Himmel, Hölle, Rock 'n' Roll - Chris von Rohr - E-Book

Himmel, Hölle, Rock 'n' Roll E-Book

Chris von Rohr

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Beschreibung

In seiner Autobiografie "Himmel, Hölle, Rock 'n' Roll" nimmt uns Chris von Rohr auf eine große Reise mit. Auf eine Reise mit vielen Glanzlichtern, aber auch Rückschlägen. Er schildert Erfahrungen, die klarmachen: Scheitern ist kein Problem, wenn man sich sein inneres Feuer bewahrt, wieder aufsteht und unerschrocken weitergeht. Chris von Rohr schreibt nicht nur über die Kunst des Songschreibens, des Liebens und des Lebens, sondern zeigt auch, was man bewegen kann, wenn man an seinem Traum arbeitet und wenn Leidenschaft, Wille und Hingabe auf die Spitze getrieben werden. Das Buch wird keine Leserin, keinen Leser kaltlassen, weil es das Sein hinter dem Schein offenlegt und uns Vertrauen und Kraft gibt, den eigenen Weg zu finden. Es macht Mut auf das Leben. Mut, etwas zu riskieren und freudvoll dem nachzugehen, was man im Herzen trägt. There's no limit! "Himmel, Hölle, Rock 'n' Roll" ist eine ebenso eindrückliche wie swingende Liebeserklärung an das Leben, an die Musik, an die Liebe, die Frauen, die Freundschaft, an das Streunertum und das Kindbleiben. Bei Chris von Rohr geht es immer ums Ganze. So witzig, unterhaltsam und so gnadenlos ehrlich und bestechend kompromisslos wurde die eigene Geschichte noch selten festgehalten. Würde es nicht nur für Musikalben, sondern auch für Bücher Edelmetallauszeichnungen geben, "Himmel, Hölle, Rock 'n' Roll" bekäme Platin.

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Seitenzahl: 936

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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2019 Wörterseh, Lachen

Lektorat: Andrea LeutholdKorrektorat: Sibylle Marti, Birgit Fuß, Lydia ZellerFotos Umschlag und Bildteile: Privatarchiv – gesonderte Rechte sind nicht ausgewiesen (die Namen der Fotografen befinden sich im Dank)Foto Klappe hinten: Beat MumenthalerUmschlaggestaltung: Martin Schaad, Cendrine Galipot, Mark FoxReinzeichnung Umschlag: Thomas JarzinaIllustrationen: Büne HuberBildbearbeitung Bildteile: Michael C. ThummLayout und Satz: Beate SimsonDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel

Print ISBN 978-3-03763-108-9E-Book ISBN 978-3-03763-769-2

www.woerterseh.ch

 

Für Jewel, meinen hellsten Stern und die mit Abstand beste Produktion meines Lebens, und für die Frauen, die mich einen besseren Mann werden ließen

 
Jeder Heilige hat eine Vergangenheit. Jeder Sünder eine Zukunft.

OSCAR WILDE

Willst du nicht morgen auf die Schnauze fallen, dann sag heute die Wahrheit.

BRUCE LEE

Möge das Verdienst dieser Arbeit allen Wesen zu allen Zeiten und an allen Orten zugutekommen.

BUDDHISTISCHES SPRICHWORT

 

INHALT

Über das Buch
Über den Autor

El Camino – der Weg

1   RAUSKÄMPFEN

Das Wunder von Bern
Roots
La Familia

Das Piano

Frührock

Heiminsasse

Schlagwerk

First Love

Scouts

Neuenburg

Love & Peace

Stones & Beatles

LSD

Kommune Himbeer

Inside

2   AUFWACHEN

Hermann Hesse
Bildstrecke 1
Dancing Schrott

Kreuz-Genossen

Brigitte

Krokus

Studiowehen

Konzertchaos

Powerfusion

To You All

Lady Blanche

Pain Killer

Neustart

Sängerkapriolen

Ungarn & Hamburg

Metal Rendez-vous

3   HÖHENSCHWINDEL

Raketenflug
England
Claudia

USA

Groupie-Alarm

Hardware

Tommy & Lennon Blues

On the Road

Hammersmith Odeon

Bambi-Entführung

New York

Große neue Welt

Miesmacher

Megadeal

AC/DC & One Vice

Flucht

Hallenstadion

Bad Boy

4   LOSGELÖST

Endlose Monstertour
California Dreaming
Stone-Cold

Drumchange

Headhunter

Mona

Videowahnsinn

Tourbus-Madness

Motörhead

Bildstrecke 2

Arena-Rock

Def Leppard

Irre Sprünge

Sodom und Gomorrha

Große Fehler

Liebesaus

Ehrenbürger von Tennessee

Boulevard-Salat

Das bittere Ende

5   AUFSTEHEN

Erfolglose Reanimation
Radio Gaga
Volles Rohr

Gotthard

Tanja

Goldständer

Polo & Willy

Merci, Genie

Amerigaga

Der Mohikaner

Der Samurai

Löwenzahn

Montserrat

Defrosted

Juratest

Eicher

Beinahe himmlisch

Little Buddha

Im Fadenkreuz des Salamikartells

6   ANKOMMEN

Treibgut
TV
Kinderzeiten

Late Night

Ich schreibe, also bin ich

Bildstrecke 3

Leelas Abgang

Elternabschied

Kroky-Comeback

Abbey Road

New Beat

Die Hippie-Elfe

Kultur- und Politwirren

Back in the USA

Homecoming

Big Rocks

Songmates

Angie

Die Nachtigall

Adios Amigos
Post festum

Créditos finales

 

ÜBER DAS BUCH

In seiner Autobiografie »Himmel, Hölle, Rock ’n’ Roll« nimmt uns Chris von Rohr auf eine große Reise mit. Auf eine Reise mit vielen Glanzlichtern, aber auch Rückschlägen. Er schildert Erfahrungen, die klarmachen: Scheitern ist kein Problem, wenn man sich sein inneres Feuer bewahrt, wieder aufsteht und unerschrocken weitergeht. Chris von Rohr schreibt nicht nur über die Kunst des Songschreibens, des Liebens und des Lebens, sondern zeigt auch, was man bewegen kann, wenn man an seinem Traum arbeitet und wenn Leidenschaft, Wille und Hingabe auf die Spitze getrieben werden. Das Buch wird keine Leserin, keinen Leser kaltlassen, weil es das Sein hinter dem Schein offenlegt und uns Vertrauen und Kraft gibt, den eigenen Weg zu finden. Es macht Mut auf das Leben. Mut, etwas zu riskieren und freudvoll dem nachzugehen, was man im Herzen trägt. There’s no limit!

»Himmel, Hölle, Rock ’n’ Roll« ist eine ebenso eindrückliche wie swingende Liebeserklärung an das Leben, an die Musik, an die Liebe, die Frauen, die Freundschaft, an das Streunertum und das Kindbleiben. Bei Chris von Rohr geht es immer ums Ganze.

So witzig, unterhaltsam und so gnadenlos ehrlich und bestechend kompromisslos wurde die eigene Geschichte noch selten festgehalten. Würde es nicht nur für Musikalben, sondern auch für Bücher Edelmetallauszeichnungen geben, »Himmel, Hölle, Rock ’n’ Roll« bekäme Platin.

Diese Autobiografie ist eine Liebeserklärung an fünf Jahrzehnte Rock ’n’ Roll, an die Musik, an ein Lebensgefühl, an die Frauen, das Kindbleiben und an die Freundschaft. Chris von Rohr wirft sein ganzes Leben in die Waagschale. »Himmel, Hölle, Rock ’n’ Roll« ist ein Buch, das bleiben wird.   Birgit Fuß, Rolling Stone
Chris von Rohr hat einen unvergleichlichen und unverwechselbaren Sprachsound, an dem man hängen bleibt. Außerdem macht er mit seinen selbst erfundenen Anglizismen und Metaphern die deutsche Sprache leichter und musikalischer. Ihn zu lesen, ist ein beinahe körperliches Vergnügen!   Pedro Lenz
Dieser Jurasüdfüßler ist ein unverwüstliches Rockgewächs, das wilde Blüten treibt und große Lust aufs Leben macht.   Dieter Meier, Yello
Das große Talent des 360-Grad-Chris ist seine ansteckende Begeisterungsfähigkeit, seine Authentizität und Ehrlichkeit, gepaart mit einem außerordentlichen Gespür für Musik und Worte.   Claude Cueni
Eine starke, herzvolle Hymne auf den Rock ’n’ Roll, das Streunertum und das Überwinden von Hindernissen. Hammerperformance vom Rohrman.   Udo Lindenberg
 

ÜBER DEN AUTOR

© Beat Mumenthaler

Chris von Rohr, geb. 1951 in Solothurn, Rocklegende und Kultfigur, ist mit rund sechzehn Millionen verkauften Tonträgern der erfolgreichste Rockmusiker der Schweiz. Der Gründer und heutige Bassist der Band Krokus wurde als Musiker, Songwriter und Produzent (Krokus, Gotthard, Polo Hofer, Patent Ochsner) über fünfzig Mal mit Edelmetall ausgezeichnet, unter anderem auch mit Gold und Platin in den USA und Kanada. Sein Slogan »Meh Dräck« wurde zum Schweizer Wort des Jahres 2004 gekürt. Der feurige Freigeist mag Menschen, spricht vier Sprachen und hat nicht nur ein Gespür für Musik, sondern auch fürs Schreiben – alle seine bisher veröffentlichten Bücher wurden zu Bestsellern. Der Ehrenbürger von Memphis, Tennessee, ist Vater einer Tochter, wohnt in Solothurn, bereist die Welt und lebt den Rock ’n’ Roll.

 

EL CAMINO — DER WEG

I gave it up for music and the free Electric Band.

ALBERT HAMMOND

Im silbrigen Vordruidenalter hat man einiges zu erzählen und weiterzugeben, sei es den Jungfüchsen oder den Altratten. Es gibt keinen Kurs, keinen Abschluss für Erfahrung und Meisterschaft. Der Preis ist deine Unschuld. Irgendwann merkst du, dass du gar keine Wahl hast. Du musst es einfach durchziehen, durchleben und Glück haben. Ich hatte Glück. Wo ich war, schien meist die Sonne, aber nicht nur. Es gab auch Dämonen, Schatten, Streit, Neid, Trennungen, Bitterkeit und Frust. Das menschliche Herz im Widerstreit mit sich selbst. Aber Verletzungen und harte Zeiten formen den Charakter, machen dich bewusster, und die Herzen werden gewaschen. Was sicher half, war meine Unerschrockenheit, gepaart mit Neugier, Naivität und Ruhelosigkeit. Eine anstrengende, abenteuerliche Mischung, aber auch eine berauschende. Sein Leben zu leben, ist das eine, es wiederzugeben das andere. Es haben viele Leute den Mut, zu leben, aber nur wenige den Mut, ihr Leben zu erzählen, sagte einst Filmemacher Jean-Luc Godard.

Jedes Menschenleben ist ein Buch oder mehrere wert, man muss es nur schreiben, am besten selbst. Nur so ist es unverfälscht. Es ist der Versuch, ein Leben über die konzentriertesten Augenblicke zusammenzusetzen. Das kostet zwar Tausende von Stunden, aber es lohnt sich. Ich schuldete es den guten und den schlechten Zeiten, aber auch all den Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnet bin. Sie brachten das Ganze erst richtig zum Blühen und zum Swingen. Wozu Romane erfinden, wenn die Wirklichkeit so spannend ist? Auch wenn man zuweilen das Gefühl hat, das kriegerische Menschentier befinde sich trotz all seinen genialen Kulturergüssen, technischen Erfindungen und Flatscreens bereits wieder auf dem Weg zurück zum Neandertaler, blicke ich nach wie vor zuversichtlich in die Zukunft. ZÄHMUNG MISSGLÜCKT. Die Welt ist nicht verloren.

Ich schreibe nicht, weil ich zu wenig gut male oder schlecht Tennis spiele, nein, ich schreibe, weil ich die Sprache und Geschichten liebe, um Freud und Leid weiterzugeben und festzuhalten, was sonst verloren ginge. Und lasst euch versichern, ich habe das elfte Gebot – »Du sollst nicht langweilen« – eingehalten. Dieses Buch zu schreiben, half mir aber auch, zu erkennen, wer ich war und wer ich geworden bin und wie man mit Erfolg und Niederlagen umgehen kann. Die Reise ist kurz, viel zu kurz, also lerne schnell, sei flexibel, geh volles Risiko, ohne Plan B. Hab Spaß, lache, spiele, liebe komplett, und dann – das Schwierigste überhaupt: Lerne, zu vergeben, denn das ist der Schlüssel zum Frieden, zu deinem und zum weltweiten. Viel Zeit haben wir nicht. Die Göttinnen der Liebe und des Glücks lächeln nur kurz. Also zeige dich, sprich es aus, »ent-wickle« und verschwende dich, lebe!

Zu Kindeszeiten predigte man mir immer vom Ernst des Lebens. Vergesst das! Brecht die Regeln und geht euren Weg. Ihr müsst vor allem eure Neugier, eure Visionen, eure Träume ernst nehmen – und daran arbeiten. Mir hat das immer mehr gebracht als die ganzen anderen Hirngespinste oder Schulbänke. Und eines hat mir meine grandiose Mutter selig schon früh beigebracht: »Sohn, achte auf die Details, sei sorgfältig, aber denke groß – ich meine GROSS, Junge. Verlier dich nicht im Unterholz, argumentiere nicht mit engstirnigen Deppen, Neidern und Zynikern, für die es nur ihre vorgefasste Schubladen-Meinung gibt. Das zieht dich nach unten und zermürbt dich. Grüble nicht zu sehr!« Das probierte ich nie zu vergessen. Und, sorry, liebe Falschspieler und Runtermacher: Ihr habt mich nicht so weit gebracht, euch das verdiente Faust-Sandwich zu verpassen, um all eure Halb- und Unwahrheiten so richtig wegzuputzen.

Es ist mir mittlerweile auch egal, ob man mich einen verträumten Hippie, einen ruhelosen Streuner oder eine unausstehliche Kratzbürste schimpft. Man muss nicht von allen geliebt und respektiert werden. Was bringen dir falsche Freunde und saisonale Schulterklopfer? Manche Dinge müssen einfach fadengerade ausgesprochen werden, auch wenn sie nicht so schön sind. Da kann ich schon angriffig, grob und ungestüm werden. Das ist einfach mein Naturell, aber ich kämpfe immer mit glühendem Herzen und offenem Visier. Grundsätzlich bin ich ein großer Menschenfreund und lebe das auch. Wichtig ist, das zu lieben, was du tust, die Glut am Leben zu halten und ein paar echte Freunde zu haben, die da sind, wenn ein Sturm aufzieht – und die dich im Erfolg nicht allzu ernst nehmen. Die Cäsaren hatten auf ihren Triumphzügen immer jemanden nahe am Ohr, der ihnen zuflüsterte: »Du bist nur ein Mensch, du bist sterblich – vergiss das nie!« Mit dem Ruhm kommt niemand klar. Er korrumpiert, macht selbstgefällig, bestätigungssüchtig und dazu bequem.

Mein Zauberengel Eleonore la Grange dans le ciel bleu hielt zum Glück die schützende Hand über mich. Schlagzeuger, Gitarrenspieler, Bandgründer, Musikproduzent, Hippie, Reizfigur, Buchschreiber, Farbenverehrer, Baumpflanzer, Flexibilist, Bohemien, Lautmaler, Frauenbetörer, Songschreiber, Motivator, Optimierer, Skorpion, Urmund, Rebell sowie hoffnungsloser Romantiker, irgendwo zwischen Kind und Indianer, Leidenschaftler und Vater. Lasst euch sagen: Wir sind alle zum Zerfall verurteilt. Aber zuvor dürfen wir schon Vollgas geben, etwas wagen, in unsicheres Terrain vorstoßen, egal, was die Dumpfgummis aus der halb toten Gähnabteilung sagen. Es gibt nichts Heroischeres als das Auskosten des Alltags. Klar lauern überall Fallen, vor denen möchte ich euch warnen – aber hey, es gibt so viel mehr Schätze. Und die will ich preisen und sie euch hier ans Herz legen. A-wop-bop-a-loo-bop-a-wop-bam-boom … Vier Schläge pro Takt, keine Mogeleien, und Achtung: Man darf es nicht schleifen lassen, denn am Ende erarbeitet man sich sein Glück sowie sein Leid meistens selbst.

Es ist mir eine Freude und eine Ehre, euch diese Geschichte jetzt endlich ganz und am Stück zu erzählen. Sie ist einmalig, wie jedes Menschenleben. Nebst einem Remix meiner vergriffenen Hunde- und Bananenbücher, die einen zweiten Lauf verdient haben, gibts natürlich viel Neues zu erzählen. Alle Möglichkeiten des Lebens, alle Straßen haben mich hierhergeführt. Traum-Albtraum-Erlösung, mein persönlicher Jakobsweg. Das, was am Schluss, wenn sich der Staub legt, bleibt, sind ein paar Songs, ein paar Geschichten, ein paar Frauen, Freunde und natürlich die Kinder – alles hängt mit allem zusammen und ist miteinander verbunden. Die große Synchronizität. Diese Welt ein klein bisschen besser machen. Utopia im Loveland. Sorgfältiges Hinschauen und die Probleme offen ansprechen und helfen, sie zu lösen. Genau dahin zieht es mich. Nach dem Zeitlosen, der universellen Wahrheit suchen. Vereinigung, nicht Abspaltung, Einklang, hin zum Absoluten.

Haltet die Ohren steif. Hoffnung, Herz und Leidenschaft, what else? Im Schnitt 27 000 Tage Leben. Genießt das Glühen des Augenblicks, das Einzige, was wir wirklich haben! Es gibt kein Morgen. JETZT PASSIERTS! Und wenn es passiert ist, bleiben die memories. Sie sind die Lichter an unserer long and winding road, auf dem Camino des Lebens. Wir erzählen es rückwärts und leben es vorwärts. So schauts aus, Compadres!

Love ’n’ Rocks across the universe …

 

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DAS WUNDER VON BERN

Todmüde und aufgewühlt liege ich auf der Couch, wo mich noch vor zwei Wochen eine bezaubernde, leicht verwilderte Brünette ins Lustnirwana schickte. Tempi passati. Schlaf weg, Freundin weg, Moral weg. Die Schulter schmerzt, der Rücken zuckt. Sind das jetzt die letzten Wehen oder der Kurz-vor-Ladenschluss-Blues des röhrenden Hirsches? No sleep, no girl, no satisfaction?! Kann man unter diesen Umständen überhaupt ein Comeback wagen? Was für ’ne Frage. Man muss! »LAST EXIT ROCK ’N’ ROLL« – what else?! Klar, einiges fühlt sich heute leicht anders an, aber vieles auch besser. Also Minikrise umschiffen, Hüfte in Schwung bringen und zurück in die Spur finden. Sich freuen auf den Tag, der gerade am Horizont erscheint. Ich lebe noch, andere haben sich bereits verabschiedet. So why worry?

Die Zeit war reif! Nach Tausenden von Mails, Krisengesprächen, Annäherungsversuchen, Jams, Anwalttalks, Versöhnungstreffs und einer TV-Reunion-Show waren wir nun heute, am 19. Juli 2008, in den Katakomben des Stade de Suisse, im Tempel des Fußballs, weltweit bekannt als Das-Wunder-von-Bern- oder Wankdorf-Stadion. Und ein Wunder wars für uns Krokus-Boys auf jeden Fall. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren geglaubt? Entfremdet, von Krankheiten, Streitereien und Seelenlöchern geplagt, jeder auf seinem eigenen Ego-Ritt, getrieben von Fehleinschätzungen, Kleinkrämereien, geldgierigen Bastel- und Fummel-Managern. Nein, da war kein Feuer mehr für diese Truppe. Mein Leben war erfolgreich und schön. Ich hatte eine bezaubernde Tochter, gute Jobs als Produzent, Songwriter und Kolumnist, meine eigene Radio- und TV-Show, was wollte ich mich da noch mit dem Irrsinn einer Rock-’n’-Roll-Band rumschlagen? Too much monkey business, wie es Chuck Berry so treffend formulierte, und davon hatte ich schlicht die Schnauze voll. Allein ist alles einfacher und effizienter, man muss nur auf sich und seine eigenen Schritte schauen. Und trotzdem kam es anders …

Warum? Einmal Musiker, immer Musiker! Einmal Rocker, immer Rocker. Du kannst das nicht einfach abstreifen wie ein altes Jackett oder eine Uhr, auf jeden Fall nicht langfristig. Erfolge feiern, Geld sammeln, rumreisen, Bungee-Jumping, Bäume pflanzen, im Garten arbeiten, Bücher lesen, Bücher schreiben, Radio und TV machen, Bilder malen, Häuser bauen, Filme fabrizieren, was auch immer … Das mag ja cool sein, aber es gibt weltweit nichts Vergleichbares, nichts Ekstatischeres, Faszinierenderes, als mit einer echten Rockband live abzudrücken. Dieses Feeling, wenn der Bühnenboden bebt und die Luft vibriert, die Hosenbeine flattern, die wunderbarsten Frauen große Augen bekommen, steife Geschäftsfuzzis wieder zu Kindern werden, vier Generationen jubeln, wenn die Band zum »Long Stick Goes Boom«-Intro-Akkord ansetzt – Freunde, das kann dir NICHTS und niemand ersetzen, für kein Geld der Welt. You better believe it! So einfach ist das.

So waren wir also an diesem denkwürdigen Tag in dieser für Sport ausgelegten Großgarderobe und konnten es kaum glauben, hier zu sein. Trotz klarem Zeitplan wegen der Anwohnerschaft in unmittelbarer Stadionnähe, die allem Anschein nach um 22 Uhr 30 ihren Schlaf brauchte, überzog die Berner Vorband zwanzig Minuten, weil keiner der Verantwortlichen die Eier hatte, ihnen den Stecker zu ziehen. Es war klar: Wir waren in der Schweiz, in Bern, unserer alten Hassliebe, wo man gewisse Mundartbands endlos in den Himmel hebt und Hardrocker aus Solothurn am liebsten zur Hölle schickt. Willkommen, here comes Krokus, ob ihr’s nun wollt oder nicht, we are back! In Schweden, England oder Deutschland hätte man die Mutzenrocker-Supportband einfach von der Bühne gepeitscht. Oder anders gesagt: Im Ausland herrscht ein gegebener Respekt unter den Bands und Crews – jeder weiß, was er wann zu tun hat, was sein Part und sein Zeitfenster ist. Es wird nicht rumgejammert und nach Ausreden und Entschuldigungen gesucht. So wie es eigentlich sein muss.

Doch nichts konnte heute die Freude dieses Großereignisses trüben. Auch wenn die Fans an dem Abend wegen dieses unsinnigen Zeit-Fuck-ups nur zwölf statt fünfzehn Songs bekamen und unsere arg gehetzte Roadcrew wegen der daraus entstandenen Umbauhektik diverse Kabel falsch einsteckte. Somit war der ganze ausbalancierte Nachmittags-Soundcheck am Arsch. Scheiß drauf, wir wussten wie mit solchem Müll umgehen, und hallo: Dies war der Anfang einer neuen Krokus-Ära, an die, wie schon ganz am Anfang, kaum jemand glaubte. Wir taten es weder fürs Geld noch für sonst was, sondern für UNS, für uns und die Liebe zu dieser Musik. Das hielt das ganze menschliche Lotterwerk zusammen, dieser Sound. Das ultimative Rock-Ufo konnte nach den unendlich langen Irren und Wirren endlich wieder abheben. Diese Band hatte ihre eigenen Ich-Käfige, ihre elenden Dämonen, all die verdammten Intriganten, Heuchler und Miesmacher besiegt. Jeder von uns war auf seine Art ready und unser Sänger mit uns. Die Operation »The Original is back« konnte beginnen.

Gölä, der Mann mit Staub auf der Lunge, sagte uns in Form eines Gospelgebetes an: Diese Band gab uns schon ein gutes Gefühl, als wir noch auf unseren Mofas in Lederjacken zur Disco fuhren, halleluja! Diese Band ist schuld daran, dass ich ein Rocker geworden bin, halleluja! Diese Band hat mich stolz gemacht, ein Schweizer zu sein, als ich durch Amerika fuhr und »Bedside Radio« im Radio lief, halleluja! Diese Band hat mich wütend und traurig gemacht, als sie sich auflöste – aber das ist Rock ’n’ Roll, halleluja! Und diese Band hat mich glücklich gemacht, als ich vernahm, dass sie wieder zusammen spielen. Ich danke dem Gott des Rock ’n’ Roll, halleluja! Ladies and Gentlemen, the boys are back! Please welcome the greatest Swiss Rock ’n’ Roll band in the world. The one and only Krokus!

Die Fanfaren erklangen, und ab gings mit dem besagten Openingklassiker »Long Stick Goes Boom«. Wir rumpelten Vollgas von Song zu Song. »Rock City«, »Tokyo Nights«, »Fire«, »Winning Man«, »Bedside Radio«, »Screaming in the Night«, »Heatstrokes«, »Easy Rocker« … Irgendwie wussten wir gar nicht, wie uns geschah, es passierte einfach. Die Emotionen nahmen überhand, und jeder spürte, dass er ein Teil von etwas Großem und Unwiederholbarem war. Alle Mühen, Streitereien, Spaltpilze und Kontroversen waren wie weggeblasen. Das, was uns verband, die Musik, übernahm das Kommando, und wir genossen jede Sekunde. Wie alles Schöne im Leben gings viel zu schnell vorbei. Ich erinnere mich noch heute an all diese glücklichen Gesichter, darunter auch viele bekannte Musiker und Rocker, die die Band schon 25 Jahre nicht mehr in der Original-Formation gesehen hatten und den Soundtrack ihrer Jugend plötzlich wieder zu hören bekamen. Ein einmaliger Trip. Die gängigen Soundprobleme auf einer Großbühne hielten sich an diesem magischen Sommertag in Grenzen. Wir konnten voll in die Songs eintauchen und es genießen. Unvergessen für mich, als wir nach den Zugaben zusammen den weiten Weg von der Bühne, auf dem Rasen quer übers Feld, zurück in die Garderoben liefen. Oben, weit weg, auf den Rängen winkten uns Tausende Fans zu und wir zurück. Ich musste zwangsläufig an Amerika und die Achtzigerjahre denken, als wir auch in großen Arenen spielten. Diese Dimension der Weite, das schiere Bild dieses göttlichen Moments. Es kam ein Gefühl von Euphorie auf, gemischt mit Melancholie – und vor allem Dankbarkeit, dies alles noch mal so erleben zu dürfen, besser und bewusster als je zuvor. Wir zündeten diese Rockrakete heute. Es war unsere Art, zu sagen: WIR SIND WIEDER DA! Und wir wussten genau, was wir zu tun hatten.

Der Weg hierhin war jedoch holprig, steinig und unberechenbar. Die Anfänge fahl, zäh und bleiern wie aus einem anderen Leben und Jahrhundert. Zeiten der Dunkelheit und der Täuschung, irgendwie surreal. Ein Streifzug durch den Wahnsinn, in dem ich mehr als nur einmal der Trouble-Man war.

 

ROOTS

Ich bin Chris von Rohr. Eigentlich heiße ich Christoph von Rohr. Christoph änderte mein Englischlehrer, God bless him, in Chris. Rohr ist ein kleines Nest im Kanton Aargau. Das magische kleine »von«, das man einst ohne Probleme vom Titelhändler Hermann de Weyer, Ehrenkonsul und Botschafter honoris causa der Republik Nasabifundi, für ein paar Riesen kaufen konnte, wurde meinen Urahnen tatsächlich von einem Baron, dem Grafen von Rohr, verliehen, nachdem ein besonders Wagemutiger unserer Sippe seine wunderschöne Tochter an den Haaren aus dem Sumpf gezogen und ihr damit nach einer veritablen Mund-zu-Mund-Beatmung das bis dato noch jungfräuliche Leben gerettet hatte. Welch eine Tat! Könnte ich das je übertreffen?

Anyway, »von« hin oder her, Chris »Die Röhre« wurde am 24. Oktober 1951 um 17 Uhr als Skorpion in der Klinik Obach in Solothurn, Schweiz, geboren. Es war das Jahr, in dem auch Sting, Mike Krüger und Paul Breitner auf die Welt kamen und Queen Elizabeth II. sich langsam für den Thron in England warmlief. Laurel und Hardy traten der Fremdenlegion bei, weil sie sich von ihren Ehefrauen vernachlässigt fühlten, aber immerhin sang Bill Haley »Rocket 88«, was als erste Aufnahme eines Rock-’n’-Roll-Titels gilt. Doch das interessierte hier kein Schwein. Also rein örtlich ein eher schwieriger Start, denn aus Solothurn kommen normalerweise keine Chefnasen. Meine Eltern waren weder arm noch besonders reich. Mittelschicht nennt man das heute. Weder Mülltonne noch Fuckingham-Palast. Irgendwo zwischendrin. Wir hatten genug zu essen, und es war auch ganz nett zu Hause.

In Solothurn am Aarefluss, unweit vom Hauptbahnhof, liegt die Schänzlistraße. Da erblickte Klein Chris langsam, aber sicher, durch den Schleier des Juranebels, die Welt. In den »Cervelat-Blöcken« einer großen Wohnsiedlung aßen die Mieter meist nur Billigwürste, da der Mietzins mit 200 Schweizer Fränkli (heute 2000) einfach zu hoch war. Mir wars wurst, und ich ziehe auch heute noch eine gute Salami dem Entrecote vor. In dieser Siedlung kannte jeder jeden. Über alles wurde geklatscht und getratscht. Vom Hühnerauge bis zu wessen Unterhose gerade am Trockenseil hing, nichts blieb verborgen. Ein kleines, miefiges Quartier, wo Menschen lebten, die alles waren, nur eines nicht: Rock ’n’ Roll. Es interessierte keinen Hundeschwanz, ob da zufällig gerade ein tanzender Stern ebendieser Musikgattung geboren wurde. Man wollte mich also in diesem Erdenleben auf eine besonders harte Probe stellen. Ich hatte keine Wahl und nahm die Herausforderung an.

Solothurn ist nach Trier die zweitälteste Stadt nördlich der Alpen. Es war einst keltisch, später römisch und wurde dann nach französischem Vorbild der Festungskunst zwischen 1453 und 1727 in eine heavy Stone-Festung umfunktioniert. Diese großartigen Schanzen wurden leider irrwitzigerweise, wie vieles in dieser Stadt, zwischen 1835 und 1880 fast alle wieder abgebrochen. Die Bastion beim Riedholzturm steht zum Glück noch bis heute und dient den Frischverliebten und Geschichtsforschern als willkommener Zufluchtsort. Solothurn war auch kurz mal alemannisch, um schließlich 1481 zusammen mit Freiburg der Eidgenossenschaft beizutreten. Sie waren fortan »Städte zweiten Ranges«, sagt das Geschichtsbuch. Was immer das heißen mag, das erzkatholische Städtchen, in dem ständig irgendwelche Kirchenglocken Sturm läuten, nennt sich wegen seines Schutzpatrons Ursus und der prächtigen Kathedrale auch »Sankt-Ursen-Stadt«. Das Zusatz-Gütesiegel »Ambassadorenstadt« gabs, weil früher Gesandte aus aller Welt, vor allem die Franzosen, die ihre Schweizer Botschaft hier hatten, gern mal ’ne Party schmissen. So holte sich Casanova in Solothurn den Tripper, und Napoleon hat bis auf den heutigen Tag im ehrwürdigen Hotel Krone eine Rechnung offen (no joke): ein Glas Wasser, Coke gabs noch keines, das er bei seinem Tourneekurzstopp zu sich nahm und nie bezahlte! Solothurn galt als konservatives Industrienest mit der Stadtzahl elf. Elfter Stand in der Eidgenossenschaft, elf Brunnen, elf Türme, elf Kirchen, elf Kapellen, elf Zünfte, elf Vogteien, elf Domherren, elf Glocken, elf Orgelpfeifen, elf Idioten … whatever, Hauptsache die Schnapszahl elf.

Fragte man früher jemanden, was er denn arbeite, so hieß es: »I dr Fabrig, dänk …« Auch an der Schänzlistraße. Entweder man malochte in der Uhrenbranche oder in den großen Eisenwerken, den rauchigen Heavy-Metal-Fabriken nördlich der Stadt. Ich entschied mich fürs Zweite, strich aber das Wort Fabrik. Doch so weit wars damals noch lange nicht. Erst kam die graue Zeit. Dieser Ort am Jurasüdfuß hält den Nebelweltrekord, gepaart mit einer schwer auszuhaltenden Trockenheit im Winter. Kurzum, kein Klima für sonnige Gemüter. Dies, zusammen mit dem dumpfen, schalen Nachkriegs-Permafrust-Feeling, hat im kleinen de Röhr eine Gegenreaktion ausgelöst, die vorerst darin bestand, ins Bett zu pissen und aus dem vierten Stock Büchsen auf ältere Damen zu werfen, was natürlich den Haftpflichtversicherungsdealer ganz besonders freute. Später schüttelten mich ein paar obligate Kinderkrankheiten. Ich war nicht unbedingt der Stärkste und Gesündeste, aber auch kein Seuchenvogel. Freunde der Sonne, ich sags euch ehrlich: Die ersten Jahre hab ich einfach ausgeblendet – keine Ahnung, was da mit mir passierte. Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück zum Ende der Fünfzigerjahre. Baumklettern im Gemeinschaftsgarten, Dachboden erkunden, Völkerball, den schwarzen Hund vom Nachbarn ausführen und den Mädchen unter die Röcke gucken waren die ersten Spiele. Und als absoluten Hammer baute ich mir ein Zelt aus alten Bettlaken; der Notoperationsplatz des Dr. von Röhrenstein.

Doch dann kam zum Glück Winnetou und gab meinem Leben die entscheidende Wende. Endlich etwas Handfestes, Wildes, Farbiges. Ich hatte mich unwiderruflich auf die Spuren von Karl May begeben und wurde der Indianerhäuptling von Solothurn. Da war ’ne Menge los. Der Indianerchef verkörperte damals das, was ich auch heute noch geil finde: Abenteuer, Romantik, Freundschaft, Einsamkeit, lange Haare und ausgebleichte Kleidung. Ich spürte schon als kleiner Knirps, dass die Tugend der freiheitsliebenden Roten, mit der Natur und nicht gegen sie zu leben, für mich bestimmend sein würde. Damals gings mehr um Pfeil und Bogen, Kriegsbemalung und Blutsbrüderschaft. Wer mit wem, und wie weit durfte man gehen? Eine kleine Sippendramatik, die später bei der Musik zurückkam. Ich hatte bald einen kleinen Stamm Mitbrüder, die zu fast allem bereit waren und mich zum Häuptling »Sitting Poulet« wählten. Die Streifzüge durch die nahe liegenden Wälder zählten zum Schönsten in meiner Jugend. Ganz konnte ich in Solothurn zwar kein Indianer werden, aber in den Wilden Westen wollte ich unbedingt einmal.

Der Winter war auch immer wieder schön. Let it flock! Ein kleiner, zugefrorener See und wir ready to rodel. Ich mochte die Winterzeit, diese stille Geborgenheit, wenn der weiße Zauber zeitweise alles lahmlegt, diese sanfte Ruhe einkehrt und der ganze Weltenwahnsinn für einen Moment ruht. Man konnte neue Spuren setzen, die alten wurden von Mutter Natur ausgelöscht. Ich stand am Stubenfenster und schaute über die großen, weißen Flächen und begann zu träumen. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur diesen Moment. Eine total friedliche Stimmung. Alles wurde so geheimnisvoll in der Nacht, ein bisschen heller als normal, und wenn dann noch der Mond aufkam … Wuauu … Nichts liebte ich so sehr, wie im Licht der Straßenlaternen die Schneeflocken zu betrachten. Stundenlang tat ich das vom Kinderzimmer aus. Sie wurden in meiner Fantasie zu Formen und Gesichtern. Darunter war ein ganz besonderes: Es hatte wirres, blondlockiges Haar und diesen alles durchdringenden Blick. Es war das Christkind, meine erste unerfüllte Liebe. Manchmal legte es mir etwas vors Fenster, und das Chrisi-Herz schlug im Fünfvierteltakt. Bis ich merkte, dass die liebe Mutter das Christkind und Großmutter der Sankt Nikolaus waren, und damit verblassten dann leider auch Magie und Glanz des Weihnachtsfestes.

 

LA FAMILIA

Mein Großvater mütterlicherseits, auf dessen Schreibmaschine ich bis heute gern schreibe, war damals stolzer Besitzer eines kleinen Kleidergeschäfts im Altstadtinnern. Das war eine Welt für sich. Bauern und Förster der näheren Umgebung kamen einmal im Jahr hierher, um sich neu einzukleiden. Stammkunden, die er dann im Verlauf des Jahres auf seinen ausgedehnten Spaziergängen übers Land besuchte. So wusste er immer, wann und wo welche Kuh gerade kalberte und welches Huhn am meisten Eier legte. Im Kleiderladen Gogniat wurden nicht nur Gewänder verkauft, es wurden auch ganze Familiendramen abgehandelt. Derweil versteckten wir uns bei den Klamottenständern zwischen den Anzügen und luden unsere Schreckschussrevolver nach. Der große Raum, vollgestopft mit Jacketts und Hosen, eignete sich bestens zum Spielen. Bis es Mr. Ranzig, dem bösen Chefverkäufer, zu bunt wurde und er uns kurzerhand aus dem Paradies vertrieb.

Oft nahm mich mein Grandad auch zu sich ins kleine Büroräumchen, wo ein großer Schrank und ein Pult standen. Im Schrank, hinter der Rollladentür, verwaltete er einen riesigen Sack Sugus-Bonbons für die Kinder der Kunden. Meine leeren Hosensäcke waren schnell damit vollgestopft. Auf dem Schreibtisch hatte es Schreibzeug, eine Bleistiftspitzmaschine, Sport-Toto-Zettel und eine Baldrianflasche. Jene Tropfen kamen dann zum Einsatz, wenn Großvater dreizehn Richtige getippt und Großmutter vergessen hatte, den Zettel abzuschicken. So saßen wir viele Nachmittage beisammen, füllten diese lustig karierten Scheine aus, oder ich durfte hautnah miterleben, wie das Geschäft mit den Kleidern lief. Ich bekam hie und da einen kleinen Batzen für neue Munition. Auf jeden Fall wurde hier mein allererster Berufswunsch geboren: Verkäufer. Das war meine Welt, und Großvater bestätigte mir Talent. Die Eltern waren nicht unbedingt begeistert.

Die Stadt war vor allem im Februar, zur Fasnachtszeit, ein Riesenhappening. Da hatten »Sitting Poulet« und seine Plattfußindianer jedes Mal gegen wildernde Cowboyhorden von außerorts anzukämpfen, was nicht immer ohne Blut- und Ehrverlust abging. Doch schlugen wir uns meist erfolgreich, und wenn nicht, stand die alte Squaw meines Grandads mit weisen Worten und einer Notapotheke bereit. Wieder und wieder wurde ein Geldtransport der Wells Fargo Bank überfallen; mit Verlust auf beiden Seiten. Wahrlich harte Zeiten!

Mein Opa väterlicherseits war Polizist in Hägendorf, einem 800-Seelen-Dorf vierzig Kilometer östlich von Solothurn. Er hatte fünf Kinder; vier Mädchen und einen Buben. Dieser, mein späterer Vater, wurde, o Schreck, Adolf getauft. Daddy hatte schon immer ein Herz für die Künste, besonders für die Musik und die Malerei. Dies wurde ihm von seinem Vater in diesen kargen Jahren jedoch heftig ausgetrieben: »In der Familie von Rohr gibts keine Zirkusberufe.« Ende der Durchsage. So wurde denn auch ein von meinem Vater mühsam erspartes Schlagzeug unter dem Gelächter seiner vier Schwestern kurzerhand dem Musikgeschäft Hug zurückgeschickt. Bulle Opa hatte null Bock auf Rock.

Dad war aber mit vielen Talenten gesegnet. Er avancierte via kaufmännische Schiene zum Bücherexperten, Abteilung Treuhand. Und so wollten es die Götter, dass er eines Tages zwecks Bilanzüberprüfung im Kleiderharem Gogniat einlief. Dort wartete die Tochter des Hauses auf bessere Zeiten, und die kamen jetzt. Tschabum – bingo. Margrit und Adolf hatten sich gefunden. Das Hammerangebot, Dölf von Rohrs große Göttin zu werden, konnte das tüchtige Margritli auf die Länge einfach nicht ablehnen. Einzige Bedingung: »Deine ewige Stelle als Buchhalter beim Staat musst du aufgeben!« Die Powerfrau legte ihre kaufmännische Ausbildung plus Abitur, inklusive Wirtschaftsstudium, in die Waagschale. Das sollte meinem Vater später sehr zugutekommen. Als fleißige Biene immer und überall dabei, stand sie ihm schließlich felsenfest zur Seite, als er sein eigenes Geschäft, die Ambassador-Treuhand, gründete. Doppelpower vom Feinsten. Doch zuerst wurden ich und mein Bruder Steve in diese Welt geworfen. Und das war, so hörte ich, gar nicht so einfach. Mutter wollte vor meiner Ankunft vom Schragen der Klinik Obach aus Daddy anrufen. »Komm doch mal schnell zur Rockstargeburt rüber.« Doch die zugeknöpfte Schwester Hebamme wollte die zwanzig Rappen für das Telefongespräch vorab kassieren. Na ja, das ging ja eben noch, aber als sie dann totales Brustsäugeverbot für Little Chris erteilten, weil gerade ein elendes Milchpulver von Nestlé in Mode war, wurde es dem erstaunten Neuankömmling zu bunt. Warum durfte gerade ER dem Schönsten, was es überhaupt gab, nicht frönen? Das konnte unmöglich ohne Folgen bleiben – und blieb es auch nicht!

Vorläufig verlief alles nach Plan. Mein Vater arbeitete Tag und Nacht, und plötzlich war genug Cash da, um ein Stück Land am Dürrbach zu kaufen. Es lag fünfzehn Walk-Minuten außerhalb der Stadt in einer Landwirtschaftszone. Da es wieder mal schneite wie Anton, sah ich bei meinem ersten Besuch vor Ort nicht viel. Aber was ich sah, beeindruckte mich. Hier ließ sich sicher ’n Bombenfort bauen! Daddy nahm Little Chrisiboy abends oft auf den Bauplatz mit, um ihn up to date zu halten. Zwei Jahre später wurde dies meine neue Adresse. Zwar kam keine Wildwestranch zustande, doch der Architekt hielt sich im Zaum, und das Inneneinrichtgenie meiner Mutter übernahm. Sie ließ auch als Erstes, damals unüblich, eine Riesenfensterfront im Esszimmer einbauen und gab dem Ganzen einen warmen touch of my sweet home. Mum hatte einfach ein Auge für Schönheit. Die Krönung aber war der Wildbach, der direkt neben dem Häuschen vorbeifloss. Hier ließ sich was anstellen, hier fühlte ich mich wohl. Am Anfang war es allerdings hart, da ich alle meine Freunde von der Schänzlistraße verlor, doch bald formte sich ein neuer, noch verwegenerer Indianerhaufen. Wir kontrollierten die ganze Nordwestseite der Stadt. Howgh!

Gegenüber von unserem Haus bestellte Tony, ein Jungbauer mit Hang zu Jungs – was ich damals nicht mitbekam –, die Felder. Wir freundeten uns schnell an, und Klein von Rohr wurde Farmerbursche. Vom Pflügen übers Mähen, Melken, Mistzetteln, Säen, Heuen, Emden … ich war dabei und besorgte es Mutter Erde. Traktorfahren turnte mich besonders an. Es gab mir Power. Der Tony pfiff und sang. Er hatte immer einen guten Spruch auf Lager und liebte seinen Beruf. Das machte mir Eindruck. Ein lieber Kerl, der plötzlich eines Tages ins Gefängnis musste. »Unzucht mit Feldmäusen.« Als ich dann merkte, was die Bauern mit den Hühnern, Kälbern und Schweinen am Tage X machten, sank meine Stimmung. Ich, der ich die Tiere doch über alles liebe und im letzten Leben ein Hängebauchschwein war! Anyway, die Dramatik und die Düfte in und um den Bauernhof packten mich. Alles war so viel spannender als zu Hause.

Das lag vielleicht auch daran, dass mein Vater nonstop arbeitete und dadurch wenig Zeit für mich und meinen Bruder Steve hatte. Eigentlich schade für beide Seiten, und man kann es blöderweise nicht mehr rückgängig machen. Später war es genau umgekehrt. Da rannte ich immer irgendwo in der Welt herum und meinte, keine Zeit zu haben. Das ist genauso falsch. Ja, ich glaube, mein Vater ist in seinem Leben in gewissen Dingen ein bisschen zu kurz gekommen. Mit sieben verlor er seine geliebte Mutter, ein Horror, und es war bestimmt nicht einfach, mit vier Schwestern aufzuwachsen. Auch wenn er mich oft überhaupt nicht verstand, runtermachte und keine Nerven für den wilden Chris hatte, wollte er für uns alle sicher das Beste. Ich denke, er hat über lange Zeit hinweg zu defizitär gelebt, seine Träume und inneren Wünsche zum Wohl anderer aufgegeben. Daddy war ein begabter Maler und dazu ein angehender Kulturguru. Viele seiner Bilder hängen heute noch bei seinen Freunden und mir. Unvergessen auch seine Ferien- und Stummfilmvorführungen, wo er uns immer wieder Charlie Chaplin und Laurel und Hardy auf einem zickigen Projektor vorführte. Ihm verdanke ich viel, obwohl die Annäherung zwischen Löwe und Skorpion alles andere als einfach war. Zu ähnlich sind wir uns in vielen Dingen.

So war denn damals ganz klar die Mutter das Zentrum der Familie. Von ihr ging eine beruhigende, versöhnliche Stärke aus. Sie bot uns Kindern sowie ihrem Mann Halt und verfügte über enorme Reserven. Fünfzehn Runden – no problem! Wenn auch oft das warme, mütterliche Hennen-kuschel-wuschel-Italien-Feeling fehlte, das sich alle Kids wünschen. Queen Margrit war klar mehr Kopf als Körper. Phasenweise lag ich am Boden unter ihrem Louis-Philippe-Holzsekretär und studierte die Unterrockkultur der späten Fünfziger, während Mum den administrativen Berg abtrug. Natürlich war ihr Eifer Gift für mich, weil mir die totale Nähe zu ihr verweigert wurde. Eine sehr schmerzliche Erfahrung für jeden jungen Menschen. Und bald sprengten der Aufbau des eigenen Geschäfts, der Haushalt und die Kinderbetreuung Mutters Kräfte. Es wurde eine Nanny aufgeboten. Ich goutierte das gar nicht. Unlängst erzählte mir mein damaliges Kindermädchen, ich sei ein wütendes, wildes Kind gewesen, das oft mit Kieselsteinen nach ihr geworfen habe, weil meine geliebte Mutter nicht verfügbar war. »Was? Nur Kieselsteine?«, scherzte ich. Was hätte ich denn tun sollen? Mein Herz blutete, und es ist für jedes Kind leidvoll, wenn die Eltern keine Zeit haben und es abschieben. John Lennon brachte es in seinem Song »Mother« auf den Punkt: Mother, you had me, but I never had you … Mama don’t go, Daddy come home.

Mum war eine Kämpferin. Sie hatte Stil, Schneid, Geschmack, Humor, Chuzpe und Herz. Sie war unerschrocken und ein Mix aus Haus- und Geschäftsfrau. Der Haushalt wurde nie vernachlässigt, weil sie sich um beides gleichermaßen heldenhaft kümmerte. Unverdrossen bereitete sie uns täglich feine Speisen zu, machte die Wäsche und alles, was in einem Haushalt anfällt. Und wir konnten mit allen Problemen zu ihr gehen. Doch für mich gab es nun ein großes: die Schule. Gerade jetzt, da das Leben so richtig toll hätte werden können, brach diese Krankheit voll aus.

Vielleicht lag es an den Lehrern, die keine Anthroposophen oder Indianer waren und wenig Lebensfreude oder gar Visionen hatten. Auf den einzelnen Menschen und seine Veranlagungen wurde gar nicht erst eingegangen. Es ist doch ganz einfach: Jedes normale Kind ist neugierig und geht mit offenen Augen und schwerem Rucksack in die Schule. Dort ist es reine Glückssache: Entweder du hast einen leidenschaftlichen, wachen und freudigen Lehrer, der dir gern mit Begeisterung etwas vermitteln kann, oder aber einen abgestumpften, kaputten Pauker, der stur nach Protokoll seinen Frust an dir auslässt. Diesbezüglich hatte ich klar die Arschkarte gezogen. Autorität, Gewalt und Rechthaberei triumphierten. Eine schier endlose Trockenperiode stand vor der Tür. Was zum Teufel interessiert denn ein zehnjähriges Kind, das gerade seine ersten Säfte spürt, wie viel 10 + 18 + 17 : 2 × 5 ergibt? Einen feuchten Luftheuler! Da unterhielt ich mich lieber mit meiner Banknachbarin und heutigen Nachbarin Raina über Laubfrösche. Das schien mir weitaus sinnvoller. Nicht so jedoch meinen Lehrern. Es hagelte Strafseiten, Ohrfeigen und Arreststunden. Doch irgendwas im Unterbewusstsein sagte mir: Pas avec moi! Ich wollte wirklich leben … aber wie? Gab es das überhaupt?

Ich wusste es zwar nicht, aber ich spürte, dass es noch eine andere Welt geben musste als die hoffnungslose Enge und Dumpfheit hier. Doch was nützte das? Man hängt da drin und trottet weiter – Tag für Tag. Niemand sagte mir damals, ich müsse nur neugierig bleiben, auf meine Gefühle hören und meinem Instinkt folgen. Ich war und blieb ein Träumer und ein Wilder, an dem jetzt für kurze Zeit Zähmungsversuche unternommen wurden. Auf die tausendmal wiederholte Frage »Was willst du werden?« gabs bei mir neuerdings nur: »König oder Bauer.« Die Indianer waren ja ausgestorben. Das fanden nun alle völlig beknackt. Wem konnte ich damals schon meine Fantasien und Träume erzählen? Mein Vater hoffte natürlich, ich würde später in seine Buchführungsexpertenstube einsteigen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Die Mutter tendierte zu Anwalt. Damals wusste ich zwar nicht recht, was dieses gewichtige Wort bedeutete. In meinem späteren Leben als Rockmusiker wünschte ich mir jedoch oft, ich hätte ein paar »Silvester« Jus studiert oder wenigstens einen fähigen Juristen und keine Haifische an meiner Seite gehabt.

Wie immer lag Großvater Hermann richtig. Er nahm mich mit in die Wälder und verband mich mit den Bäumen, diesen stillen Riesen, die da einfach stehen, so trotzig zum Himmel wachsen und seit Millionen von Jahren, im Gegensatz zum Menschen, genau wissen, was sie zu tun haben, was ihr Zweck ist. Sie haben uns etwas zu sagen, wenn wir richtig hinhören. Ihre Sprache kommt ohne Wörter aus. Es gefiel mir, ihre verschiedenen Arten unterscheiden zu können, und auf manch einen bin ich raufgeklettert, habe mich in seiner Krone verbarrikadiert und wiegte mich im Geäst. Da fand ich ein Reich fernab vom garstigen Alltagstheater, ein pures Land von Farben, Gerüchen und Geheimnissen, wo niemand einen falsch belehren wollte. Einfach Erhabenheit, Eleganz und Frieden, gesund verwurzelt. Es lohnte sich, da Zeit zu verbringen. Das gab mir Zuversicht in dieser unsicheren Zeit. Jugendliche Ungeduld und Sehnsucht verwandelten sich kurzfristig in stille Zufriedenheit. Durch Großvater kenne ich auch den Fliegenpilz: »Bub, schau dir das an, das ist die wahre Kraft und Schönheit dieser Welt.« Wie recht er hatte, erfuhr ich erst später beim ersten großen Space-out-Mushroom-Erlebnis. Auf jeden Fall zeigte mir »Ta-Ta-Ta«, wie ich ihn gern nannte, so vieles, wovon ich als Kind keine Ahnung hatte. Und der Clou: Es bereitete auch Spaß. Wir machten große Feuer, noch größere Schneerollen, besuchten Fußballspiele und gingen auf endlose Bergwanderungen. Er selbst hatte das Matterhorn bestiegen und erzählte mir immer wieder davon. Das fand ich cool, das wollte ich auch mal machen. Immer hatte er eine spannende Story, einen Witz oder eine Wette auf Lager. Der Satz Zeige deinem Kind als Erwachsener jeden Tag etwas von dieser Welt, das dich begeistert und dich berührt aus dem »Tao Te King für Eltern« ist wirklich extrem wertvoll und wirksam. Checkt das mal, liebe Eltern und Lehrer!

Es stimmt, dass Alter und Jugend vieles gemeinsam haben. Die kindlich verspielte Freude an den Dingen des Lebens. Den Moment voll auskosten. Die Bereitschaft, intensiver, freudiger zu leben und nicht ständig im Stress zu sein. Auch später, in kritischen Momenten, fand Großvater immer die richtigen Worte, um mich zu trösten und zu motivieren. Ich liebte ihn, und er war echt, mit all seinen Stärken und Schwächen. Gott segne ihn dafür und lasse Hermann im Jenseits eine Riesenparty haben mit viel Fußball, Natur und ein paar Gläschen Baldrian. Cheers, Ta-Ta-Ta, du warst mein Held!

Auch »Ma-Ma-Ma«, seine Frau Ida »So was war noch nie da«, wusste, wie sie mit dem Leben umzugehen hatte. Ein stolzer Skorpion wie ich, legte sie immer noch einen drauf. Ob Whisky oder Sprüche: Ida gab Gas. Sie war das letzte Überbleibsel der französischen Feudalherrschaft. Sie schwang das Zepter, und Hermann plus Umwelt mussten spuren. De-Meuron-mäßig. »Sind Sie jemand, oder beziehen Sie Lohn?«, provozierte sie neckisch, oder wenn sich einer auf ihren Kirchenstammplatz setzte, gabs böse Schelte: »Im Himmel mögen wir meinetwegen alle gleich sein, aber hier auf Erden wollen wir einstweilen noch Ordnung halten.« Manchen war Iron-Ida zu hart, aber uns Jungen ließ sie vieles durch.

An Wochenenden und in den Schulferien hingen wir ständig bei unseren Großeltern rum, die gar nicht weit von der Dürrbachstraße wohnten. Ein kleiner Garten mit Birn- und Apfelbäumen, einer Thujahecke und einem Reck, an dem immer rumgeturnt wurde. Von der Schaukel aus stellte ich ständig neue Abspringrekorde auf. Im uralten Keller mit Kieselsteinboden gabs allerdings eines schönen Tages Horror: Zwischen Gemüse, Wein und Apfelhurden sah ich meine erste Hexe. Daraufhin ließ ich mich dort wochenlang nicht mehr blicken. Ich sehe das Bild noch genau vor mir: ein altes, verschrumpeltes Weib, das mit fremden Worten gehässig zu mir sprach und gespenstisch leuchtete. Weiß der Teufel, die Großmutter wars auf jeden Fall nicht.

Mein strammer Bruder Steve wurde vier Jahre nach mir geboren, was am Anfang nicht gerade eine große Hilfe war – wegen unseres Altersunterschieds konnten wir nie so richtig miteinander spielen. Vielleicht waren auch unsere Wesen zu verschieden. Er mehr der Bastler und Forscher, ich mehr Abenteurer und Wettkämpfer. Während er mit Meccano einen Kran baute, boxte ich im Keller gegen die Wände, und wenn ich Fußball spielen wollte, nahm er vom Rasen Bodenproben …

Je älter wir aber wurden, desto besser verstanden wir uns. Einer musste vorbahnen, Vorkämpfer der neuen Generation sein, die Rübe hinhalten für die neuen Ideale. Dieser eine war natürlich moi. Steve dankte es mir auf seine Weise, indem er immer für mich Partei ergriff, auf meiner Seite stand, wenn Eltern und die gesamte Umwelt nicht mehr mithielten und sich gegen mich wandten. Dieser Zustand sollte nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.

 

DAS PIANO

Das Ganze begann mit einem harmlosen Chopin-Walzer. In unserem Quartier lebte ein italienisches Gastarbeitergirl. Die war ’ne Wucht. Gabi spielte einen göttlichen rechten Sturm. Die Kickerbuben konnten da nur hintanstehen; einfach genial. Sie hatte dieses gewisse Ballgefühl, wie die Italos eben. Die dunkle Gabi, Typ Sabatini, verdrehte allen die Köpfe. Nur wollte es niemand zugeben. Als sie eines schönen Tages auf ’nen Sirup bei mir einlief, setzte sie sich an unser Stubenklavier und spielte ebendiesen besagten wunderschönen Walzer. Da war es um mich geschehen. Bumm … Die erste direkte Begegnung mit der unsichtbaren Macht der Musik. Der coole Junge fiel in Trance. Natürlich gefiel mir Gabi auch, aber diese Töne, von ihr so vortrefflich vorgetragen, brachten mein Inneres noch mehr durcheinander.

»Zeig mir das«, konnte ich nur noch stammeln. Das Girl wusste gar nicht, wie mir zumute war, und legte seine Arme um mich. Ich schnupperte und fummelte ein bisschen an Gabi rum – dann begann die große Pianoperiode. Nach zwei Monaten fanden meine Eltern, ich solle es doch mal mit ein paar Stunden bei unserer Nachbarin, der Klavierlehrerin, versuchen. Das schien mir logisch, denn so, glaubte ich, könnte ich auch bald wie Gabi spielen. Denkste! Frau Fichtenblatt, eine alte, freudlose Männin aus Israel, brachte es wirklich fertig, mir die Musik zum Albtraum zu machen. Musik? Was Klein Chris eingetrichtert wurde, während das Monster ihm ständig Mitesser ausquetschte, war völlig antimelodisch, Stil Katzengejammer. Diese Folterfugen, die Mr. Anton Wolfer da komponiert hatte, würden jeden Beduinen aus dem Kamelsattel werfen. So etwas konnte ja gar nicht in meine zarten Kinderohren, geschweige denn in mein Herz dringen. Pfui Teufel: atonale Beichtstuhlmusik! Das wars sicher nicht. Meine jungen Finger konnten noch nicht mal eine Oktave greifen. Was ich damals nicht checkte: Hier wurde gerade eine Lebensweiche gestellt.

Ich liebte die Klaviertöne, dieses Universum, diese Harmoniebögen, über alles. Eigentlich war das meine Welt. Es löste in mir, schön gespielt, etwas Monumentales, etwas Größeres als das real Erlebbare aus. Eine innere Heimat. Ich spürte instinktiv, dass ich mit keinem anderen Instrument alles, was ich fühlte im Leben, so ausdrücken konnte. Ein Piano ist ein ganzes Orchester in deinen Händen! Nur muss man es erlernen. Das braucht Geduld, Zeit, gute Ohren und gute Lehrer. Doch damals half mir niemand, den Zugang zu finden. Mir fehlte schlicht ein Mentor, was gerade in einem noch jungen Leben so wichtig ist. Die moderne Art des Teaching, also nicht den strikten kompliziert-klassischen Ansatz, gab es noch nicht. Kein Bartók, keine sinnvolle Harmonielehre, nix. Auch diese elende Versteifung auf das Notenlesen gefiel mir überhaupt nicht. Ich erlebe Musik über die Ohren und nicht über das Notenblatt, das sowieso nie genau wiedergeben kann, wie ein Stück Musik gespielt werden muss. Aber erklär das mal einer verkrusteten Lehrerin, deren ganzes System darauf aufgebaut ist.

Ich bin bis heute auf Kriegsfuß mit den Noten. Was jedoch viele andere großartige Musiker auch sind. Ohne Noten unterrichtete damals niemand, und Youtube war fast noch ein halbes Jahrhundert entfernt. Noch schlimmer war jedoch der Umstand, dass ich jeweils nach einer halben Stunde an diesem Instrument starke Rückenschmerzen bekam. Das trübte nicht nur die Freude, sondern auch die Konzentration. Weiß Gott keine idealen Voraussetzungen. Enttäuscht gestand ich meiner Mutter, dass das wohl nix werden würde mit dem Pianistentraum. Sie verstand es, tröstete mich und stärkte mir wie immer den Rücken. Trotzdem blieb dieses Instrument an meiner Seite. Ich wusste, dass ich es nie verlieren würde. Die unfassbar schönen Melodien von Frédéric Chopin und vielen anderen warteten nur darauf, von mir entdeckt zu werden. Damals war Udo Jürgens, der Troubadour der Heimatlosen, einer der Lieblingssänger meiner Mutter. Sein Song »Was ich dir sagen will (sagt mein Klavier)« gab mir damals Trost und einen richtigen Schub. Die Kraft für die Hoffnung, die mich phasenweise unverwundbar machte. Nie hätten ich und auch meine liebste Mutter gedacht, dass dieser außergewöhnliche Musiker dereinst meinen Weg kreuzen würde. Doch darüber später.

 

FRÜHROCK

Ja, meine lieben Freunde, das waren sie also, die grauen Jahre. Es wurde auch, wie in manchen Familien, viel verschwiegen und stur auf »Alles ist im Lot« gemacht. Das Kind mit seiner feinen Wahrnehmung merkt das während seiner Entpuppung. Es sieht den nackten König ohne Kleider und spricht es fadengerade aus. Was natürlich Folgen hat. Ich will ehrlich sein, ich war ein Mangelkind. Meine damalige Nachbarin Monika sagte mir letzthin: »Du warst echt ein armer Kerl. Alle fragten sich damals, was ist nur los mit diesem Jungen, der ist ja völlig neben der Spur, der passt da irgendwie nicht rein, da stimmt doch was nicht.« Richtig, und ich bekam es auch böse zu spüren. Ein Ausgegrenzter, ein stranger in a strange land zu sein, kann schon wehtun, das könnt ihr mir glauben. Die Zeit war einfach noch nicht reif, und der Rebell musste für seinen Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung erst mal teures Lehrgeld bezahlen. Doch ist es nicht auch heute noch phasenweise so, dass ich wie im falschen Film bin? Vielleicht anders, nicht so drastisch und lonely, aber irgendwie ist man ja als Individualseiltänzer, als ungerader Lebenskünstler immer irgendwo allein und fühlt sich abgekoppelt oder missverstanden. Das ist im Preis inbegriffen. Damals wars aber einfach fast schon lebensbedrohlich, und ich musste lernen, zu kämpfen für meine Träume.

Doch dann kam urplötzlich die Rettung, etwas, was niemand erwartet hatte. Sie nannten es ROCK ’N’ ROLL! Es brach wie ein Tornado in mein Leben ein und war schärfer als alles zuvor. Was würde ich dafür geben, den Tag noch einmal erleben zu dürfen, als Chuck Berrys Gitarre zum ersten Mal an mein jungfräuliches Gehör drang. Mein Gott, da wurden gleich alle Nerven auf einmal getroffen. Es war die Energie, die diesen Sound, diese Songs durchzog. Das war Sex, bevor ich Sex hatte! Ungläubig sprang ich die Treppen rauf und runter. Ich konnte es einfach nicht fassen, was ich da soeben gehört hatte. Das tönte, als würde der Teufel höchstpersönlich alle Möbel in der Wohnung herumschieben. Die vier Könige des Rock ’n’ Roll: Elvis, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Little Richard hämmerten plötzlich in meinem Radio, aus dem vorher immer nur deutsche und französische Süßwassersülze geplätschert war. Einfach unglaublich! Wir sprechen hier natürlich nicht vom Schweizer Radio, nein, das war im Tiefschlaf, im Schlager-, Ländler- und Schunkelkoma. Das Signal kam von einem französischen Sender und Radio Luxemburg. Die Tonkiste wurde schlagartig zu meinem besten Freud. Sie verband mich mit der großen weiten Welt, mit einem gigantischen Gefühl. Wie wahr: A DJ saved my life! Das waren damals noch Freaks, die für Freaks Musik spielten und uns aufs Leben einstimmten, die Brücken zur Welt bauten, die mich ermunterten, die elenden Solothurner Mauern einzureißen und meinen Traum weiterzuverfolgen. Sie wurden zu meinen Göttern, meinen Kraftspendern.

Und dann der Urknall: The Beatles! Gibts denn so was? Allein der Bandname war genial. Das Wort Beat tönte wie Sex. Ich hörte zuerst »I Wanna Hold Your Hand« und dann natürlich endlos ihre Version des Überknallers »Rock and Roll Music«. Was für eine unfassbare Energie und Botschaft in zwei Minuten! Ich fiel tagelang in eine Art Trance. Mein Herz schlug bis zum Hals. Dieser Beat, dieser neue Klang, dieser Druck, diese Stimmen! Sie sagten mir: Hey, Chrisiboy, da gibt es etwas, das du entdecken wirst, da wartet das Abenteuer, die Liebe, da kannst du du selbst sein, deinen Träumen folgen, die Welt ruft dich. Punk-Gitarristin Viv Albertine beschreibt diesen Augenblick Mitte der Sechzigerjahre, als sie »Can’t Buy Me Love« zum ersten Mal hörte, so: Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe. Genau so fühlte sich das an. Schon wie Lennon in »Girl« die Zeilen is there anybody going to listen to my story … sang, traf mich tief. Es war der große Blues des Teenagers, Gefühle und Stürme, mit denen ich Tag für Tag lebte. Wer waren diese Jungs? Als ich die ersten Bilder von meinen neuen englischen Heilsbringern sah, kippte ich um! Diese Haare, diese Pilzköpfe, heilige Scheiße, wie geil ist denn das?! Es war das Ende einer kalten, versiegelten Zeit. Ich war gerettet.

Welch unglaublich wunderbare Erfahrung. Es juckte und zuckte in mir. Endlich die Musik zu meinem Gemütszustand! Wow … that’s it! Das war meine Schiene, eine neue Art, zu sehen und zu fühlen in dieser scheintoten Welt, im Kleinstadtgrab. Ich wollte ab sofort nur noch Trommler werden. Ab in den Beat-Dschungel, die Felle dreschen! Vorerst wurden leere Büchsen bearbeitet. Stöcke schnitzte ich mir selber. Innert Kürze war alles platt getrommelt. Meine Umwelt verfolgte das Treiben mit Schrecken. Kommentar zu Hause und in der Schule: »Völlig abgemeldet.« Für die Obrigkeiten, die ihre Pfründe in Gefahr sahen, war dieser Rock ’n’ Roll nur Teufelsmusik. Was mich umso mehr reizte. Endlich mal etwas, was die grauen Gähnmäuse aus der Fassung brachte. Aber es war mehr, VIEL MEHR! Jene, die sich immer so sicher fühlten, den einzig richtigen Weg, wie das Leben zu gestalten sei, zu kennen, wurden jetzt in den Ring gerufen. Und sie würden bald richtig k. o. gehen. Was viele und auch ich noch nicht checkten: Hier hatte gerade ein musikalisches Atom die Welt in zwei Teile gespalten. Und ich kleiner Wicht durfte diesen Moment erleben, als plötzlich nichts mehr war wie früher. Es würde nicht mehr aufzuhalten sein – der Anfang einer großen, epochalen Revolution. Mannomann, war das ein Ding, einfach unglaublich. Das Rock-Ufo war gelandet. Ich rieb mir die Augen und bekam Rückenwind wie nie zuvor in meinem jungen Leben.

Von Rohr, der Lineal-Crasher, tobte. Mein Getrommel, Geraschel und Gezappel trieb die Lehrer an den Rand des galoppierenden Wahnsinns. Hätten diese Ahnungslosen doch nur Augen im Kopf gehabt … Ich hatte ja soeben meinen zukünftigen Job gefunden. Doch so geradlinig scheint es halt im Leben nicht zu laufen. Warum einfach, wenns kompliziert auch geht? So baten denn diese autoritären Holzköpfe mit der Menschenkenntnis einer Zwergmücke meine Eltern zum Krisengespräch. Da ich nebst meinem Rumgewirbel zwecks Sprachforschung noch ein paar obszöne Wörter in den Unterricht einbaute, befand das Gremium meine Anwesenheit fortan als untragbar. Die dritte Bewährungsprobe war abgelaufen. Laborratte von Rohr war in der sechsten Klasse, dreizehn Jahre alt. Was nun?

 

HEIMINSASSE

Langsam checkte ich, dass ich in einer Gegend aufwuchs, in der man nicht viel von Zeitgenossen hielt, die gegen den Strom schwimmen, Fragen stellen, anders denken oder vor sich hin träumen. Da die städtischen Schulen sich weigerten, mich aufzunehmen, wurde ein neuer Ort der Züchtigung gesucht und gefunden. Zuoz hieß das Nest, in Graubünden liegts, und Internat nennt man die Schlauchanstalt für störrische Knaben. Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich wartete. Der Früh-Rock-’n’-Roller war auf einen Schlag Heiminsasse Nummer 163. Zurückgestutzt und abgeschoben. Es ging von einer relativ hellen, beschützten Welt direkt ins Dunkle. Die Regeln waren tough, das Leben ungewohnt hart. So war der erste Tag im Lyceum Alpinum Zuoz – welch ein Name! – wohl einer meiner schwärzesten überhaupt. Klein von Rohr wurde ohne Vorwarnung aus dem warmen, heimischen Nestlein rausgerissen, und die Türen dieses riesigen gelben Steingebäudes am Engadiner Hang schlossen sich vor seiner Nase. Bumm. Eltern weg, Bruder weg, Radio weg, Haare weg … alles weg.

Mein Start in dieser fremden Welt war ein Riesenhorror, das Spiel zu Ende. Hier begann der wahre Kampf, der Ernstfall sozusagen. Schon am ersten Abend, als ich unruhig in meinem Holzbett lag und mir langsam dämmerte, was hier abging, drang ein fettes, weißes Monster in mein Zimmer ein. »Ich heiße Bernd, bin aus Schweinfurt, und du Kuhschweizer hast mir gefälligst zu dienen, wie es sich für einen Frischling gehört … also auf, antreten!« Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, was mein Mitschüler und Zimmergefährte da sagte, aber ein paar Ohrfeigen später wusste ich, was es geschlagen hatte! Ich war zum ersten Mal im Höllenreich. Hier galt das Faustrecht. Die neuen Zöglinge mussten fressen, was ihnen gerade aufgetischt wurde. Ich wurde immer wieder verprügelt und geprüft. Im Silvretta-Haus, dem kleinsten der drei Wohnhäuser, gabs eine klare Hierarchie. Wer unten stand, war das arme Schwein. »Morgen, aufstehen, duschen gehen!«, brüllte der Weckdienst jeden Morgen ins Zimmer, und ich wusste, heute gabs rein gar nichts zu lachen. Bald merkte ich, dass wir Schweizer nicht nur im Fußball keinen Stich gegen die Germanen hatten. Als lieber, braver, anständiger Mensch gabs nur eines: Der doofe Bünzli bekommt Haue!

Ich muss es hier zugeben: Es war die schlimmste und traurigste Zeit meines Lebens, und jeden zweiten Nachmittag ging ich allein zum Fluss, dem Inn, runter. Ein Heimweh-Tränenmeer ergoss sich über mich, und ich dachte, es sei das Ende meines Lebens, alleingelassen und verbannt, ein never-ending Elend. So fühlte sich also Einsamkeit an. Das war knallhart. Ich sah keinen Ausweg, würde mich an sie gewöhnen müssen. Die Zukunft sah plötzlich rabenschwarz aus und fühlte sich extrem schlecht an. Sie hatten mich erwischt. Aus dem verspielten, naiven Kind wurde ein amputierter Pseudoerwachsener, ein Abgeschobener, ein Aussortierter. Ich lernte eine völlig neue Welt kennen, die mir Angst einflößte. Die Tage und Nächte klebten wie Blei an mir. Ich irrte in den Gängen dieser mir fremden Schule umher und sah nirgends einen Hoffnungsschimmer. Der blanke Horror. Mein einziger Trost war mein Großvater, der tapfer meine Klagebriefe mit viel Feeling und Humoreinlagen beantwortete. Leider existieren diese Briefe nicht mehr – damals waren sie meine absolute Rettung. Heute wären seine Botschaften aus therapeutischen Gründen wertvoll – eine Anleitung zum Trost für all die Menschen, die gerade jetzt vielleicht im elenden Tief der Verlassenheit stecken. In solchen grauen Momenten können dir die richtigen Zeilen das Leben retten – kein Zweifel! Und damit wir uns nicht missverstehen: »Allein sein« muss der Mensch lernen. Das ist wichtig und gut. Hingegen hat eine zu lange Einsamkeit in jungen Jahren in der falschen Umgebung etwas Zerstörerisches, es kann dich zum eiskalten, abgemeldeten Nobody machen – vielleicht ein ganzes Leben lang.

Innert ein paar Wochen musste ich mich entscheiden, ob ich demütiger Diener, Abteilung Wasserträger, und Waschlappen werden wollte, versunken im ewigen Selbstmitleid, oder Survivor in eigener Sache. Es erstaunte mich selbst, wie viel Kräfte der Mensch in einer absoluten emotionalen Notsituation entwickeln kann. Es gab Momente, da kannte ich mich selbst nicht mehr. Der liebe Labrador musste seine Zähne zeigen. Das war natürlich oberstressig, da die Hausstruktur zu achtzig Prozent von Deutschbörgern durchsetzt war und wir sprachtechnisch und messagemäßig mit unserem Alpenslang schlecht durchdrangen. »Durchbeißen – frech werden – zurückhauen« hieß das neue Motto. So lernte ich in kürzester Zeit, die typisch schweizerischen Bremseigenschaften wie Jammeritis, ständiges Entschuldigen, Arschkriecherei, Tiefstapelei und langes Rumpolemisieren aus meinem Leben zu streichen. Als zukünftiger Rockstar konnte etwas Selbstbewusstsein eh nicht schaden. Man muss sich ja auf irgendeine Art und Weise von den grauen Alltagsmäusen unterscheiden. Doch vorerst wurden mir meine Rockflausen mit straffer Zucht und Schularbeit gründlich vertrieben. Die Teachers kickten den Turbo rein. Ich weiß nicht, obs an der Bergluft lag, jedenfalls wollten sie’s wissen. Kein Vergleich zum Unterricht in Solothurn, wo einer redete und der Rest pennte.

Nach viel Anfangsfrust, mucho Heimweh und ständigen Lone-Wolf-Feelings begann es mir dann aber doch noch ein bisschen zu schmecken. Vielleicht wars die einmalig schöne Natur des Oberengadins. Im Herbst offenbarte sie sich in farbenprächtiger Verschwendungssucht, was mein Gemüt in freudige Wallungen versetzte. Wenn dann im späten November alles mit weißem Pulverschnee überdeckt war, kamen der stahlblaue Himmel und die gelb-orange-roten Blätter, Beeren und Sträucher erst richtig zur Geltung. Das totale Festival der Farben … einfach wunderschön und heilend. Das gab Power und Selbstsicherheit. Ich biss mich durch. Do it! Jeden Nachmittag trainierte man irgendwas; ich vor allem Fußball. Sportlehrer Winauer war die absolute Motivationsbombe. Er ließ uns jedes Mal ins Ministadion einlaufen, als wären wir Ronaldo, Messi oder Neymar auf dem Weg zu einem EM- oder WM-Endspiel. Ich schoss dann sogar noch das entscheidende Tor der internen Hausmeisterschaften. Welch ein Hochgefühl!

Endgültig nicht mehr zu retten war Chrisiboy aber, als er erfuhr, dass so ein verpäppelter Franzosensohn ’ne echte Schießbude im Klavierzimmer stehen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich zweimal die Woche Kabine 3 mit dem weißen Piano besucht. Ich rannte ohne zu zögern los zur Kabine 9. Dort sah ich zu meinem großen Entsetzen ein blutarmes Geschöpf, Typ Marzipantörtchen, mit den Beselchen auf den Drums rumwischen. Unfassbar! Wozu spielte dieser Zahnstocher überhaupt? Irgendein Surf-Sound tropfte aus dem übergestülpten Kopfhörer. Unter seinen Pfötchen tönte das Schlagzeug wie ein lauwarmer Furz. Er blickte mich an, als wäre soeben Jack the Ripper eingetreten. »Was willst du?« – »Ich will darauf spielen«, antwortete ich.

Noch nie zuvor hatte ich ein richtiges Schlagzeug aus dieser Nähe gesehen. Obwohl es nicht ganz so groß war wie das von Ringo Starr, fiel ich fast in Ohnmacht. Gab es denn was Heißeres als so ’ne Kiste? Schließlich, nach langem Zögern, ließ mich der Franzose ran. Ein göttliches Gefühl durchzuckte meine Glieder. Mit umgekehrten Besen hämmerte ich los. Es heißt ja nun mal Schlagzeug. Also hit it …! Nach zehn Minuten verließ ich mit hochrotem Kopf das Zimmer und wusste: I got the rhythm. Der Schörömö sah das anders. Er ließ mich fortan nie mehr an sein Heiligtum ran. »Du bist ein doofer Hacker«, flötete er. Und vielleicht hatte der Croissant-Ede mit seinen Notenblättern auch recht. Ich schien aber etwas zu haben, was er nicht besaß: Spielfreude! Nur die Buschtrommeln fehlten mir eben noch.

Ansonsten wurde das Leben in Zuoz langsam erträglicher: Sportfeste, Gruppenmeetings, Theateraufführungen, Konzerte und, und, und. Wenn auch nicht reif genug, alles zu checken, so tats mir vielleicht doch irgendwie gut, vor allem nachdem die sinnlosen und schmerzhaften Hahnenkämpfe mit den deutschen Wurstfressern nach ein paar gezielten Chrisibär-Box- und Beißeinlagen ein Ende gefunden hatten. Zuoz brachte eine neue Dimension in mein jungfräuliches Leben. Heute betrachte ich diese Zeit als meine Rekrutenschule. Der Junge wurde etwas verfrüht zum Mann gemacht, na ja, sagen wir mal zum halben Mann. Es gibt Schlimmeres. Auf jeden Fall lernte ich, mich zu wehren, was im Leben sicher von Vorteil ist. Doch dann holten mich meine Eltern zurück, weil meine Noten in der Höhenluft auch nicht besser geworden waren. Die Operation Berg & Geist wurde abgebrochen.

 

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