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Dies ist eine Sammlung von Erzählungen, die den Leser auf eine Reise durch das Leben eines Taxifahrers in Köln mitnehmen. Die Geschichten sind geprägt von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die alle ihre eigenen Geschichten und Geheimnisse mitbringen. Von der herzlichen Beziehung zu Oma Lena, die sich über die Jahre entwickelt, bis hin zu den Herausforderungen und Überraschungen, die der Alltag eines Taxifahrers mit sich bringt, bietet diese Sammlung einen tiefen Einblick in das menschliche Miteinander und die kleinen, oft übersehenen Momente des Lebens. Die Storys regen den Leser zum Nachdenken an und unterhalten ihn gleichzeitig. Sie sind ein Spiegelbild des Lebens in einer Großstadt und zeigen, dass hinter jeder Fassade eine Geschichte steckt, die es wert ist, erzählt zu werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Oma Lena
Tag der Deutschen Einheit
Die historische Wahlnacht
Betrüger
Der alte Mann
Aggressionsbewältigung
Eine (fast) perfekte Schicht
Das Gänseessen
Ebenfalls von diesem Autor
Impressum
Taxi Stories
André Baganz
Copyright © 2025 André Baganz
Alle Rechte vorbehalten.
Es war an einem Sonntag im Herbst 2001. Zu jener Zeit hatte ich am Wochenende die Taxe immer allein, was bedeutete, dass ich mir die Schicht selbst einteilen konnte und keine Rücksicht auf eine Ablösung nehmen musste. An jenem Tag hatte ich gegen 9 Uhr begonnen und bis 14:30 Uhr reichlich 100 Mark eingefahren, wobei der Großteil davon auf das Konto von einer Fahrt nach Bonn ging. Ich fuhr erst seit einigen Monaten in Köln Taxi und war immer noch in einer Art Experimentierphase, will sagen, ich erkundete die verschiedenen Stadtteile und ihre Halteplätze. Mit Flughafen und Hauptbahnhof war ich bereits durch. Dabei hatte ich festgestellt, dass die Wartezeiten dort einfach zu lang für mich waren. Natürlich konnte man auch da Geld verdienen und sehr gute Fahrten ergattern. Ich kannte Taxifahrer, die nur Bahnhof oder Flughafen fuhren. Aber das Risiko nach einer endlos langen Wartezeit keine gute Fahrt zu bekommen, war für mich persönlich zu hoch und deshalb hielt ich mich von diesen beiden Hotspots fern. An jenem Tag wollte ich mal wieder einen neuen Halteplatz ausprobieren und meine Wahl fiel auf den Kaiser Wilhelm Ring. Dort stand niemand und ich hatte direkt die Spitze inne.
Den Sitz zurückgestellt, beobachtete ich jeden Passanten, der sich dem Taxistand näherte, in der Hoffnung, einen Fahrgast zu bekommen. Aber alle gingen vorbei. Nach einer halben Stunde versuchte ich mich mit Lesen und Radiohören abzulenken, und nach anderthalb Stunden hatte ich genug von der Warterei. Hierzu muss ich sagen, dass viele Taxifahrer, ich inklusive, ungern von einem Halteplatz wegfuhren, wenn sie die Spitze innehatten, weil es oft passierte, dass just in dem Moment, in dem man sich ausloggte, ein Auftrag hereinkam, den man zwar lesen, aber nicht mehr annehmen konnte, weil er an den nächsten weitergeleitet wurde. In meinen letzten Jahren als Taxifahrer gab es ein neues System, bei dem man sich nicht mehr ein- und ausloggen musste, da das GPS genau ermittelte, welches Taxi wo die Spitze hatte. Aber damals, kurz nach der Jahrtausendwende, war es noch anders. Ich schaute auf dem Taxidisplay nach, wie es auf den anderen Halteplätzen lief. Zu meiner Erleichterung hatte ich mich nicht wirklich verspekuliert mit diesem Halteplatz, denn es lief überall schleppend. Am besten kamen noch die Wagen weg, die am Dom und Heumarkt standen. Da waren die Wartezeiten nur 45 Minuten. Ich entschloss mich, eine große Runde zur Altstadt zu machen. Vielleicht hatte ich unterwegs ja Glück und jemand würde winken. Ich wollte mich gerade ausloggen, als ein Auftrag von der Zentrale kam. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wenn ich bereits losgefahren wäre, hätte ich mich tot geärgert. Die Adresse lautete: Kaiser Wilhelm Ring 44, Café Steudter.
Die Konditorei war in Sichtweite des Halteplatzes, was bedeutete, dass die Leute im Café mich ebenfalls sehen konnten. Ich stellte mir die Frage, warum der Fahrgast die Anfahrt bezahlt, wenn er einfach nur über die Straße gehen muss? Ich startete kopfschüttelnd den Motor und fuhr los. Eine Minute später hielt ich in der Fußgängerzone vor der Hausnummer 44, stieg aus und betrat das Café. »Sie haben ein Taxi bestellt?«, wandte ich mich an die Bedienung.
»Oh ja«, sagte sie freundlich und deutete auf einen Tisch im hinteren Teil des Raums. »Für die beiden älteren Damen da.«
Ich bedankte mich und ging auf den Tisch zu. »Guten Tag, Ihr Taxi ist da.«
»Oh!«, sagte die eine und musterte mich wohlwollend. »Da haben wir ja mal einen richtig gut aussehenden jungen Mann erwischt.«
Ich bedankte mich mit einem Lächeln für das Kompliment.
»Wir kommen, junger Mann. Aber bei uns dauert es immer etwas länger, weil wir nicht mehr die Jüngsten sind.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Lassen Sie sich Zeit.« Dann machte ich kehrt und ging wieder nach draußen. Ich hörte noch, wie die Frau sagte: »Und freundlich ist er noch dazu.«
Vom Wagen aus beobachtete ich, wie sich die Damen von der Bedienung verabschiedeten und langsam nach draußen bewegten. Als ich sie so kommen sah, verstand ich, warum sie nicht einfach rüber zum Taxistand gelaufen waren: Eine, und zwar die, die mit mir gesprochen hatte, konnte nur mühselig gehen, während die andere offensichtlich halb blind war. Als sie den Ausgang erreicht hatten, stieg ich wieder aus, um ihnen die Türen zu öffnen und beim Einsteigen behilflich zu sein. Die, mit der ich gesprochen hatte, stieg vorn ein.
Als sich die Damen angeschnallt und in ihren Sitzen eingerichtet hatten, wandte sich die Beifahrerin an mich. »So, junger Mann, jetzt wird Ihnen die gute Laune wahrscheinlich vergehen. Das wird eine sehr kurze Fahrt, weil wir nur ein paar hundert Meter von hier wohnen. Aber wir sind aufs Taxi angewiesen. Mit 85 ist man nicht mehr so gut zu Fuß, zumindest wir nicht.«
Ich machte eine beschwichtigende Geste. »Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Und um meine gute Laune brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen. Die behalte ich auf jeden Fall. Wie weit Sie fahren, spielt für mich keine Rolle. Meine Oma ist vor Kurzem gestorben. Die war zuletzt auch nicht mehr so gut zu Fuß. Für sie war jede längere Strecke wie ein Marathon. Sie haben also mein volles Verständnis.«
»Da bin ich ja beruhigt. Sie können sich nicht vorstellen, was wir uns von Taxifahrern schon anhören mussten. Insbesondere von Leuten, die kaum Deutsch sprechen. Na ja …« Sie winkte ab. »Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, es sind ja immerhin Ihre Kollegen. Aber wir wurden schon öfter beschimpft und mussten uns anhören, dass es eine Frechheit ist, für eine so kurze Strecke ein Taxi zu bestellen. Viele Ihrer Kollegen sind sehr unfreundlich.«
»Da hätte ich mich an Ihrer Stelle direkt an die Taxizentrale gewendet. Die nehmen solche Beschwerden ziemlich ernst. Ein Taxifahrer muss jede Strecke über 400 Meter fahren, ob es ihm passt oder nicht. – Von mir müssen Sie sich jedenfalls nichts anhören«, versicherte ich. »Wo geht’s denn hin?«
»Zuerst zur Spichernstraße, da wohnt die Dame, die hinten sitzt. Danach geht’s weiter zur Erftstraße. Das ist schräg gegenüber vom Mediapark.«
Sie hatte nicht übertrieben. Das war in der Tat eine super kurze Fahrt. Aber ich konnte die beiden verstehen. Ich nickte und fuhr los.
»Fahren Sie öfter in dieser Gegend?«, fragte die auf dem Beifahrersitz.
»Ich fahre noch nicht lange Taxi«, sagte ich, »erst seit drei Monaten. Bisher war ich hauptsächlich in der Südstadt unterwegs, aber da ist sonntagnachmittags nichts los. Heute wollte ich mal ausprobieren, wie es an den Ringen so läuft.«
»Und wie läuft es?«
»Zäh«, sagte ich. »Auch nicht viel besser als in der Südstadt. Aber ich nehme an, das liegt an der Tageszeit. An einem Sonntagnachmittag brauchen anscheinend nicht viele Leute ein Taxi.«
»Fahren Sie denn jeden Sonntag?«
Ich nickte. »Ich fahre jeden Tag außer Montag.«
»Würden Sie uns Ihre Handynummer geben? Dann können wir Sie direkt anrufen, wenn wir ein Taxi brauchen und müssen uns nicht mit Ihren unfreundlichen Kollegen herumärgern. Ich bin übrigens Frau Köhler.«
»Ich heiße André«, sagte ich.
»Also, André, wir zwei fahren jeden Sonntag um 13 Uhr zum Haus Scholzen zum Essen. Das machen wir jetzt schon zehn Jahre. – Kennen Sie das Haus Scholzen?«
Ich nickte. »In Ehrenfeld an der Venloer.«
»Genau«, sagte Frau Köhler. »Sie kennen sich also aus. Nach dem Essen fahren wir von dort immer zum Café Steudter. Da bleiben wir bis zum späten Nachmittag. Ich weiß, das sind keine Riesenfahrten, aber wir geben gutes Trinkgeld. Außerdem sagen Sie ja selbst, dass am Sonntagnachmittag nicht viel los ist.« Sie drehte sich um. »Wäre doch gut, wenn der junge Mann uns fahren würde oder was sagst du, Ute?«
»Jawoll«, kam eine raue Stimme von hinten.
Gerade hatte ich anderthalb Stunden auf dem Halteplatz gestanden. Würde ich dieses Angebot annehmen, hätte ich wenigstens drei Fahrten sicher. Ich brauchte also nicht lange zu überlegen. »Mache ich gern«, sagte ich, bremste ab und konzentrierte mich auf die Hausnummern, denn wir waren bereits in der Spichernstraße. »Welche Hausnummer?«
»Die nächste Tür«, sagte Frau Köhler. »Da können Sie halten.«
Ich stoppte.
»Könnten Sie uns noch einen Gefallen tun?«
Ich blickte sie an. »Natürlich.«
»Meine Freundin kann schlecht sehen. Wenn Sie sie hoch zu ihrer Wohnung begleiten würden?«
Ich nickte. »Kein Thema.« Ich stieg aus, half der Dame aus dem Wagen, hakte sie unter und führte sie zur Haustür. Dort gab sie mir ihren Schlüsselbund. Die drei Schlüssel waren markiert. »Es ist der blaue«, sagte sie. »Der für die Wohnung ist der gelbe. Ich wohne im zweiten Stock.«
Ich schloss auf und half ihr nach oben. Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet hatte, hielt sie mir ihr Portemonnaie hin.
»Nehmen Sie sich zehn Mark raus. Ich kann die Scheine nicht mehr so gut erkennen.«
Wow! Ich war erstaunt, dass sie mir so vertraute. Ich bediente und bedankte mich.
»Das war wirklich sehr nett von Ihnen«, sagte Frau Köhler, als ich wieder eingestiegen war. »Jetzt geht’s weiter zur Erftstraße.«
Ich rümpfte die Nase, ob des penetranten Geruchs von Kölnisch Wasser. Frau Köhler hatte sich offensichtlich damit eingedieselt. Im Augenwinkel sah ich, wie sie sich einen kleinen Spiegel vors Gesicht hielt, einen Lippenstift ansetzte und sich die Lippen nachzog. Ich empfand ihr Benehmen als etwas eigenartig, besonders im Kontext ihres Alters, kam jedoch nicht dazu, mir weiter Gedanken darüber zu machen, denn wir hatten ihre Adresse erreicht.
»Sie können in die Einfahrt fahren und direkt vor der Haustür halten«, sagte sie. »Dann brauchen wir uns keine Sorgen wegen der Radfahrer zu machen. Die haben hier nämlich immer ein ziemliches Tempo drauf.«
Als der Wagen stand, holte sie einen Notizblock aus ihrer Handtasche. »So, André, wie ist denn Ihre Handynummer?«
Ich nannte sie und sie schrieb sie auf. Dann holte sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche, öffnete es und schaute mich fragend an. »Wie viel bekommen Sie jetzt von mir?«
Ich deutete auf das Taxameter: »Das wären zehn Mark dreißig.«
Frau Köhler bezahlte die Summe und ließ sich das Wechselgeld exakt herausgeben. Gerade als ich dachte, dass das eine ziemliche Unverschämtheit war, hielt sie mir einen Zwanzigmarkschein hin. »Und das ist Ihr Trinkgeld.«
Wow! Mein Herz lachte. »Sind sie sicher?« Frau Köhler nickte.
»Danke schön.« Ich stieg aus, half ihr aus dem Wagen und begleitete sie zur Haustür.
Zum Abschied sagte sie: »Ich rufe Sie dann nächsten Sonntag an.«
Ich war skeptisch, denn in meiner kurzen Zeit als Taxifahrer hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die Leute sich in den wenigsten Fällen an ihr Wort hielten. Aber nicht so Frau Köhler. Sie rief an und es war der Beginn eines immer enger werdenden Verhältnisses, insbesondere zu ihr, genauer gesagt nur zu ihr, denn Ute war lediglich anwesend und beteiligte sich nie an unseren Gesprächen. Als ich die beiden zum dritten Mal fuhr, bot Frau Köhler mir das Du an und bestand darauf, von mir künftig Oma Lena genannt zu werden. Außerdem drückte sie mir von diesem Tag an, zum Abschied immer ein Küsschen auf die Wange. Zuvor hatte sie mich über mein Privatleben ausgefragt und mit offensichtlicher Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass ich geschieden war. Als ich ihr Fotos von meinen Zwillingstöchtern zeigte, fand sie sie »goldig«. Abgesehen von den Fahrten am Sonntag, riefen mich die Damen nun auch unter der Woche an, denn am Mittwoch gingen sie ebenfalls ins Café Steudter. Außerdem übernahm ich all ihre anderen Fahrten, zum Beispiel, wenn sie zum Arzt mussten oder für Oma Lena, die des Öfteren zu ihrer Tochter nach Köln-Mülheim gefahren und von dort wieder abgeholt werden wollte. Die Fahrten waren von der Strecke her nicht immer lukrativ, aber in Bezug auf Trinkgeld wurde ich von den Damen regelrecht verwöhnt. Das war manchmal so hoch, dass es schon fast peinlich war. Einmal, als ich im Café Steudter von der Toilette kam, hörte ich, wie die beiden über mich redeten. Bevor Oma Lena mich kommen sah und schwieg, hörte ich noch, wie sie entrüstet sagte: »Das ist doch viel zu wenig. Wenn du so weiter machst, wird er uns bald nicht mehr fahren.«
Von jenem Tag an drückte Ute mir, nachdem ich sie hoch zu ihrer Wohnungstür begleitet hatte, immer zehn Euro in die Hand. Der Anstandsprotest, den ich einlegte, weil 5 Euro fürs Hochbegleiten mehr als genug waren, wurde entschieden abgelehnt, – höchstwahrscheinlich aus Furcht vor Oma Lena …
Wenn ich die beiden an einem Sonntag fuhr, brachte mir das, neben einem deftigen Mittagessen plus Kaffee und Kuchen, für eine Strecke von nicht einmal fünf Kilometern, sage und schreibe, die Summe von 160 Mark bzw. ab dem ersten Januar 2002
80 Euro ein. Der Ablauf war immer derselbe: Gegen 13 Uhr holte ich Ute vor ihrer Haustür in der Spichernstraße ab. Wie ich einmal feststellte, als ich zu früh war, stand sie schon immer mindestens zehn Minuten vor der Zeit da und wartete. Dabei bewegte sie bei jedem Auto, das vorbeifuhr, ruckartig ihren Kopf hin und her, wie ein Adler, denn an den erinnerte sie mich in der Tat mit ihrer Hakennase, und versuchte zu erkennen, ob das sich nähernde Fahrzeug ihr Taxi sei. Trotz ihrer dicken Brillengläser, die aussahen wie Kompottschälchen, konnte sie, wie mir Oma Lena einmal erklärte, nur noch verschwommene Konturen wahrnehmen. Nachdem ich sie begrüßt und auf dem Rücksitz platziert hatte, fuhren wir um den Block zur Erftstraße, wo Oma Lena bereits vor ihrem Haus stand. Die stieg vorn ein und freute sich immer ungemein, den Taxifahrer, der sie angeblich an ihren verstorbenen Mann erinnerte, zu sehen. Von da aus ging die Fahrt zum Haus Scholzen. Bevor Oma Lena dort ausstieg, bezahlte sie den regulären Fahrpreis von acht Euro und drückte mir zusätzlich ein Trinkgeld von 20 Euro in die Hand.
Während die Damen dinierten, blieben mir zwei Stunden, um anderweitig Geld einzufahren. Kurz nach 15 Uhr klingelte dann mein Handy und am anderen Ende der Leitung war Manuel, ein Kellner vom Haus Scholzen, der mich bat, die Damen wieder abzuholen. Ich glaube, einmal musste ich absagen, weil ich in der Zwischenzeit eine Fahrt nach Düsseldorf angenommen hatte. Aber in der Regel traf ich immer zehn Minuten später dort ein. Dann fragte mich Oma Lena, ob ich Hunger hätte. Obwohl ich aus Höflichkeit stets verneinte, musste ich trotzdem essen, weil schon bestellt war. Nachdem ich meinen Schweinebraten oder was auch immer verzehrt hatte, brachen wir auf und ich fuhr die beiden zum Café Steudter. Bevor Oma Lena dort ausstieg, bezahlte sie wieder den regulären Fahrpreis plus ein Trinkgeld von 20 Euro. Ablehnen war keine Option, da sie das als Beleidigung empfunden hätte, aber abgesehen davon fuhr ich ja Taxi, um Geld zu verdienen. Nun hatte ich wieder zwei Stunden für mich. Nach Ablauf derer klingelte mein Handy und Sandra, die hübsche Bedienung des Café Steudter, war dran. Ich fuhr hin, parkte mein Taxi in der Fußgängerzone vor dem Café und gesellte mich zu den Damen, die mir Kaffee und Kuchen spendierten, während ich Geschichten über den Krieg oder Oma Lenas verstorbenen Mann lauschte, die zugegebenermaßen oft beeindruckend und lehrreich für mich waren. Ute war wortkarg und sagte nur ab und zu jawoll, entweder um Oma Lena recht zu geben oder einfach nur um zu demonstrieren, dass sie zugehört hatte.
Gegen 18:30 Uhr, fuhr ich die beiden dann nach Hause, weil um 19:00 Uhr eine Fernsehsendung begann, die Oma Lena auf keinen Fall verpassen wollte. Wenn ich Ute nach oben gebracht hatte und danach für ein paar Minuten allein mit Oma Lena im Wagen saß, ging mit der Frage, ob Ute mir auch zehn Euro gegeben hätte, starke Kritik an deren Geiz einher. Bevor sie vor ihrer Haustür ausstieg, erhielt ich neben dem geringen Betrag, der auf dem Taxameter angezeigt wurde, wieder 20 Euro Trinkgeld. Anschließend fuhr ich glücklich über diesen Bombenverdienst immer für mehrere Minuten mit heruntergelassenen Scheiben, um den aufdringlichen Parfümgeruch loszuwerden.
Interessant war das Verhältnis zwischen Oma Lena und Ute. Ein neutraler Beobachter brauchte nicht viel Zeit, um zu erkennen, wer der Boss war, und zwar Oma Lena. So erfuhr ich, dass Ute, eine relativ hochgewachsene, hagere Frau, die ursprünglich aus dem Ruhrgebiet kam, ihr ganzes Leben lang als Dienstmädchen gearbeitet hatte – zuletzt sogar für die Köhlers. Oma Lena dagegen, eine übergewichtige und eher kleine Person, die aus der Eifel stammte und immer ziemlich viel Goldschmuck trug, war die Frau eines hohen Tieres gewesen. Ihr Mann hatte eine wichtige Position im Central Güterbahnhof Gereon innegehabt. Dieser befand sich von 1859 bis 1990 auf dem Gelände des heutigen Mediaparks und war, wie Oma Lena voller Stolz betonte, einer der größten Stückgut-Umschlagbahnhöfe Deutschlands gewesen. Die Wohnung, in der sie immer noch wohnte, befand sich in einem der Häuser, die der Bundesbahn gehört hatten oder immer noch gehörten. Diesen Klassenunterschied zwischen sich und Ute betonte Oma Lena bei jeder Gelegenheit und auch ziemlich lautstark. Sie redete überhaupt sehr viel und laut, was ihr einmal sogar einen Rüffel von einem der anderen Gäste im Café Steudter einbrachte, weil diese Dame, wie sie genervt sagte, sich nicht für Oma Lenas Privatleben interessierte. Doch zurück zu Ute. Dass sie sich mit der umgab, war allein dem Umstand geschuldet, dass ihre ebenbürtigen Bekannten und Freundinnen inzwischen alle das Zeitliche gesegnet hatten. Wobei ich damit nicht sagen möchte, dass Oma Lena unsympathisch war, ganz im Gegenteil. Aber sie war halt etwas Besseres.
So lief das zwischen ihr und mir und Ute. Dabei möchte ich nicht verschweigen, dass ich mehrmals eine Einladung zum Essen bei Oma Lena zu Hause annahm. Bei diesen Gelegenheiten erledigte ich in ihrer Wohnung gleich ein paar Dinge, die sie selbst nicht mehr machen konnte. Ich fand übrigens amüsant, wie sie den Weg für meine erste Einladung ebnete: »Eine Bekannte von mir hat ebenfalls einen sehr netten Taxifahrer. Die hat den vor Kurzem zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Wie findest du das denn? Man kann doch seinen Taxifahrer nicht zu sich nach Hause einladen.«
Ich blickte sie schulterzuckend an, weil ich nicht wusste, was daran so schlimm sein sollte. »Warum nicht?«
Sie sah mich erstaunt an. »Du hättest also kein Problem damit und würdest so eine Einladung nicht ausschlagen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich?«
Kurz darauf lud sie mich zum Essen in ihre Wohnung ein und man, Oma Lena konnte kochen …
Alles war schön und gut für fast zwei Jahre. Und es wäre wahrscheinlich auch so weitergegangen, wenn ich nicht an einem Sonntagnachmittag meine damals neue Freundin und spätere Ehefrau mit zum Café Steudter gebracht hätte, um sie den bei den Damen vorzustellen. Das Treffen verlief aus meiner Sicht sehr gut. Die Frauen tauschten Nettigkeiten aus und ich hatte den Eindruck, dass Oma Lena meine Freundin mochte. Zumindest unterhielten sich die beiden ziemlich lange und angeregt. Als ich Oma Lena einige Tage später zu einem Arzttermin fuhr, erzählte sie mir eher beiläufig, dass sie zwei Anrufe bekommen hätte, bei denen die Anruferin ihren Namen nicht genannt hatte.
»Die wollte wissen, ob sie mit Ute spricht. Weißt du, was komisch war? Die hat genauso geklungen wie deine Freundin.«
»Hm … das ist wirklich komisch«, sagte ich, ohne mir irgendetwas dabei zu denken.
Eine Woche später ereignete sich dann der erste ernste Zwischenfall. Nachdem ich Oma Lena am späten Sonntagnachmittag nach Hause gefahren hatte, lehnte ich mich nach vorn, um mir wie immer ein Abschiedsküsschen von ihr auf die Wange drücken zu lassen. Doch sie drehte sich demonstrativ weg. Als ich sie erstaunt anblickte, sagte sie: »André, ich war über 50 Jahre verheiratet und hatte nie eine Affäre. Und ich werde auch nie eine haben, denn das wäre meinem verstorbenen Mann gegenüber sehr ungerecht.« Dann wanderte ihr Blick zu den oberen Stockwerken ihres Hauses. »Irgendwer steht hier immer hinter der Gardine und schaut aus dem Fenster. Es ist besser, wenn wir das Küsschen geben in Zukunft lassen. Ich will nicht, dass die Leute einen falschen Eindruck gewinnen und dann über mich reden.«
Als ich das hörte, war ich so geschockt, dass ich im ersten Moment nicht wusste, was ich sagen sollte. Meine erste Emotion war Verärgerung, zumal sie mit dem Küsschen geben angefangen hatte. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken. Während ich wie gewöhnlich zurück in Richtung Innenstadt fuhr und dabei automatisch die Scheiben herunterließ, um den Parfümgeruch loszuwerden, realisierte ich, dass es den an diesem Tag gar nicht gab, denn Oma Lena hatte sich nicht mit Eau de Cologne eingesprüht, während ich Ute nach oben gebracht hatte. Und sie hatte sich auch nicht wie gewöhnlich die Lippen nachgezogen. Ich fand das eigenartig und die Tatsache gab mir für einen Moment zu denken. Dann legte sich mein Ärger jedoch und ich versuchte mir einzureden, dass die Dame einen Anfall von Altersschwachsinn gehabt haben muss, denn sie konnte nicht im Ernst annehmen, dass ich auch nur in meinen kühnsten Träumen daran denken würde, etwas mit einer 45 Jahre älteren Frau anzufangen, die, in ihrer Blütezeit möglicherweise mal hübsch und attraktiv gewesen, inzwischen aber dick, faltig, von Altersflecken und Warzen übersät war und fast immer starken Mundgeruch hatte. Alles Dinge, über die ich hinwegsah, weil sie mich nicht wirklich störten, mich jedoch schaudern ließen, sobald ich sie in einen sexuellen Kontext setzte. Ich will nicht bestreiten, dass bei den Fahrten mit Oma Lena und Ute das Finanzielle im Vordergrund stand, aber dafür musste ich mich nicht entschuldigen, denn ich war schließlich Taxifahrer. Es stimmt, ich wurde für einen geringen Aufwand extrem gut entlohnt. Dafür ließ sich die Gegenwart und das manchmal nervige Gerede von Oma Lena gut ertragen. Doch abgesehen davon verbrachte ich gern Zeit mit den beiden und hatte sie in gewisser Weise lieb gewonnen. Wenn Oma Lena zum Beispiel vom Bombardement Kölns erzählte, ihrer Evakuierung nach Sachsen und den schweren Jahren nach 45 bis ihr Mann aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, hing ich geradezu an ihren Lippen, weil ich diese Erinnerungen so spannend fand. Für mich war unsere Beziehung ein klares Win-win. Die Frauen profitierten genauso wie ich davon. Und Fakt war auch, dass ich auf gar keinen Fall irgendwelche Hintergedanken hatte, zu keinem Zeitpunkt. Ich und Oma Lena oder gar Ute. Allein die Vorstellung war lachhaft. Wobei, wenn es tatsächlich nur diese beiden Frauen auf der Welt gegeben hätte, wäre meine Wahl wahrscheinlich auf Oma Lena gefallen, denn verglichen mit Ute war sie noch eine Schönheit …
Bei unserem nächsten Treffen war bei mir alles vergessen, zumal Oma Lena wieder ausgesprochen freundlich war und mir direkt bei der Begrüßung ein Küsschen auf die Wange drückte. Als ich die beiden später vom Haus Scholzen abholte, sagte ich:
»Am nächsten Sonntag habe ich was vor. Ich will was mit meiner Freundin machen. Da kann ich euch also nicht fahren, Oma Lena. Nur, dass du Bescheid weißt.« Ich erwartete zwar keine Antwort, war dennoch erstaunt, dass niemand etwas sagte. Die Reaktion erfolgte erst, als wir vor dem Café Steudter hielten.
Als sich die Frauen abgeschnallt hatten, drehte Oma Lena sich um und sprach Ute an: »Ich weiß wirklich nicht, was wir diesem
kleinen, rothaarigen Teufel getan haben. Hat die Angst, dass wir ihr den Mann ausspannen?«
Ute stieß eine Art Grunzen aus, sagte aber nichts, während ich den Klumpen in meinem Hals herunterschluckte und glaubte, mich verhört zu haben. »Was hast du gerade gesagt, Oma Lena?«, fragte ich empört.
Die drehte sich wieder um und wandte sich mir zu. »Wir wissen genau, was los ist. Uns kannst du nicht für dumm verkaufen. Wir haben unsere Erfahrungen mit anderen Frauen.« Sie drehte sich erneut um. »Stimmt's Ute?«
»Jawoll«, sagte die in bester Landsermanier.
Dann sprach Oma Lena mich wieder an. »Als du vor zwei Wochen deine Freundin mitgebracht hast, ist uns sofort aufgefallen, wie eifersüchtig sie ist und dass sie einen Keil zwischen uns treiben will. Deshalb hat sie mich auch angerufen. Wie nennt man das heutzutage? – Ich glaube, Telefonterror.