. Isst du nichts mehr?«

Johanna küsste sie auf die Wange und ließ sich langsam auf den Stuhl sinken. Finchen trug eine knallbunte Tunika über einer weißen Hose, ihre roten Haare standen in alle Richtungen ab. Bei jeder Bewegung klimperten mindestens zehn Armreifen. Auffällig wäre noch geschmeichelt. Keinesfalls wirkte sie so, wie man sich eine alleinstehende 75-Jährige vorstellt.

Jetzt beugte sie sich weit über den Tisch und drückte Johannas Hand.

»Das kriegen wir schon hin. Möchtest du vor dem Essen auch ein Glas Sekt?«

Abwehrend hob Johanna die Hände. »Um Himmels willen, es ist noch nicht mal ein Uhr. Und ich habe noch Sendung. Daniel ist im Urlaub, und ich muss heute auch moderieren.«

»Ach komm. Nach einem Glas lallst du noch nicht. Das kriegen die Hörer gar nicht mit. Und außerdem haben wir etwas zu feiern.«

Sie drehte sich nach dem Kellner um und gestikulierte wild mit den Händen, während Johanna sie beobachtete.

 

Finchen hieß eigentlich Josefine Jäger und war die ältere Schwester von Johannas Vater. Der große Name Josefine passte nicht so recht zu der kleinen, zierlichen Person, die Johanna gerade mal bis zum Kinn ging, deshalb hatte sich die kurze Version durchgesetzt. Allerdings nur in der Familie, ansonsten bestand Finchen auf der Langform.

Sie hatte in den sechziger Jahren geerbt, genau wie Johannas Vater. Ihren Eltern hatten eine Druckerei in Hamburg und zwei Mehrfamilienhäuser gehört. Beide waren früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Johannas Vater übernahm später die Druckerei, Finchen bekam die Häuser und absolvierte eine Ausbildung zur Schauspielerin. Geld verdienen musste sie nicht, sie hatte eins der Häuser verkauft und mit dem Erlös das andere ausgebaut und erfolgreich vermietet. Schauspielerin aber war sie mit ganzer Leidenschaft gewesen. Auch wenn die großen Rollen ausblieben, wurde sie immer wieder für Nebenrollen in Fernsehserien gebucht. In den letzten Jahren war es ruhiger geworden, was Finchen nicht schlecht fand. Sie hatte genug zu tun, ging ins Kino und ins Theater, besuchte ihre verstreut lebenden Freundinnen und Familienmitglieder und war ständig auf der Suche nach Abwechslung.

 

»Hallo, junger Mann, bringen Sie meiner Nichte bitte mal eine Speisekarte und ein Glas Sekt?« Johanna war immer wieder überrascht, wie weit die Stimme einer so kleinen Person tragen konnte. Der Kellner war zusammengezuckt, die anderen Gäste sahen zu ihnen herüber.

Finchen nickte ihnen freundlich zu und sagte leiser: »Da kann man sich ja bewusstlos winken, bis der einen mal anguckt. So. Jetzt erzähl mal, was ist mit Max?«

Mit leisem Stöhnen schlug Johanna ihre langen Beine übereinander. »Tante Finchen, bist du extra aus Bremen nach Hamburg gekommen, um mit mir über Max zu reden?«

»Nein, nein.« Finchen lächelte sie an. »Ich gehe heute Abend mit Selma in die Oper und übernachte auch bei ihr. Und vorher will ich noch in dieses schöne Hutgeschäft. Ist Max denn ausgezogen? Und wenn ja, wo wohnt er jetzt bloß?«

Mit einem Ruck setzte sich Johanna gerade hin und verschränkte ihre Hände auf dem Tisch. »Max wohnt im Moment bei einem Kollegen. Sagt er zumindest. Vielleicht ist er auch bei dieser blassen Ziege eingezogen. Das interessiert mich aber nicht.«

»Johanna, du kannst doch nicht zehn Jahre Ehe einfach wegschmeißen. Er ist doch so …«

»Er hat sie weggeschmissen. Und zwar genau in dem Moment, als er mit Mareike Wolf in die Kiste gestiegen ist.«

Finchen zuckte zusammen und legte ihre Hand auf Johannas. »Du bist brutal. Max sagt, es ist alles ganz anders gewesen. Ich habe ihn letzte Woche angerufen.«

Bevor Johanna ihre spontane Antwort loswerden konnte, kam der Kellner mit dem Sekt. Sie atmete tief durch und wartete, bis er weg war, bevor sie sagte: »Danke, Tante Josefine, für deine uneingeschränkte Loyalität. Da fühle ich mich doch gleich besser.«

Finchen schüttelte nur nachsichtig den Kopf. »Johanna, du bist vierzig und keine vierzehn. Du solltest nicht irgendwelchen Gerüchten und Verdächtigungen glauben, sondern mal mit Max …«

»Hör zu.« Johanna beugte sich vor. »Max Schulze ist nach einer Buchpräsentation der grauenhaften Jungautorin Mareike Wolf erst morgens um acht sehr derangiert nach Hause gekommen. Er hat bei ihr übernachtet, das haben mir drei Kollegen im Sender erzählt, sie schreibt ihm ununterbrochen Mails und ruft bei uns an. Er kann sich angeblich an nichts erinnern, für wie blöd hält er mich eigentlich? Und jetzt wechsle bitte das Thema, sonst steh ich auf und lass dich mit beiden Sektgläsern hier sitzen.«

»Okay, okay«, wehrte Finchen ab. »Ich höre auf. Tut mir leid. Prost, Kind, auf bessere Zeiten. Wann hast du Sendung?«

»Um drei.« Johanna nahm das Friedensangebot an. »›Radio Nord – das Nachmittagsmagazin‹. Und ich muss noch meine Moderation schreiben, also lass uns mal bestellen. Sonst lalle ich nachher doch. Ach so, du hast gesagt, es gibt einen Grund zum Feiern. Was denn für einen?«

Mit einem strahlenden Lächeln hob Finchen ihr Glas. »Ich dachte schon, du fragst gar nicht mehr. Ich habe eine Überraschung für dich. Wir beide fahren für ein Wochenende zusammen weg. Du kommst auf andere Gedanken, wir haben mal wieder ein bisschen Zeit für uns, und das in einer zauberhaften Gegend in einem schönen Hotel mit exklusivem Essen, was sagst du?«

»Wann denn? Und wohin?«

Mit großer Geste zog Finchen einen Brief aus ihrer Handtasche und glättete das Papier, bevor sie ihrer Nichte den Bogen hinschob.

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas gewonnen. Ich freue mich so.«

»›Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen …‹«, las Johanna erst laut vor, dann bewegten sich nur noch ihre Lippen. Ihre Stirn krauste sich, bevor sie den Kopf hob, um ihre Tante anzusehen.

»Ostseeglück? Kapitalanlagen? Was ist das denn für ein Quatsch? Sag bloß, du hast das Formular ausgefüllt?«

»Ja, sicher.« Irritiert hielt Finchen Johannas Blick stand. »Und ich habe gewonnen, die Antwort kam letzten Freitag. Ich habe dich gleich als Begleitperson eingesetzt, das ist schon alles angemeldet. Ich dachte, du würdest dich freuen.«

Niemand konnte so enttäuscht aussehen wie Finchen. »Ich weiß schon, was du jetzt denkst«, sagte sie mit sanfter Stimme, »aber das ist falsch. Die Schlei und die ganze Gegend dort sind wunderschön, ich war vor Jahren schon mal da. Und man kann sich doch auch mal finanziell beraten lassen, ich muss sowieso einen Teil meines Geldes neu anlegen. Es ist eine ganz exklusive Reise, die nehmen da nicht jeden mit.«

Johanna schüttelte den Kopf. »Ich …«

»Du hast an dem Wochenende dienstfrei«, unterbrach Finchen sie. »Deswegen habe ich nämlich mit Max telefoniert. Weil es doch eine Überraschung für dich sein sollte. Ach bitte, Johanna, tu mir den Gefallen. Ich hab noch nie etwas gewonnen und ich hab mich so gefreut.«

Jetzt glitzerten auch noch Tränen in ihren Augen.

»Ich habe schon allen erzählt, dass du mitkommst. Selma fand das so rührend, sie kennt dich ja nur aus dem Radio, sie hört immer deine Sendung. Und sie hat gesagt, dass sie fast neidisch ist, dass ich ein so gutes Verhältnis zu meiner Patentochter habe. Gerade weil ich doch selbst nie Kinder hatte. Was soll ich …«

»Tante Finchen, das ist Erpressung.«

Ihre Tante tupfte sich mit der Serviette über die Augen und seufzte laut. Die Gäste am Nebentisch sahen mitfühlend zu ihnen, der Kellner beobachtete sie. Johanna wandte den Blick langsam ab und gab ihm ein Zeichen.

»Können wir bestellen, bitte?«

Bevor er den Tisch erreicht hatte, beugte sie sich vor und sagte leise: »Josefine, sei bitte nicht peinlich.«

 

 

 

Wenn Walter irgendetwas hasste, war es schlechte Planung. Sein Schwager Heinz teilte diese Einstellung voll und ganz. Deshalb waren sie auch gute Beamte gewesen, mit einer Reihe von Bestbeurteilungen. Wenn sie etwas anpackten, hatte das Hand und Fuß.

So saß Walter auch jetzt, schon seit zwei Stunden, im Büro und kümmerte sich um die Reiseplanung. Es war ganz einfach mit diesem Routenplaner im Computer. Angeblich. Aber aus irgendwelchen Gründen bekam er jedes Mal eine andere Strecke angezeigt. Die letzte war bislang die kürzeste: Niebüll – Bremen 294,7 Kilometer, davor waren es 301 gewesen. Walter wusste nicht, was er falsch eingegeben hatte. Aber wenn er jetzt seine Tochter Pia anriefe, würde die wieder lachen und in diesem albernen Ton sagen. »Ach, Papa. Das ist doch ganz einfach.«

Nein, er fand es nicht einfach. Überhaupt nicht.

Als es an der Tür klopfte, drehte er sich um und rief laut: »Herein.«

Heinz kam mit einer Papiertüte in der Hand ins Zimmer. »Morgen, Walter. Wie weit bist du?«

»Weißt du, warum dieser Routenplaner jetzt 294,7 Kilometer sagt? Und davor 7 Kilometer mehr?« Walter klopfte mit einem Bleistift auf den Bildschirm.

»Ja.« Heinz beugte sich über Walters Schulter. »Guck mal auf die Zeit da oben: ein Tag, drei Stunden. Das ist zu Fuß. Und siehst du die rote Linie? Wir müssten übers Wasser laufen, das können wir aber nicht. Die andere Strecke ist die mit dem Auto. Die kannst du ausdrucken.«

»Ach so.« Walter kratzte sich am Kopf. »Zu Fuß. Habe ich das eingegeben? Das sind aber auch so kleine Schriften. So, also jetzt, drucken.«

Sie starrten gebannt auf den Drucker, der leise zischende Geräusche von sich gab. Die grüne Lampe flackerte, dann wurde sie rot.

»Der druckt nicht.« Walter schlug leicht auf das Gerät. »Wieso druckt der nicht?«

»Vielleicht ist er kaputt?« Heinz ruckelte am Stecker. »Du brauchst wohl einen neuen.«

»Glaube ich nicht. Der ist noch keine … zehn Jahre alt. Das wird nur eine Kleinigkeit sein. Aber er könnte doch noch einmal drucken. Wir brauchen doch eine Streckenbeschreibung im Wagen.«

»Haben wir, mein Lieber.« Heinz griff nach der Papiertüte und zog mehrere Straßenkarten heraus. »Ich verlasse mich doch nicht nur auf die Elektronik. Hier ist alles, was wir brauchen. Norddeutschland, Stadtplan Bremen, Radfahrkarte Schlei, Umgebungsplan Schleswig, alles dabei. Wir brauchen diesen Routenplaner also nur für die Zeiten. Wie weit bist du denn mit der Planung?«

»Die steht.« Walter hielt Heinz eine Klarsichtfolie entgegen, die ein eng beschriebenes Blatt enthielt. »Ich habe alles berechnet und aufgelistet. Es gibt keine Lücken. Wir werden aus diesem Ausflug wirklich alles herausholen. Hier, bitte.«

Heinz hatte zunächst Mühe, Walters winzig kleine Handschrift zu lesen. Dass sein Schwager grundsätzlich nur mit Bleistift schrieb, machte die Lesbarkeit nicht unbedingt besser.

Mittwoch:

Allgemeines: Reiseproviant (Schnittchen, Obst – geschnitten –, Kaltgetränke), jede Stunde Fahrerwechsel

15.45 Abfahrt zur Autoverladung Westerland

16.30 Abfahrt des Autozugs

Ca. 17.00 Ankunft des Autozugs in Niebüll

Ca. 17.15 Abfahrt in Richtung Bremen

Laut Routenplaner beträgt die voraussichtliche Fahrzeit 3 Stunden 31 Minuten bei normalem Verkehr

Ca. 18.30 kleine Pause an der Autobahnraststätte Aalbek

Ca. 20.15 kleine Pause an der Autobahnraststätte Ostetal Süd

Ca. 21.30 Ankunft im Hotel »Weserblick«, Bremen

Ca. 22.30 Nachtruhe

Heinz sah kurz hoch und nickte beifällig. »Das ist schon mal sehr gut. Ich glaube, du hast an alles gedacht. Hervorragend.«

 

»Walter, kommst du Kaffee trinken? Ach, Heinz, du bist ja auch da. Wieso hast du dich so reingeschlichen?«

Inge stand plötzlich hinter den beiden. Ihr Bruder fuhr zusammen. »Du schleichst, Inge. Ich bin ganz normal durch die Haustür gekommen, der Schlüssel steckte von außen. Du kannst doch anklopfen, bevor du hier einfach reinplatzt.«

»Ich wohne hier, mein Lieber.« Sie betrachtete Heinz mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. »Ich pflege in meinem eigenen Haus nicht an jede Tür zu klopfen. Was hast du denn da in der Hand? Lass mal sehen.«

Sie griff so schnell nach Walters Routenplanung, dass Heinz losließ. Mit einem Stirnrunzeln überflog sie das Geschriebene und schüttelte den Kopf. »Ihr fahrt mit dem Auto bis Bremen und übernachtet da?«

»Ja.« Walter lächelte seine Frau freundlich an. »Der Bus fährt am Donnerstag schon um 11 Uhr los. Das schaffen wir ja wohl nicht ohne Übernachtung. Ist aber ein günstiges Hotel, 58 Euro fürs Doppelzimmer. Ohne Frühstück, aber das gibt es im Bus.«

»Ihr schlaft im Doppelbett?« Entgeistert sah Inge ihren Mann an. »Ihr beide?«

»Das ist ja nur für eine Nacht«, versuchte Heinz sie zu beruhigen. »So schnell gewöhnt sich Walter nicht daran, keine Sorge.«

Inge ignorierte ihn und sagte: »Und dann fahrt ihr am nächsten Tag exakt dieselbe Strecke mit dem Bus zurück? Und das Auto bleibt in Bremen? Das ist doch total bescheuert.«

»Das Auto können wir ja schlecht mit in den Bus nehmen.« Walter blieb immer noch freundlich. »Das stellen wir in ein bewachtes Parkhaus. Mach dir mal keine Sorgen um den Wagen.«

»Ich mache mir keine Sorgen um den Wagen, ich mache mir ernsthaft Sorgen um euch.«

»Musst du nicht, Ingelein.« Gerührt nahm Heinz die Hand seiner Schwester. »Guck mal, Walter und ich sind wirklich topfit für unser Alter. Walter hat’s ein bisschen mit dem Cholesterin und ich hab’s manchmal mit der Hüfte, aber sonst geht es uns doch gut. Außerdem fahren wir doch nur an die Schlei und nicht nach Zentralasien.«

»Ich mache mir Sorgen um euren Verstand, Heinz.« Inges Augen funkelten. »Ihr könntet doch dem Veranstalter auch sagen, dass er euch in Kiel oder in Schleswig abholen soll, das liegt doch auf dem Weg.«

»Die Idee ist nicht gut.« Walter sah Inge fast mitleidig an. »Alle steigen doch in Bremen in den Bus und können sich dann fast vier Stunden lang kennenlernen. Da werden bereits die ersten Kontakte und Verbindungen geknüpft. Und jetzt stell dir doch mal vor, dass wir die Einzigen sind, die erst kurz vor dem Ziel dazusteigen. Wir sind dann Außenseiter, Inge, wir kommen überhaupt nicht mehr in den inneren Kreis.«

»Innerer Kreis.« Inge tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Du hast einen Vogel. Aber gut, ihr seid alt genug. Beschwer dich nur nicht, wenn wieder alles schiefgeht.«

»Was soll denn alles schiefgehen?« Heinz verschränkte entrüstet die Arme vor der Brust. »Wir machen einen kleinen, exklusiven Ausflug an die Schlei, für den wir noch nicht einmal etwas bezahlen müssen. Das ist alles. Du bist ja nur neidisch.«

Inge blickte erst ihren Bruder, dann ihren Mann resigniert an. »Wir werden sehen. Ich denke mir mit Charlotte schon mal einen Wetteinsatz aus. Und jetzt kommt, Kaffee trinken.«

 

 

 

Inge und Charlotte sahen dem Autozug so lange nach, bis er endgültig verschwunden war.

»So.« Charlotte drehte sich zu Inge. »Dann wollen wir mal hoffen, dass alles gut geht. Auch, wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Wenn die beiden zusammen unterwegs sind, befeuern sie sich mit ihren kruden Ideen immer gegenseitig.«

Inge steckte ihre Hände in die Manteltasche und lächelte. »Da müssen die anderen Gewinner durch. Aus diesem exklusiven Kreis. Übrigens, wenn ich noch einmal das Wort ›exklusiv‹ höre, fange ich an zu schreien. Walter hat sich dermaßen in seine Vorstellung reingesteigert, der sieht lauter Landadelige in diesem Bus sitzen. Er hat seinen dunkelblauen Clubblazer eingepackt, zwei Anzüge und drei weiße Oberhemden. Und ein Paar schwarze Abendschuhe. Die hat er vor fünfzehn Jahren zuletzt getragen. Darin kann er überhaupt nicht mehr laufen.«

»Heinz wollte auch nur gepflegte Garderobe. Genau so hat er sich ausgedrückt. ›Gepflegte Garderobe‹. Das fasst man doch nicht. Dabei ist Heinz doch so farbenblind. Ich muss ihm ja immer Schildchen schreiben, welches Hemd zu welcher Hose, zu welcher Jacke und welchen Socken. Viermal musste ich den Koffer wieder umpacken, weil der Herr es sich anders überlegt hat.«

Langsam setzten sich die beiden in Bewegung und gingen in Richtung Parkplatz, wo Charlottes Auto stand.

 

Walter hatte darauf bestanden, mit seinem Wagen nach Bremen zu fahren. Schließlich war das ein Mercedes und theoretisch könne es ja passieren, dass man bei der An- oder Abfahrt auf einen anderen Teilnehmer der exklusiven Seniorentour treffe, hatte er gesagt. Da sei man doch mit dem Mercedes auf der sicheren Seite. Heinz war nur einen kleinen Moment beleidigt gewesen, dann überwog die Erleichterung darüber, dass sein garagengepflegter Golf doch nicht drei Tage in einem fremden Parkhaus stehen musste, sondern sicher auf der Insel bleiben konnte.

 

»Wollen wir zur Feier des Tages zum Essen in die ›Sturmhaube‹ fahren?«, fragte Charlotte, während sie sich anschnallte. »Unsere Männer leisten sich sogar ein Hotel, da können wir uns doch auch was gönnen.«

Inge nickte sofort. »Feine Idee«, sagte sie. »Und ich lade dich ein. Immerhin bin ich die Gattin des Preisträgers. Er hat Heinz als Begleitperson mitgeschleppt, dann ist doch locker eine kleine Scholle für dich drin. Fahr los, Charlotte, wir machen es uns schön.«

 

Der Autozug fuhr ratternd über den Hindenburgdamm. Walter kontrollierte zum wiederholten Mal die Handbremse, um sich davon zu überzeugen, dass sie wirklich fest angezogen war. Sie standen hinter einem Porsche. Seine Nichte Christine hatte vor einigen Jahren die Handbremse in ihrem Polo nicht angezogen, und bei der Anfahrt des Autozuges war der auf den vor ihr stehenden Wagen gerollt. Auch ein Porsche, über 7000 Euro Schaden. Ihr Vater Heinz hatte sich über so viel Unachtsamkeit damals kaum beruhigen können.

»Ist die Handbremse fest?«, fragte Heinz jetzt. »Christine ist ja mal einem Porsche …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Walter. »Ich habe gerade daran gedacht. Willst du ein Schnittchen? Inge hat genug gemacht. Ich finde, Reisen macht immer so hungrig.«

»Wir sind doch noch nicht einmal eine halbe Stunde unterwegs.« Heinz versuchte, seine Rückenlehne etwas zurückzustellen, fand aber den Hebel nicht. »Ich habe noch keinen Hunger. Aber iss du ruhig. Wo ist denn hier…«

Mit einem Ruck knallte der Sitz in die Liegestellung, Heinz verschwand aus Walters Sichtfeld.

»Was machst du denn?« Ungeduldig beugte sich Walter herüber. »Du musst doch nur an dem Hebel ziehen. Warte mal, wo ist denn …« Er hangelte sich über den Bauch seines Schwagers, bis er fast auf ihm lag. Trotzdem fehlten ihm immer noch ein paar Zentimeter. »Zieh du doch mal, du bist doch viel dichter dran.«

Mit vereinter Mühe fanden sie schließlich den Hebel, die Rückenlehne schoss genauso schnell wieder in die Grundstellung, wie sie runtergeklappt war.

»Na, bitte«, sagte Walter und rappelte sich wieder hoch. »Wie hast du das denn gemacht? Deine Haare sind übrigens ganz durcheinander.«

Heinz klappte den Sichtschutz nach unten und ordnete mit den Fingern seine Frisur. Dabei fiel sein Blick auf das hinter ihnen stehende Auto.

»Was die wohl gedacht haben?« Schnell drehte er sich um und blickte durchs Heckfenster, die beiden älteren Damen, die in dem Auto saßen, starrten zur Seite.

»Wir gehen beide in Deckung und kommen dann mit zerwühltem Haar zurück nach oben.« Er fing an zu kichern und klappte den Sichtschutz wieder hoch. »Walter. Du Tier.«

»Was?« Irritiert drehte Walter sich um, entdeckte nichts Besonderes und wandte sich wieder den Plastikdosen mit den Schnittchen zu. »Möchtest du Leberwurst?«

Heinz kicherte immer noch vor sich hin, was Walter nur zum Kopfschütteln brachte. »Dann eben nicht«, sagte er und nahm sich ein Brot mit Leberwurst. »Dass du dich über solch kindische Einfälle so amüsieren kannst. Guck, jetzt sind wir schon in Klanxbüll. Alles genau im Zeitplan.«

 

Zu Walters großer Zufriedenheit lagen sie bei der Auffahrt zur A7 weiterhin im Plan. Er beschleunigte und sah auf die Uhr. »Ich will mich nicht selbst loben, aber der Reiseplan zeugt doch von einer gewissen Genialität. Punktgenau. In zehn Minuten machen wir den ersten Fahrerwechsel. Ich rechne natürlich die Zeit auf dem Autozug ab. Sonst wäre ich schon viel länger gefahren.«

Heinz beugte sich vor, um den Tacho sehen zu können. »Ein bisschen mehr Gas darf es schon sein, Walter. Ich denke, die Karre hat so viel PS.«

»Hat sie auch.« Walter wandte den Blick nicht von der Fahrbahn. »Spritsparen ist das Stichwort. Wir haben noch eine weite Strecke vor uns und ich wollte nicht unterwegs tanken.«

»Aber du fährst 90.«

»Lenk mich bitte nicht ab, ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«

Heinz wartete einen Moment, dann sagte er: »Uns überholt gerade ein Schulbus. Die A7 ist eine Autobahn. Da darf man nicht nur, da muss man sogar schneller fahren.«

Walter warf einen kurzen Blick durchs Seitenfenster und sah den Busfahrer wild gestikulieren. »Der spinnt. Das kostet Geld, dieses Vogelzeigen. Ich könnte mir die Nummer merken und ihn anzeigen. Dann ist er seine Busfahrerzulassung los. Und das auch noch vor Kindern.«

»Du kannst auch einfach Gas geben.«

»Heinz, ich fahre jetzt auf den nächsten Parkplatz und dann bist du dran. Alles, was wir über sieben Liter Benzin auf 100 Kilometern verbrauchen, geht auf deine Rechnung. Dafür kannst du dann auch rasen. Aber hör mit dem Gemecker auf, du bist ja schlimmer als Inge.«

 

Walter nutzte den Fahrerwechsel für ein paar Kniebeugen und Dehnübungen und forderte seinen Schwager zum Mitmachen auf. »Los, turn dich locker, wir müssen noch lange sitzen.«

Heinz saß schon auf dem Fahrersitz und schnallte sich gerade an. Er verstellte die Spiegel, fuhr sich kurz mit dem Kamm durch die Haare und rief durchs Fenster: »Steig ein, es geht weiter. Wir machen erst an der Raststätte Aalbek eine Pause.« Er startete den Motor. »Wenn wir bei jedem Fahrerwechsel den Affen machen, klappt der Zeitplan nie.«

»Den Affen …«, schnaubte Walter. »Wir sehen nachher, wer von uns frischer ist. Und beweglicher. Wenn wir …«

»Sag mal«, unterbrach Heinz und reihte sich auf der Autobahn ein. »Hast du den Wagen eigentlich noch durchgecheckt?«

»Der war doch erst zur Inspektion.« Walter schüttelte den Kopf. »Das ist ein Mercedes. Alles tipptopp in Schuss.«

Heinz sah seinen Schwager an. »Aber man prüft doch vor jeder Reise das Öl, das Kühlwasser, den Reifendruck …«

»Guck nach vorn. Fahr bitte etwas konzentrierter. Mein Wagen ist auf dem allerneuesten Stand der Technik, er ist gewartet, gepflegt, gewaschen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn du ihn nicht kaputt machst, passiert hier gar nichts. Und jetzt würde ich gern etwas Radio hören. Wenn es dir nichts ausmacht.«

 

Walter lehnte seinen Kopf an das Kopfpolster und schloss kurz die Augen. Ganz kurz. Als er sie wieder öffnete, sagte er: »Wird dir eigentlich auch schwindelig, wenn du bei geschlossenen Augen Auto fährst?«

»Mir?« Heinz überlegte. »Ich weiß nicht, ob …«

»Nein, nein.« Erschrocken legte ihm Walter die Hand auf den Arm. »Probier es jetzt nicht aus. Das hat Zeit bis zum nächsten Fahrerwechsel.«

Er beugte sich vor, um einen anderen Radiosender zu suchen. Egal, welche Musik gespielt wurde, nach wenigen Takten drehte er weiter.

»Sag mal«, Heinz warf einen tadelnden Blick auf ihn, »suchst du ein bestimmtes Lied?«

»Inge verstellt mir immer den Sender. So, hier ist er. ›Radio Nord‹, die spielen wenigstens nicht diese Hottentottenmusik. Und sie haben so eine nette junge Frau, die moderiert. Jana Förster oder so. Die höre ich gern. Wie lange brauchen wir denn noch bis Aalbek? Ich könnte jetzt eine schöne Tasse Kaffee trinken.«

»Das dauert noch einen Moment. Ich fahre ja gerade erst seit zehn Minuten.«

»Dann gib Gas.« Walter lehnte sich wieder zurück. »Eine Zeitung müssen wir auch noch kaufen. Für den Beifahrer.«

»Die Moderatorin heißt Johanna Jäger. Du meinst doch die, oder?«

Walter fuhr hoch. »Ja. Sag ich doch. Jäger.«

»Du hast Förster gesagt. Jana Förster. Du hast so ein schlechtes Namensgedächtnis. Wie kann das angehen?«

Heinz bekam keine Antwort.

 

Walter schreckte erst auf, als Heinz den Motor abstellte. »Was ist jetzt …?« Schlaftrunken sah er sich um. »… los? Ach, wir sind da? Ich bin wohl einen kleinen Moment eingenickt.«

»Du hast fast eine Stunde geschlafen«, antwortete Heinz, während er sich abschnallte. »Das ist übrigens für den Fahrer nicht schön, wenn der Beifahrer die ganze Zeit vor sich hin schnarcht. Ich habe eine ganze Menge Konzentration gebraucht, um nicht müde zu werden.«

»Du hättest mich doch wecken können. Außerdem habe ich gar nicht richtig geschlafen. Eher geruht.«

Heinz hatte die Tür schon geöffnet. »Du hast geschnarcht. Und wie. Ich musste das Radio ganz laut stellen. Kommst du jetzt? Oder musst du dich noch besinnen? Ich habe Hunger.«

Mit einem unterdrückten Stöhnen stieg Walter aus dem Wagen und streckte sich. »Was ist denn mit den Schnittchen? Wir haben doch Proviant mit. Die Preise an den Raststätten sind eine Frechheit.«

»Es sind nur noch Käseschnittchen. Und dann auch noch Schmierkäse. Die kannst du allein essen.«

Walter beeilte sich, seinem Schwager in die Raststätte zu folgen.

 

Kurze Zeit später blickte er neidisch auf eine warme Frikadelle mit Kartoffelsalat, die Heinz vor sich stehen hatte.

»7 Euro 50. Für einen Klops. Das ist doch ein Wucherpreis.«

Heinz zog den Teller näher und nahm das Besteck in die Hand. »Du kannst ja Schmierkäseschnittchen essen.« Er schob sich eine volle Gabel in den Mund und kaute. »Fabelhaft.«

Walter schluckte und schüttelte den Kopf. Betont desinteressiert wandte er sich ab und ließ seine Blicke durch den Raum wandern. Am Nebentisch sah er vier ältere Männer in Anzügen, die zusammen auf den Monitor eines Laptops starrten. Geschäftsleute, die selbst die kleine Kaffeepause nutzten, um zu arbeiten. Das gefiel ihm, auch er hatte seine Arbeit beim Finanzamt Dortmund Mitte immer äußerst ernst genommen. Im Gegensatz zu den jungen Leuten, die heute in verantwortungsvollen Jobs arbeiteten. Erst letzte Woche hatte er sich über das Kind im Anzug geärgert, das bei seiner Haftpflichtversicherung für die Schadensregulierung zuständig war. Was ging es diesen Jüngling an, auf welche Weise die Glastür von Pias Küchenschrank zerbrochen war? Wenn er ihm sagte, dass er mit der Schulter voran hineingestürzt sei, dann müsste das doch wohl reichen. Da fing der an, mit ihm über seine Körpergröße zu diskutieren. Dabei sah der Knabe aus wie 14. Eine Frechheit.

 

Heinz aß aber auch langsam, er hatte noch nicht einmal die Hälfte der Frikadelle geschafft.

»Schmeckt es dir nicht?«

»Doch, doch.« Heinz nickte. »Aber ich muss ja nicht so schlingen. Hast du die vier Männer hinter dir gesehen? In den Anzügen? Die sind auch nicht mehr so jung und müssen um diese Zeit noch arbeiten. Selbst in ihrer Pause.«

»Ja.« Walter sah noch einmal hin. »Ich habe mir gerade Gedanken gemacht über die Unterschiede von Alt und Jung in der Arbeitswelt. Theoretisch könnte es sogar sein, dass die vier auch zu unserem exklusiven Club gehören. Dass die auch mit an die Schlei fahren. Vielleicht haben sie sich auf dem Laptop ihre Bankgeschäfte angesehen.«

»Aber es sind doch keine Senioren.«

»Wieso?« Erstaunt sah Walter seinen Schwager an. »Wann ist man in deinen Augen denn ein Senior?«

»Ich weiß nicht. Wenn man in Rente ist?«

»Unsinn.« Walter wischte die Antwort mit einer schnellen Handbewegung weg. »Es gibt ja auch Seniorpartner, Senioranwälte. Nein, nein, Senior meint einfach nur Erfahrung, Reife, Seriosität. So einen wie mich. Das ist wirklich gut möglich, dass die vier zu unserer Reisegruppe gehören. Ich werde gleich mal fragen. Sag mal, isst du die Frikadelle nicht auf?«

Mit einem bedauernden Blick auf den Teller legte Heinz sein Besteck zur Seite. »Ich bin satt. Möchtest du? Aber dann musst du dir ein neues Besteck holen.«

»Ich nehme deines.« Walter hatte den Teller schon zu sich gezogen. »Wir sind verwandt. Man muss das Essen doch nicht wegschmeißen. 7 Euro 50.«

»Wir sind nicht verwandt.« Heinz hielt sein Besteck fest in der Hand. »Du bist angeheiratet. Das ist ein großer Unterschied.«

Walter hob die Schultern. »Du bist kleinlich. Na gut, dann eben angeheiratet. Aber das ja nun auch seit Jahren. Also, das Besteck, bitte.«

Heinz sah seinem Schwager beim Essen zu und fragte plötzlich: »Hast du eigentlich wegen Pias Schrank mit deiner Versicherung gesprochen? Und haben die geglaubt, dass du ihn zerstört hast?«

»Das läuft.« Walter antwortete nur kurz, weil er den Mund voll hatte. »Die haben uns neulich einen Praktikanten vorbeigeschickt. Der hatte nur leider überhaupt keine Ahnung von der Versicherungsbranche. Ich muss da noch mal hinschreiben.«

 

Als Heinz und Walter von der Toilette kamen, waren die vier Geschäftsleute nicht mehr zu sehen.

»Schade«, sagte Walter nach einem suchenden Blick. »Und ich bin mir fast sicher, dass die zu unserer Gruppe gehören. Na ja, wir werden sie ja morgen am Bus sehen. Oder vorher in Bremen im Hotel.«

Heinz tastete nach dem Autoschlüssel, den er schließlich in der Hosentasche fand. »Walter. Es gibt bestimmt jede Menge Hotels in Bremen. Das wäre schon ein großer Zufall, wenn sie in unserem wohnen würden.«

»Es gibt auch jede Menge Raststätten an der A7«, entgegnete sein Schwager. »Und wir waren trotzdem an derselben.«

Heinz gab auf. Zumal gar nicht klar war, ob es sich überhaupt um Gleichgesinnte handelte. Aber Walter würde so lange argumentieren, bis Heinz umfiele. Und dazu hatte er jetzt keine Lust.

 

Ohne Zwischenfälle setzten sie die Fahrt zunächst fort. Heinz studierte die Straßenkarten, die er gekauft hatte, und machte sich Notizen zu den Sehenswürdigkeiten an der Schlei, die als besonders schön beschrieben wurden. Walter fuhr ruhig, konzentriert und nie schneller als 100 Stundenkilometer, summte ab und zu einen Schlager mit und blickte immer wieder in den Rückspiegel.

In dem Moment, als er das Autobahnschild sah, auf dem die Raststätte Ostetal in 5 Kilometern angekündigt wurde, verhielt sich das Auto anders. Walter verlangsamte das Tempo und umklammerte das Lenkrad.

»Was war das?« Heinz drehte sich hektisch um. »Da war doch ein Geräusch. Hast du das gehört?«

»Nein.« Walter trat kurz auf die Bremse. »Aber das Auto fährt komisch. Da ist ein Parkplatz.«

Ohne zu blinken, steuerte er auf den Seitenstreifen und rollte auf die Ausfahrt.

Auf dem Parkplatz stellte er den Motor aus und atmete tief durch. »Das hätte schiefgehen können.« Seine Stimme klang gepresst. »Das war knapp.«

Stirnrunzelnd sah Heinz ihn an, stieg aus und ging um den Wagen herum. Als er zurückkam, starrte Walter unverändert nach vorn.

»Wir haben einen Platten«, teilte Heinz ihm mit, während er wieder ins Auto stieg. »Hinten rechts. Total platt. Hast du einen Wagenheber?«

»Um Himmels willen.« Walter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das hätte richtig schiefgehen können.«

»Hallo …« Heinz schlug seinem Schwager leicht auf die Schulter. »Wir brennen nicht. Und in dem Tempo, in dem du fährst, ist es physikalisch gar nicht möglich, dass sich der Wagen wegen eines platten Reifens überschlägt. Jetzt mach nicht so ein … Was ist denn das für ein Idiot?«

Er meinte nicht Walter, sondern den Fahrer des silberfarbenen BMWs, der mit affenartiger Geschwindigkeit auf den Parkplatz gerast kam und mit quietschenden Bremsen neben ihnen stoppte. Was dann folgte, ließ Heinz und Walter den Atem stocken und sich tiefer in ihre Sitze drücken. Zwei Männer, beide in Jeans und dunklen Jacken, sprangen aus dem Wagen. Ohne miteinander zu sprechen, montierten sie mit schnellen, geübten Handgriffen die Autokennzeichen ab und warfen sie in den Kofferraum. Genauso schnell brachten sie zwei neue Schilder an.

Heinz und Walter verriegelten mit unauffälliger Bewegung ihre Türen. »Das glaube ich nicht.« Walter versuchte, beim Sprechen seine Lippen nicht zu bewegen. »Das sind Autoschieber. Und wir sind Zeugen. Guck da nicht so hin.«

Sie guckten trotzdem, genau in dem Moment, in dem der größere der beiden Männer sich vorbeugte. Seine Jacke rutschte hoch und ein Pistolenhalfter mit einer Waffe darin kam zum Vorschein. Heinz machte ein gurgelndes Geräusch. Dann presste er die Zähne aufeinander und zischte: »Wenn wir jetzt irgendeinen Fehler machen, dann knallen die uns ab.«

Sehr langsam zog er sein Handy aus der Tasche. »Ich rufe jetzt Christine an und gebe ihr das Kennzeichen durch. Falls was passiert.«

»Bist du wahnsinnig?«, flüsterte Walter. »Wieso deine Tochter? Die denken, wir rufen die Polizei, hör auf.«

Aber Heinz schaltete das Handy bereits ein. »Wir lassen uns nicht einfach so über den Haufen schießen.« Er bewegte kaum die Lippen. »PIN eingeben, 1601, so, was machen die gerade?«

Walter drehte seinen Kopf nur millimeterweise und sah vorsichtig zur Seite. »Sie sind wieder im Auto. Und sie … sie gucken rüber. Sie sehen uns an.«

»Christine? Oh, gut, hier ist Papa … Ja, ich weiß, dass du das siehst, aber wir haben ein Problem …«

»Zu spät.« Walters Hand krallte sich in Heinz’ Oberschenkel. »Einer steigt aus. Er kommt auf uns zu.«

Der Kleinere der beiden stand schon vor dem Auto und klopfte an die Scheibe.

Entsetzt starrten Heinz und Walter ihn an. Heinz hatte immer noch das Handy am Ohr. »Frag jetzt nicht, aber schreib dir mal folgendes Autokennzeichen auf: HH-NF … ich ruf gleich noch mal an.«

Der Mann hielt einen Polizeiausweis an die Scheibe. Sehr langsam ließ Walter die Autoscheibe zwei Zentimeter hinunter. Noch langsamer hob er das Kinn.

»Ja?«

»Entschuldigen Sie, aber wir haben gesehen, dass Sie uns beobachtet haben. Wir müssen da wohl etwas aufklären.«

»Was denn?« Heinz hielt sein Telefon demonstrativ in beiden Händen. »Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.«