Historische Migrationsforschung - Sylvia Hahn - E-Book

Historische Migrationsforschung E-Book

Sylvia Hahn

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Beschreibung

Was bedeutet Migration? Welche Formen von Migration gibt es? Wie veränderten sich die Migrationswege der Menschheit über die Jahrhunderte hinwe? Welche globalen Verbindungen gab und gibt es zwischen den Migrationen in Europa und den anderen Kontinenten in Vergangenheit und Gegenwart? Neben Einblicken in Theorien, Methoden und Quellen der historischen Migrationsforschung gibt Sylvia Hahn in diesem Studienbuch auch einen Überblick über die Vielfalt der weltweiten Wanderungen von Frauen, Männern und Kindern. In den Blick genommen werden dabei die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Arbeitsmigrationen ebenso wie die zahlreichen Formen der Zwangsmigrationen, die vom globalen Sklavenhandel über politische und ethnische Vertreibungen, Flucht, Asyl und Leben im Exil bis zum heutigen internationalen Menschenschmuggel bzw. human trafficking reichen.

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Cover for EPUB

Sylvia Hahn

Historische Migrationsforschung

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Was bedeutet Migration? Welche Formen von Migration gibt es? Wie veränderten sich die Migrationswege der Menschheit über die Jahrhunderte hinwe? Welche globalen Verbindungen gab und gibt es zwischen den Migrationen in Europa und den anderen Kontinenten in Vergangenheit und Gegenwart? Neben Einblicken in Theorien, Methoden und Quellen der historischen Migrationsforschung gibt Sylvia Hahn in diesem Studienbuch auch einen Überblick über die Vielfalt der weltweiten Wanderungen von Frauen, Männern und Kindern. In den Blick genommen werden dabei die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Arbeitsmigrationen ebenso wie die zahlreichen Formen der Zwangsmigrationen, die vom globalen Sklavenhandel über politische und ethnische Vertreibungen, Flucht, Asyl und Leben im Exil bis zum heutigen internationalen Menschenschmuggel bzw. human trafficking reichen.

Vita

Sylvia Hahn ist Historikerin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

1. 

Begriffe, Typologien, Theorien der Migration

1.1 

Begriffe

1.2 

Typologien

1.3 

Theorien

1.4 

Assimilation, Integration, Transnationalität, Transkulturalität

2. 

Schreiben über Migration

2.1 

Obrigkeitliche Neugier

2.2 

Wissenschaftliches Interesse

2.3 

Erste Fallstudien und Überblickswerke

2.4 

Im Dienste der nationalsozialistischen Ideologie

2.5 

Migration History jenseits des Großen Teiches

2.6 

Wo sind die Frauen?

2.7 

Die Durststrecke der Migrationsforschung

2.8 

Neue Tendenzen und Perspektiven

3. 

Globale (Zwangs-)Migrationen – ein Überblick

3.1 

Homo und Femina Migrans

3.2 

Zwangsmigrationen – Sklavenhandel

3.3 

Globale transozeanische Migrationen

3.4 

»Zweite Versklavung«

4. 

Unterwegs in Europa im Mittelalter und der Frühen Neuzeit

4.1 

Migration in der Feudalgesellschaft?

4.2 

Quellen

4.3 

Migranten in europäischen Städten

4.3.1 

Kaufleute und Händler

4.3.2 

Handwerker

4.3.3 

Adelige, Hofgesinde, Studenten, Künstler

5. 

Ausweisung und Vertreibung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

5.1 

Quellen

5.2 

Stadt- und Landesverweise in der Frühen Neuzeit

5.3 

Religiöse und ethnische Vertreibungen in der Frühen Neuzeit

5.4 

Politische Vertreibungen

5.4.1 

Royalisten, Aristokraten und Priester

5.4.2 

Revolutionäre auf der Flucht

6. 

»In-Dienst-Gehen«: Migration von Kindern und Jugendlichen

6.1 

Quellen

6.2 

Radius der Migration?

6.3 

Kinder als Dienstboten und Arbeitsmigranten

6.4 

Im Schlepptau des Dienstgebers

6.5 

Jenseits des Meeres

7. 

Migrantinnen und female breadwinner

7.1 

»[…] ich habe 1000 Nationen gesammelt«

7.2 

»Unsere neusten Nachrichten aus Amerika sind mehr als glänzend«

7.3 

Bildungs-, Heirats-, Arbeitsmigration

8. 

Europäische Binnenmigration im 19. Jahrhundert

8.1 

Vom Zählen zum Erzählen: Massendaten als Quellen

8.2 

Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert: Textilarbeiter und -arbeiterinnen

8.2.1 

Rückblick

8.2.2 

Zwei, drei, … Generationen von Textilarbeiterinnen

9. 

Migration im 20. und 21. Jahrhundert

9.1 

Quellen

9.2 

Migrationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

9.3 

Krieg, Flucht, Vertreibung, Umsiedelung

9.4 

»Ich hab nicht gewusst, was mich erwartet«: Heiratsmigration in den 1940er und 1950er Jahren

9.5 

Migrationen nach 1945

Fazit

Auswahlbibliographie

Sachregister

Vorwort zur 2. Auflage

Die Migrationsforschung hat in den vergangenen zehn Jahren in vielen Wissenschaftsbereichen einen deutlichen Sprung nach vorne gemacht. Auch im Bereich der Geschichtswissenschaft ist seit 2010 ein massiver Anstieg an Publikationen, reichend von der Antikenforschung bis zur Zeitgeschichte, zu verzeichnen. Ein wesentlicher Impuls kam vor allem von der Globalgeschichte, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem wichtigen Forschungszweig wurde. Die vielfältigen und weltweiten Migrationen spielen hier – egal, ob es um internationale Arbeitsmärkte, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen oder Umweltfragen geht – stets eine wichtige Rolle.

Um diese neuen Entwicklungen und Publikationen zumindest ansatzweise in die hier vorliegende 2. Auflage der »Historische Migrationsforschung« integrieren zu können, habe ich das erste (Überblicks-)Kapitel Homo und femina migrans der 1. Auflage überarbeitet und hier den Fokus auf die globalen Zwangsmigrationen, also auf Sklaven- bzw. Menschenhandel, in einer Langzeitperspektive gerichtet. Als ich diese Kapitel zu schreiben begann, konnte ich nicht wissen, dass dieses Thema durch die Ermordung von George Floyd und die daraus resultierende black-live-matters-Bewegung sowie die in diesem Zusammenhang gestürzten Denkmäler von ehemaligen Sklavenhändlern oder daran beteiligten Personen eine derartige Aktualität gewinnen würde. Mit der nun vorliegenden Zusammenschau habe ich versucht, einen kurzen Einblick in die umfangreichen Zwangsmigrationen von Millionen von Frauen, Männern und Kindern auf und zwischen den unterschiedlichen Kontinenten und die dazu erschienen interessanten Publikationen, insbesondere der vergangenen zehn Jahre, zu geben.

Aufgrund der begrenzten Seitenzahl, die dafür zur Verfügung stand, musste ich auf viele Aspekte und vertiefende Einblicke und Details (leider) verzichten. Ich hoffe aber trotz allem, dass diese kurze Einführung in die so wichtige und bis heute aktuelle Thematik die Leserinnen und Leser bzw. Studierende neugierig auf eigene Forschungen in diesem Bereich machen wird. Das in früheren Jahrzehnten oft beklagte Fehlen von ausreichenden Quellen zur historischen Migrationsforschung ist selbst in diesem Bereich mittlerweile keine Ausrede mehr, sich nicht mit diesem Thema in einer Seminar- oder Abschlussarbeit – und zwar quellenbasierend – auseinander zu setzen. Die bereits im Internet frei zugänglichen und zur Verfügung stehenden qualitativen und quantitativen Quellen bieten vielfache Möglichkeiten, den unterschiedlichen Formen von Zwangsmigration in Europa, in den beiden Amerikas oder in einem anderen Kontinent sowie den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Verflechtungen nachzugehen. Die Konsequenzen dieser Zwangsmigrationen und des jahrhundertelangen Menschenhandels sind bis in die Gegenwart sicht- und spürbar. Die »Ware Mensch« hat bis heute einen nicht unbedeutenden Handelswert, an dem Tausende verdienen. Die Hilfsbedürftigkeit der arbeits-, kriegs- oder umweltbedingten (Zwangs-)Migranten wird beim Migrationsgeschehen wie am Arbeitsmarkt massiv ausgebeutet. Diesen großen Bogen vom antiken Sklavenhandel bis hin zum heutigen internationalen Menschenhandel habe ich zu schlagen versucht. Es war nicht leicht, ein Ende zu finden, weder mit dem ersten Kapitel noch mit der Über- bzw. Einarbeitung der neueren Literatur in den übrigen Kapiteln. Die historische Migrationsforschung ist einfach zu interessant, um sie jemals abzuschließen: Sie ist und bleibt a never ending story …

Salzburg, im Dezember 2022

Sylvia Hahn

Einleitung

In der kleinen norditalienischen Stadt Asiago, in der alpinen Region in der Nähe von Belluno gelegen, steht vor dem Bahnhof eine Skulpturengruppe, die den Titel Emigranti trägt. Die Skulptur zeigt eine Familie mit Koffern und Reisegepäck, die in unterschiedlicher Weise Abschied vom bisherigen Wohnort nimmt: Der Vater blickt mit interessiertem Gesichtsausdruck nach vorne, in die Ferne, und schreitet mit forschem Schritt aus; die Mutter, die ein Kind an der Hand hält, schaut mit sehnsuchtsvollem und besorgtem, bedrücktem Blick nach rückwärts in den Ort zurück.

Emigranti: Skulpturengruppe vor dem Bahnhof der norditalienischen Stadt Asiago

Diese Figurengruppe, die in Asiago an die Auswanderungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1920 erinnern soll, ist in vielerlei Hinsicht interessant:

Familien- oder Einzelmigration

1) Die gemeinsame (Aus-)Wanderung der Familie, also Familienmigration, war durchaus üblich und hat eine lange historische Tradition. Insbesondere bei religiösen Migranten, wie beispielsweise den protestantischen Auswanderern nach Übersee im 16. und 17. Jahrhundert, den Hugenotten oder den Salzburger Protestanten im 17. und 18. Jahrhundert, wanderte meist die gesamte Familie aus. Aber auch bei Arbeitsmigration konnten ganze Familien und Familienverbände gemeinsam wandern. Dies war insbesondere bei gezielten Anwerbungen bzw. Rekrutierungen von Arbeitskräften seitens der Obrigkeiten oder der Unternehmen der Fall. Auch die Migration nach Übersee im 19. und 20. Jahrhundert wurde, wenn es die finanzielle Situation erlaubte, mit der Familie unternommen. Der Großteil der Auswandernden hatte jedoch für eine gemeinsame transatlantische Überfahrt kaum die notwendigen finanziellen Mittel; daher mussten die jungen Männer oder Frauen meist allein auswandern. Erst nach einiger Zeit konnten einzelne Familienmitglieder bzw. der Rest der Familie und/oder Verwandte nachgeholt werden. Dies traf für Arbeitsmigranten ebenso zu wie für politische Flüchtlinge. Das heißt, die anhand der Skulptur präsentierte Auswanderungssituation einer Familie ist eine idealtypische Darstellung, die jedoch weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart für den Großteil der freiwilligen oder unfreiwilligen Migranten die Realität darstellt.

Ein weiterer Punkt betrifft die Darstellung der Gebärden der Auswandernden. Hier werden die Genderstereotypen des mobilen, wanderungsbereiten Mannes (Motto: »Der Mann muss hinaus«) und der dem Haus und Heim verbundenen immobilen Frau wiederholt. Diese wurden spätestens durch die bürgerliche Familienideologie des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die stark männlich dominierte patriarchalische (und antifeministische) Intellektuellen- und Wissenschaftlerkultur der Jahrhundertwende fest- und in der Folge im 20. Jahrhundert fortgeschrieben. Dies führte dazu, dass bis vor einigen Jahrzehnten die weit verbreitete These der Immobilität der Frauen unreflektiert übernommen und daher den Frauen in der Migrationsforschung wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Auch Kinder sind in der historischen Migrationsforschung kaum beachtet worden. Obwohl kindliche (Arbeits-)Migration, allein, in der Gruppe oder mit der Familie, seit Jahrhunderten in Europa wie auch auf anderen Kontinenten eine lange Tradition hat, zählt dieser Aspekt zu einem noch kaum aufgearbeiteten Forschungsbereich.

Migration und Erinnerung

2) Die Skulptur in Asiago zählt europaweit zu den wenigen Erinnerungsobjekten im öffentlichen Raum, die auf die lange Geschichte der Wanderungen auf unserem Kontinent und darüber hinaus verweisen. Daneben gibt es auch unspektakuläre Zeichen der historischen Migration an Häusern, Plätzen und Straßen unserer Städte und Dörfer. So geben Gedenktafeln oder die Grabsteine auf Friedhöfen, auf denen sehr oft die Geburtsorte der Verstorbenen vermerkt sind, Auskunft über die Herkunft der einstmals in den Gemeinden lebenden und dort verstorbenen Menschen, wie die folgende Abbildung zeigt:

Gedenktafel im niederösterreichischen Gresten, die an den adeligen Revolutionsflüchtling Joseph Dezasse aus Frankreich erinnert, der sich nach seiner Flucht in diesem Dorf niederließ

Sesshaftigkeit oder Migration?

Obwohl mittlerweile allgemein anerkannt ist, dass Migration eine ebenso lange Geschichte hat wie die Menschheit selbst und daher ein wichtiger Teil der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte ist, erscheint es interessant, dass gerade diesem Aspekt im kollektiven Gedächtnis, in der Erinnerungskultur der europäischen Gesellschaft, nur wenig Platz eingeräumt wird. Migration als ein Faktum der eigenen Familiengeschichte wird vielfach ebenso verdrängt wie Migration als Teil der je eigenen ethnischen, regionalen, kulturellen, nationalen und/oder religiösen Geschichte. Sesshaftigkeit wird dabei stets als das Normale und Migration als die Ausnahme angesehen. In Schulbüchern kommen Migrationsbewegungen meist nur vor im Zusammenhang mit der sogenannten Völkerwanderung, den religiösen Vertreibungen zu Beginn der Neuzeit oder mit Flucht und Vertreibung, während und nach dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert. Fragt man zu Beginn einer Lehrveranstaltung die Studierenden, was sie mit dem Thema Migration assoziieren, so erhält man fast ausschließlich diese drei Antworten. Der überwiegende Teil schließt stets jeglichen Migrationshintergrund in der eigenen Familie aus. Befassen sich die Studierenden in der Folge mit der eigenen Familiengeschichte und erforschen die Eltern-, Großeltern- und Urgroßelterngeneration auf diesen Aspekt hin, so bringen die Recherchen meist überraschende und interessante Ergebnisse zutage: Die Großeltern waren zum Beispiel als Optanten aus dem damaligen Südtirol in Gebiete des heutigen Österreichs gekommen. Oder: als Nachkommen der »Donauschwaben« in Rumänien, als Sudentendeutsche etc. waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet und konnten in Oberösterreich oder Salzburg ein neues Zuhause finden. Andere wiederum gingen in der Zwischenkriegszeit als landwirtschaftliche saisonale Arbeitskräfte aus Salzburg oder Oberösterreich in die Umgebung des Ruhrgebietes, um sich dort als Melker und Melkerinnen zu verdingen. Einige Urgroßväter waren handwerklich ausgebildete Gesellen, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert noch auf die Walz begeben hatten. So blieb ein Tischler aus Nürnberg in einem kleinen Ort in Oberösterreich hängen, da der Ort einen Sargtischler benötigte und man ihm daher ein kleines Haus als Bleibe zur Verfügung stellte; ein anderer wiederum wanderte als Uhrmacher von Südtirol nach Hamburg und schließlich von dort in die USA aus. Auch die Großmütter und Urgroßmütter waren keineswegs immobil: Sie verdingten sich als Mägde auf den Bauernhöfen im »Innergebirg«, wie die Salzburger Alpenregion genannt wird, oder gingen als Dienstbotinnen in eine der nahegelegenen Kleinstädte oder Landeshauptstädte in Dienst. Die Migrationswege konnten aber auch nach Deutschland, in die Schweiz, ja sogar bis nach Schweden, Kanada, Australien, Russland oder in die USA führen. Der Großteil dieser Recherchen zeigte ganz deutlich, dass es kaum eine Familie gibt, bei der es zu keiner Migration in den vergangenen zwei, drei Generationen gekommen war. Im Familiengedächtnis ist die Migration jedoch nur selten vorhanden und darüber wird kaum gesprochen. Ausgewanderte Verwandte werden aus unterschiedlichsten Gründen bewusst oder unbewusst vergessen bzw. aus der Familiengeschichte ausgeschlossen und erst von der jüngeren Generation bei ihren Nachforschungen (wieder-)entdeckt. Eine gewisse Ortsgebundenheit und Sesshaftigkeit sowie Wohn- und Arbeitsstabilität, so stellt sich meist heraus, ist erst ein Phänomen der Elterngeneration – jener Generation, die im Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und aufgewachsen war.

Migration im Museum

Die Beschäftigung mit dem Thema Migration in historischen Ausstellungen oder in Museen zählt ebenfalls nach wie vor zu den Raritäten. Erst im zurückliegenden Jahrzehnt sind hier vermehrt Aktivitäten entfaltet worden. Eine frühe Ausnahme stellt das Auswanderermuseum in Växjö in Südschweden dar, eine Region, die von einer starken Überseeauswanderung im ausgehenden 19. Jahrhundert betroffen war. Auch das kleine Auswanderermuseum in Güssing im Südburgenland, gegründet durch eine Initiative von engagierten Lokalhistorikern, zählt zu diesen Ausnahmen. Auch dieses Museum erinnert an die enorme (USA-)Auswanderung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als das Gebiet noch zu Ungarn gehörte, sowie an die abermalige starke Emigration in den 1950er Jahren. Auch das Maritime Museum in Liverpool beschäftigt sich mit dem Thema der Emigration, wobei ein Teilbereich den Britain’s child migrants, jenen Waisenkindern, die zwischen 1869 und 1967 nach Kanada, Australien und in andere Commonwealth-Länder zwangsverschickt wurden, gewidmet ist.

In den zurückliegenden Jahrzehnten sind größere Museen zu dieser Thematik in Hamburg und Bremen entstanden. Gemeinsam ist diesen musealen Gedenkstätten, dass sie sich inhaltlich in der Hauptsache bzw. ausschließlich auf die Überseemigration im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert konzentrieren. Aktiv sind auch die Vertriebenenverbände, die sich in zahlreichen Publikationen und in Ausstellungen mit den Vertreibungen der deutschsprachigen Bevölkerung aus ost- und südosteuropäischen Gebieten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Viele dieser Darstellungen sind ideologisch einseitig ausgerichtet unter Strapazierung und politischer Instrumentalisierung des »Heimatbegriffes«. Im Gegensatz zum Großteil der Museen in Europa gibt es in den USA und in Kanada mittlerweile sowohl Einwanderungsmuseen wie permanente Ausstellungen, die der vielfältigen ethnischen Einwanderung gewidmet sind. Beispiele dafür sind etwa Ellis Island, das Tenement Museum in der Lower East Side in New York, das Pier 21 Museum in Halifax, Kanada, oder das Immigration Museum in Melbourne. In Europa wird der Einwanderung eher wenig museale Beachtung geschenkt. Eine Ausnahme bildet das Migrationsmuseum in Dudelange, Luxemburg. Das Museum, in dem die Einwanderung nach Luxemburg seit dem Mittelalter beleuchtet wird, befindet sich in einem stillgelegten Bahnhof in unmittelbarer Nähe der Siedlung italienischer Einwanderer, die in den auf der anderen Seite der Bahnschienen gelegenen, mittlerweile stillgelegten metallverarbeitenden Produktionsstätten tätig waren. Luxemburg ist einer der wenigen europäischen Staaten, die sich bereits seit einigen Jahrzehnten historisch und gesellschaftspolitisch mit der Zuwanderung auseinandersetzten und versuchten, dieses Thema auch einer breiten Öffentlichkeit durch Ausstellungen, Publikationen und das Museum sichtbar und begreiflich zu machen. Die zwar langsam, aber doch voranschreitende Musealisierung der Migration in Europa hat mittlerweile auch zu ersten Studien in diesem Forschungsbereich geführt (Baur 2009).

Mikro- und Makroebenen

Trotz dieser Aktivitäten lässt sich eine weitgehende Verdrängung der Migration aus der eigenen Familiengeschichte, aus der Geschichte einer Region oder eines politischen Staatenverbundes ausmachen. Diese Verdrängung der – man könnte fast sagen – zum Alltag der Menschen gehörenden Tendenz zur Migration soll ebenso zum Anlass genommen werden wie die eingangs formulierten Defizite, die teilweise auch heute noch in der Migrationsforschung vorherrschen, um den Fokus auf die alltäglichen Migrationsbewegungen der »kleinen Leute«, aber auch der reichen und privilegierten Angehörigen der historischen Gesellschaften zu lenken. Im Gegensatz zum Großteil der Migrationsstudien, die zumeist von den nationalstaatlichen Gegebenheiten der Jetztzeit als Untersuchungsbasis ausgehen und den Blick in die Vergangenheit werfen, sollte eine auf die historischen Gesellschaften ausgerichtete Migrationsforschung die nationalstaatliche Ebene überwinden. Menschen waren immer in Bewegung: über natürliche, über städtische und später über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Auch (regionale) Arbeitsmärkte haben sich weder in der Vergangenheit noch heute an (künstlich gezogene) nationalstaatliche Grenzen gehalten, die politischen (Einzel-)Interessen einzelner Machthaber bzw. Staaten entsprangen. Grenzüberschreitende regionale, nationale und/oder internationale Wanderungen sind Teil des menschlichen Lebens – und das ohne Unterschied des Geschlechts oder des Alters, der ethnischen oder kulturellen Herkunft der Betroffenen. Aus diesem Grund geht es in den folgenden Ausführungen nicht um die Präsentation der Migration der »Italiener nach Deutschland« oder der »Deutschen in die USA«, sondern im Mittelpunkt sollen die Migrationen von verschiedenen sozialen Gruppen, Familien- und/oder Berufsverbänden, von Einzelindividuen unterschiedlichen Geschlechts und Alters stehen. Mit den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, dass Migrationsforschung auch bei Einzelpersonen oder -gruppen, auf der Mikroebene des Dorfes, der Gemeinde ansetzen kann. Die Ergebnisse solcher Mikrostudien lassen sich problemlos in die große Geschichte der Migrationen auf der Makro- bzw. globalen Ebene integrieren. Erst dadurch können regionale, geschlechtsspezifische, soziale oder erwerbsmäßige Differenzierungen, die auf der Makroebene verschwimmen, sichtbar gemacht werden. Mikrogeschichtliche Untersuchen können gängige Bilder der Makrogeschichte infrage stellen bzw. diese konturieren. Auch im Hinblick auf die quellenmäßige Forschungsarbeit erscheint eine Verbindung der Makro- und Mikroebene sinnvoll. So lassen sich obrigkeitliche oder staatliche Quellen, wie Verordnungen, Erlässe, Gesetze, Statistiken etc., auf der Mikroebene der städtischen oder dörflichen Gesellschaft durch die individuelle oder gruppenmäßige, eventuell geschlechtsspezifisch unterschiedliche Wahrnehmung, Akzeptanz oder Ablehnung verifizieren und mit konkreten »Leben«, Vorkommnissen, Ereignissen etc. füllen.

Die umfangreiche Geschichte der Migration zwingt jedoch zu zeitlichen und regionalen Einschränkungen. In Kapitel 1 werden wichtige und häufig verwendete Begriffe, Typologien und Theorien erläutert, die in der historischen Migrationsforschung Anwendung finden.

Im Kapitel 2 wird den Spuren des »Schreibens über Migration« nachgegangen. Das Interesse an der mobilen Bevölkerung ging zunächst und vor allem von den obrigkeitlichen bzw. staatlichen Stellen aus: Kontrolle und Macht über die Bevölkerung bedeutete auch, das Wissen über den mobilen Teil der Bevölkerung zu haben, um diese nicht aus den Augen zu verlieren. Die Einführung von Polizeiordnungen und Meldewesen, die Erlassung von Aus- und Einwanderungsgesetzen oder die immer umfangreicheren Bevölkerungszählungen stehen damit in einem engen Zusammenhang. Dem Interesse der »Staatsmerkwürdigkeiten«, wie die frühen demographischen und statistischen Forschungen genannt wurden, folgten im 19. Jahrhundert die »Staatswissenschaften« mit der Nationalökonomie, Soziologie und der Geschichtswissenschaft. Der Herausbildung einer historischen Migrationsforschung mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten wird dabei ebenso nachgegangen wie der Frage, wie die Frauen in der Migrationsforschung verloren gingen.

Das Kapitel 3 gibt einen Überblick über die lange Geschichte der globalen Migrationen. Inhaltlich stehen dabei die vielfältigen Formen von Zwangsmigrationen und Menschenhandel und deren Verflechtungen über die Kontinente hinweg im Mittelpunkt des Interesses. Die Bandbreite reicht dabei vom Sklavenhandel in der Antike und im Mittelalter in Europa und Mittelmeerraum über den umfangreichen inner- und außerafrikanischen Sklaven- bzw. Menschenhandel seit der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert sowie die – trotz Verbot des Sklavenhandels – stete Fortsetzung des Menschenhandels bis heute. Dieser kurze Überblick über einen derart wichtigen gesellschaftspolitischen Aspekt ist ein Versuch, dieses bis heute überaus wichtige und noch immer brisante Thema den Leserinnen und Lesern nahe zu bringen und ihr Interesse für die vielfältigen Varianten des Menschenhandels zu wecken. Wie wichtig diese Thematik ist, haben die zurückliegenden Jahre und Monate gezeigt. Die lange verdrängte Involvierung der europäischen Staaten in die lange Geschichte der Sklaverei, die umfangreichen erzwungenen Verschleppungen und Verschiebungen von Teilen der Bevölkerung auf den unterschiedlichen Kontinenten und deren ökonomischen Ausbeutungen ist noch lange nicht aufgearbeitet und fertig geschrieben. Die in Gang gekommene postkoloniale Forschung hat hier wichtige Pionierarbeit geleistet, die es auch im Bereich der historischen Migrationsforschung fortzusetzen gilt.

In den Kapiteln 4 bis 9 werden anhand einer imaginären Zeitschiene verschiedene – für die jeweilige Zeitepoche typisch erscheinende – Formen geschlechtsspezifischer Migration diskutiert. Die Bandbreite reicht dabei von den sozialen Gruppen, die auf den Straßen und Flüssen des Mittelalters unterwegs waren, über die vielfältigen Arbeitsmigrationen der Dienstbotinnen und Dienstboten oder die Ausweisungen und Vertreibungen von Frauen und Männern unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten aufgrund politischer, religiöser oder ethnischer Konflikte in der Neuzeit bis hin zu den Binnenmigrationen von Fabrikarbeitern im 19. und Heiratsmigrationen im 20. und 21. Jahrhundert. Diese Kapitel konzentrieren sich überwiegend auf Europa, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Mittel- und Südeuropa.

1. Begriffe, Typologien, Theorien der Migration

1.1 Begriffe

Der Begriff Migration kommt vom lateinischen migrare und bedeutet wandern bzw. wegziehen. Mit dieser breit angelegten Definition sind weder zeitliche, räumliche noch personenbezogene Ausprägungen der Wanderung festgelegt und normiert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde fast ausschließlich der Begriff der Wanderung bzw. der Wanderungsbewegung verwendet. Der Begriff Migration tauchte erst vereinzelt in Publikationen der 1930er Jahre auf, wie beispielsweise in der Studie der Gebrüder Kulischer (Kulischer/Kulischer 1932).

Begriff der Wanderung

Der Begriff der Wanderung war im 19. Jahrhundert in Europa aufgrund der sich herausbildenden Nationalstaaten und der mit der Wanderungsforschung beschäftigten Statistik vor allem politisch-rechtlich bzw. statistisch-juristisch definiert (Marschalck 1996: 4). Land-Stadt-Wanderungen wurden als Binnenwanderungen über die Gemeinde-, Stadt-, Bezirks- oder Landesgrenze, die Auswanderung als Fernwanderung über die Staatsgrenze hinweg gewertet und analysiert. Eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs der Wanderung erfolgte zur Jahrhundertwende durch die sich etablierende soziologische Forschung. Ferdinand Tönnies (1855–1936) beispielsweise unterschied zwischen dem »Wandern, Reisen und Vazieren«. Tönnies‹ Schüler Rudolf Heberle (1896–1991) verstand unter Migration »jeden Wechsel des Wohnsitzes, und zwar de facto-Wohnsitzes, einerlei ob freiwillig oder unfreiwillig, dauernd oder vorübergehend« (Heberle 1955: 2). Eine überaus breite Definition lieferte Everett S. Lee (1917–2007) in den 1960er Jahren, indem er bereits den Wohnungswechsel innerhalb eines (Miets-)Hauses als Migration bezeichnete (Lee 1964: 49).

Definition von Migration von E.S. Lee (1960)

»Migration is defined broadly as a permanent or semi-permanent change of residence. No restriction is placed upon the distance of the move or upon the voluntary or involuntary nature of the act, and no distinction is made between external and internal migration. Thus, a move across the hall from one apartment to another is counted as just as much an act of migration as a move from Bombay, India, to Cedar Rapids, Iowa, though, of course, the initiation and consequences of such moves are vastly different. However, not all kinds of spatial mobility are included in this definition. Excluded, for example, are the continual movements of nomads and migratory workers, for whom there is no long term residence, and temporary moves like those to the mountains for the summer.

No matter how short or how long, how easy or how difficult, every act of migration involves an origin, a destination, and an intervening set of obstacles. Among the set of intervening obstacles, we include the distance of the move as one that is always present.« (Lee 1969: 285)

Der deutsche Historiker Wolfgang Köllmann (1925–1997) verstand – in Anlehnung an Malthus‹ These der Überbevölkerung und des unzureichenden Nahrungsspielraumes – »jede Wanderung als Bewegung zum Ausgleich wirtschaftlicher, sozialer oder auch kultureller Gefälle zweier Nahrungsspielräume« (Köllmann 1976: 263). Für den Schweizer Migrationsforscher H. J. Hoffmann-Nowotny wird Migration »Bewegung von Einzelpersonen oder Gruppen im Raum« definiert (Hoffmann-Nowotny 1970: 53).

Aktuelle Definitionen von Migration sind, wie im 19. Jahrhundert, überwiegend politisch und rechtlich ausgerichtet und meist an diejenige der Vereinten Nationen (UN) angelehnt. Migration wird hier verstanden als ein Wohnortwechsel, der entweder innerhalb eines Staates oder auch grenzüberschreitend erfolgt. In medialen oder tagespolitischen Diskursen wird der Begriff der Migration jedoch oft mit grenzüberschreitenden internationalen Wanderungen gleichgesetzt bzw. undifferenziert für je spezifische aktuelle Wanderungsbewegungen, wie beispielsweise für Kriegsflüchtlinge, verwendet.

Definition von Migration der UN Migration Agency (IOM)

»The UN Migration Agency (IOM) defines a migrant as any person who is moving or has moved across an international border or within a State away from his/her habitual place of residence, regardless of (1) the person’s legal status; (2) whether the movement is voluntary or involuntary; (3) what the causes for the movement are; or (4) what the length of the stay is.«

Migration als Ortsveränderung/Migrationssysteme

Für die historische Migrationsforschung bietet sich eine breit gefasste Definition von Migration an, wie dies beispielsweise der deutsche Historiker und Migrationsspezialist Peter Marschalck (1938–2016) empfahl: Unter Migration werden daher hier im Folgenden alle Wanderungen verstanden, die mit der Aufgabe des bisherigen Aufenthaltes bzw. Wohnsitzes und der Findung eines neuen Aufenthaltsortes verbunden waren bzw. sind (Marschalck 1996: 6). Bedenkt man zudem, dass die Wanderungen der Menschheit auf und zwischen den Kontinenten über die Jahrtausende hinweg die unterschiedlichsten Formen hinsichtlich Dauer, Distanz und Zusammensetzung aufwiesen und dass politisch-territoriale Markierungen und später nationalstaatliche Grenzziehungen sich ständig (ver-)änderten, so greift eine ausschließlich auf internationale grenzüberscheitende Migrationen konzentrierte Definition zu kurz. Denn dabei ausgeblendet bleiben die umfangreichen klein- oder großräumigen Binnenmigrationen innerhalb eines Nationalstaates. Um diese Aspekte in ihrer Gesamtheit zu erfassen, hat Dirk Hoerder den Begriff der mikro-, meso- und makroregionalen Migrationssysteme in die Diskussion eingebracht:

Migrationssysteme

Wanderungssysteme bezeichnen die Summe empirisch verifizierter Migration Vieler – individuell, in familiärer, in berufsspezifisch oder ethnokulturell definierten Gruppen – aus einer geographisch-wirtschaftlich definierten Region in eine ebenso definierbare Zielregion, die über einen längeren Zeitraum andauern und durch stetige Informationsflüsse selbst reguliert werden. (…) Migrationssysteme in ihrer

Gesamtheit entstehen aus den, bei makroregionaler Ausdehnung millionenfachen, Entscheidungen von Männern und Frauen, den für ihre Lebenspersktiven unbefriedigenden Ort zu verlassen und, unter Wissen um potenzielle Ziele, bessere Optionen anzustreben (Hoerder 2016a: 42–43).

Reise

Wenn wir demnach Migration als einen Um- und Wegzug definieren, der mit der Aufgabe des bisherigen Aufenthaltsortes einhergeht, so ergibt sich dadurch eine klare Abgrenzung zur Reise. Im Gegensatz zur Migration handelt es sich bei einer Reise um einen zeitlich begrenzten (Freizeit-)Aufenthalt in einer anderen Region unter Beibehaltung des (politisch-rechtlichen) Aufenthaltes bzw. Wohnsitzes. Reisen ist also eine kurzfristig (freizeitbedingte) Ortsveränderung bei gleichzeitiger Beibehaltung des politisch-rechtlichen Aufenthaltsortes und Aufrechterhaltung der bisherigen Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse.

Pendler

Wie verhält es sich mit der Pendelwanderung? Sind Pendler aufgrund ihres zeitlich limitierten Wohnortwechsels bei gleichzeitiger Beibehaltung des (politisch-rechtlichen) Aufenthalts- und Wohnortes Migranten? In den meisten wissenschaftlichen Abhandlungen werden Pendler aufgrund dieses spezifischen temporären Aufenthaltswechsels mit gleichzeitigen Doppel-, manchmal auch Dreifachwohnsitzen nicht zu den Migranten gezählt. Meines Erachtens muss hier jedoch auch die zeitliche Dimension berücksichtigt werden, da es einen Unterschied macht, ob jemand wöchentlich, monatlich oder jährlich zwischen dem Arbeits- und Wohnort hin- und herpendelt (Weichhart/Rumpolt 2015). Hier stellt sich also die Frage nach der Abgrenzung von Pendlern und saisonalen bzw. temporären Migranten. Sind Wochenpendler nicht doch temporäre Arbeitsmigranten? Wie sieht es mit all den jährlich zwischen Arbeits- und Wohn- bzw. Herkunftsort pendelnden Arbeitskräften in gegenwärtigen wie vergangenen Gesellschaften aus? Wir sehen, dass hier die Grenze unscharf ist und das Pendeln auch in eine temporäre (Arbeits-)Migration übergehen bzw. mit dieser gleichgesetzt werden kann.

1.2 Typologien

Zeitliche und räumliche Dimension der Migration

Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts versuchten neben der begrifflichen Bestimmung der Wanderung diese auch zu systematisieren. Insbesondere ab den 1870er und 1880er Jahren war man bemüht, Kategorien und Gesetzmäßigkeiten herauszufinden und Wanderungstypologien zu erstellen. Im deutschsprachigen Raum publizierte etwa Albert von Randow 1884 seine Studie über die Wanderungsbewegungen in Österreich, Preußen und der Schweiz mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und Gesetzmäßigkeiten zu eruieren (Randow 1884).

Bahnbrechend und für die Migrationsforschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beeinflussend waren die »Laws of Migration« von E.G. Ravenstein (1834–1913) aus dem Jahr 1885 (Ravenstein 1885/I, 1889/II; http://www.jstor.org/pss/2979181). Nach E.G. Ravenstein lassen sich die zeitlichen bzw. räumlichen Formen der Wanderungen in fünf Migrationstypen zusammenfassen:

Regionale Migranten (local migrants)

Kurzstreckenmigranten (short-journey migrants)

Langstreckenmigranten (long-journey migrants)

Etappenmigranten (migration by stages)

Temporären bzw. saisonalen Migranten (temporary migrants).

Periodische und dauernde Wanderungen

Auch die Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie diskutierten das Thema der Wanderungen und stellten Klassifikationen auf. Der Historiker und Nationalökonom Gustav Schmoller (1838–1917) unterschied zwischen älteren Wanderungen, die »Volks- und Staatssache waren«, und »neueren«, die von Individuen durchgeführt wurden und »in periodische und dauernde, innere und äussere« unterteilt werden konnten (Schmoller 1908: 180).

Innere und äußere Wanderungen

In Anlehnung an Ravenstein und Schmoller entwickelte der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930) eine Typologie von Wanderung mit »steter Ortsveränderung« sowie »temporärer und dauernder Umsiedlung« (Bücher 1922: 435). Für Bücher war das »politisch-geographische Erstreckungsgebiet der Wanderungen« von Bedeutung. Er unterschied diesbezüglich zwischen den »inneren« Wanderungen, »deren Anfangs- und Endpunkte innerhalb desselben Staatsgebietes« lagen, und den »äußeren«, die Staatsgrenzen überschreitenden »international[]-europäische[n] oder außereuropäische[n]« Wanderungen (Bücher 1922: 436).

Freiwillige und unfreiwillige Migration

Aus der Perspektive der Soziologie brachte Rudolf Heberle die Begriffe der freiwilligen, unfreiwilligen und halb-freiwilligen Migration in die Diskussion ein. Seiner Meinung nach bezogen sich die in Ravensteins Laws of Migration definierten Wanderungen ausschließlich auf freiwillige Migrationen. Dabei seien die unfreiwilligen Wanderungen ausgeblendet geblieben, wie »die Vertreibung von solchen Personen aus der Hausgemeinschaft, die abweichenden religiösen oder politischen Glaubenssystemen anhängen«, sowie »Massenumsiedelungen von Sklaven, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und besiegten Völkern« (Heberle 1972: 71). Nach Heberle sind Arbeitsmigrationen freiwillige, politisch oder religiös motivierte Wanderungen jedoch unfreiwillige.

Motivation, Form und Ziel

In den 1960er Jahren hat der deutsche Historiker Wolfgang Köllmann eine Typologie der Wanderungen vorgelegt, indem er zwischen Motivation, Anlass, Form und Ziel unterschied. Ausschlaggebend für Wanderungsbewegungen waren nach Köllmann »die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des Ausgangsraumes«; die Richtung und das Ziel würden »durch die Kenntnis höherer wirtschaftlicher und sozialer Chancen in einem anderen Raum (bestimmt)« (Köllmann 1976: 263). Diese Typologie basierte auf der Überbevölkerungstheorie, die auf Thomas Malthus zurückgeht und im ausgehenden 19. Jahrhundert unter Demographen sehr beliebt war. Sie besagt, dass es durch Bevölkerungswachstum zu einer Verengung des Nahrungsspielraumes komme. Der »Bevölkerungsdruck gegen die Grenzen des Nahrungsspielraums« könne »kurz- oder mittelfristig durch Wanderungen gemildert werden«. Und: »Der primäre Effekt jeglicher Wanderung ist also der Abbau von Überschußbevölkerung in den Ausgangs- und die Auffüllung einer untervölkerten Zielregion, deren Qualität als Nahrungsspielraum sich mit der Zuwanderung möglicherweise vergrößert« (Köllmann 1976: 263).

Netzwerke

Zu Beginn der 1990er Jahre unterschied der US-amerikanische Historiker, Politologe und Soziologe Charles Tilly (1929–2008) zwischen colonizing, coerced, circular, chain und career migration, wobei er darauf hinwies, dass »the five types of migration overlap somewhat, but differ on the average with respect to both retention of positions in sending networks and permanence of the moves involved« (Tilly 1990: 88). Tilly betonte die Wichtigkeit der sozialen Netzwerke der Migranten, die von familiären, verwandtschaftlichen bis hin zu beruflichen oder ethnischen reichen können, und unterschied zwischen zwei Netzwerken: einerseits Solidarnetzwerke, die den Migranten bei der Ankunft zur Seite stehen, um beruflich, wohnungsmäßig, finanziell und sozial in der neuen Umgebung Fuß fassen zu können. »They provide«, wie Tilly ausführte, »a setting for life at the destination, a basis for solidarity and mutual aid as well as for division and conflict« (Tilly 1990: 90). Andererseits können Netzwerke aber auch soziale Ungleichheit schaffen und/oder diese verstärken. Die Gründe dafür sah Tilly darin, dass »(1) members of immigrant groups often exploited one another as they would not have dared to exploit the native-born, and (2) every inclusion also constitutes an exclusion« (Tilly 1990: 92). Diese Theorie der Migrationsnetzwerke ist in der Migrationsforschung seit den 1980er Jahren weit verbreitet und hat sich als produktiver Untersuchungsansatz herausgestellt, der zu interessanten Studien geführt hat (siehe Kapitel 2).

1.3 Theorien

Ähnlich der Festlegung von Begrifflichkeiten für Migrationsvorgänge versuchten Wissenschaftler seit dem 19. Jahrhundert, Theorien hinsichtlich der Wanderbewegungen der Bevölkerung zu formulieren. Es lassen sich dabei zwei unterschiedliche Richtungen von Theorieschulen erkennen: erstens jene Theorien, die stark ökonomisch fokussiert sind und Migration in Zusammenhang mit Arbeitsmarkt, Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften, Lohnunterschieden etc. sehen; zweitens Theorien, die eher politische, soziologische und/oder kulturelle Aspekte der Migration berühren. Dazu zählen Aspekte wie der rechtliche und/oder kulturelle Ein- oder Ausschluss von Migranten in einer Gesellschaft, Migranten als »Fremde«, deren Integration, Assimilation oder Akkulturation. Zu den wichtigsten Theorien, welche die (historische) Migrationsforschung im 20. Jahrhundert prägten, gehörten

die push-and-pull-Theorie

die neoklassischen ökonomischen Theorien

the new economics of migration

die Weltsystemtheorie

die Theorie der Assimilation, Akkulturation, Integration sowie der transnationalen, transkulturellen, transregionalen Identitäten.

Push-and-pull-Theorie

Beginnen wir mit den ökonomisch ausgerichteten Theorien, die sich primär mit Arbeitsmigration bzw. der Migration von Arbeitskräften auseinandersetzen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysierten die Statistiker die unterschiedlichen Arbeitsmarktregionen in Europa. In der Habsburgermonarchie stellten sie fest, dass sich die Wanderbewegungen der Bevölkerung von den ärmeren Ostteilen der Monarchie in die reicheren Westteile vollzogen. Ähnliche Ergebnisse stellten sie für den deutschen Raum fest, wo als Begründung für die Migration vom Land in die Stadt die Attraktivität der industrialisierten Gebiete für die ländliche Bevölkerung angeführt wurde. Bei diesem Erklärungsansatz handelt es sich um eine frühe Form des später als push-and-pull-Modell bekannt gewordenen Erklärungsansatzes von Migration, der bis in die Gegenwart verwendet wird.

Push-Faktoren

Der push-Faktor bedeutet, die Rahmenbedingungen in den Herkunftsregionen der Migranten sind derart gestaltet, dass Menschen beispielsweise aufgrund einer Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, politischer Konflikte oder ökologischer Katastrophen veranlasst sind, das Gebiet zu verlassen, davon also abgestoßen (push) werden. Andere Regionen oder Gebiete mit prosperierender Wirtschaft stellen für die Migranten Anziehungspunkte dar; diese werden zum Beispiel von den Erwerbsmöglichkeiten eines boomenden Arbeitsmarktes angezogen (pull).

Das Konzept der push-and-pull-Faktoren wurde seit den 1960er Jahren auch in der historischen Migrationsforschung als Erklärungsansatz vielfach angewendet. Mittlerweile wird dieses neoklassische ökonomische Theoriemodell der anziehenden und abstoßenden Faktoren infrage gestellt (Parnreiter 2000: 27). Die Kritik zielt auf die ausschließliche Fokussierung dieses Modells auf Angebot und Nachfrage von Arbeitskräften sowie die Lohndifferenzen in den unterschiedlichen (Welt-)Regionen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Aspekt der Armut. Es wird angezweifelt, ob Armut »der« auslösende Faktor für Migration war und ist, da es, wie historische und soziologische Studien belegen, keineswegs die Ärmsten der Armen sind, die migrieren. Schon die Entscheidung zur Migration bedarf eines Vorwissens über und einer Auseinandersetzung mit dem Vorhaben; auch finanzielle Ressourcen sind für die Wanderung notwendig. Natürlich kann Armut als Motor für Arbeitsmigration fungieren, jedoch spielen für die Entscheidung des Weggehens noch viele weitere Gründe eine Rolle, wie die Familie bzw. die familiären, verwandtschaftlichen oder beruflichen Netzwerke etc. (siehe weiter unten).

Laws of Migration

In den 1880er und 1890er Jahren entwickelte der von Hannover nach England ausgewanderte Geograph E. G. Ravenstein Laws of Migration, bei denen Migration nach Distanz, zeitlichen Dimensionen und Geschlecht neu klassifiziert wurde. Die Ravensteinschen Migrationsgesetze zählen zu den »Klassikern« der Migrationstheorien und haben die Migrationsforschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geprägt und beeinflusst. Als einen der wichtigsten Gründe für die Migration des 19. Jahrhunderts sah Ravenstein die permanente Nachfrage nach Arbeitskräften in den industriellen und gewerblichen Zentren inner- und außerhalb Europas an. Der Großteil der Migranten waren seiner Ansicht nach Kurzstreckenmigranten, die vor allem vom Land in die nahe liegenden (Klein-)Städte wanderten; Langstreckenmigranten hingegen seien eher in großen Städten anzutreffen. Auch sei jede Migrationsbewegung durch einen counter-flow kompensiert. Als einer der wenigen Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellte Ravenstein fest, dass Frauen am Migrationsprozess stärker beteiligt waren als Männer.

Ravensteins Laws of Migration

Most migrants move only a short distance.

There is a process of absorption, whereby people immediately surrounding a rapidly growing town move into it and the gaps they leave are filled by migrants from more distant areas, and so on until the attractive force [pull factors] is spent.

There is a process of dispersion, which is the inverse of absorption.

Each migration flow produces a compensating counter-flow.

Long-distance migrants go to one of the great centers of commerce and industry.

Natives of towns are less migratory than those from rural areas.

Females are more migratory than males.

Economic factors are the main cause of migration.

Die Migrationsgesetze von E. G. Ravenstein wurden in der Folge vor allem von den Nationalökonomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts modifiziert und erweitert. Grundlegend blieb die Annahme, dass Migration von ärmeren in reichere Regionen führte. Als empirische Beispiele wurden die Ost-West-Wanderungen angeführt, wie die Arbeitsmigration der polnischen Bevölkerung in das Ruhrgebiet oder der jüdischen Bevölkerung aus Galizien nach Mitteleuropa oder in die USA.

Neoklassische ökonomische Theorien

In den 1980er Jahren setzten sich Ökonomen mit der Theorie der Lohndisparität als Migrationsfaktor auseinander. Einer der wichtigsten Vertreter dieser neoklassischen Migrationstheorie ist George J. Borjas (1988). Seiner Ansicht nach sollten neben den für die Migration ausschlaggebenden Lohnunterschieden auch andere Faktoren wie die finanziellen Möglichkeiten, Alter, Beruf, politische Hintergründe oder die Familien in die Untersuchungen mit einbezogen werden. Am Beispiel der US-Einwanderung skizzierte Borjas darüber hinaus »symptoms of immigration« für ein Einwanderungs- bzw. Aufnahmeland, wozu etwa die positiven wie negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Veränderung der sozialen und ethnischen Zusammensetzung in den Zuwanderungsgebieten und Städten zählen (siehe dazu Parnreiter 2000: 27–28; Han 2006: 195–209).

Theorie des dualen Arbeitsmarktes

Der Ökonom Michael J. Piore (1979) wiederum postulierte die Theorie des dualen Arbeitsmarktes und geht dabei von einem segmentierten Arbeitsmarkt aus: Im primären Segment finden sich die besseren Jobs, die vorrangig von Einheimischen besetzt werden. Da die Einheimischen das sekundäre Segment des Arbeitsmarktes mit den schlechten und niedrig entlohnten Jobs meiden, bleibt dieses Segment den Immigranten. Diese dead-end-jobs werden von den Migranten meist – trotz höherer Qualifikation – akzeptiert, da sie nur als vorübergehend angesehen werden. Für die einheimische Bevölkerung hat dies den Vorteil, dass schlecht entlohnte dirty jobs von den Immigranten übernommen werden; nach längerer Aufenthaltsphase wollen jedoch die Einwanderer dieses Segment des Arbeitsmarktes verlassen. Dadurch kann es zu Konkurrenz- und Konfliktsituationen mit den Einheimischen kommen (siehe auch: Parnreiter 2000: 28–30; Nuscheler 2004: 105; Han 2006: 178–194).

New Economics of Migration

Die Vertreter der New Economics of Migration, wie beispielsweise Oded Stark, lehnen, wie Michel J. Piore, den neoklassischen ökonomischen Ansatz ab und stellen die These der Lohndifferenzen als Motor der Migration infrage (Stark 1991). Ihrer Ansicht nach seien vielmehr Faktoren wie Unsicherheit, relative Verarmung oder Risikoverminderung ebenso zu berücksichtigen wie die Einflussnahme der Familie auf die Migrationsentscheidung. Durch die Arbeitsmigration von Familienmitgliedern würde die Transformation des ländlichen Haushalts zu einem kapitalistischen Betrieb ermöglicht (siehe Parnreiter 2000: 31–32; Nuscheler 2004: 106).

Weltsystemtheorie

Einen wichtigen Einfluss auf die Migrationsforschung hat seit den 1980er Jahren die auf Immanuel Wallerstein zurückgehende Weltsystemtheorie ausgeübt. Migration wird hier in Zusammenhang mit dem weltweiten kapitalistischen Wirtschaftssystem gesehen, das in drei Zonen zerfällt: die core area (das hoch entwickelte Zentrum), die periphery (die wirtschaftlich rückständige Peripherie) sowie die semiperiphery, eine Zwischenzone. Kernpunkte der Theorie sind, dass erstens aufgrund meist mangelnder Verbindungen zwischen Zentrum und Peripherie die Rekrutierung der Arbeitskräfte gezielt erfolgt; dass es zweitens zu einer ständigen Erneuerung des Migrationspotenzials kommt; und dass drittens auch die Rolle des Staates berücksichtigt werden soll, da hier Agenden der Zuerkennung von staatsbürgerlichen Rechten an die Migranten, Emigrationspolitik etc. verhandelt werden. Die Vertreter der Weltsystemtheorie sehen Migration nicht als einen Entscheidungsprozess einzelner Individuen, sondern als labor supply system (Sassen 1988) am Weltmarkt für Arbeitskraft (Potts 1988).

1.4 Assimilation, Integration, Transnationalität, Transkulturalität

Neben den auf Arbeitsmärkte und Arbeitskräfte ausgerichteten ökonomischen Migrationstheorien haben sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Soziologen und Politikwissenschaftler mit dem Ein- und Ausschluss von Migranten in den Zielgesellschaften, mit Assimilation oder Akkulturation, mit dem Leben in transnationalen sozialen Räumen und transnationalen Identitäten auseinandergesetzt.

Chicago School

Zu weitgehend unhinterfragten Klassikern der westlichen (soziologischen) Migrationsforschung zählten bis in den 1980er Jahren die Studien der Chicago School. Dazu gehörten die in den Jahren 1918 bis 1921 entstandenen Untersuchungen von William I. Thomas (1863–1947) und Florian Znaniecki (1882–1958) über die polnischen US-Immigranten (Thomas/Znaniecki 1918) oder die von Robert T. Park (1864–1944) und Ernest W. Burgess (1886–1966) entwickelte Assimilationstheorie (Park/Burgess 1921). Letztere haben in den 1920er Jahren aufgrund ihrer Forschungen über die Immigration in Chicago das Konzept des race-relation-cycle von Zuwanderergruppen entwickelt (Oswald 2007: 94; Han 2006: 8–28). Dieses besagt, dass die Beziehungen zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung stets von Wettbewerb und Konflikten begleitet sind. Den Immigranten stünden zunächst nur berufliche Nischen und bestimmte Wohnviertel zur Verfügung. Erst allmählich könnten Einwanderer sich aus diesen sozialen Positionen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie hocharbeiten, die kulturellen Traditionen kennenlernen und aufnehmen sowie durch Kontakte, Freundschaften etc. zu Einheimischen in der neuen Umgebung und Gesellschaft aufgehen, sich assimilieren. Diesen Zyklus von »Kontakt – Wettbewerb/Konflikt – Akkomodation – Assimilation« müssten die Immigranten bei gleichzeitiger allmählicher Übernahme der neuen Sprache durchlaufen. Dadurch werde ein »gemeinsamer Erinnerungsschatz« mit den Einheimischen aufgebaut, wodurch sich die Einwanderer wiederum von neuen Zuwanderern unterscheiden und abgrenzen. Im Gegensatz zur völligen Assimilation in die Zielgesellschaft stehen die Theorien der Akkulturation und Integration, »bei denen die Annäherung an die Zielkultur weit oberflächlicher sein kann bzw. auf eine gegenseitige Annäherung von Minderheits- und Mehrheitskultur verweisen« (Oswald 2007: 94).

Transnationalität

Seit den 1980er Jahren erfreut sich die aus dem politikwissenschaftlichen Bereich kommende Theorie zur Transnationalität besonderer Popularität. Diese Theorie entstand in Zusammenhang mit der zunehmenden Globalisierung der Arbeitsmärkte und den weltweiten Migrationen der Arbeitskräfte. Die neuen und raschen Verkehrs- und Transportmöglichkeiten sowie vor allem die modernen Kommunikationstechnologien ermöglichen Migranten heute das fast gleichzeitige Leben in »zwei Welten«. Die Theorie geht davon aus, dass die neuen Medien und Kommunikationsmöglichkeiten die Partizipation am Leben der Herkunftsgesellschaft in einem weit höheren Maße erlauben, als dies früher der Fall war. Migranten müssen sich nicht mehr für einen Ort (der Anwesenheit) entscheiden. Durch die Möglichkeit der täglichen Kommunikation und Information über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorkommnisse und Ereignisse in den Herkunftsgebieten durch Internet und Satellitenfernsehen wird eine virtuelle Verbundenheit mit den zurückgelassenen Personen, der Region, dem Staat geschaffen. Das Resultat ist ein Leben in transnationalen Räumen mit transnationalen Identitäten. Die Theorie des Transnationalismus erfreut sich auch in der neueren historischen Migrationsforschung großer Beliebtheit (Glick Schiller 2004; Pries 2008).

Transkulturalität

Die deutschen Historiker und Migrationsforscher Klaus Bade und Dirk Hoerder haben jedoch mehrmals darauf hingewiesen, dass diese Theorie für die historische Migrationsforschung eher ungeeignet erscheint. Die starke (nationalstaatliche) Gegenwartsbezogenheit des Forschungsansatzes macht es schwer, dieses Konzept auch für historische Gesellschaften zu verwenden. Zu bedenken seien die vielfach wechselnden politischen Konstellationen auf den unterschiedlichen Kontinenten, die zeitlich divergierende Herausbildung nationalstaatlicher Einheiten etc. (Bade 2004: 33). Dirk Hoerder plädiert daher die Migrationswege der Menschheit als Migrationssysteme zu betrachten und für die Analyse die Konzepte der Translokalität, – regionalität und -kulturalität bzw. glocal-connectivity zu verwenden. Auf diese Weise können, wie Hoerder festhält, »die Konzeptionen von Nation und nationaler Identität, von Staat und Gesetzgebung zerlegt werden in ihre vielen konstitutiven Teile und damit der Analyse zugänglich gemacht werden; Individuen und Familien werden mit der politischen Ordnung, der Gesellschaft, der Wirtschaft sowie mit (…) Glaubenssystemen und übergreifenden Identitfikationen verbunden (Hoerder 2016a: 61)«.

Definition von Transkulturalität nach Dirk Hoerder

»Transkulturaltität sind Prozesse, in denen sich Einzelne oder Gesellschaften an Berührungsorten oder in Kontaktzonen ändern, in denen unterschiedliche Lebensformen in ein dynamisches, plurales, neues Ganzes übergehen. Dieses ändert sich – in der transitorischen Eigenschaft aller Gesellschaften – durch nachfolgende interne Entwicklungen und durch Abwanderung Ansässiger oder Einflüsse Neuankommender. (…)

Transkulturelle Gesellschaftswissenschaften umfassen Gesamtheiten: Die Sozialwissenschaften im engeren Sinne erfoschen Verhaltensmuster, Institutionen, Strukturen sowie Wirtschaften und politische Organisationen; Diskurswissenschaften (humanities) analysieren alle Varianten der Selbst- und Fremddarstellung in literarischer und anderen Ausdrucksformen; way-of-life- oder Habitus-Wissenschaften tatsächlich gelebte Praxis im Kontext rechtlicher, religiöser und ethischer Normen (normative Wissenschaften Ethik, Theologie, Jura); somatisch-psychisch-emotional-spirituell-intellektuelle Aspekte von Individuen analysieren life sciences, Lebenswissenschaften; und natur- und sozialräumliche Kontexte die earth sciences oder Umweltwissenschaften. Transkulturelle Gesellschaftswissenschafen behandeln geschlechtsspezifisch und intergenerationell das ›Werden‹, das heißt die historische Dimension, das ›Sein‹ in der Gegenwart, die Erwartungen und Ziele für die Zukunft.« (Hoerder 2021: 27).

2. Schreiben über Migration

2.1 Obrigkeitliche Neugier

Menschen waren immer in Bewegung und sind gewandert. Dies hat seit jeher das Interesse der herrschenden Obrigkeiten, der kirchlichen Institutionen sowie der Intellektuellen und Wissenschaftler hervorgerufen. Bereits seit der Antike wurden in zeitlichen Abständen über die Jahrhunderte hinweg Bestandsaufnahmen der Bevölkerung vorgenommen. Die ersten Bevölkerungszählungen wurden in Babylon circa 3800, in Ägypten um 3050 und in China um 1000 vor unserer Zeit durchgeführt. In Europa zählt zu einem frühen Beispiel das in England 1066 angelegte Domesday Book, welches die nach der Eroberung der Normannen durchgeführte Erhebung der Bevölkerung und Tiere enthält. Aus Nürnberg ist eine bereits im Jahr 1446 durchgeführte Volkszählung überliefert. In Florenz und Venedig wurden ebenfalls schon im 15. Jahrhundert Informationen über die Bevölkerung gesammelt und in Zahlenform gebracht.

Bevölkerungserhebungen

Die Zensuserhebungen erfolgten vielfach aus fiskalischen Gründen, wie etwa in Florenz oder in Holland, wo 1494 Angaben zu den Haushalten und Steuern mittels Fragebögen erhoben wurden (Burke 2000: 161). Ab dem späten 16. Jahrhundert wurden die Bevölkerungserfassungen zunehmend detaillierter. 1590/91 wurde in ganz Spanien eine erste groß angelegte Volkszählung durchgeführt (ebd.: 142 ff.).

Häuservisitationen und Meldewesen

In den Städten mussten seit der Frühen Neuzeit die ankommenden Fremden von den Wirtsleuten in den Gasthäusern und Herbergen registriert und die Informationen an die Stadtverwaltungen weitergeleitet werden. Darüber hinaus wurden Häuservisitationen durchgeführt, Listen über die Durchreisenden und anwesenden Fremden erstellt und eine frühe Form des Meldewesens eingeführt. In Frankreich legte man bereits im 14. Jahrhundert Bevölkerungsregister an, um einen Überblick über die Zuwanderung zu erhalten und Ausweisungen von Fremden vornehmen zu können. Auf Basis dieser Register wurden zum Beispiel in den Jahren 1320 und 1324 die sich in Frankreich aufhaltenden Italiener ausgewiesen (Kleinschmidt 2002: 56). Ähnliches galt für die Judenkonskriptionen, die zunächst zum Zweck der Steuererhebung eingeführt und später als administrative Grundlage für die Ausweisung und Vertreibung der Juden aus den Städten und Dörfern der Habsburgermonarchie verwendet wurden (Tantner 2007: 23). Auch mit der Einführung von »Polizey-Ordnungen« wollte man seit dem 16. Jahrhundert das stete Kommen und Gehen besser kontrollieren.

Pfarrmatrikeln

In der Zeit der Gegenreformation begann man mit der Erfassung der Religionsangehörigen. Den katholischen und protestantischen Geistlichen wurde angeordnet, über die Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle in den Kirchenbüchern – auch Pfarrmatrikeln genannt – gute »Registratur« zu halten (Otruba 1979: 117).

In Venedig mussten die Pfarrer im 16. Jahrhundert bereits standardisierte Formblätter zur Erhebung verwenden; die Ergebnisse waren in »Tabellen gruppiert nach Männern, Frauen, Jungen, Mädchen, Dienstboten und Gondeln« geordnet (Burke 2000: 161). Diese Informationen benutzten auch die weltlichen Regenten: So ließ der »Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm (1620–1688), der rund 20.000 religiösen Flüchtlingen Aufnahme gewährte, 1683 aus den Geburts-, Heirats- und Sterbematrikeln erstmals Listen zur Bevölkerungsbewegung erstellen, die einige Jahrzehnte später von Johann Peter Süssmilch (1707–1767) für seine demographischen Studien verwendet wurden.

Bevölkerungspolitik im Merkantilismus

Im 17. Jahrhundert lässt sich im Zuge des Merkantilismus ein wachsendes Interesse der Obrigkeiten an der an- und abwesenden Bevölkerung in den jeweiligen Herrschaftsgebieten feststellen. Man erkannte, dass eine große Bevölkerungsanzahl auch gleichzeitig eine große Anzahl an Arbeitskräften bedeutete, die für die Wirtschaft und den Nationalreichtum positiv waren. Durch gesetzliche Maßnahmen und Verbote versuchte man, die Auswanderung insbesondere von Spezialisten und wehrfähigen Männern zu verhindern.

Johann Joachim Becher

Im 17.- und 18. Jahrhundert griffen Vertreter der merkantilistischen Wirtschaftspolitik das Thema der Bevölkerungsmobilität auf. Der Nationalökonom Johann Joachim Becher (1635–1682) zählte zu den frühen Befürwortern der Wanderungsbewegungen und kritisierte in seinem Politischen Discurs die Immobilität der deutschen Bevölkerung sowie das geringe Engagement der politisch Verantwortlichen in den Kolonien. Die Weltoffenheit der Holländer führte Becher als positives Gegenbeispiel zur »Weibische(n) Furcht« der deutschen Bevölkerung an, die es vorziehe, im Land zu bleiben, und warte, »biß die Pomerantzen auf den Holtzäpffl-Bäumen wachsen« (Becher 1721: 1190). Auch die auf Arbeitsmigration angewiesenen Erwerbstätigen aus ökonomisch schwachen Gebieten, wie den alpinen Regionen, werden von Becher erwähnt, wobei er auf die Auswirkungen der ungleichen Erwerbsmöglichkeiten hinweist: »Wann die arme elendige Salzburgische Bauren, die ein ganzes Jahr sich mit Wasser und Brodt in den Bergen behelffen in Bayern kommen, und allda in Uberfluß gut Brodt und Bier finden, samt dem ebenen schönen Lande, stehen sie gleichsam bestürzt, und solches noch vielmehr, wann sie von einigen Bayrischen Holzhauern oder Strohschneidern, die jährlich an den Rheinstrom kommen, um allda ihre Nahrung zu suchen, vernehmen, wie daß der Rheinstrom noch ein schöners Land sey, allwo man Wein trincke, und die Woche über noch einen Reichsthaler verdienen könne« (ebd.: 1194).