Hiddenseer Tagebuch - Torsten Krone - E-Book

Hiddenseer Tagebuch E-Book

Torsten Krone

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Beschreibung

Hiddensee muss man entdecken wollen und sich auf die Insel einlassen, um die Feinheiten unter der touristischen Hülle freizulegen. Landschaftliche Schönheit, Naturgewalten, Geschichten von Künstlern, Prominenten und menschlichen Schicksalen sind komprimiert und konserviert auf dem kleinen Ostsee-Eiland neben Rügen. Dieses Tagebuch schildert auf sehr persönliche Weise die amüsanten Erlebnisse und Erfahrungen einzelner Urlaubstage mit den regionalen und kulturgeschichtlichen Offenbarungen. Es ist die allmähliche Annäherung an das besondere Flair winziger Orte, eingebettet in die Natur und eine zeitlose Welt jenseits der Hektik des Alltags. Damit ist der Reisebericht weit mehr, als die Beschreibung von Urlaubserlebnissen. Er ist ein Weg der eigenen Erkenntnis vor dem Hintergrund einer faszinierenden Insel.

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Inhalt

Wir lassen uns darauf ein

Ein Strand jenseits der Welt

Die Vermessung der Insel

Ein Kämpfer für die Insel

Auf der Suche nach Gott

Häuser, Künstler und Gäste

Einer der prägte

Eine schwere Last

Ein Regen reinigt

Ein neuer Anfang

Andere Wege, neue Perspektiven

Offene Wunden

Elixier des Lebens

Eine Hinterlassenschaft

Abschied und Ankommen

Nachwort

Wir lassen uns darauf ein

Der Regen trommelt gegen die großen Panoramascheiben der Fähre. Die Wellenkämme des uns umgebenden Wassers zeigen weiße Hauben. Ungeordnet, ohne erkennbare Struktur bewegt sich die schwappende Wassermasse mit kurzen kleinen Wellen eigensinnig in alle Richtungen. Wir sitzen ganz vorn an einem Tisch im großzügig gestalteten Passagiersalon. Die Auswahl an freien Plätzen ist vielfältig, denn heute treten nicht viele Passagiere den Weg vom Fährhafen Schaprode auf Rügen nach Hiddensee an. Wer möchte schon bei einem solchen Wetter auf die Insel, die sich im Dunst als lange graue Masse abzeichnet. Unweit unseres Tisches ist Gepäck zusammengestellt. Ein Koffer, zwei Taschen und zwei Rucksäcke, darüber zwei Jacken zum Trocknen aufgehängt. Durch die wenigen Fahrgäste ist es nicht schwer zu ermitteln, dass diese Sachen uns gehören. Bereits beim Ausladen auf dem Großparkplatz in Schaprode kam uns der Gedanke, dass wir wieder einmal zuviel mitgenommen haben. Dort mussten wir uns von unserem Auto trennen, da auf Hiddensee keine privaten Autos erlaubt sind. Wir sind nur zu zweit, meine Frau und ich.

Als wir noch mit Kindern reisten, war das Gepäck nicht umfangreicher. Wahrscheinlich entspricht es der Natur des Menschen, die Dinge auszureizen, sich an der Oberkante des Möglichen zu bewegen. Irgendwann wünsche ich mir einen Urlaub, für den ein Handgepäck reicht oder ich mich durchringen kann, nicht mehr als eine kleine Tasche mitzunehmen. In der Jugend beim Trampen war ich diesem Ziel schon recht nahe. Vielleicht liegt es am Alter, an dem geschwundenen Mut zum Risiko, an den Gewohnheiten einer Wohlstandsgesellschaft, in der man auf jede Situation vorbereitet sein will und jede Eventualität absichern möchte. Ich weiß es nicht, es ist sicher eine Mischung aus allem und die fehlende Konsequenz, aus den unsichtbaren Normen auszubrechen. Andererseits fehlen die Gründe, gewohnte und geliebte Annehmlichkeiten zu entbehren. Die Ferienzeit soll schließlich kein spartanischer Selbstfindungstripp werden. Stattdessen gönnt man sich in der Urlaubszeit Dinge, auf die man im Alltag verzichten muss. Klar, das ist gesellschaftlicher Mainstream, der den Hochglanzprospekten der Urlaubsregionen entspricht.

Die Gedanken kreisen im Kopf und suchen Begründungen, warum das Gepäck so umfangreich ist. Diese Tatsache war bisher kein Problem, denn das Auto trug die Last, zumindest bis zu diesem Parkplatz in Schaprode. Die Tasche mit der »Hausbibliothek« hatte zum Glück Rollen und der Koffer, dessen sich meine Frau annahm, ebenfalls. Auf den Fotorucksack einschließlich Stativ hatte ich bestanden, im Gegenzug Einschränkungen bei der Garderobe angeboten. Am Ende hat die Kleidung dann doch Asyl im Reisegepäck gefunden, dafür kam der zweite Rucksack dazu. Wir hätten die Situation nicht derart bewusst wahrgenommen, wenn das Ziehen von Koffer und Tasche im Regen auf dem durchnässten Parkplatz nicht so beschwerlich gewesen wäre. Die Schirme behielten ihren Platz im Gepäck, schließlich waren die Arme bereits belegt. Weit war es zum Glück nicht, von der Einfahrt des umzäunten Geländes fährt eine kleine Bahn zum Hafen. Obwohl wir 400 km mit einigen Staus hinter uns haben, klappt alles zeitlich sehr gut. Nach dem Erwerb der Fährtickets blieben noch zehn Minuten, bis wir an Bord konnten und nun sitzen wir im Trockenen bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen. Meine Bemerkung »jetzt haben wir Urlaub« findet stillschweigende Zustimmung.

Der Sommer zeigt sich dieses Jahr missgelaunt, bei kühlen Temperaturen und wenig Sonne. Wohl denen, die sich nach Süden aufgemacht haben oder sich in einem der Urlaubsjets befinden und Sandstränden mit türkisblauem Wasser entgegenfliegen. Die Möglichkeiten sind vielfältig, fast unbegrenzt. Ferne Länder erkunden, auch wenn es manchmal nur das eingezäunte und gesicherte Areal des Ferienressorts ist, in dem die Urlauber ihren Auslauf haben, weil die Umgebung zu unsicher ist. Viele pendeln ohnehin nur zwischen Strand und Poolbar. Unsere Interessen hat das nur selten befriedigen können. Deshalb fahren wir gegen den Strom, auf ein Eiland im Prominenzschatten der großen Insel Rügen. Gerade erst der Kinder entwöhnt, die jetzt ihren eigenen Weg gehen, freuen wir uns auf eine gemeinsame Zeit. Diese ist im Berufsleben knapp und deshalb umso wertvoller. Bei den ständigen Entscheidungen, Priorisierungen und der Neuordnung von Aufgaben im Alltag sehnen sich Körper und Geist nach Alternativen und aktiver Abwechslung, die Ruhe verspricht, aber nicht nur das Wenden auf der Sonnenliege umfasst. Deshalb lassen wir uns auf die Insel ein, die abseits der bekannten Seebäder und Urlaubsorte im flachen Wasser der Ostsee liegt. Wir erwarten nichts und freuen uns über die Dinge, die ein unbekannter Ort offenbart, preisgibt und entdecken lässt. Von dem Ziel eines sensationellen Urlaubs mit dem ultimativen Erlebnis haben wir uns schon lange verabschiedet und dadurch viel Seelenfrieden gefunden.

Die Fähre wird uns nach Kloster bringen, einem nördlich gelegenen Ort, dessen Name auf das ehemalige Zisterzienserkloster an dieser Stelle zurückgeht. Die Schiffsroute führt zunächst zur südlichsten Anlegestelle in Neuendorf und dann zurück auf dem Boddenwasser zwischen Rügen und Hiddensee bis zum Hafen in Kloster. Die Fahrzeit dauert deshalb mehr als eine Stunde, bei besserem Wetter genug Zeit, über die Insel und die drei Hauptortschaften Neuendorf, Vitte und Kloster zu blicken. Nördlich von Kloster erhebt sich ein Hügelland, das man als »Dornbusch« bezeichnet. Heute bleiben die Details hinter einem Regenschleier verborgen. Die Insel erhebt sich als langes Band eines flachen Landes mit den Bergen im Norden aus der See wie ein tiefliegender Tanker, der sich von der Brücke gesteuert schwerfällig durch die Fluten schiebt.

Beim Blick aus dem Fenster zieht die Landschaft im trüben Tageslicht vorbei und ich beginne auf meinem Handy herumzudrücken. E-Mails und Nachrichten checken. Außer ein paar Newsletter, die regelmäßig nerven und die ich schon längst abmelden wollte, gibt es nichts Neues. Das ist wie bei den Dingen auf dem Dachboden oder im Keller. Man schlägt sich jahrelang damit herum, räumt sie von links nach rechts, stapelt sie um und schieb sie beiseite, ohne sie jemals zu nutzen. Bis zu dem Moment, wo man sie endgültig entsorgt hat, aber genau dann gebrauchen könnte. Also lösche ich die Meldungen geduldig, in wenigen Tagen erscheinen aktuelle. Auch die anstehenden acht Updates meiner nicht genutzten Apps ignoriere ich. Etwas Interessantes finde ich doch noch. Die Navi-App zeigt mir unseren Standort mitten im Boddenwasser. Der Kapitän fährt exakt auf der Linie des markierten Fahrwassers, das gibt ein sicheres Gefühl. Dabei überlege ich, welche Abweichung ich dem Steuermann zugestehe, bevor ich auf die Brücke stürme, um wild gestikulierend auf den Missstand aufmerksam zu machen. Schließlich habe ich den mobilen Beweis in der Hand. Tatsächlich würde ich aber nur verunsichert aus dem Fenster schauen und mit dem Schlimmsten rechnen. Viel Wissen schafft Unsicherheit, Unruhe und erzeugt Stress, wenn man die vermeintlichen Kenntnisse nicht verwerten kann. Die Digitalisierungspropheten reden uns ein, dass es gut ist, alle Details zu kennen und per App über jede Kleinigkeit informiert zu werden. Der Wissensspeicher im Kopf hat aber seine Grenzen, deshalb ist es manchmal besser, nicht alles zu erfahren und ich drücke die Darstellung weg.

Meine Frau hat auch etwas auf dem Handy gefunden. Die Wetter-App zeigt Regen für die Insel, womit der kleine Helfer exakt die Realität wiedergibt. Die Anzeige von Sonnenschein hätte zu Ärger geführt, weil es ja regnet. Wäre es dagegen draußen schön und die App weist Regen aus, könnte man die Sonne nicht genießen, da jeden Moment das schlechte Wetter kommen muss. Aber heute stimmen Information und Wirklichkeit überein und wir erfahren das, was wir ohnehin bereits wissen. Viele neue technische Hilfsmittel zwingen uns häufig Aufgaben auf, die wir ohne sie nicht hätten. Wir beschäftigen uns allzu oft mit uns selbst, und verlieren die tatsächlich wichtigen Dinge aus den Augen. Wie wir so mit unseren Handys beieinander sitzen, erfüllen wir das Klischee eines modernen Paares, das sich digital verbunden fühlt:

»Hast du das auch bekommen?«

Schnell noch ein Regenbild per WhatsApp an die Kinder. Die können uns dann bedauern oder sich freuen, dass Sie nicht mitfahren mussten. Als hätten wir uns abgesprochen, packen wir die Geräte weg und trinken unseren Kaffee. Draußen überholt ein Wassertaxi. Die kleinen Boote für wenige Fahrgäste pendeln ständig direkt zwischen den Hiddenseer Häfen und Rügen hin und her. Die Fahrzeit ist entsprechend kürzer, dafür steht das Gepäck auf dem Achterdeck in der Nässe und die Passagiere drängen sich in der engen Kajüte. Da nehmen wir gern die längere Fahrt in Kauf, was dem Wetter die Chance der Verbesserung lässt. Als wir Kloster erreichen, hat der Regen tatsächlich aufgehört. Der Steuermann zeigt sein Können und legt eine rasante Wende im Hafenbecken hin, dass wir von unserem Platz aus die Kaimauer vorbeifliegen sehen, bevor wir endgültig anlegen und festmachen.

Für den kurzen Weg bis zum »Appartementhaus Dornbusch« gleich am Hafen nehmen wir alle Kräfte zusammen und bringen die Taschen sicher dort hin. Ein Zimmer im Erdgeschoss wird unser Heim für die nächsten zwei Wochen. Ich öffne die Glastür zur kleinen Küche und meine zu meiner Frau:

»Schau, dein Zimmer hat sogar ein Fenster.«

Belustigt meint sie:

»Frühstück machen ist im Urlaub aber deine Aufgabe.«

Damit hat sie durchaus recht. Wir scherzen noch ein wenig und verpacken den Spaß in eine Meldung an die Kinder, die nicht weggeht. Wir haben keinen Empfang. Na Klasse, das kann ja was werden. Im Türrahmen zur Küche mit dem Handy über dem Kopf habe ich immerhin zwei Balken. Ein paar Sachen packen wir aus. In der »Technik-Tasche« fördere ich neben einer Armada an unterschiedlichen Ladegeräten ein kleines Digitalradio zutage, dass für die Frühstücksmusik schon gute Dienste geleistet hat. Der Sendersuchlauf für die Digitalprogramme findet keinen Sender. Nun ja, dann eben der bewährte UKW-Empfang. Allerdings bringt auch hier der Suchlauf nicht einen einzigen Kanal, wir schauen uns verdutzt an.

»Du wolltest doch mal Aussteiger-Urlaub machen«, meint meine Frau.

Sie zaubert ein paar Programme auf den Fernseher, der in der Größe mehr einem Computermonitor gleicht. Hier finden sich einige Radiosender, die per Fernsehkabel übertragen werden. Ich baue unsere Zimmerbibliothek mit Büchern über Hiddensee auf.

»Ich glaube, wir müssen mindestens zwei Monate hier bleiben, wenn wir das alles lesen wollen.«

Auswahl ist ein Luxus, den man nicht überall hat. Dafür haben wir schließlich schwer getragen.

Was macht man sinnvollerweise am ersten Urlaubstag? Die Umgebung erkunden. Völlig unbekannt ist die Insel nicht, vor etlichen Jahren waren wir zu einem Tagesausflug schon einmal hier. Also Regenjacke anziehen, Schirm mitnehmen und los geht es. Die Luft ist frisch und feucht, Zeit zum Durchatmen. Vom Haus sind es 200 m bis zum Kirchweg, der Hauptstraße durch Kloster, die dem Namen entsprechend keine Straße, sondern ein unbefestigter breiter Weg ist. Viele Pfützen zwingen dazu, einen Slalomweg einzuschlagen.

Vor uns läuft eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die regenfest verpackt, mit kurzen Schritten ohne Zögern den geraden Weg durch die Wasserpfützen nehmen. Das Wasser schlägt leichte Wellen als sich die Füße wie ein Dampfer hindurchschieben. Die Stiefel bieten Schutz vor dem feuchten Element. Es ist belustigend und befreiend zu beobachten, wie unvoreingenommen, entdeckungsfreudig und unternehmungslustig diese Kinder ihren Weg gehen, ohne an Konsequenzen, nasse Schuhe oder Ärger mit den Eltern zu denken. Spontan zu handeln, neue unbekannte Wege einzuschlagen und unvernünftig zu sein, haben wir Erwachsenen weitestgehend verlernt. In einer Gesellschaft wo vor allem Erfolg und Gewinn zählen, muss immer alles abgewogen, verglichen und bewertet werden, in der Hoffnung auf das optimale Ergebnis. Das unbeschwerte Erkunden haben wir schon lange abgelegt und durch Vernunft ersetzt, obwohl die wenigsten Erfindungen und Entdeckungen darauf basieren. Bei dem Gedanken an unsere eigenen Kinder, die uns mit Stolz erfüllten, wenn wir ihnen ebendiese Vernunft beigebracht hatten, bin ich mir nicht sicher, ob wir immer richtig lagen.

Wir schlängeln uns weiter durch das Wasserlabyrinth, vorbei am Inselshop und dem Friedhof mit der Kirche bis zur Kreuzung am Leuchtturmweg. Von hier wandern wir einen Kilometer bis nach Grieben, dem nördlichsten Ort der Insel, der nur aus wenigen Häusern besteht. An dieser Stelle hat man einen ersten Blick auf das Wahrzeichen von Hiddensee, den Leuchtturm. Die feuchten Wiesen leuchten in einem satten Grün, überall stehen Gruppen von Pferden, das erinnert uns etwas an Irland.

Auf dem Rückweg machen wir kleine Einkäufe im Inselshop. Der Laden ist halb so groß wie die Kassenfläche im heimischen Supermarkt, bietet aber scheinbar alles, was man für das Inselleben benötigt, von der Obsttheke bis zum Handwerkerbereich. Wir sind im Handumdrehen fertig. Wenn man nicht zwischen zwanzig Varianten eines Produktes auswählen muss, geht es eben schneller.

Später bummeln wir am Hafen entlang und beobachten, wie das letzte Fährschiff das Bollwerk anläuft. Mit dem gleichen rasanten Wendemanöver legt es sicher an. Vom Kai sieht das nicht so dramatisch aus wie aus dem Inneren des Schiffs, dennoch zeugt der Fahrstil von reichlich Übung und Erfahrung. Wenige Passagiere verlassen die Fähre. Einige werden von ihren Gastgebern mit einem Bollerwagen und Fahrrädern abgeholt. Die Begrüßung ist herzlich, man kennt sich und die Ankömmlinge sind vermutlich regelmäßige Gäste. Bei »Schillings Hafen Amt«, einer Gastwirtschaft direkt am Bollwerk, sitzen noch ein paar Besucher. Ein Kutter, der mit Räucherfisch wirbt, hat heute nicht mehr geöffnet.

Wir laufen um den Seglerhafen und kehren bei der Fischbarkasse »Willi« ein. Als die einzigen Kunden nehmen wir unsere ersten Fischbrötchen für diesen Urlaub an der rustikalen Theke in Empfang. Die Besitzerin gibt sich nordisch und wortkarg, ist reich an Erfahrungen mit zufriedenen, manchmal auch nörgelnden Gästen, von Leuten, die sich am Angebot erfreuen und anderen, die von der Fischauslage und der zu treffenden Auswahl überfordert sind. Das führt mit der Zeit zu einer notorischen Gleichgültigkeit. Wir kommen ein wenig ins Gespräch, über das schlechte Wetter und die ausbleibenden Besucher. Ich ordere ein Lübzer Bier. Immerhin kommt das aus Mecklenburg. Besonders im Urlaub wähle ich gern die regionalen Getränke und nicht die Sorten, die eine weitere Anreise hatten als wir selbst. Die Wirtschaftlichkeit hat sich mir in diesen Fällen ohnehin noch nicht erschlossen, zumal bei Bier die Verpackung fast genauso viel wiegt wie der Inhalt. Wenig später gesellt sich Leopold, wie er von der Wirtin gerufen wird, zu uns. Der Kater mit einem weißen Latz geht gemächlich zu einem Sitzkissen am Nachbartisch, das durch reichlich schwarze Haare deutlich als sein Platz ausgewiesen ist. In einem anderen Rahmen hätte es vielleicht gestört, hier freuen wir uns über die friedliche Gesellschaft.

Nach dem Essen laufen wir durch den Ort auf die gegenüberliegende Seite der Insel. Wir wollen das Meer sehen. Am Inselshop vorbei, führen Wege bis zur Treppe am Steilufer. Von hier oben liegt uns die Ostsee zu Füßen. Es weht noch immer ein kräftiger Westwind und die Sonne verbirgt sich hinter einer dicken Wolkenschicht. Heute gibt es keinen Sonnenuntergang zu beobachten. Inzwischen sind wir müde gelaufen, ein erster Eindruck der Umgebung, der Menschen und des Lebens auf der Insel ist im Gedächtnis gespeichert, bevor wir uns zur Ruhe begeben. Ich habe das Gefühl, etwas erlebt zu haben. Es sind reale und greifbare Erinnerungen. Dabei haben wir uns vor allem mit den banalen Dingen beschäftigt, einem Schlafplatz für die Nacht und dem schmackhaften Fischbrötchen gegen den Hunger oder zumindest für den Appetit.

»Da haben wir heute gar nicht viel gemacht, aber der Kopf ist voller neuer Bilder«, meine ich. »An einem normalen Arbeitstag organisiert man viel kompliziertere Dinge und hat am Abend das Gefühl, überhaupt nichts mehr zu wissen. Meinst du, das hat was mit Bourne-out zu tun?« frage ich.

»Na ja, bei dem was du alles vergisst, habe ich auch schon daran gedacht.«

»Wir brauchen einen Psychologen!« sage ich. »Fast jeder hat heute einen solchen Therapeuten.«

»Du willst doch nur auf dem Sofa liegen. Hör lieber auf, dir über alles Gedanken zu machen.«

»Das ist gar nicht so einfach, wenn die Gedanken im Kopf umherwandern«, meine ich. »Vielleicht brauchen wir wirklich Urlaub.«

»Schlaf jetzt!« sagt meine Frau müde.

»Du hast recht, der Morgen ist klüger als der Abend, hieß es immer in den Märchen, die ich als Kind gelesen habe. Das waren noch Zeiten. Bist du zufrieden?« frage ich.

»Ja, bin ich.«

»Dann bin ich es auch.«

Ein Strand jenseits der Welt

Der nächste Morgen ist in Regenschleier gehüllt, wodurch sich das Aufstehen in besonderer Gelassenheit vollzieht, keine Verpflichtungen, niemand der zum Handeln drängt.

»Bist du dir eigentlich bewusst, dass dieser Urlaub der erste ohne Kinder ist?« frage ich.

»Vermisst du sie?«

»Nein«, war meine zögerliche Antwort. »Ist das schlimm?«

»Ich denke nicht. So ist der Lauf des Lebens und so muss es sein.«

»Werden wir uns jetzt langweilen?« frage ich.

»Ich hoffe doch nicht, wir haben uns vor den Kindern nicht gelangweilt, mit ihnen erst recht nicht und zukünftig bestimmt auch nicht. Wenn es so wäre, dann liegt es an uns und nicht an den Kindern.«

»Da hast du recht«, meine ich.

In früheren Menschenaltern war das Großziehen der Nachkommen die wesentliche Aufgabe im Dasein, die Erhaltung der Art musste gesichert werden. Damit hatte das Leben seinen Sinn erfüllt, Entstehen und Vergehen lagen dicht beieinander. Mit diesem Anspruch ist der Mensch seit Jahrtausenden nicht mehr zufrieden. Er verfolgte neue Ziele, das Instinktive wurde zum Bewussten, was ihn über das Tierreich erhoben hat. Ob er die Fähigkeiten immer sinnvoll eingesetzt hat, ist zweifellos fraglich. Auf jeden Fall bin ich froh, dass uns das Leben eine Zeit nach den Kindern zubilligt und dass unsere Partnerschaft den anspruchsvollen Abschnitt überdauert hat.

Diese Gedanken sind Motivation genug, um bei dem Wetter aufzustehen und an das Frühstück zu denken, was ja in mein Ressort fällt und dessen Umsetzung ich eifrig angehe. Der nächtliche Schlaf hat neben dem Erholungseffekt die Eigenschaft, dass man sich in die Umgebung einfügt. Wie das Neugeborene, das mit dem ersten Kontakt zur Mutter die eigentliche Bindung herstellt, ist es der erste morgendliche Blick, der eine Beziehung zum neuen Ort aufbaut.

Am Vormittag mieten wir zwei Fahrräder an der Rezeption, die wegen des Regenwetters zunächst im Unterstand bleiben, aber immerhin sind wir wieder mobil. Da auf der Insel außer Versorgungsfahrzeugen keine privaten Autos zugelassen sind, ist das Rad das wichtigste Verkehrsmittel. Mit Regenschirm gehen wir eine Runde im Ort und lassen uns zum Mittag auf dem Räucherkutter am Hafen nieder. Warmer Fisch, frisch aus dem Rauch, ist eine besondere Delikatesse. Auf dem Vordeck des Schiffes sind Tische und Bänke montiert, die sich der Schräge der Bootsplanken anpassen. Das Bier steht somit bedrohlich schief im Glas, während eine gewisse Gefahr besteht, dass alles samt Speisen auf den feuchten Tischplatten abrutschen könnte. Das macht das Erlebnis authentischer und wir fühlen uns verbunden mit dem Fischgeruch, dem alten Holz und dem Eisen des Bootes, als wären wir die Fischer selbst, die ihren Fang verzehren. Wer mit sich beschäftigt ist, kommt nicht auf unnütze Gedanken und wer Zeit hat oder sich diese nimmt, kann genießen: das Essen, einen halbwegs trockenen Platz, den Blick aufs Wasser und den Hafen sowie die frische Seeluft. Mehr brauchen wir momentan nicht.

»Ich denke, hier werden wir nochmals Rast machen«, sage ich.

»Oh ja, unbedingt«, meint meine Frau.