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„Die Flucht” ist ein packender Kurzroman über Mut, Verzweiflung und den unbändigen Drang nach Freiheit. Die Reise des Protagonisten ist gefährlich und voller unvorhersehbarer Wendungen. Von der Konfrontation mit den Grenztruppen bis hin zu den inneren Dämonen, die ihn plagen, ist jeder Schritt ein Balanceakt zwischen Leben und Tod. Während die DDR-Führung alles daran setzt, ihn zu fassen, kämpft der Protagonist gegen die Zeit und die Kälte, um seinen Traum von einem Leben in Freiheit zu verwirklichen. Wird er es schaffen, die tödlichen Fallen der Grenze zu überwinden und ein neues Leben im Westen zu beginnen?–Eine fesselnde Kurzgeschichte, die die Schrecken und Hoffnungen einer geteilten Nation einfängt und den Leser bis zur letzten Seite in Atem hält.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Der letzte Tropfen
Die Grenzer I
Unerlaubte Entfernung
Der Spieß und der Kommandeur
Der Kommandantendienst
Der Motorradpolizist
Die Vernehmung
Über Land
Der Hardliner I
Albträume
Die Grenzer II
Die zweite Etappe
Der Hardliner II
Erklärungen
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Impressum
Die Flucht
André Baganz
Copyright © 2024 André Baganz
Alle Rechte vorbehalten
Ich ging lustlos von der Werkstatt zu meiner Unterkunft. Kowalski stand rauchend am Eingang. Als er mich kommen sah, fing er an zu grinsen. Es war dieses teuflische Grinsen, das er immer dann aufsetzte, wenn er etwas im Schilde führte. Von allen EKs war er der Schlimmste. Ihm ging es nicht um die Einhaltung von irgendwelchen Traditionen, nein, bei ihm war es reine Böswilligkeit. Dieser zu kurz geratene Wichtigtuer, der die Schule nach der achten Klasse verlassen und es im echten Leben nur zum Hilfsarbeiter gebracht hatte, fand Befriedigung darin, die Kameraden der unteren Diensthalbjahre zu schikanieren.
Ich ging wortlos an ihm vorbei, was mir einen missbilligenden Blick einbrachte. Als ich den Korridor ein paar Schritte entlanggegangen war, vernahm ich seine keifende Stimme.
„Soldat!“
Ich blieb stehen, drehte mich um und sah ihn herausfordernd an. „Was ist?“
„Gehen Sie immer mit geschlossenen Augen durch die Weltgeschichte?”
Was hatte sich dieses Arschloch jetzt wieder ausgedacht? Ich rollte genervt mit den Augen und sagte: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
Kowalski winkte mich heran. „Na dann kommen Sie mal her und ich verrat’s Ihnen.“
Während ich seiner Aufforderung nachkam und wieder aus der Baracke trat, verzog er amüsiert das Gesicht. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, schnippte den Stummel weg und nickte in Richtung des überquellenden Standaschenbechers. „Der ist voll, Soldat. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Leer machen, aber dalli!“ Dann drehte er mir den Rücken zu und machte sich nach dahin auf den Weg, wo er hinwollte.
„Leck mich am Arsch”, dachte ich, sagte aber: „Warum machen Sie ihn nicht leer?“
Kowalski blieb, wie vom Donner gerührt, stehen und verharrte einen Moment dramatisch in dieser Pose. Dann drehte er sich wie in Zeitlupe um und sah mich ungläubig an. „Was war das?“
Ich hielt seinem Blick stand. „Vielleicht sollten Sie sich mal die Füße waschen.“
„W-w-was?“ Kowalskis Gesichtsausdruck verriet, dass er mir nicht folgen konnte.
„Damit der Dreck nachrutscht“, sagte ich. „Dann können Sie besser hören. Ich bin Nichtraucher. Den Aschenbecher können die Raucher, zu denen Sie auch gehören, leer machen.“
Kowalski machte einen drohenden Schritt auf mich zu. „Wollen Sie hier frech werden? Erstens beenden Sie jeden Satz mit Gefreiter, wenn Sie mich ansprechen, Soldat und zweitens führen Sie ohne Diskussion jeden Befehl aus, den ich Ihnen gebe. Verstanden? Aschenbecher leer machen."
Obwohl mir klar war, dass ich einen Befehl verweigerte, kam ich der Aufforderung nicht nach. Momentan hasste ich die ganze Welt und mein Gerechtigkeitsgefühl blockierte die Vernunft. Ich blieb reglos stehen und sah ihn herausfordernd an. Und das war genau der Augenblick, in dem es Klick machte, genau der Moment, von dem ich später sagen würde, es war der, in dem ich mich entschloss, es zu tun.
Seit dem Wochenende hatte ich immer wieder mit dem Gedanken gespielt. Doch bisher war es lediglich eine Idee gewesen, bei der mir klar war, dass ich sowieso nicht den Mut haben würde, sie umzusetzen. Nun, urplötzlich war dieser Mut da. In Wahrheit ging es nicht um diesen Aschenbecher. Was da gerade passierte, war nur der berühmte letzte Tropfen. Es ging um alles; es war die Summe. Knast wäre auch nicht schlimmer gewesen, aber ehrlicher. Ich hatte einen Riesenfehler gemacht. Und der Grund, weshalb ich mich überhaupt auf die ganze Sache eingelassen hatte, bestand ja seit dem Wochenende nicht mehr. Was hielt mich jetzt noch hier? — Absolut nichts.
Ich atmete tief durch und genoss dieses neue Gefühl. Es war wie eine Befreiung. Ich ließ den Blick über das Kasernengelände schweifen und sah auf zum Himmel: Grau in Grau, einfach nur trostlos. Das war alles so verdammt sinnlos. Warum hatte ich das alles mit dir machen lassen? Damit war nun ein für alle Mal Schluss. Während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte ich Kowalskis Stimme wie durch Watte.
„Leeren Sie den Aschenbecher, Soldat“
Ich blickte ihn schließlich entschlossen an und sprach laut aus, was ich zuvor schon gedacht hatte: „Leck mich am Arsch.“
Kowalski stieß ein hilfloses Kichern aus. „Ist das Ihr Ernst?“ Er musterte mich von oben bis unten, während er nach Worten suchte. „S-s-sie wissen, dass das Befehlsverweigerung ist und was Sie erwartet, wenn ich den Vorfall melde?“
„Interessiert mich einen Scheißdreck“, sagte und meinte ich. Dann drehte ich mich um und ging zurück in die Baracke.
„Das hat Konsequenzen, Wittke“, rief Kowalski mir hinterher.
Ich hob den rechten Arm und zeigte ihm den Stinkefinger, ohne im Schritt innezuhalten.
Die Konsequenz fiel relativ milde aus, denn es war allgemein bekannt, dass der Gefreite Kowalski keine Gelegenheit ausließ, die Glatten und Zwischenpisser zu schikanieren. Ich musste nur für einen Tag in den Bau.
Während ich in der kleinen Zelle hin und her tigerte, lief mein Gehirn auf Hochtouren. Ich sagte mir: Wenn es jemand schaffen kann, dann du. Du wirst es diesen verdammten Kommunisten zeigen. Der Entschluss stand. Die nächste Gelegenheit würde ich beim Schopfe packen.
Buchstäblich, in dem Moment, als ich aus dem Arrest kam, wurde das Objekt in Alarmbereitschaft versetzt und die gesamte Kompanie zur Waffenkammer befohlen. Jeder erhielt seine Maschinenpistole inklusive Magazin mit dreißig Schuss Munition. Die Waffen wurden über Nacht mit in die Unterkunft genommen und standen griffbereit neben den Betten.
Für die Durchführung meines Plans war der Besitz einer Schusswaffe unumgänglich. Nicht, weil ich vorhatte, wild um mich zu ballern, sondern einzig und allein für den Fall der Fälle. Die Art und Weise, in der ich mir die Waffe besorgte, war gleichzeitig mein Racheakt an Kowalski. Während der, wie alle anderen, den Schlaf der Gerechten schlief, entwendete ich seine Kalaschnikow.
Am nächsten Morgen herrschte helle Aufregung, – Hektik im gesamten Objekt. Alle suchten fieberhaft nach der verschwundenen Maschinenpistole. Vergebens, ich hatte sie gut in der Werkstatt, in der ich arbeitete, versteckt. Irgendwann wurde die Suche eingestellt. Danach beobachtete ich mit Genugtuung, wie Kowalski zum Zellenblock geführt wurde, um seinen Arrest anzutreten.
Die Grenzer durchquerten ein abgeholztes Waldstück. Sie gingen in einem Abstand von mehreren Metern hintereinander und beobachteten aufmerksam das Gelände. An manchen Stellen lag Schnee, – kleine weiße Inseln, ansonsten mit Reif bedecktes Terrain, aus dem ab und zu ein Baumstumpf herausragte. Die beiden Männer, ein Gefreiter und ein Soldat, trugen dicke Watteanzüge mit Strichtarnmustern, die sie vor der Kälte schützten. Irgendwann blieb der Gefreite, der auch der Postenführer war, stehen und musterte die Umgebung durch seinen Feldstecher. Der Soldat schloss auf und stellte sich neben ihn. Dabei kniff er immer wieder die Augen zusammen, die wegen des schneidenden Windes tränten. Als er sah, dass sein Postenführer schmunzelte, zog er fragend die Augenbrauen hoch. „Was ist denn so lustig?“
Der Gefreite ignorierte die Frage, verzog aber weiterhin amüsiert das Gesicht. Schließlich nahm er das Fernglas herunter und hielt es dem Soldaten hin. „Hier, sieh selbst.“
Der Soldat blickte hindurch, setzte das Fernglas nach einem Moment jedoch erschrocken wieder ab. „Da winkt mir einer zu.“
Der Gefreite zog sich mithilfe der Zähne den rechten Handschuh aus, holte einen Stift und ein Notizbuch aus seiner Umhängetasche und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Das ist normal“, sagte er, während er einen Eintrag machte. „Der Bundesgrenzschutz versucht immer Kontakt aufzunehmen. Wir ignorieren das natürlich, dokumentieren es aber.“ Dann tat er das Schreibzeug zurück in die Umhängetasche, zog den Handschuh wieder an und nahm dem Soldaten das Fernglas ab. Dabei zwinkerte er ihm freundlich zu. „Du hast mir zwar vorhin gesagt, wie du heißt, ich hab’s aber vergessen. Bin nicht so gut mit Namen.“
Der Soldat winkte ab. „Kein Problem. Ich heiße Björn. Du heißt … Christian, richtig?“
Der Gefreite nickte. Dann fragte er: „Und woher kommst du, Björn?“
„Aus Eberswalde. Und du?“
„Lichtentanne im Kreis Zwickau“, sagte Christian. Er rieb sich seine rote Nase und schaute sich suchend um. „Das ist ‘ne Saukälte heute. Sind zwar nicht mehr als minus zehn, aber durch den Wind fühlt es sich an, wie minus zwanzig. Ich mach’ drei Kreuze, wenn die Schicht vorbei ist … rauchst du?“
Björn nickte.
Christian deutete auf einen kleinen Erdwall neben einem Baumstumpf, ca. dreißig Meter entfernt von ihnen. „Dann lass’ uns eine Raucherpause machen. Wenn wir uns da hinsetzen, sind wir vom Wind geschützt.“
Björn blickte ihn unschlüssig an. „Und … was, wenn uns ein Vorgesetzter sieht?“
Christian winkte ab. „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Bei der Kälte kommt keiner hier raus. Und außerdem“, fügte er mit scherzendem Unterton hinzu, „das ist ein Befehl, Genosse Soldat – verstanden?“
„Jawohl, Genosse Gefreiter“, erwiderte Björn grinsend und mimte ein Strammstehen.
Die beiden gingen auf den Baumstumpf zu. Als sie ankamen, schaute Christian sich noch einmal um. Dann nahm er sein LMG von der Schulter und hockte sich hin. Björn, der mit einer Maschinenpistole bewaffnet war, folgte dem Beispiel seines Postenführers.
Christian zog sich die Handschuhe aus und griff in die Innenseite seiner Jacke. Sekunden später tauchte die Hand mit einer Schachtel Karo und einem Feuerzeug wieder auf. Er nahm eine Zigarette heraus, steckte sie Björn zwischen die Lippen und gab ihm Feuer. Dann steckte er sich selbst eine an und machte es sich bequem, indem er sich gegen den Baumstumpf lehnte.
Eine Weile zogen beide schweigend an ihren Zigaretten, wobei sie weiterhin die Umgebung im Auge behielten. Schließlich brach Christian das Schweigen. „Wie alt bist du, Björn?“
„Noch 19 und du?“
Bevor Christian antwortete, ließ er den Zigarettenqualm genüsslich durch die Nasenlöcher strömen. „22.“ Dann fragte er seinerseits. „Wie bist du hier gelandet? Hast du dich freiwillig gemeldet?“
Björn nickte. „Verbessert meine Chancen, einen Studienplatz zu bekommen.“
„Was willst du denn studieren?“
„Architektur.“
Christian stieß ein bewunderndes „Wow“ aus.
„Und was ist mit dir?“, fragte Björn.
Christian machte eine abwehrende Geste. „Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet. Habe Zimmermann gelernt. Ich schätze, die haben mich an die Grenze verfrachtet, weil ich keine Westverwandtschaft habe.“
„Meine Mutter hat eine Cousine und einen Cousin drüben“, sagte Björn. „Die haben uns früher, als ich noch ein Kind war, immer besucht. Aber später ist der Kontakt eingeschlafen. Die wohnen im Ruhrgebiet.“
Christian nickte. Dann fragte er: „Geht‘s über Weihnachten nach Hause?“
Björn verzog missmutig das Gesicht. „Schön wär’s. Erst nach Silvester.“ Er blickte seinen Kameraden fragend an. „Du?“
Christian grinste verschmitzt. „Drei Tage. Heiligabend und die beiden Feiertage.“
Björn blickte ihn neidisch an. „Mann, hast du ein Schwein.“
„Hab’ ja auch schon ein paar Tage mehr runter als du.“ Christian steckte die Zigarette zwischen die Lippen und fummelte mit den Händen in seiner Hosentasche. Schließlich hielt er Björn ein abgeschnittenes Bandmaß vor die Nase. „Siehst du das, Dachs?“
Björn stieß einen Seufzer aus.
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