Im Angesicht des Todes - André Baganz - E-Book

Im Angesicht des Todes E-Book

André Baganz

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Beschreibung

„Im Angesicht des Todes” ist ein fesselnder Thriller, der die Leser in eine Welt aus mystischen Ritualen, persönlichen Tragödien und gefährlichen Ermittlungen entführt. Die Geschichte folgt Max Hammerschmidt, einem Privatdetektiv, der sich auf die Suche nach der vermissten Studentin Vanessa begibt. Die Reise führt ihn von Köln nach Irland, wo er einen alten Freund trifft und in einen Fall verstrickt wird, der mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Parallel dazu werden Max' traumatische Erlebnisse auf einem von Piraten angegriffenen Schiff und die schmerzhafte Erinnerung an den Verlust seiner Tochter Anne-Marie enthüllt. Mit atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen und komplexen Charakteren vereint der Roman Spannung, emotionale Tiefe und unerwartete Wendungen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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André Baganz

Im Angesicht des Todes

Hammerschmidt #2

„Im Angesicht des Todes” ist ein fesselnder Thriller, der die Leser in eine Welt aus mystischen Ritualen, persönlichen Tragödien und gefährlichen Ermittlungen entführt. Die Geschichte folgt Max Hammerschmidt, einem Privatdetektiv, der sich auf die Suche nach der vermissten Studentin Vanessa begibt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Auch von diesem Autor

Impressum

Kapitel 1

Eine flackernde Kerze tauchte die kahlen Wände des Raums in ein mystisches Licht. Es war, als ob die Dunkelheit aus dem Inneren der Ziegel und des Mörtels sickerte, um die Luft um sie herum zu beanspruchen. In der Mitte des Raums hockte ein Schamane auf dem Boden. Seine schlanke Gestalt war in ein schlichtes afrikanisches Gewand gehüllt und eine bunte, reich verzierte Kappe bedeckte seinen Kopf. Sein schneeweißer Bart kontrastierte mit der tiefschwarzen Haut, die aussah, als wäre sie mit göttlicher Hand aus Ebenholz geschnitzt worden. Das Gesicht des Schamanen war von zahllosen Falten durchzogen, jede eine stumme Erzählung der Weisheit und der Erfahrungen, die er in seinen vielen Lebensjahren gesammelt hatte. Seine dunklen Augen, tief und nachdenklich, schienen in einem Zustand ständiger Beobachtung zu sein, als könnten sie die Geister der Ahnen sehen, mit denen er kommunizierte. Trotz seines hohen Alters strahlte der Mann eine Aura von Stärke und Ruhe aus. Vor ihm stand ein niedriger Tisch, auf dem ein Huhn mit zusammengebundenen Beinen und ein großes Messer lagen. Das Huhn gackerte leise und bewegte immer wieder den Kopf ruckartig hin und her und pickte mit dem Schnabel gegen die glänzende Klinge des Messers.

Auf der anderen Seite des Tisches hockte ebenfalls ein Afrikaner im traditionellen Gewand. Er hatte einen muskulösen Körper und war bedeutend jünger als der Schamane. Jede Linie seines Gesichts zeugte von Stärke und Autorität, von den Falten auf seiner Stirn bis zu den klar definierten Wangenknochen. Als er dem Schamanen eine kleine Stoffpuppe hinhielt, griff der alte Mann entschlossen danach. Für einen langen Moment fixierte er die Puppe mit einem durchdringenden Blick, der nichts sagte, aber alles über ihre verborgenen Wahrheiten zu erfassen schien. Aber nicht nur seine Augen waren von einer unerklärlichen Intensität erfüllt; vielmehr war es sein gesamtes Wesen. Die langen, knochigen Finger des Schamanen bewegten sich flink und stachen viele kleine Nadeln in die Stoffpuppe. Es hatte den Anschein, als wolle er unsichtbare Verbindungen zwischen Welten und Realitäten herstellen. Während er dieses Ritual durchführte, flüsterte er afrikanische Formeln vor sich hin – Worte voller Weisheit und Kraft. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren, während diese Worte eine unsichtbare Wolke bildeten, die den Raum erfüllte. Man konnte die Energie, um den Alten herum, regelrecht spüren.

Nachdem der Schamane etwa ein Dutzend Nadeln in die Stoffpuppe gesteckt hatte, griff er nach dem Huhn und dem Messer. Mit einer blitzschnellen, gekonnten Bewegung schnitt er dem Tier den Kopf ab. Das Blut, das sanft aus dem Hals des Huhns sickerte, ließ er auf die Stoffpuppe laufen. Dies tat er so geschickt, dass kein Tropfen sein Gewand ruinierte. Als kein Blut mehr kam, legte er den abgetrennten Kopf des Huhns auf die vom Blut durchtränkte Puppe. Dabei steigerte er die Intensität seiner Sprüche. Die fast schwarzen Augen des großen, kräftigen Mannes blitzten mehrmals auf, während er fasziniert die Arbeit des Schamanen beobachtete. Dessen Worte schienen eine geradezu beschwörende Wirkung auf ihn zu haben.

Kapitel 2

Ich blinzelte in der Dunkelheit und versuchte, meine Umgebung zu erkennen. Ich lauschte und suchte nach Konturen. Nach etwa hundert Metern traten die schemenhaften Silhouetten einiger flacher Gebäude hervor – still wie verlassene Kulissen. Es waren die Souvenirläden. Als wir noch ein paar Meter weiter gegangen waren und ich den Blick hob, sah ich einen monumentalen Eingang, über welchem der Schriftzug „Besucherzentrum" prangte – eingefasst in den Hang, als wäre er selbst ein Echo der Gesteinsformation. Alles sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Gedanken an den Tag, an dem Antoine mich hierher brachte, durchfluteten meinen Geist. Damals, als ich die gewaltige Klippenlandschaft zum ersten Mal sah, war ich beeindruckt von der schieren Unendlichkeit und der unbändigen Kraft der Natur.

Was ich nicht in meinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hatte, war nun Realität. Getrieben von den Launen eines unbarmherzigen Schicksals, fand ich mich genau an diesem Ort wieder. Der Wind zerrte gierig an meiner Kleidung, Regentropfen peitschten quer durch die Finsternis und trafen mein Gesicht, während ich die Betonstufen hinaufstieg, die zur Aussichtsplattform führten. Die Luft wurde im Aufstieg rauer, und ein stürmischer Aufruhr brachte mich beinahe aus dem Gleichgewicht. Meine Gedanken rasten – ein wilder Strudel voller Reflexion und Antizipation, als ich die Umstände evaluierte, die mich hierher zum möglichen Finale meiner Odyssee gebracht hatten. Konnte es sein, dass gerade an diesen schroffen Klippen mein letzter Akt gespielt werden würde? War das das Ende meiner Reise?

Doch mitten im Aufruhr dieses inneren Monologs fand ich eine Art Trotz, eine feurige Glut. „Verdammte Heidi", schimpfte ich innerlich, „du bist an allem schuld." Sie war es, die mich in diese Situation hineinmanövriert hatte, aber ich widersprach mir sofort und erkannte mich als Gestalter meines eigenen Schicksals. Die Schuld bei anderen zu suchen, war zu billig. Außerdem war es noch nicht vorbei. Meine Entschlossenheit zum Überleben war nicht gebrochen; solange ich atmete, war ich der Regisseur meines nächsten Schrittes. „Deine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende geschrieben", murmelte ich trotzig gegen den wütenden Sturm. Während ich mich entschloss, nicht aufzugeben, hörte ich ein rüdes Kommando über den pfeifenden Wind: „Geh schneller, Nigger! Beweg deinen verdammten Arsch!" Eine brutale, drängende Gewalt schubste mich vorwärts – ein kränkender Aufprall, der jedoch nur meine Entschlossenheit stählte.

Kapitel 3

Die Venloer Straße in Köln-Ehrenfeld war wie immer belebt. Ich saß in meinem geparkten Auto, meine Aufmerksamkeit auf ein Geschäft etwa 30 Meter entfernt gerichtet. Über dem Schaufenster prangte der Schriftzug „Bernies Magazin". Kunden betraten und verließen den Laden. Gelegentlich warf ich einen Blick auf mein Handy in der Hoffnung, dass es endlich klingeln würde. Als ein Umzugswagen an mir vorbeifuhr, wanderten meine Gedanken zu dem Thema, das mich in den letzten Tagen am meisten beschäftigt hatte: mein Umzug. Das Haus, in dem Claudia, Anne-Marie und ich gewohnt hatten, war endlich verkauft. Nun wollte ich ernsthaft den Erwerb einer Wohnung, vielleicht sogar eines Hauses, in Angriff nehmen. Während ich weiterhin auf den Eingang von Bernies Magazin starrte, lauschte ich meinem inneren Dialog.

Du lebst schon viel zu lange bei deinen Eltern.

Willst du damit sagen, dass es dir bei ihnen nicht mehr gefällt?

Im Gegenteil. Mir gefällt's dort hervorragend. Ich muss mir um nichts Sorgen machen: Mutter kümmert sich um alles. Sie kauft ein, wäscht meine Wäsche und putzt sogar mein Zimmer.

Und was genau passt dir dann nicht? Warum willst du ausziehen?

Weil ich finde, dass ein Mann von Anfang 40 nicht bei seinen Eltern, sondern in seinen eigenen vier Wänden leben sollte. Außerdem möchte ich auch weg aus Köln.

Weg aus der Stadt, in der du geboren und aufgewachsen bist? Der Ort, mit dem dich so viele schöne Erinnerungen verbinden? Was hast du gegen die Stadt?

Nur die Kleinigkeit, dass sich in ihr die größte Tragödie meines Lebens abgespielt hat und ich ständig daran erinnert werde. Ich kann einfach nicht länger hier sein. Es passiert so oft, dass ich eine Straße entlang gehe und plötzlich an Anne-Marie denken muss. Dann höre ich ihre kindliche Stimme in meinem Kopf. Einfach aus dem Grund, weil wir zusammen irgendwann mal dort waren: Tausend Orte. Da ist das italienische Eiscafé, das wir so oft besucht haben oder der Puppenladen, den sie so liebte, der Botanische Garten, der Zoo, die Seilbahn, die Rheinpromenade … verdammt, ich spüre schon wieder, wie meine Augen feucht werden. Diese ganze verdammte Stadt erinnerte mich an sie. Aber ich möchte diese Erinnerungen endlich hinter mir lassen, weil sie mir nichts als Schmerz bringen. Obwohl mir die Idee nicht gefällt, muss ich in meinem eigenen Interesse das Thema Anne-Marie endlich abschließen. Es sind jetzt vier Jahre.

Du glaubst also nicht, dass sie noch lebt?

Lass mich verdammt noch mal in Ruhe! Was soll diese Frage?

Ich spürte, wie sich meine Hand zur Faust ballte. – Vier lange Jahre. Jeden Tag sagte ich mir, dass ich die Hoffnung nicht aufgeben darf, aber gleichzeitig war es genau diese Hoffnung, die mich nicht vergessen ließ, die mich lähmte und immer wieder nach unten zog. Es war wie ein nie endender Kreislauf, den ich endlich durchbrechen musste. Mittlerweile hatte ich gelernt, mit diesem Dauerschmerz zu leben. Ich hatte alles relativ gut im Griff. Aber es war klar, dass dieses schwarze Loch, diese Leere, die Maries Verschwinden in mir hinterlassen hatte, niemals ganz verschwinden würde. Dennoch wollte ich gegensteuern und alles vermeiden, was die alten schmerzhaften Erinnerungen zurückbrachte. Ein Umzug aus der Stadt wäre eine Art Selbstüberlistung. Außerdem brauchte ich die Stadt nicht mehr. Ich brauchte kein Büro mehr in bester Lage, da ich inzwischen über einen großen Kundenstamm und hervorragende Bewertungen bei Google verfügte. Den Großteil meiner Aufträge bekam ich ohnehin von der Versicherungsgesellschaft, bei der mein Schwager arbeitete. Und soweit ich wusste, hatte er nicht vor, dort in absehbarer Zeit aufzuhören. Inzwischen musste ich sogar öfter Jobs ablehnen, weil ich die viele Arbeit kaum noch bewältigen konnte. Die Miete für das teure Büro konnte ich mir auf jeden Fall sparen. Praktisch alles konnte ich von zu Hause erledigen. Das Einzige, was ich brauchte, waren mein Handy und das Internet … Ein Pington meines Handys riss mich aus den Gedanken. Ich schaute auf den Bildschirm und öffnete die E-Mail, die gerade angekommen war. Sie war von meinem Makler. Er hatte mir ein Dutzend Angebote geschickt. Ich scrollte sie ziemlich schnell durch, weil keins dabei war, das mein Interesse weckte. Beim letzten Angebot blieb ich jedoch hängen – ein Einfamilienhaus in Eupen. Obwohl die Stadt direkt hinter der belgischen Grenze mit Sicherheit nicht zum Kölner Raum gehörte, was eigentlich eine meiner Bedingungen gewesen war, war sie dennoch gut erreichbar. Praktisch die gesamte Strecke von Köln nach Eupen ist Autobahn. Du fährst einfach nur die A4 Richtung Aachen und dann noch ein paar Minuten auf der A44. Und schon bist du am Ziel. Ohne Stau schaffst du das locker in 40 Minuten. Hmm … Ich schwelgte in Erinnerungen. Eupen kannte ich aus meiner Kindheit und ich hatte nur schöne Erinnerungen an die Weserstadt. Meine Eltern waren oft mit mir zum Wandern und Skifahren im Hohen Venn, das nur wenige Kilometer hinter der Stadt beginnt. Als Stadtkind war ich von der urigen Natur fasziniert. Ich dachte verträumt an unsere Ausflüge zurück, bei denen wir über endlose Stege im Hochmoor gelaufen waren und dann irgendwann Halt machten, um zu picknicken. Damals war ich zwischen 10 und 13 Jahre alt. Die Erinnerung an diese Zeit war märchenhaft. Während ich vor meinem geistigen Auge alles in leuchtenden Farben sah, lächelte ich vor mich hin. Wenn du in Eupen wohnen würdest, hättest du das Venn direkt vor der Haustür. Und was Belgien betrifft – immerhin bist du ein halber Belgier.

Als ich mir die Fotos von dem Haus und dem Grundstück ansah, war ich begeistert. Das Haus hatte zwei Stockwerke und einen ziemlich großen Garten auf der Hinterseite. Am interessantesten war jedoch der Preis. Der war für diese Größe und zentrale Lage ungewöhnlich niedrig. Im Raum Köln kostete die gleiche Immobilie fast das Doppelte. Ich entschloss mich sofort, das Haus zu besichtigen. Also schrieb ich dem Makler sofort eine E-Mail mit der Bitte um einen Termin. Ich hatte die E-Mail gerade abgeschickt, als mein Handy klingelte. Der Anruf kam von Bernie. Endlich! Ich drückte die Annahmetaste.

„Junger Mann, Türke. Er verlässt gerade den Laden; hat das Gewehr bei sich."

Ich nahm den Blick nicht von der Eingangstür von Bernies Magazin. Wenige Sekunden später trat ein fitter junger Mann mit zurückgekämmten schwarzen Haaren heraus. In der Hand hatte er eine Gewehrtasche. Wegen des starken Verkehrs musste er eine Weile warten, bis er die Straße überqueren konnte. Ich sah, wie nur wenige Meter von mir entfernt, die Warnblinker eines tiefergelegten Audi V8 aufleuchteten. Auf den ging er auch zu. Der Wagen passte zu ihm. Ich war überrascht, dass ich ihn nicht bemerkt hatte, als er den Laden betrat. Wahrscheinlich war er hineingegangen, als ich mit meinen Gedanken im Hohen Venn gewesen war. Als ich den Motor startete, hörte ich Bernies Stimme über die Lautsprecheranlage.

„Es ist definitiv die G 98, von der Sie mir erzählt haben. Ich habe die Markierung am Kolben gesehen. Er sagte, dass es ein Erbstück seines Urgroßvaters sei und wollte 1500 Euro dafür. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Waffe nur unter Vorlage des Waffenscheins kaufen kann. Ich könnte mich aber umhören nach Käufern, die die Waffe auch ohne Papiere kaufen würden. Er hat mir seine Nummer gegeben, damit ich ihn kontaktieren kann, sobald ich einen Käufer gefunden habe."

„Gut gemacht, Bernie. Du kannst dir sicher sein, dass nichts darauf hindeuten wird, dass du mir den Tipp gegeben hast. Musst also keine geschäftlichen Nachteile befürchten."

„Danke, Herr Hammerschmidt, das weiß ich und deshalb mache ich mir darüber keine Sorgen. Wenn Sie meine Hilfe erneut benötigen, bin ich jederzeit für Sie da."

Nachdem der junge Mann die Waffentasche im Kofferraum des Audis verstaut hatte, stieg er ein und fuhr davon.

Ich folgte ihm. Da er einen flotten Fahrstil hatte, war es nicht so einfach, mit ihm mitzuhalten. Es gelang mir jedoch. Irgendwann, nachdem er durch halb Köln gefahren war, blieb er vor einer Spielhalle stehen. Er stieg aus und ging hinein – ohne das Gewehr, was mich beruhigte.

Nach ein paar Minuten folgte ich ihm in die Spielhalle. Der junge Mann unterhielt sich mit der Kassenaufsicht, einer gut aussehenden Dame. Die beiden schienen sich zu kennen. Aus dem Gespräch entnahm ich, dass der junge Mann offensichtlich Stammkunde war. Später unterhielt er sich mit einigen anderen Leuten, die ziemlich zwielichtig aussahen. Dann setzte er sich an einen Automaten und spielte mit angespanntem Gesichtsausdruck.

Um nicht aufzufallen, stellte ich mich selbst eine Weile vor einen Automaten und spielte. Anschließend ging ich zurück zu meinem Auto in der Hoffnung, dass ich nicht allzu lange warten müsste. Mein Plan war, dem jungen Mann weiter zu folgen und ihm bei der erst besten Gelegenheit das Gewehr ohne viel Aufhebens abzunehmen. Aufgrund seines Zwischenstopps in der Spielhalle war es nahezu unmöglich, dass er meine Aktion mit Bernies Magazin in Verbindung bringen konnte. Insofern war ich auf der sicheren Seite. Während ich im Auto wartete, hörte ich einen weiteren Pington von meinem Handy. Es war die Antwort-E-Mail meines Immobilienmaklers. Er schlug einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag um 14 Uhr vor, den ich bestätigte.

Die Zeit verging und meine Hoffnung erfüllte sich nicht, denn meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Der junge Mann kam einfach nicht wieder aus der Spielhalle heraus. Sein geparktes Auto hatte ich im Auge, sodass ich sicher sein konnte, ihn beim Verlassen der Spielothek nicht zu verpassen. Nach drei langen Stunden war es endlich so weit: Der junge Mann kam heraus. Für mich war klar, dass er an Spielsucht litt. Er stieg in seinen Audi und schlug mehrmals wütend mit den Fäusten aufs Lenkrad, bevor er mit quietschenden Reifen wegfuhr. Ich ging davon aus, dass er verloren hatte. Anschließend fuhr er erneut durch die halbe Stadt, dieses Mal allerdings auf die andere Rheinseite. In Westhoven erreichte er endlich sein Ziel. Dort fuhr er auf den Parkplatz eines Apartmenthauses. Ich tat es ihm gleich und parkte direkt neben ihm. Als er ausstieg, schaute er wütend zu mir herüber. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, doch dann änderte er seine Meinung.

Lächelnd neben meinem Auto stehend, beobachtete ich, wie er den Kofferraum öffnete und die Gewehrtasche herausholte. Schließlich trafen sich unsere Blicke. Es hatte den Anschein, als würde er vor Wut explodieren, als er mich ansprach. Seine Worte schnitten wie ein Messer durch die Luft. „Was glotzt du so? Hast du nichts Besseres zu tun?"

„Vielleicht", sagte ich.

„Hör zu, Alter, ich habe dich hier noch nie gesehen. Also gehe ich davon aus, dass du auch nicht hierher gehörst. Das hier ist ein Privatparkplatz! Den dürfen nur Bewohner des Hauses benutzen."

Weiterhin lächelnd trat ich näher an ihn heran. „Ich bin hier, um etwas abzuholen. Bin gleich wieder weg", sagte ich ruhig.

„Dann beeil dich und verpiss dich wieder!", knurrte er und fügte leise hinzu: „Arschloch!"

Ich spürte einen Adrenalinstoß, als ich mich auf ihn stürzte und meine Faust gegen seinen Unterkiefer rammte. Bei ihm gingen direkt die Lichter aus und er fiel zu Boden. Während er fiel, riss ich ihm die Gewehrtasche aus der Hand. „Der Eigentümer möchte seinen Besitz zurück haben. Vielen Dank." Ich beugte mich über ihn und fügte hinzu: „Und übrigens, wir haben noch nicht zusammen Schweine gehütet. Also duze mich nicht."

Als er versuchte, mit einer Hand nach mir zu greifen, packte ich sie und verdrehte sie. „Hast du das kapiert?"

Er schrie vor Schmerz auf.

„Antworte mir", sagte ich und verdrehte ihm das Handgelenk weiter.

„Ja, ja. Ich hab's kapiert", schoss es aus ihm heraus.

Ich ließ ihn los, drehte mich um und ging zu meinem Auto. Als ich eingestiegen war, sah ich, wie er versuchte aufzustehen, was ihm allerdings nicht gelang. Im Rückspiegel sah ich, wie er mit verwirrtem Gesichtsausdruck hinter mir her schaute.

#

Schröders Blick wanderte zu der Gewehrtasche in meiner Hand, und ein ungläubiges Lächeln breitete sich in seinem runden Gesicht aus. „Nein", sagte er mit ehrfürchtiger Stimme.

Ich nickte. „Doch."

„Das ging ja verdammt schnell", sagte er.

Ich zuckte bescheiden mit den Schultern. „So arbeite ich."

Er bedeutete mir mit einer Geste, einzutreten und machte Platz, dass ich an ihm vorbeikam. „Wie haben Sie das geschafft?"

Ich überlegte einen Moment. Dann sagte ich: „Man hat so seine Strategien, um die Herausforderungen zu meistern, die auf einen zukommen."

Er lächelte vielsagend. „Die haben Sie wohl."

„Es hilft, wenn man versucht, sich in die Kriminellen hineinzudenken", fügte ich hinzu. „Außerdem habe ich ein paar Verbindungen in gewisse Kreise."

Schröders Augen verengten sich bei dem Versuch, zu entschlüsseln, was ich meinte. „Ach ja?"

Ich räusperte mich, bevor ich fortfuhr. „Die Einbrecher konnten das Ding nicht über das Internet verkaufen – zu riskant. Deshalb war ich mir sicher, dass sie sich an einen Hehler wenden würden."

Er nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Zufälligerweise kenne ich einen Hehler, der mir noch einen Gefallen schuldet", sagte ich. „Und den habe ich gebeten, mich zu kontaktieren, falls ihm jemand das Gewehr anbieten würde. Ich hatte nicht viel Hoffnung, aber das Gewehr wurde ihm tatsächlich angeboten."

„Glück gehört dazu", sagte Schröder mit einem Anflug von Bewunderung. Er war offensichtlich beeindruckt.

Ich zuckte bescheiden mit den Schultern.

„Komm Sie", sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. „Ich will Ihnen mal was zeigen. Ich meine, wenn Sie etwas Zeit haben."

„Die habe ich", sagte ich und folgte ihm durch einen Flur mit mehreren Türen.

Schröder öffnete die erste Tür links und gab den Blick auf eine Wohnküche frei. Ich ging hinein und ließ den Blick neugierig schweifen. Der Raum war geschmackvoll eingerichtet und strahlte eine warme, heimelige Atmosphäre aus.

„Sehr schön", sagte ich, nicht nur, weil ich mir sicher war, dass er das von mir hören wollte.

Schröder bedankte sich mit einem Lächeln. Dann führte er mich zurück in den Flur und öffnete die nächste Tür. Dieses Mal betraten wir eine alte, aber gut erhaltene Bibliothek – Bücherregale säumten alle vier Wände. Eigentlich sah es so aus, als seien die Bücher die Wände. Ich stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Echt beeindruckend!"

Schröder nickte. „Die meisten dieser Bücher sind noch von meinem Vater. Der hat unwahrscheinlich viel gelesen", sagte er, bevor er sich zu mir umdrehte und erwartungsvoll seine Hand ausstreckte. „Ich nehme das Gewehr."

Ich reichte ihm ohne Zögern die Gewehrtasche. Er zog die Waffe vorsichtig heraus und drehte sie, um nach den drei Kerben im Gewehrkolben zu suchen – den Markierungen, die zweifelsfrei bestätigten, dass es sich tatsächlich um sein gestohlenes Familienerbstück handelte. Sie waren da. Für einen Moment herrschte Stille, während Schröder auf die Kerben starrte. „Ja, das ist mein Gewehr", sagte er und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Einen Moment lang betrachtete er die Waffe liebevoll. Dann inspizierte er sie von allen Seiten, um sicherzugehen, dass die Diebe auch nichts beschädigt hatten. Das war offensichtlich nicht der Fall. Schließlich schloss er die Augen und küsste das Gewehr, bevor er es vorsichtig zurück in die Tasche schob. Dann sah er mich an und grinste über beide Ohren. „Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin ... Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest des Hauses. Seit dem Auszug unserer Tochter lebe ich hier allein mit meiner Frau. Sie ist im Moment nicht da ... Die wird staunen, wenn sie zurückkommt." Er führte mich eine Treppe hinauf ins Obergeschoss. An der Wand hingen mehrere gerahmte Fotos. Oben angekommen, blieb Schröder vor einem Fenster stehen. Ich schaute hinaus und sah den großen Garten auf der Rückseite des Hauses und das flache Dach eines Schuppens, der an das Haus angebaut war.

„Die sind über das Dach gekommen und haben das Fenster aufgehebelt", sagte Schröder. Er drückte den Griff nach unten und öffnete das Fenster. Nun war der Schaden am äußeren Rahmen sichtbar. „Morgen wird ein neues Fenster eingebaut. Mit der Versicherung gibt es Gott sei Dank keine Probleme. Die ersetzen alles."

Ich sah ihn überrascht an. „Warum haben Sie mich dann beauftragt, wenn Sie ohnehin alles ersetzt bekommen?"

„Fast alles", korrigierte Schröder. „Wir hatten zwei Laptops, einen Computer und drei Flachbildschirme. Die und ein paar andere Elektrogeräte haben sie mitgenommen. Ich gehe davon aus, dass sie darauf spezialisiert sind. Ansonsten haben die sich für nichts interessiert – außer für das Gewehr. Es stand in einer Ecke. Ich schätze, dass sie es zufällig gesehen haben. Der Sachschaden beträgt rund 1000 Euro. Wie gesagt, die Versicherung hätte das bezahlt. Der tatsächliche Wert liegt aber viel höher. Für mich ist das Gewehr unersetzlich, weil es ein Erbstück von meinem Urgroßvater ist. Der hat damit im Ersten Weltkrieg gekämpft." Er öffnete die Tür gegenüber dem Fenster. „Das ist das Zimmer unserer Tochter. Sie studiert in Berlin und lebt dort in einer Wohngemeinschaft. Wir lassen alles in ihrem Zimmer so, wie es ist, damit sie sich wohlfühlt, wenn sie nach Hause kommt. Sie hätte hier in Köln studieren können, aber sie wollte unbedingt weg." Er winkte ab. „Na ja, die jungen Leute von heute sind anders als wir. In unserem Fall kommt noch dazu, dass wir erst ziemlich spät Eltern geworden sind. Vom Alter her könnten wir ihre Großeltern sein."

Ich nickte als Zeichen, dass ich zuhörte und blickte mich im Zimmer um. Es war nichts Besonderes: ein Mädchenzimmer mit vielen Plüschtieren auf dem Bett und Postern an den Wänden. Die vorherrschende Farbe war Rosa.

„Heutzutage können sich junge Menschen nicht mehr vorstellen, dass es früher kein Internet gab. Ohne ihre Handys können sie überhaupt nicht mehr leben. Sie starren den ganzen Tag darauf. Eine Freundin unserer Tochter wurde von einem Auto angefahren und schwer verletzt, weil sie beim Überqueren der Straße auf ihr Handy geschaut hat. Soweit ist es schon gekommen."

Ich nickte erneut, was er als Aufforderung zum Weiterreden auffasste. „Vor dem Einbruch mussten wir schon einen anderen Schock verarbeiten", fuhr Schröder fort. „Ich meine mich und meine Frau. Nach einem Einkauf sind wir am Neumarkt in ein Taxi gestiegen – ich vorn, meine Frau hinten. Dem Fahrer habe ich in diesem Moment keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe die Adresse genannt, ohne ihn anzuschauen. Als er nicht losfuhr, schaute ich schließlich zu ihm hinüber. Es sah so aus, als würde er schlafen. Also räusperte ich mich laut, um ihn aufzuwecken. Aber er reagierte immer noch nicht. Da ich nicht wusste, wie ich ihn wach bekommen soll, stupste ich ihn leicht an. Da fiel er nach vorn und schlug mit dem Kopf auf das Lenkrad auf. Der war tot – also nicht, weil er mit dem Kopf aufgeschlagen war, sondern schon vorher. Der hatte eine ganze Weile tot in seinem Auto gesessen. Stellen Sie sich das mal vor."

Ich verstand den Zusammenhang nicht ganz, heuchelte dennoch Interesse: „Das ist ja unglaublich."

„Nicht?", sagte Schröder. „Ich hatte die Sache relativ gut weggesteckt, aber meine Frau hat fast einen Herzinfarkt bekommen. Sie kann heute noch nicht richtig schlafen, wegen der Sache. Ich meine, er war nicht mehr der Jüngste … aber trotzdem."

Ich fragte mich, warum ich über den Vorfall nichts in der Zeitung gelesen hatte. So eine Story ließ sich der Express doch nicht entgehen. Ich wusste nicht, warum er mir das alles erzählte, aber ich hatte so etwas schon öfter erlebt. Wenn ich einen Fall zügig abschloss, waren viele Klienten so euphorisch, dass sie manchmal nicht aufhören konnten zu reden. Was mich betraf, so interessierten mich Schröders Geschichten nicht wirklich. Gleichzeitig kostete es mich aber nichts, ihm ein paar Minuten lang geduldig zuzuhören oder zumindest so zu tun.

Schröder schloss die Zimmertür und führte mich zurück nach unten. Als wir die Treppe halb runter waren, blieb er stehen und zeigte auf eines der gerahmten Fotos an der Wand. „Das ist übrigens mein Urgroßvater."

Ich schaute interessiert auf das Schwarz-Weiß-Foto. Auf dem posierte ein junger Mann mit präzise gescheiteltem, an den Seiten geschorenem Haar und Hitler-Schnurrbart.

„Das Foto ist aus den späten Zwanzigern", erklärte Schröder. „Mein Urgroßvater lebte praktisch ein Jahrhundert, von 1898 bis 1997. Im Ersten Weltkrieg war er bei der Kavallerie ... Hier, sehen Sie die Narbe?" Er deutete mit dem Finger auf das Kinn seines Uropas. Ich nickte. „Da ist er von einem Pferd getreten worden. Das war sein Markenzeichen. Im Zweiten Weltkrieg war er beim Volkssturm. Er hat sich sein ganzes Leben lang bester Gesundheit erfreut. Erst gegen Ende wurde er krank. Nach zwei Wochen im Bett starb er an einer Lungenentzündung."

„Wow, da hat er ja eine Menge erlebt", sagte ich.

Schröder nickte zustimmend. „Das können Sie laut sagen." Während wir die Treppe weiter hinunterstiegen, gab er mir mehr Informationen. „Der Einbruch ereignete sich, als wir auf Malle im Urlaub waren. – Waren Sie schon mal da?"

„Ja", sagte ich. „Ist mir aber zu touristisch da. Ich hab's lieber etwas ruhiger."

„Ich rede jetzt nicht vom Ballermann. Darauf stehen wir auch nicht. Wir fahren schon seit Jahren auf die andere Seite der Insel. Da ist es schön ruhig ... Jedenfalls Sie können sich vorstellen, was das für ein Schock war, als wir zurückkamen. Zuerst ist es uns gar nicht aufgefallen. Aber als wir uns ins Wohnzimmer setzten, sagte meine Frau: Wo ist denn der Fernseher? Dann haben wir die ganze Bescherung gesehen. Und plötzlich fühlt man sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher."

Ich nickte verständnisvoll. „Kann ich nachvollziehen. Hatten Sie schon einmal einen Einbruch?"

„Noch nie", sagte Schröder. „Und wir leben seit fast 25 Jahren hier. Das ist eigentlich eine sehr sichere Wohngegend – dachten wir zumindest. Meine Frau denkt echt daran, von hier wegzuziehen."

Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das kann Ihnen überall passieren. Es ist normal, dass Sie im Moment verunsichert sind. Aber ich würde die Sache nicht zu sehr dramatisieren. Wahrscheinlich hatten Sie einfach nur Pech und sind durch Zufall Opfer geworden. Professionelle Diebe erkennen, ob jemand längere Zeit weg ist. Indikatoren sind ein überfüllter Briefkasten, ständig geschlossene Rollläden oder geleerte Mülltonnen, die tagelang in der Einfahrt stehen."

„Hm." Schröder dachte einen Moment nach. Dann nickte er zustimmend. „Hat die Polizei auch gesagt. Aber ich habe noch einen anderen Verdacht. Kurz zuvor hatten wir hier eine Firma, die Renovierungsarbeiten durchgeführt hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die oder zumindest einer von denen etwas damit zu tun hat ... Na ja, vielleicht bilde ich mir das auch nur ein."

Ich zuckte mit den Schultern. „Wir werden's nicht herausfinden. Wichtig ist, dass Sie Ihr Gewehr zurückhaben."

„Da haben Sie recht", sagte Schröder. „Was schulde ich Ihnen eigentlich?"

„500 Euro", sagte ich.

„Ich habe nicht so viel Bargeld im Haus. Akzeptieren Sie Paypal?"

„Natürlich."

„Okay", sagte Schröder. „Dann erledigen wir das gleich." Er holte sein Handy hervor und schickte mir das Geld. Einen Moment später hörte ich einen Pington und sah die Eingangsbestätigung auf dem Display meines Handys.

„Alles ist angekommen. Wir sind quitt", sagte ich zufrieden und streckte meine Hand aus. „Das war's dann, Herr Schröder."

Wir verabschiedeten uns mit Handschlag und ich ging.

Ich war gerade losgefahren, als mein Handy klingelte. Nachdem ich den Anruf angenommen hatte, meldete sich eine Frauenstimme. „Hallo, mein Name ist Reichelt. Ich habe Ihre Kontaktdaten aus dem Internet. Da Sie sehr gut bewertet sind, würde ich Sie gern mit etwas beauftragen."

„Können Sie mir sagen, worum es geht?"

„Eine vermisste Person ausfindig machen ... So was tun Sie doch, oder?"

„Sicher", sagte ich.

„Sehr gut." Die Frau klang erleichtert. „Ich würde die Angelegenheit gern von Angesicht zu Angesicht besprechen. Kann ich heute in Ihrem Büro vorbeischauen?"

„Im Moment bin ich noch unterwegs, müsste aber in einer halben Stunde im Büro sein."

„Perfekt", sagte die Frau. „Dann bis gleich."

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Ich war erst ein paar Minuten im Büro, als es klopfte und sie hereinkam. Ich musste blinzeln, weil ich meinen Augen nicht traute. Das konnte nicht wahr sein. Während ich schluckte, kam es mir so vor, als würde mir der Adamsapfel aus dem Hals kommen. Ich hätte alles erwartet, aber nicht das. Obwohl ich sie 25 Jahre nicht gesehen hatte, erkannte ich sie sofort – trotz der kürzeren Haare. Meine Gedanken überschlugen sich. Die Szene vor der Disco ging mir unwillkürlich durch den Kopf: Ich sah Ingo; den Blick der Erleichterung, die heimliche Freude, als ihm klar wurde, dass der Türsteher mich nicht durchlassen würde. Die Erinnerungen an diese Zeit kamen wieder hoch. Ich musste an meine ersten Jahre in der Legion denken. Damals verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte. Ich war unsterblich verliebt, und zwar so sehr, dass es weh tat. All die langen Nächte, die ich damit verbracht hatte, Briefe an sie zu schreiben; ihr zu sagen, wie sehr ich sie vermisste. Keinen von diesen Briefen schickte ich je ab. Obwohl ich mich mit den Jahren weiterentwickelte und die Vergangenheit immer mehr verblasste, blieb dieses Gefühl in mir ihr gegenüber erhalten. Wir hatten einmal miteinander geschlafen und dabei hatte sie mir das Herz gebrochen. Ich spürte, wie eine Welle der Wärme durch meinen Körper schwappte. Wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich nie aufgehört hatte, sie zu lieben.

Doch unmittelbar nach der Überraschung, vielleicht einen Sekundenbruchteil später, kam die Ernüchterung. In meiner Erinnerung war sie die schönste und begehrenswerteste der Welt. Allerdings war die Frau, die jetzt vor mir stand, meilenweit davon entfernt. Sie sah zwar aus wie meine Heidi von damals, aber auch irgendwie anders. Wie eine Billigversion. Ich kritisierte mich sofort für diesen Gedanken. Sie war nicht hässlich oder unattraktiv, aber ich konnte nicht verstehen, warum ich einmal so verrückt nach ihr gewesen war. Wie bei jedem Menschen hatten die Jahre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen: Fältchen um die Augen und einige graue Haare an den Schläfen. Sie war jetzt eine reife Frau, der man immer noch ansah, wie schön sie einst war. Und diese Tatsache ließ mein Herz höher schlagen. Mir wurde klar, dass ich bis zu diesem Moment in sie verliebt gewesen war. Und nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte eine Illusion geliebt, dieses eine Bild von ihr, das ich über die Jahre in meiner Erinnerung bewahrt hatte. Ich mahnte mich, nicht unfair zu sein, denn wir werden alle älter. Aber nun war ich definitiv geheilt.

Sie blickte mich lächelnd an. Es war ein freundliches Lächeln, aber keins, das darauf hindeutete, dass sie mich erkannte – nicht im Geringsten.

„Hallo Heidi", sagte ich.

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Kennen wir uns?"

„Ich glaub’ schon."

Sie betrachtete mich einen langen Moment. Dann schien die Erinnerung einzusetzen. „Natürlich ... ähm ... Mein Gott, wie lange ist das her?" Sie schnippte mit den Fingern, während sie nach meinem Namen suchte. „Mats – richtig?"

„Max", korrigierte ich, ohne mir die Enttäuschung ansehen zu lassen. Sie kannte nicht einmal mehr meinen Namen. Damit war klar, dass das damals nichts anderes als eine Einbahnstraße gewesen war. Ich hatte ihr absolut nichts bedeutet.

„Schön, dich wiederzusehen", sagte sie und trat auf mich zu.

Wir umarmten uns.

„Setz dich", sagte ich und deutete auf den Besucherstuhl an meinem Schreibtisch. Während sie sich setzte, nahm ich hinter dem Schreibtisch Platz. „Erzähl", sagte ich. „Wie ist es dir in den letzten 25 Jahren ergangen?"

Heidi zuckte mit den Schultern. „Nichts Spektakuläres. Es ist alles so gekommen, wie es kommen musste. Ich habe geheiratet und mich nach zehn Jahren scheiden lassen. Ich habe eine Tochter." Sie presste die Lippen zusammen und lachte bitter. „Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich mich damals für die falsche Person entschieden habe."

„Sprichst du von Ingo?"

„Wer ist das denn?", fragte sie stirnrunzelnd. „Ah!“, sagte sie nach kurzem Nachdenken und nickte. „Ich weiß. Dein Kumpel. – Gott, nein." Die Erinnerung daran amüsierte sie. „Diesen Idioten hätte ich nie geheiratet."

Unglaublich! Sie hatte uns damals tatsächlich nur als Spielzeug betrachtet. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass ich nicht den geringsten Schmerz empfand.

„Und wie ist es bei dir gelaufen? Bist du nicht ins Ausland gegangen? Ich glaube, ich habe so etwas gehört."

Ich nickte. „Ja, ich war ein paar Jahre weg, bin dann aber zurückgekommen. Seit zehn Jahren habe ich diese Detektei."

„Verheiratet? Kinder?"

Ich zögerte. Dann schüttelte ich den Kopf, obwohl ich nicht wusste, warum ich log und ihr nichts von meinem Leben erzählen wollte. Ich hatte mich so oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich sie eines Tages wieder treffen würde. Nun wusste ich es: schmerzfrei und ernüchternd. Ich fühlte mich lediglich leicht in meiner Ehre gekränkt, da sie offensichtlich im krassen Gegensatz zu mir keinen Gedanken mehr an mich verschwendet hatte, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten. Ich holte tief Luft und versuchte, sie als das zu sehen, was sie war – eine Klientin. „Wen soll ich für dich finden?"

Heidis Gesichtsausdruck wurde ernst. „Meine Tochter."

Ich gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass ich bereit war, zuzuhören.

„Ihr Name ist Vanessa. Sie ist 19 Jahre alt und studiert Englisch und Medienwissenschaften in Irland." Sie holte ihr Handy hervor, klickte darauf und hielt es so, dass ich den Bildschirm sehen konnte. Eine Videobotschaft spielte ab. „Hallo Heidi. Viele Grüße aus Irland."

Ich war sprachlos, denn das hübsche Mädchen mit den langen blonden Haaren war ein Ebenbild von der Heidi, die ich vor Jahren kannte. Sogar ihre Stimme klang gleich. „Heute sind wir in Moorhall", sagte sie und drehte sich um, um zu zeigen, was sich hinter ihr befand. Die mit Efeu bewachsene Mauer, die aus großen alten Steinen bestand, sah aus, als stünde sie schon 1000 Jahre an diesem Ort. „Was du hier siehst, sind die Überreste eines alten Herrenhauses. Es gehörte einem englischen Lord und wurde 1923 von der IRA niedergebrannt. Das ist schade, denn in einem Raum dieses Hauses soll sich eine unersetzliche Bibliothek befunden haben." Sie schwenkte die Kamera, um die Umgebung zu zeigen – eine überwucherte Allee, die durch den Wald führte, und deren einstige Schönheit man noch erahnen konnte. „Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Kutschen damals hier lang gefahren sind ... Heute übernachten wir in Claremorris. Das ist eine Stadt ganz in der Nähe. Und morgen besteigen wir den Croagh Patrick. Das ist ein heiliger Berg in Irland. Wenn man da oben ist, kann man sich etwas wünschen und dieser Wunsch soll angeblich in Erfüllung gehen." Sie lachte. „Ich werd's ausprobieren. Okay, Heidi, ich melde mich von dort wieder. Bis morgen!" Sie warf der Kamera einen Kuss zu.

„Das ist ihre letzte Nachricht", sagte Heidi. „Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Und das macht mir Sorge."

„Wie lange ist das her?"

„Drei Tage. Du hast selbst gehört, dass sie sich am nächsten Tag vom Croagh Patrick melden wollte. Aber das hat sie nicht getan."

„Drei Tage", wiederholte ich. „Hm ... eigentlich noch kein Grund zur Sorge. Ich meine, man muss nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen. Du weißt, wie wir in diesem Alter waren."

Heidi sah mich ernst an und schüttelte den Kopf. „In diesem Fall muss man aber vom Schlimmsten ausgehen. Meine Tochter und ich haben eine Vereinbarung getroffen. Die besagt, dass sie mich jeden Tag kontaktiert. Sie braucht mir nicht zu sagen, was sie tut oder mit wem sie ihre Zeit verbringt, aber sie muss sich jeden Tag bei mir melden. Und das hat sie bisher getan. Wenn sie nicht antwortet, muss etwas passiert sein. Aber da ist noch etwas anderes: Sie geht nicht mehr ans Handy. Wenn ich anrufe, höre ich nur die Meldung, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar ist."

Ich fand ihre Besorgnis übertrieben, behielt meine Meinung jedoch für mich. „Vielleicht hat sie ihr Handy verloren oder –" Ich zuckte nach Worten suchend mit den Schultern.

---ENDE DER LESEPROBE---