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Max Hammerschmidt, ein ehemaliger Fremdenlegionär und tougher Privatdetektiv, steht vor einer der größten Herausforderungen seines Lebens: die Aufklärung einer alten Mordserie, die die Kölner Polizei nie lösen konnte. Der "Würger von Köln" hat junge Frauen auf grausame Weise getötet, und die Spuren sind längst kalt. Als Max von einer verzweifelten Familie beauftragt wird, die Ermittlungen wiederaufzunehmen, stößt er auf eine Welt voller Geheimnisse, Lügen und unverarbeiteter Traumata. Doch während er Zeugen befragt und sich durch ein Labyrinth aus Halbwahrheiten kämpft, holt ihn seine eigene Vergangenheit ein – die Suche nach seiner verschwundenen Tochter. In einer brutalen Hitzewelle, die Köln zum Kochen bringt, muss Max nicht nur einen Serienmörder jagen, sondern auch seine eigenen Dämonen besiegen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Auch von diesem Autor
Impressum
Copyright © 2024 André Baganz
Alle Rechte vorbehalten.
Mein Name ist Max Hammerschmidt. Ich bin 39 Jahre alt und von Beruf Detektiv. Davor arbeitete ich drei Jahre als privater Auftragnehmer und davor war ich sieben Jahre Angehöriger der französischen Fremdenlegion. Ich würde sagen, mein bisheriges Leben war alles andere als gewöhnlich. Sollte ich irgendein Ereignis dafür verantwortlich machen, wäre es das folgende:
Auf den Kölner Ringen gab es einen neuen Techno-Club. Alle, die schon dort waren, schwärmten davon und das Wort machte die Runde, dass man nicht „cool“ war, wenn man diesen Klub nicht besucht hatte. Da wir cool sein wollten, mussten wir also dorthin gehen. Wir, das waren Heidi, Ingo und ich. Wir zwei Jungs kannten uns seit der Grundschule, waren beste Freunde und hatten immer zusammengehalten. In letzter Zeit hatte sich an unserem Verhältnis jedoch etwas geändert. Der Grund dafür war Heidi, denn wir beide waren scharf auf sie. Die Entscheidung darüber, wer das Rennen am Ende machen würde, stand noch aus und da wir beide gewinnen wollten, gaben wir unser Bestes, um Heidi zu beeindrucken. Im Nachhinein würde ich sagen, dass sie ihre Entscheidung immer wieder hinausschob, weil sie es genoss, uns beide um sie kämpfen zu sehen — diese blauäugige, blonde Schönheit.
Zuerst war Vorglühen an jenem Abend angesagt. Wir hatten ein paar Drinks in einer Bar. Danach zogen wir weiter zum Techno-Klub und stellten uns in die lange Warteschlange. Um ehrlich zu sein, hatte mich Techno nie interessiert. Ich stand mehr auf Rock. Aber wenn man verliebt ist und das Herz eines Mädchens gewinnen will, macht man so manches, was man eigentlich dämlich findet.
Nachdem wir uns eine halbe Stunde lang im Schneckentempo vorwärts bewegt hatten, standen wir schließlich am Eingang, bereit, vom Türsteher überprüft zu werden. Der Verantwortliche kontrollierte Heidi und Ingo mit einem flüchtigen Blick und signalisierte mit einem Kopfnicken, dass sie durchgehen könnten. Als ich mich ihm näherte, nahm er eine geschäftsmäßige Haltung an, beäugte mich kritisch und schien darüber nachzudenken, ob er mich durchlassen könne oder nicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, Kumpel. Nicht heute Abend.“
Ich musterte ihn meinerseits von oben bis unten. Er war ein kräftiger, nicht sehr großer Typ mit kurz geschorenem rotem Haar. Er sah aus wie ein Gewichtheber. Ich blickte ihm schließlich fest in die Augen. Er hielt meinem Blick stand und hinzu: „Falsche Schuhe.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Dann schaute ich auf meine Schuhe.
Heidi blieb stehen, drehte sich um. „Er gehört zu uns. Bitte, lass ihn rein.“ Sie schürzte die Lippen und sah den Türsteher bittend an.
Der schüttelte erneut den Kopf. „Hab’ meine Anweisungen. Geht nicht.“
Als sie merkte, dass ihr unschuldiges Getue bei diesem Kerl nicht zog, setzte sie eine ernste Miene auf und kam zurück, als wolle sie den Klub wieder verlassen. „Dann will ich hier auch nicht rein.“
Ingo griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. „Warte, der Max kann doch nach Hause gehen und andere Schuhe anziehen, oder?“
Heidi befreite sich von Ingos Griff. „Du trägst dieselben Turnschuhe wie er, genau wie die Hälfte von den Leuten, die da draußen anstehen. Die ganze Zeit über, als wir schlangestanden, hat er niemanden abgewiesen. Glaubst du wirklich, dass es hier um die Schuhe geht?“
Ingo stieß ihr in die Rippen. „Was soll das? Willst du, dass er uns auch wieder rausschmeißt?“
Der Türsteher nickte. „Du solltest auf deinen Freund hören.“
Heidi atmete tief durch und schüttelte verärgert den Kopf. Dann wandte sie sich erneut an den Türsteher. „Wenn er zurückkommt und richtige Schuhe anhat, lässt du ihn dann rein?“
„Klar“, sagte er mit einem breiten Grinsen.
Ich versuchte cool zu wirken und zuckte mit den Schultern. „Okay. Dann ist das Problem ja gelöst. Ihr geht vor. Ich wechsele meine Schuhe und komme später nach. Und dann machen wir richtig einen drauf.“
Heidi sah mich fragend an. „Bist du sicher?“
Ich zwinkerte ihr zu. Als mein Blick zu Ingo wanderte, glaubte ich, einen Ausdruck des Triumphs in seiner Miene zu erkennen. Unsere Freundschaft war definitiv auf Eis gelegt.
Während ich zurück nach Hause eilte, verfluchte ich den Türsteher. Ich würde es ihm zeigen. Was der Typ nicht wusste, war, dass ich nur ein paar hundert Meter vom Klub entfernt um die Ecke wohnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die Frechheit besitzen und mich erneut abweisen würde, wenn ich ein „anständiges“ Schuhwerk trug.
Ich war in kürzester Zeit zurück, hauptsächlich, weil ich wusste, wie gefährlich es war, Heidi mit Ingo allein zu lassen. Natürlich musste ich mich anstellen, aber nach 30 Minuten stand ich dem Türsteher wieder gegenüber. Er musterte mich und schüttelte den Kopf, als ich durchgehen wollte.
Ich konnte es nicht glauben. „Ist das dein Ernst? Vor einer halben Stunde hast du mich wegen meiner Schuhe nicht reingelassen.“ Ich deutete auf meine Füße. „Ich habe sie gewechselt. Siehst du? Schöne, braune Lederschuhe.“
„Nicht heute Nacht.“ Sein Gesichtsausdruck suggerierte, dass er keine andere Wahl hatte.
Ich biss mir frustriert auf die Unterlippe. „Aber du hast mir gesagt, dass –“
„Zu dir habe ich gar nichts gesagt“, unterbrach er mich.
„Was ist es diesmal?“
„Nicht heute Nacht“, wiederholte er.
Ich war mir vorher nicht sicher gewesen, aber jetzt wusste ich, warum er mich nicht reinlassen wollte. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog und das Adrenalin durch meinen Körper schoss. „Bist du dir sicher?“ Meine Stimme hatte einen drohenden Unterton.
Er nickte mit einem breiten Grinsen. „Absolut.“
Ohne groß nachzudenken, beschloss ich, ihm dieses Grinsen vom Gesicht zu wischen und schlug ansatzlos zu. Ich landete einen Aufwärtshaken, der ihn zu Boden schickte. „Du hast den falschen Mann verarscht.“
Der andere Türsteher hatte unseren Streit passiv beobachtet. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er das Verhalten seines Kollegen nicht guthieß. Dennoch konnte er nicht zulassen, dass mit seinem Kollegen so umgesprungen wird. Er musste mich angreifen.
Ich wich seinen Schlägen aus und schlug zurück, landete jedoch keinen Treffer, der gut genug war, ihn zu Boden zu schicken. Plötzlich bekam er Unterstützung. Jetzt sah ich mich zwei bulligen Kerlen gegenüber. Einem gelang es, mich in den Würgegriff zu nehmen. Während ich versuchte, mich zu befreien, boxte mir der andere in den Magen. Nach dem zweiten Treffer konnte ich kaum mehr atmen und die Lichter gingen aus.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich die beiden Türsteher neben ihrem rothaarigen Kollegen auf dem Boden liegen. Sie stöhnten vor Schmerz. Während ich nach Luft schnappte und versuchte, mich zu orientieren, packten mich zwei Arme. „Die Bullen sind jeden Augenblick da. Komm, wir müssen weg hier“, hörte ich jemanden sagen. Ich ließ mich wegzerren über den belebten Bürgersteig. Noch immer konnte ich kaum atmen und mich auf den Beinen halten. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Wir begannen zu joggen, als wir näher kommende Polizeisirenen hörten. Ein paar Mal verhinderte der Mann, dass ich hinfiel. Die Leute gingen uns aus dem Weg und blickten uns neugierig hinterher. Irgendwann erholte ich mich und konnte wieder klar denken. Ich befreite mich vom Griff des Mannes und rannte vor in eine Sackgasse.
„Ich glaube, dass das keine gute Idee ist“, sagte der Mann. „Hier drin sitzen wir in der Falle.“
Ich rannte kopfschüttelnd weiter. „Äh-äh. Vertrau mir.“ Nach ein paar Metern stoppte ich. Ich trat durch eine kaum sichtbare Lücke in der hohen Hecke und zog ihn hinter mir her. Wir befanden uns nun in einem kleinen, überwachsenen Hinterhof, der von einem fahlen Licht erhellt wurde, das aus zwei Milchglasfenstern schien. Nun, in Sicherheit, beugte ich mich nach vorn und stützte mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Als ich wieder normal atmen konnte, warf ich zum ersten Mal einen Blick auf meinen Retter: Er war ein Mann in den späten Dreißigern. An ihm war nichts Auffälliges. Er sah aus wie ein ganz normaler Typ. Aber das konnte er nicht sein, wenn er die beiden Türsteher außer Gefecht gesetzt hatte. Ich nickte ihm zu. „Danke.“
Er lächelte mich an. „Gern geschehen. Ich hoffe nur, das hier ist ein gutes Versteck?“
„Mach dir keine Sorgen. Das ist es. Als Kind habe ich mich hier oft versteckt. Hier findet uns niemand. Aber wir müssen für ein paar Minuten hier bleiben –“
„Psst.“ Mein Retter legte den Finger auf seine Lippen.
Auf der anderen Seite der Hecke gab es Bewegung. Wir hörten eine Frauenstimme. „Die müssen hier irgendwo sein. Die haben gesagt, die sind hier reingerannt. Komisch, die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“
Die Lichtkegel von zwei Taschenlampen tanzten auf der anderen Seite der Hecke.
„Hier sind sie jedenfalls nicht“, sagte ihr männlicher Kollege. „Lass uns zurückgehen; die sind über alle Berge.“
Nachdem wir eine weitere Minute lang geschwiegen hatten, holte mein Retter eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Er schlug sie auf seinen Handrücken, sodass eine Zigarette herausragte. Dann hielt er mir die Schachtel hin.
Als ich den Markennamen „Gitane“ las, zögerte ich. Ich hatte die Sorte mal ausprobiert und anschließend schrecklichen Durchfall bekommen.
Der Mann bemerkte meine Unentschlossenheit und schmunzelte. „Sie sind ziemlich stark.“
„Was soll's“, sagte ich schließlich und zog die hervorstehende Zigarette aus der Packung.
Er nahm auch eine. Dann gab er mir Feuer und beobachtete, wie ich einen zaghaften Zug machte. „Mein Name ist Antoine.“
Ich streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin der Max.“
Antoine schüttelte meine Hand. „Freut mich, dich kennenzulernen, Max.“
„Ganz meinerseits“, sagte ich lächelnd.
Während wir schweigend rauchten, schaute ich auf die schäbige Hauswand ein paar Meter entfernt. Eine von Rissen übersäte Steintreppe führte hinauf zu einer Metalltür, die offensichtlich seit längerer Zeit nicht mehr geöffnet worden war. Ich ging hinüber und setzte mich auf eine der Stufen. Antoine tat es mir gleich.
„Warum hast du mir geholfen?“, fragte ich.
Antoine zuckte mit den Schultern. „Impuls? Zwei gegen einen?“ Er nahm einen langen, nachdenklichen Zug, bevor er weitersprach. „Ich habe dich gesehen, als du das erste Mal dort warst. Ich hasse Ungerechtigkeit. Außerdem erinnerst du mich an jemanden, der viele Jahre lang mein bester Freund war.“
Ein lauter, lang gezogener Furz war über das Geräusch einer Toilettenspülung zu hören. Wir schauten auf das kleine Milchglasfenster in der Hauswand und brachen in Gelächter aus.
Antoine holte einen Flachmann aus der Tasche und reichte ihn mir.
Ich nahm ihn, schraubte den Deckel ab und schnüffelte. „Was ist das?“
„Whiskey“, sagte Antoine und ermunterte mich mit einer Geste, einen Schluck zu nehmen.
Ich tat es, verzog mein Gesicht, als ich schluckte und gab ihm die Flasche zurück. Ich war es nicht gewohnt, Whiskey zu trinken, und es schmeckte mir auch nicht.
Antoine setzte den Flachmann an und hielt ihn ganz senkrecht, um auch noch den letzten Tropfen herauszubekommen. Als wir aufgeraucht hatten, sagte er: „Gibt es in der Nähe einen vernünftigen Laden, in den man reinkommt und wo man etwas trinken kann?“
„Klar“, sagte ich und stand auf. „Gleich hier um die Ecke.“
Harry's Kneipe war rappelvoll. Wir zwängten uns in eine Lücke an der Bar. Antoine sah mich fragend an. „Was bekommst du?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich bin dran, denn ich schulde dir noch was. Was nimmst du?“
Antoine zuckte mit den Schultern. „Okay. Meinetwegen. Whiskey dann.“
Ich hob meine Hand, um Harrys Aufmerksamkeit zu erlangen. „Zwei Whiskey.“
Harry runzelte die Stirn. „Seit wann trinkst du Whiskey?“
„Ich will nur mal probieren“, sagte ich. Ich wusste, dass es keine gute Idee war, wollte meinen neuen Freund jedoch beeindrucken und ihm zeigen, dass ich mithalten konnte.
„Welche Sorte?“, fragte Harry.
Antoine studierte einen momentlang die Flaschen, die hinter der Bar ausgestellt waren. Dann sagte er: „Johnny Walker geht immer, aber bitte ohne Eis.“
Harry nickte. „Zwei Johnny Walker ohne Eis. Kommen sofort.“
„Was hast du mit den beiden Türstehern gemacht?“, fragte ich, während wir auf die Drinks warteten. „Versteh mich nicht falsch, aber du siehst nicht besonders Furcht einflößend aus.“
Antoine winkte ab. „Kein Problem. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das höre. Aber im Nahkampf geht es lediglich darum, das Momentum des Gegners zu deinem eigenen Vorteil zu nutzen. Es geht darum, die Energie umzulenken und natürlich ums richtige Timing. Wenn man ein paar einfache Konzepte verinnerlicht“, er tippte sich auf die Brust, „kann auch ein nicht so Furcht einflößender Typ wie ich zwei Blödmänner wie diese Türsteher ausknocken.“ Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Die gehen jeden Tag ins Fitnessstudio und stemmen Eisen, haben aber keinen blassen Schimmer davon, wie man kämpft. Zumindest 99 Prozent von diesen Typen.“
Ich nickte nachdenklich. „Und wo hast du diese Konzepte gelernt?“
„In der Armee.“
„Bundeswehr?“
Antoine schüttelte den Kopf.
Ich runzelte die Stirn. „Was gibt es sonst noch für eine Armee?“
„Oh.“ Antoine lächelte amüsiert. „Es gibt viele Armeen. Ich habe das Handwerk in der französischen Fremdenlegion gelernt. Verglichen mit der Legion ist die Bundeswehr der reinste Kindergarten. Das trifft auch auf die meisten anderen Armeen zu. Warst du schon bei der Musterung? Wie alt bist du eigentlich?“
„Achtzehn. Und ja, ich war schon bei der Musterung. Ich schätze, ich werde die Einberufung nach Beendigung meiner Lehre kriegen.“
„Was lernst du?“
„Automechaniker.“
Harry stellte die beiden Whiskeys vor uns ab. Antoine nahm sein Glas und prostete mir zu. Ich tat dasselbe und schüttete den Whiskey in einem Zug hinunter. Antoine sah mich entsetzt an, als er sein Glas wieder absetzte. „Was machst du?“
Mir keiner Schuld bewusst sah ich ihn fragend an. „Was meinst du?“
„So trinkt man keinen Whiskey“, sagte Antoine. „Das ist kein Schnaps und wir trinken hier nicht aus einem Flachmann. Whiskey muss man langsam trinken und genießen.“ Er zeigte auf sein Glas, in dem noch Whiskey drin war. „Manche sagen, man soll noch einen Wassertropfen hinzufügen. Das bringt den Geschmack noch mehr zur Geltung.“ Er winkte ab. „Davon halte ich nichts. Aber was du auf keinen Fall tun darfst, ist alles auf einmal runterschlucken.“
Ich machte eine entschuldigende Geste. „Sorry. Ich bin kein Whiskeytrinker.“
Antoine grinste. „Noch nicht.“ Er wandte sich an Harry und bestellte nach: „Zwei doppelte bitte.“
Harry nickte amüsiert.
„Wer ist dieser beste Freund, an den ich dich erinnere?“, fragte ich.
Antoines Gesichtsausdruck wurde ernst. Er starrte vor sich hin. Für einen Moment schien er in Nostalgie zu schwelgen. „Sein Name war Sékou. Er war ein großartiger Typ. Er war Franzose und –“ Er zögerte, bevor er fortfuhr. „Er hatte die gleichen Probleme wie du.“
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
Antoine blickte mich an. „Ich glaube, du weißt genau, was ich meine. Sékou war genauso. Er wollte nie darüber reden, was ich für einen Fehler hielt, denn ich finde, Probleme müssen angesprochen werden, sonst kann man sie nicht lösen. Er sagte immer, ich bin ein echter Franzose. Und Mann, das war er. Ein unwahrscheinlich stolzer dazu. Einziges Problem: Er sah nicht aus wie einer.“ Er holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein zerknittertes Foto. „Hier, überzeuge dich selbst. Könnte dein Zwillingsbruder sein.“ Er reichte mir das Foto.
Ich sah Antoine und einen braunen Typ. Beide trugen Uniformen. Sie lächelten. Der Hintergrund war eine tropische Landschaft. Der Mann hatte in der Tat große Ähnlichkeit mit mir. Ich gab das Foto zurück. „Du sprichst von ihm in der Vergangenheit.“
Antoine nickte. „Ja, weil er tot ist. – Leider. Er fiel im Kampf direkt neben mir. War eine hässliche Sache.“ Er steckte die Brieftasche wieder ein und seufzte. „Aber lass uns nicht darüber reden.“ Er bot mir eine Zigarette an.
Ich akzeptierte.
Als Antoine mir Feuer gab, sagte er: „Wir wissen beide, warum der Türsteher dich nicht in den Klub gelassen hat.“
Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, als er fortfuhr.
„Natürlich können wir so tun, als ob wir es nicht wissen und nicht darüber reden. Aber dadurch wird das Problem nicht verschwinden, oder?“
Ich nickte zustimmend.
„Also, wer ist schwarz? Dein Vater oder deine Mutter?“
„Vater.“
„Sind sie noch zusammen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das waren sie nie wirklich. Er war Soldat in der belgischen Armee. Das ist alles, was ich weiß. Und mehr brauche ich auch nicht zu wissen. Mein Vater ist der Mann, der mich aufgezogen hat. Er ist ein Supertyp.“
„Cool“, sagte Antoine. Nach einem Moment fügte er hinzu: „Willst du einen Ratschlag?“
„Ich zuckte mit den Schultern. „Klar.“
Harry stellte die nächste Runde vor uns ab. Wir erhoben unsere Gläser. Ich befolgte Antoines Anweisung, nahm einen kleinen Schluck und ließ ihn auf der Zunge zergehen, was mir einen wohlwollenden Blick einbrachte.
„Genauso wird’s gemacht“, sagte Antoine und nahm selbst einen Schluck. Nachdem er sein Glas wieder abgestellt hatte, redete er weiter. „Also was diesen Tipp betrifft, den ich für dich habe: Es mag herzlos klingen, aber was du tun musst, ist dich mit der Welt zu arrangieren, in der du lebst. Wir sind hier in good old Germany und hier sticht jemand, der so aussieht wie du, nun mal hervor. Das ist niemandes Schuld. Es ist einfach so.“ Er zwinkerte mir zu. „Und du musst zugeben, dass das nicht nur Nachteile mit sich bringt. Ich meine, du siehst gut aus –“ Er deutete mit einer Geste an, was er meinte.
Ich musste lächeln. Ein Bild von Heidi schoss mir durch den Kopf.
Antoine lächelte ebenfalls. „Was ich dir sagen will, ist, dass das, was vorhin passiert ist, höchstwahrscheinlich noch viele Male in deinem Leben passieren wird. Aber wenn du immer so eine Reaktion zeigst wie heute, wirst am Ende du derjenige sein, der leidet und die Zeche zahlt. Ich will dein Problem nicht kleinreden, aber ich habe ein bisschen was von der Welt gesehen, unter anderem auch echte, zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten. Dagegen würde ich dein Problem als unbedeutend bezeichnen. Je eher du lernst, damit umzugehen, insbesondere mit solchen Situationen wie vorhin, desto besser. Der Türsteher mochte dich nicht, wegen deiner Hautfarbe. Da brauchen wir nicht drum rumzureden. Na und? Lass ihn. Jeder hat das Recht auf seine Meinung, auch wenn sie dämlich ist. Und jede Medaille hat zwei Seiten. Aus dem gleichen Grund, weshalb er dich nicht mag, fühlen sich andere Leute zu dir hingezogen. Also reiß dich verdammt noch mal zusammen und zeige nie wieder so eine Reaktion wie heute Abend. Wenn ein Türsteher „Nein“ sagt, bedeutet das „Nein“. Hinzu kommt, dass ich nicht immer in der Nähe bin, um dir beizuspringen. Obwohl ich zugeben muss, dass du einen höllischen Aufwärtshaken hast. Ich schätze, der Typ wird die nächsten Wochen seine Nahrung durch einen Strohhalm zu sich nehmen.“ Wir beide schmunzelten, doch Antoine wurde sofort wieder ernst. „Du hast eine Menge Potenzial, aber es muss in die richtige Richtung gelenkt werden. – Also, was machst du, wenn du dich nochmal in so einer Situation wiederfindest?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Weitergehen? ... zum nächsten Klub?“
„Richtig.“ Antoine klopfte mir anerkennend auf die Schulter. „Oder du kommst hierher. Das ist doch ein cooler Laden. – Du hast alles kapiert, was ich dir gerade gesagt habe?“
Ich nickte. „Habe ich.“
Als Antoine wieder sein Whiskeyglas zum Mund führte, sah ich ihn verstohlen an. Ich war beeindruckt von ihm. Seine Message war definitiv angekommen. Nie zuvor hatte jemand so mit mir gesprochen, nicht einmal meine Eltern. Ich entschied spontan, so zu werden wie Antoine. „Kann eigentlich jeder der Fremdenlegion beitreten? Oder braucht man dafür spezielle Voraussetzungen.“
„Nur zwei Voraussetzungen. Du musst zwischen 17 1⁄2 und 39 1⁄2 Jahre alt sein und darfst nicht bei Interpol auf der Fahndungsliste stehen.“
Ich starrte nachdenklich vor mich hin. Wow. Die französische Fremdenlegion, das klang verdammt aufregend. Vor meinem geistigen Auge sah ich Heidi. Ich verdrängte das Bild. „Und wie läuft das ab? Ich meine, wie bewirbt man sich?“
„Wie bewirbt man sich?“, wiederholte Antoine stirnrunzelnd. „Du kannst keinen Bewerbungsbrief dorthin schicken oder anrufen. Um beizutreten, musst du nach Frankreich gehen. Das habe ich vor zwanzig Jahren auch getan. Ich bin zum Autobahnkreuz Köln-Süd. Zum Glück musste ich nicht lange warten. Schon der dritte Lkw, der vorbeikam, hielt und nahm mich mit. Zufälligerweise fuhr er sogar bis Frankreich durch. Ich nahm das als gutes Omen, ließ mich in der ersten Stadt hinter der französischen Grenze absetzen. Meine Sprachkenntnisse waren damals ziemlich begrenzt. Und das ist milde ausgedrückt.“ Er schmunzelte vor sich hin und zog an seiner Zigarette, bevor er fortfuhr. „Mein Französisch war aber gut genug, um den nächsten Gendarmerieposten zu finden und den Beamten dort zu erklären, dass ich der Fremdenlegion beitreten möchte. Nach einer Stunde kam jemand, um mich abzuholen.
Ich wurde in eine Kaserne gebracht, wo ich mich einem Backgroundcheck unterziehen musste. Drei Tage später fuhr ich mit zwei anderen Jungs, die sich ebenfalls der Legion anschließen wollten, in einem Zug zum Hauptquartier nach Aubagne. Von nun an wurde es schwieriger. Mir wurden meine persönlichen Sachen abgenommen und ich durfte nur noch Uniform tragen. Ein Arzt untersuchte mich von oben bis unten. Außerdem musste ich mich einem psychologischen Test unterziehen. Auf der Tagesordnung stand Putzen, Sport treiben und vor allem Französisch lernen. Jeden verdammten Tag hatte ich Unterricht. Die nächsten drei Wochen waren die Hölle. Ich habe mich nicht nur einmal gefragt, ob ich möglicherweise die falsche Entscheidung getroffen hatte. Aber diese Zeit ging vorbei und am Ende bestand ich alle Prüfungen. Nachdem ich einen Fünfjahresvertrag unterschrieben hatte, wurden mir die Haare geschnitten. Dann wurde ich für die viermonatige Grundausbildung nach Castelnaudary geschickt. In die Legion einzutreten, war genau die richtige Entscheidung. Ich habe es nie bereut, auch wenn es am Anfang ziemlich hart war.“
Für einen langen Moment sagte niemand etwas. Wir rauchten und nippten an unseren Drinks. Dann stand ich auf, um zur Toilette zu gehen. Ich kämpfte mich durch die überfüllte Kneipe und spürte, wie die Wirkung des Whiskeys einsetzte. Dieser Antoine war ein großartiger Kerl. Würde er mir beibringen, wie man richtig kämpft, wäre ich unschlagbar. Ich schubste einen Typen aus dem Weg. „Hey! Pass auf, wo du hingehst!“, schrie er mir hinterher.
„Leck mich“, murmelte ich vor mich hin.
Nachdem ich mich erleichtert hatte, beugte ich mich über das Waschbecken und schaufelte mit den Händen kaltes Wasser gegen mein Gesicht. Nach einer Weile fühlte ich mich besser. Ich taumelte zurück zur Bar, entschlossen, nicht zu zeigen, dass ich mehr als genug hatte.
„Warum bist du der Legion beigetreten?“, setzte ich unsere Unterhaltung fort.
„Damals war es Abenteuerlust.“ Antoine sah mich besorgt an, als ich den letzten Schluck aus meinem Glas nahm. „Alles klar bei dir?“
„Auf alle Fälle“, sagte ich und realisierte, dass ich nuschelte. „Soll ich noch einen bestellen?“
Antoine schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du hast genug. Es ist besser, wenn du jetzt nach Hause gehst. – Wo wohnst du?“
„Gleich um die Ecke“, hörte ich Harry sagen. „Seine Eltern haben den Kiosk am Hildeboldplatz.“
Plötzlich saßen mir zwei Antoines gegenüber. Ich schloss ein Auge und der zweite Antoine war weg. Sobald ich es wieder öffnete, war Antoine Nummer zwei zurück. Ich öffnete und schloss mein linkes Auge ein paar Mal und genoss das Spiel. Meine Umgebung begann sich schneller und schneller zu drehen.
Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Bett auf, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Egal in welcher Stellung ich meinen Kopf hielt, er wollte einfach nicht aufhören zu pochen. Ich schwor mir, nie wieder Whiskey zu trinken. Ich fand einen Zettel mit Antoines Nummer. Ich brauchte ein paar Tage, um zu entscheiden, ob ich ihn anrufen soll oder nicht. Am Ende tat ich es.
Wir trafen uns wieder und natürlich trank ich wieder Whiskey. Antoine wurde mein bester Freund, ein väterlicher Freund. Er brachte mir bei, wie man kämpft und noch vieles mehr. Inzwischen ist mir bewusst, dass jene Nacht ein wichtiger Scheideweg in meinem Leben war. Ohne Antoine wäre ich bestimmt ganz woanders gelandet und mit Sicherheit wäre ich heute kein Privatdetektiv.
Was meinen ehemaligen besten Freund Ingo angeht, muss ich sagen, dass er seinen Vorteil in jener Nacht nutzte und ich den Kampf um Heidi verlor. Aber ich habe es überlebt. Ich war ohnehin nicht mehr lange vor Ort, weil ich der französischen Fremdenlegion beitrat. Genau wie Antoine habe ich diesen Schritt nie bereut. Es war dort, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl der Zugehörigkeit spürte. Die Zeit dort machte mich zu einem anderen Menschen – anders, im Sinne von wehrhaft, vorausschauend, unvoreingenommen, kurzum weiser und fitter für alle Situationen des Lebens.
„Derartige Hitzewellen werden durch Hochdrucksysteme verursacht, die lange Zeit am selben Ort verbleiben. Im vorliegenden Fall eskaliert die Hitze durch heiße Luft, die kontinuierlich aus der Sahara nachströmt. Unter normalen Umständen sorgen sogenannte Planetarwellen für einen Wechsel und somit für Abkühlung, aber der Klimawandel schwächt diese hin und her schwingenden Luftströme. Genau aus diesem Grund können Hochdruckbereiche viel länger am selben Ort verbleiben. Forscher des Potsdamer Instituts für Klimaforschung sagen, dass Länder in gemäßigten Klimazonen wie Deutschland viel stärker betroffen sind als Gebiete im hohen Norden oder der ohnehin schon heiße Süden –“ Die Stimme des Radiosprechers brach ab, als ich in die Tiefgarage fuhr. „Fußballfans müssen ... Bundesliga ... neue Anstoßzeiten für die nächste Saison ...“ Schließlich verschwand die Stimme komplett, bis nur noch ein Rauschen zu hören war.
Als ich meinen Parkplatz sah, schlug ich frustriert auf das Lenkrad. „Nicht schon wieder.“ Das Auto in der Nachbarbucht, ein weißer Volvo-SUV, war schief geparkt. Die Reifen auf der Beifahrerseite standen mindestens 20 Zentimeter weit in meiner Box. Da mein Fahrzeug auch ein SUV war, hätte ich meine Tür nicht mehr aufbekommen, wenn ich trotzdem in meine Parkbucht gefahren wäre. Ich blickte mich um: Alle anderen Parkplätze auf der Ebene waren besetzt. Es war einfach nicht mein Tag. Ich notierte mir das Kennzeichen des Volvos und fuhr weiter zur nächsten Ebene.
Als ich die Tür öffnete und ausstieg, war es, als würde ich eine Sauna betreten. Ich ging zum Fahrstuhl, drückte auf den Knopf, wartete elend lange und stieg ein. Als die Tür zu schließen begann, sah ich, wie ein Mann auf den Fahrstuhl zueilte.
„Bitte warten Sie.“
Ich schaute schnell weg und tat so, als ob ich ihn nicht sehen und hören würde. In letzter Sekunde änderte ich meine Meinung und hielt die Hand zwischen die sich schließende Tür. Meine innere Stimme sagte mir, dass ich mich zusammenreißen soll. „Es ist nicht seine Schuld, dass du schlechte Laune hast.“
Der Mann nickte mir dankbar zu, als er eintrat. Außer Atem drückte er den Knopf für den zehnten Stock. Der Sprint zum Fahrstuhl hatte ihn offensichtlich über seine anaerobe Schwelle gehoben. „Kein Wunder“, dachte ich, als ich seinen übergewichtigen Körper betrachtete.
Nachdem sich der Aufzug mit einem sanften Ruck in Bewegung gesetzt hatte, holte er sein Handy hervor und hielt es mit zittriger Hand. Er war ein blasser Typ mit rosigen Wangen. Er bemerkte nicht, dass ich ihn beobachtete. Er trug einen dunklen Anzug. Die Schweißperlen an seinem Haaransatz verrieten, dass ihm die Hitze arg zu schaffen machte.
Obwohl ich es nie herausfinden würde, versuchte ich zu erraten, was er war. War er auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch? In dem Gebäude befanden sich zahlreiche Firmen und Agenturen. Oder arbeitete er schon hier und die Firmenpolitik schrieb vor, dass die Mitarbeiter unabhängig von der Außentemperatur einen Anzug tragen mussten?
Nach etwa dreißig Sekunden bekam er seine Atmung wieder unter Kontrolle. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte seinen dicken, weißen Nacken trocken. Dabei warf er mir einen Blick zu. „Diese Hitze ist schrecklich“, sagte er lächelnd.
Ich lächelte zurück. „Das können Sie laut sagen.“
Ich sah, wie er die Augen schloss und tief Luft holte, als der Aufzug stoppte. Offensichtlich wappnete er sich für etwas. Also doch ein Vorstellungsgespräch. Er nickte mir zu, bevor er ausstieg.
Ich warf einen Blick auf die Firmenschilder. Auf dieser Etage befanden sich drei Anwaltskanzleien. „Viel Glück“, rief ich ihm hinterher.
Als sich die Tür wieder schloss, holte ich mein Handy hervor und wählte. „Hammerschmidt Investigation“, sagte ich, als mein Anruf entgegengenommen wurde. „Ein weißer Volvo, Kennzeichen –“ Ich schaute auf den Zettel in meiner linken Hand.
„Ich habe das Kennzeichen, Herr Hammerschmidt“, sagte der Hausmeister. „Das haben Sie mir beim letzten Mal schon gegeben. Ich hatte mit der Besitzerin des Wagens gesprochen und sie hat mir versichert, dass es nicht wieder vorkommen wird.“
„Da es nun doch wieder vorgekommen ist, möchte ich Sie bitten, noch mal mit ihr zu reden. Es kann doch nicht so schwer sein, zwischen den beiden weißen Linien zu parken, oder?“
„Natürlich nicht. Aber Sie wissen ja, Frauen und Einparken. Sobald ich aufgelegt habe, kümmere ich mich um die Angelegenheit.“
Als ich aus dem Fahrstuhl stieg, war ich überrascht, jemanden vor meiner Bürotür warten zu sehen. Normalerweise riefen mich die Kunden vorher an, um einen Termin zu vereinbaren. Ich musterte sie und entschied spontan, dass sie anders aussah, als meine typische Klientel: Sie sah nicht aus, wie die Frau, die ihren treulosen Ehemann überführen will, dafür wirkte sie zu entspannt. Sie sah auch nicht aus, wie die verzweifelte Mutter, die den Aufenthaltsort ihres entlaufenen Teenagers herausfinden will. Dafür war sie zu jung. Und sie sah mit Sicherheit nicht aus, wie eine Firmenchefin, die einen ihrer Mitarbeiter beobachten lassen will. Dafür wirkte sie nicht energisch genug.
Meine Bürozeiten waren von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags. Wir hatten fünf nach halb elf. Normalerweise kam ich nie zu spät zur Arbeit. Aber es war eben kein normaler Tag. „Haben Sie einen Termin?“, fragte ich unfreundlicher als beabsichtigt. Abgesehen davon war es ohnehin überflüssig, weil ich wusste, dass sie keinen hatte.
Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich die Person war, auf die sie wartete. Sie machte eine entschuldigende Geste. „Tut mir leid. Ich habe keinen Termin. Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, versuch's einfach mal.“ Sie machte mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf mich zu. „Mein Name ist Lena Heldt. Marx & Hessler haben mich an Sie verwiesen. Wenn das jetzt ein schlechter Zeitpunkt ist, kann ich wiederkommen oder einen Termin vereinbaren.“
Wieder hörte ich meine innere Stimme, die mir sagte, dass ich mich gefälligst zusammenreißen und meine schlechte Laune nicht an dieser unschuldigen jungen Frau auslassen soll. Ich hörte auf sie und schüttelte die mir entgegen gestreckte Hand. „Das ist okay“, sagte ich. Dann holte ich den Schlüssel aus meiner Tasche, schloss die Tür auf und machte eine einladende Geste. „Nichts wie rein in die gute Stube.“
Lena Heldt lächelte, als sie an mir vorbeiging. „Schön kühl hier drin.“
Ich deutete auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Vielleicht ein Glas Wasser?“, sagte sie, als sie sich setzte.
Ich nickte, ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Mineralwasser heraus und stellte sie mit einem Glas vor ihr auf den Tisch.
Sie bedankte sich mit einem Kopfnicken und sagte: „Eigentlich stehe ich auf richtigen Sommer, aber ich wäre auch mit zehn Grad weniger zufrieden.“
„Das wären wir alle“, sagte ich und setzte mich auf meinen Stuhl hinter dem Schreibtisch.
Lena Heldt goss ihr Glas halb voll und trank einen Schluck. Ich betrachtete sie, ohne auf Details zu achten. Mir fiel jedoch auf, dass sie ein exotisches Gesicht hatte. Nachdem sie das Glas wieder abgestellt hatte, schweifte ihr Blick flüchtig durch mein Büro. Ich war mir sicher, dass sie nicht beeindruckt war, denn meine Einrichtung war simpel.
„Okay.“ Ich rieb mir die Hände. „Was kann ich für Sie tun?“
Lena Heldt räusperte sich, bevor sie zu sprechen begann. „Ist Ihnen der Würger von Köln ein Begriff?“
Vor meinem inneren Auge sah ich die Schlagzeile: „Würger von Köln schlägt erneut zu.“ Die Story hatte monatelang die Nachrichten und Titelseiten der lokalen Zeitungen beherrscht. Der Würger von Köln wurde für ein halbes Dutzend Morde verantwortlich gemacht, wobei seine Opfer immer junge Frauen waren, die er zuerst vergewaltigte und dann zu Tode würgte. Die Boulevardpresse hatte ihm seinen Namen in Bezug auf den berüchtigten Würger von Boston gegeben. Irgendwann endete die Mordserie. Zumindest gab es keine Morde mehr, die dem Würger zweifelsfrei zugeordnet werden konnten. Die Gerüchteküche brodelte dann noch einige Zeit weiter. Es gab Erklärungen wie: Der Würger sei gestorben oder er sitze wegen eines anderen Verbrechens im Gefängnis. Andere Versionen besagten, er sei ein Ausländer, der in seine Heimat zurückgekehrt ist. Irgendwann war das Thema aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Kölner Polizei hatte sich während der Ermittlungen wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert und war dafür von der Presse scharf kritisiert worden. „Selbstverständlich“, sagte ich. „Warum fragen Sie?“
„Meine Schwester Laura war eins seiner Opfer.“
Ich schluckte. „Tut mir leid, das zu hören.“
„Die Polizei hat uns mitgeteilt, dass die damals gebildete Sonderkommission jetzt nach sieben Jahren aufgelöst wird. Die Ermittlungen werden zwar nicht eingestellt, aber, wie es in deren Jargon heißt, ausgesetzt“, sagte Lena Heldt. „Die Polizei hat absolut keine Hinweise darauf, wer der Täter sein könnte.“ Sie holte tief Luft und stieß sie geräuschvoll wieder aus. „Wie es aussieht, kommt dieses Monster jetzt ungeschoren davon. Aber Lauras Mord darf nicht ungesühnt bleiben. Wir, also meine Familie, glauben, dass die Polizei nicht genug getan hat, um den Fall aufzuklären. Deshalb wollen wir Sie beauftragen, noch einmal mit Zeugen zu sprechen, nur um sicherzugehen, dass bisher nichts übersehen wurde.“
Ich beobachtete sie dabei, wie sie das Wasserglas zum Mund führte und trank. Dabei schüttelte ich nachdenklich den Kopf. Einige Zeugen zu befragen, klang nach leicht verdientem Geld. Aber ich war pessimistisch, was eine Aufklärung des Falls betraf. Und das ist noch milde ausgedrückt. Sicher, ich verdiente meinen Lebensunterhalt als Detektiv. Aber ich hatte auch einen Ehrenkodex. Und der gebot mir, kein Geld aus meinen Klienten herauszuquetschen. Das war absolut nicht mein Stil. Aber genau das hätte ich getan, wenn ich diesen hoffnungslosen Fall angenommen hätte.
Lena Heldt schien meine Gedanken zu lesen. „Marx & Hessler kümmern sich seit Langem um unsere Angelegenheiten. Wir vertrauen den Mitarbeitern dort und folgen ihren Ratschlägen. Herr Conrad sagte, dass Sie genau der Richtige für diesen Job sind und wüssten, was es bedeutet, mit einer Sache nicht abschließen zu können. Er deutete an, dass Sie etwas Ähnliches erlebt haben.“
Ich senkte meinen Blick und schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter.
Lena Heldt bemerkte das und sagte: „Wurde in ihrer Familie auch jemand ermordet?“
Ich blickte wieder auf und erwiderte scharf: „In meiner Familie wurde niemand ermordet.“
Lena Heldt wich meinem Blick stirnrunzelnd aus. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie etwas sagen wollte, aber es kamen keine Worte aus ihrem Mund. Es entstand eine unangenehme Pause.
Vor meinem geistigen Auge sah ich Anne-Marie: ein kleines, braunhaariges Mädchen mit dem schönsten Lächeln dieser Welt. Heute wäre sie – verdammt, heute wird sie zehn Jahre alt. Sie lebt. Bezweifle das nie. Bilder vom Tag ihrer Geburt schossen mir durch den Kopf; der Moment, als ich sie zum ersten Mal in den Armen hielt. Ich stellte mir vor, wie sie wohl aussehen mochte: Drei Jahre machen in der Entwicklung eines Kindes so viel aus. Ich spürte die Spannung in meinen Kiefermuskeln. Sie war am Leben. Ich wusste, dass sie es war.
„Geht’s Ihnen gut?“, fragte Lena Heldt.
Ich versuchte mich zu entspannen und Anne-Marie aus meinem Kopf zu bekommen. Es gelang mir teilweise. „Äh ... ja“, stammelte ich, atmete tief durch und suchte nach den richtigen Worten, um fortzufahren. „Schauen Sie, ich bin nur ein Privatdetektiv. Das heißt, ich habe keinen Zugang zu Polizeiakten. Aber ohne einen Blick in die Akten werfen zu können, wüsste ich nicht einmal, wen ich befragen soll.“
„Das dürfte kein Problem sein. Ich habe Kopien der Akten. Mein Vater hat ein paar Beziehungen spielen lassen. Er ist mit dem Polizeipräsidenten befreundet.“
Ich dachte einen momentlang nach, schüttelte dann aber erneut den Kopf. „Sie bieten mir einen Job an und ich würde ihn zu gerne annehmen. Wirklich. Aber das Problem ist, dass ich ein schlechtes Gewissen haben würde, wenn ich es täte.“
„Und warum?“
„Das kann ich Ihnen genau sagen. – Klar, ich kann die Zeugen befragen. Das ist überhaupt kein Problem. Aber Sie hegen eine Illusion, wenn Sie denken, dass ich den Fall lösen kann. Ich glaube – ich glaube es nicht nur, sondern bin überzeugt davon, dass ich nicht mehr herausfinden werde, als die Polizei bereits herausgefunden hat.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was Sie beruflich tun, aber ... was ich versuche, Ihnen zu sagen ist, dass Sie ihr Geld aus dem Fenster werfen würden.“
Statt auf das von mir Gesagte einzugehen, holte Lena Heldt ihr Handy hervor, tippte auf das Display und hielt mir das Gerät hin, um mir ein Foto zu zeigen. „Das ist meine Schwester Laura. Das ist mein Lieblingsbild von ihr.“ Sie sprach weiter, während ich das Foto betrachtete. „Sie war drei Jahre jünger als ich. Ich liebte sie über alles, auch wenn wir uns manchmal gestritten haben.“ Sie machte eine Geste des Bedauerns. „Schwestern halt. Heute tut mir das leid und ich würde es gern rückgängig machen. Aber leider ist das nicht möglich. Ich glaube, wie sehr man einen Menschen liebt, realisiert man erst, wenn dieser nicht mehr da ist.“ Lena Heldt zog ihre Hand zurück. „Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, denn Geld ist für uns kein Problem. Wir hatten ohnehin vor, Ihnen das doppelte Honorar zu zahlen. – Also, was ist? Akzeptieren Sie?“ Sie blickte mich erwartungsvoll mit großen Augen an.
Wow. Doppeltes Honorar. Geld war kein Problem für sie. Ich ließ das Gesagte einen Moment lang sacken, dann schob ich die Broschüre mit meinen Gebühren über den Tisch. „Ich schätze, ich kann die Zeugen befragen. Aber schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch.“
„Das erwähnten Sie bereits“, sagte Lena Heldt, während sie einen flüchtigen Blick auf die Broschüre warf und sie dann in ihre Handtasche steckte. „Alles, was Sie wissen müssen, habe ich in einer PDF-Datei. Ich schicke Sie Ihnen.“
Ich nickte. „Tun Sie das. Meine E-Mail-Adresse steht in der Broschüre.“
„Es wäre schön, wenn Sie so schnell wie möglich anfangen würden“, sagte Lena Heldt und reichte mir die Hand über den Schreibtisch. Nachdem ich sie geschüttelt hatte, stand sie auf und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. „Nehmen Sie die Befragungen bitte auf.“
Ich stutzte.
„Das ist doch kein Problem, oder?“, sagte sie.
Ich zuckte mit den Achseln. „Das nicht. Es ist nur ungewöhnlich.“
Sie nickte mir noch einmal zu und ging.
Ich blieb vor mich hin starrend hinter meinem Schreibtisch sitzen und fragte mich, warum zur Hölle ich überhaupt ins Büro gekommen war. Es war so offensichtlich, dass ich an diesem Tag nichts zustande bringen würde. Ich seufzte, stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Unbewusst sah ich den Dom, den Rhein, die Brücken, die sieben Hügel in der Ferne. Der blaue Himmel war wolkenlos. Alles Gute zum Geburtstag, Baby. Wo auch immer du bist. Ich vermisse dich sosehr –
Der Klang einer eingehenden E-Mail auf meinem Handy beendete meine Tagträumerei. Ich drehte mich um und ging lustlos zurück zum Schreibtisch. Ich nahm das Handy und schaute auf das Display. Lena Heldt hatte mir die PDF-Datei geschickt. Ich legte das Handy wieder auf den Tisch und öffnete die E-Mail auf meinem Laptop.
Eigentlich hatte ich keine Lust, sie zu lesen, zwang mich aber dazu. Was ich sah, erstaunte mich: Der E-Mail-Anhang enthielt den vollständigen Polizeibericht über den Mord an Laura Heldt, einschließlich Tatortfotos. Lena Heldts Vater musste wirklich gut vernetzt sein. – Laura war 21 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Ihre Leiche war am Rheinufer in Köln-Rodenkirchen gefunden worden. Laut Obduktionsbericht wurde sie vergewaltigt und danach erdrosselt. Am 11. November 2011 hatte sie mit Freunden in der Kölner Altstadt die Sessionseröffnung im Karneval gefeiert. Gegen 2 Uhr morgens trennte sie sich von ihren Freunden und nahm ein Taxi nach Hause, wo sie allerdings nie ankam. Der Todeszeitpunkt lag zwischen 2:30 und 4 Uhr morgens. Wie in allen Fällen, die dem Würger zugeschrieben wurden, hatte die Polizei eine Kampagne gestartet und die Bevölkerung um Hilfe gebeten. Ein Zeuge meldete sich daraufhin. Er hatte zum fraglichen Zeitpunkt nahe der Stelle, an der Lauras Leiche gefunden wurde, ein Taxi gesehen und sich sogar ein Fragment des Nummernschilds eingeprägt, woraufhin es der Polizei gelang, dieses Taxi zu ermitteln. Es war aus Bonn. Zusätzlich zum Namen und der Adresse der Person, die den Wagen in jener Nacht gefahren hatte, enthielt die Datei die Kontaktdaten von fünf weiteren Personen. Zwei Namen waren mit Fettschrift markiert, weil die Polizei sie vorübergehend für Verdächtige gehalten hatte.
Mein Handy klingelte. Ich seufzte, als ich die Caller-ID sah.
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