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„Im Schatten des Doms” ist eine dichte, vielschichtige Erzählung, die zwischen den Lebenswelten des einstigen Polizisten und nun Taxifahrers, Ulli und den Plänen eines radikalisierten Attentäters, Usama, hin- und herwechselt. Die Geschichte beginnt mit einer scheinbar alltäglichen Szene: zwei Kollegen, die während einer Pause über Essen und Privates plaudern, doch schnell wird klar, dass hinter der Fassade des Berufsalltags tiefgreifende persönliche Konflikte lauern. Parallel dazu wird die Bedrohung durch Usama und seinen Komplizen Rahman immer greifbarer, als sie einen brutalen Mord begehen und einen Anschlag auf ein Fußballspiel planen. Ullis Rückkehr ins Taxigewerbe und seine Versuche, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, stehen im Kontrast zu Usamas fanatischer Entschlossenheit. Die Handlung ist gespickt mit realistischen Dialogen, unerwarteten Wendungen und einer düsteren Atmosphäre, die die Leser bis zur letzten Seite fesselt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Auch von diesem Autor
Impressum
Einer hatte die Plastiktüte mit dem Essen in der Hand und der andere den Kaffee. So kamen sie aus dem Tankstellenshop. Nachdem sie in den Streifenwagen eingestiegen waren, setzte Ulli den Kaffeehalter ab, während Wolfgang eine Packung Sushi aus der Plastiktüte nahm. Die reichte er seinem jüngeren Kollegen. Dann holte er die Papiertüte mit seiner Mahlzeit heraus, öffnete sie und entnahm ihr einen Plastikcontainer. Darin waren eine Frikadelle und ein Klecks Senf. Er schaute auf die Sushipackung in Ullis Hand und verzog angewidert das Gesicht. „Roher Fisch. Ich kapiere nicht, wie du das essen kannst.”
Seinen Kollegen ignorierend, entfernte Ulli die Folie von seinem Container und pellte die Essstäbchen aus der Verpackung. Dann schob er sich ein Stück Sushi in den Mund und fing genüsslich an zu kauen.
Wolfgang beobachtete ihn einen Moment und schüttelte verständnislos den Kopf. Schließlich tunkte er seine Frikadelle in den Senf und biss hinein.
Jetzt schaute Ulli ihn an und verzog seinerseits das Gesicht.
Plötzlich fingen beide Männer an zu lachen und sagten gleichzeitig: „Guten Appetit.“
Sie aßen schweigend und beobachteten die Umgebung. Irgendwann waren Motorengeräusche zu hören. Ein weißer Audi und ein aufgemotzter roter Golf rasten die Hauptstraße entlang.
Wolfgang wollte etwas sagen, aß dann aber weiter. Als die beiden fertig waren, wischten sie ihre Münder und Hände mit Servietten ab und tranken ihren Kaffee.
„Wie geht‘s deinem Vater?”, fragte Wolfgang.
Ulli biss sich nachdenklich die Lippe. „Nicht gut. Neulich hat er den Arzt gedrängt, ihm reinen Wein einzuschenken. Und das hat er getan. Er sagte, dass er ihm nicht mehr als sechs Wochen gibt.”
Wolfgang atmete tief ein und blies die Luft langsam wieder aus. „Das Leben ist nicht fair.”
Ulli schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wenn du zwei Packungen pro Tag rauchst, bezahlst du irgendwann den Preis dafür. Ich habe ihn so oft gebeten aufzuhören oder zumindest weniger zu rauchen. Er hat immer gesagt: Eines Tages sterbe ich ohnehin, also, was soll’s?” Er presste resignierend die Lippen zusammen. „Jetzt kann er die Schmerzen nur noch mit Morphium ertragen.”
Wolfgang blickte seinen Kollegen mitfühlend an. „Das ist echt schlimm. So alt ist er noch gar nicht, oder?”
„62.”
„Das ist kein Alter. Nur zehn Jahre älter als ich.”
Ulli seufzte. „Ich weiß.”
„Was machst du mit der Taxikonzession?”, fragte Wolfgang.
Ulli zuckte die Schultern. „Verkaufen, schätze ich.”
„Warum fährst du nicht selbst? Ich meine als Nebenjob.”
Ulli schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Nach der Schule, als ich noch nicht wusste, was ich machen will, bin ich eine Weile für meinen Vater gefahren. Mein P-Schein ist sogar noch gültig. Aber ganz ehrlich, es hat keinen Spaß gemacht. Taxifahren war nie mein Ding und wird es nie sein. Abgesehen davon, glaube ich nicht, dass das legal ist.“
„Mm.” Wolfgang legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich auch nicht, aber da könnte was dran sein. — Interessenkonflikt, schätze ich. Angenommen, ich stoppe dich wegen Rasens, da könnte ich versucht sein, beide Augen zuzudrücken, weil ich dich kenne.”
„So was in der Art. Aber”, er winkte ab, „spielt eh keine Rolle, weil ich die Konzession höchstwahrscheinlich verkaufen werde. Und ehrlich gesagt, ich habe auch keine Lust weiter darüber zu reden, mein alter Herr lebt schließlich noch.”
Die beiden Männer leerten schweigend ihre Kaffeebecher.
Als sie aus der Tankstelle fuhren, hörten sie Motorengeräusche. Der Audi und der Golf rasten wieder vorbei. Ein paar hundert Meter weiter stoppten sie an einer roten Ampel.
„Das ist das zweite Mal”, sagte Wolfgang. „Sieht nach einem illegalen Straßenrennen aus.“
„Die müssen uns doch gesehen haben”, sagte Ulli kopfschüttelnd.
Als die Ampel auf Grün schaltete, starteten die Fahrzeuge mit durchdrehenden Rädern und beschleunigten wie bei einem Formel-1-Rennen. Dann bremsten sie stark ab, um unter der Geschwindigkeitsbegrenzung zu bleiben.
„Die wollen uns echt verarschen.” Wolfgang schaltete das Blaulicht ein und trat aufs Gas. Nach ein paar Sekunden war der Streifenwagen hinter den Rasern.
„Ein paar hundert Meter weiter beginnt ein Seitenstreifen. Da halten wir sie an.” Wolfgang drehte den Kopf und zwinkerte Ulli zu. „Das wird deine Show, Jung. Das Reden überlasse ich dir.”
„Wirklich?”
Wolfgang nickte. „Klar. Es sei denn, du traust dir das nicht zu. In den letzten sechs Wochen habe ich dir gezeigt, wie man’s macht. Sollte eigentlich kein Problem für dich sein, oder?”
Ulli sah ihn dankbar an. „Ist es nicht. Ich kriege das hin.“ Als der Seitenstreifen begann, griff er zum Mikrofon und seine autoritäre Stimme schallte aus dem Lautsprecher des Streifenwagens: „Der Golf und der Audi, bitte rechts ran fahren.”
Die Fahrer setzten die Blinker, fuhren auf den Seitenstreifen und hielten. Die beiden Beamten öffneten die Türen und wollten gerade aussteigen, als eine Nachricht über Funk durchkam. „An alle Einheiten!”
Sie hielten inne und lauschten.
„Möglicher Einbruchsdiebstahl im Gange. Die Adresse lautet Heckenweg 24. Ich wiederhole. Möglicher Einbruchsdiebstahl am Heckenweg 24 im Gange.”
„Das ist gleich um die Ecke”, sagte Wolfgang. Er setzte sich wieder und antwortete: „Wir übernehmen.”
Der Streifenwagen raste mit durchdrehenden Reifen davon. Die Fahrer, die sie gerade angehalten hatten, blickten ihm verblüfft hinterher.
Martinshorn aus, aber Blaulicht an, stoppte der Streifenwagen vor der angegebenen Adresse. Ein älterer Herr mit zu einem Pferdeschwanz gebundenen langen Haaren und einem sorgfältig gestutzten Bart stand wartend vor einer hohen Hecke. Er näherte sich wichtigtuerisch den Beamten, nachdem sie ausgestiegen waren. „Mein Name ist von Eggen“, stellte er sich vor. „Ich wohne nebenan. Ich habe sie vom Badezimmerfenster aus gesehen. Die sind wahrscheinlich hinten über den Zaun geklettert.”
„Haben Sie sie klettern gesehen?”, fragte Wolfgang.
Von Eggen schüttelte den Kopf. „Das nicht. Aber wie sollen die sonst da reingekommen sein? Das Grundstück ist abgeschlossen und niemand dürfte sich darauf befinden. Meine Nachbarn sind nämlich gestern übers Wochenende weggefahren.”
„Sie sagten, die. Von wie vielen Leuten reden wir?”
„Ich habe zwei gesehen. Und die sahen nicht gerade harmlos aus.”
„Was meinen Sie damit?”
„Na, die sahen aus wie ... Ninjas. Und die haben Gewehre dabeigehabt.” Er gestikulierte, während er nach dem richtigen Begriff suchte. „Solche Pumpguns, wie sie sie in Gangsterfilmen haben.”
Wolfgang sah Ulli an und unterdrückte ein Lachen. Dann wandte er sich wieder von Eggen zu. „Zwei Ninjas mit Pumpguns? Sind Sie sicher, dass Sie das gesehen haben? Ninjas rennen doch normalerweise mit Schwertern rum.”
Von Eggen biss sich auf seine schmale Unterlippe. „Klar, bin ich mir sicher. Ich habe doch Augen im Kopf. Oder denken Sie, ich habe mir das ausgedacht?”
„Ich denke gar nichts”, sagte Wolfgang versöhnlich. „Danke, Herr von Eggen. Wir werden uns später noch mal bei Ihnen melden.” Dann machte er ein paar Schritte auf das schmiedeeiserne Tor zu und blickte auf das große Haus. Ihm fiel nichts Verdächtiges auf. Er drückte den Türgriff des Tores hinunter. Es ließ sich öffnen.
„Das müsste eigentlich abgeschlossen sein”, sagte von Eggen.
Während Wolfgang nachdenklich auf das Haus blickte, tippte von Eggen ihn von hinten auf die Schulter. „Unternehmen Sie jetzt irgendwas oder wollen Sie einfach nur weiter starren?”
Wolfgang drehte sich um und blickte den Mann böse an. Er wollte etwas sagen, beschloss dann aber, die Sache auf sich beruhen zu lassen und wandte sich an Ulli. „Schauen wir uns die Sache mal aus der Nähe an.” Er forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen.
Ulli zögerte. „Rufen wir keine Verstärkung?”
Wolfgang winkte ab. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist.”
Die beiden Beamten betraten das Grundstück. Als Wolfgang bemerkte, dass von Eggen ihnen folgte, sagte er: „Sie gehen bitte zurück zu ihrem Haus.”
Von Eggen drückte mit einer Geste seine Verärgerung aus. „Aber ... ich war derjenige, der Sie gerufen hat.”
„Und ich bin sicher, ihre Nachbarn werden ihnen dankbar dafür sein. Aber das gibt ihnen noch lange keine Sonderrechte.”
Von Eggen sah Wolfgang mit offenem Mund an. „Sie wissen nicht, wer vor ihnen steht, stimmt’s? Der Polizeipräsident ist ein persönlicher Freund von mir.”
„Nein, ich weiß nicht, wer vor mir steht. Und ehrlich gesagt, ist es mir auch ziemlich egal. Das hier ist eine Angelegenheit für die Polizei, und Sie halten sich gefälligst raus. Also noch mal: Gehen Sie bitte zurück zu ihrem Haus.” Wolfgang schüttelte ungläubig den Kopf.
Von Eggen stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Ihr Ton gefällt mir nicht. Abgesehen davon, sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe.”
Wolfgang rollte genervt mit den Augen und atmete tief durch. „Sie haben recht. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Ich kann Ihnen aber sagen, was Sie nicht tun sollen. Und das ist, uns auf dieses Grundstück folgen. Also hauen Sie ab. Wenn Sie noch einen Schritt in meine Richtung machen, bekommen Sie eine Anzeige wegen Behinderung der Polizei. Haben wir uns verstanden?”
Von Eggen biss sich wieder die Unterlippe, während seine Augen zwischen den Beamten hin und her wanderten. „Sie hören von mir”, sagte er schließlich, drehte sich um und ging.
Wolfgang blickte ihm belustigt hinterher. „Hoffentlich verliere ich jetzt nicht meinen Job. Habe gar nicht gewusst, dass ein Gesicht so rot anlaufen kann. Was für ein Arschloch. Nur weil sie Geld haben, denken sie, dass sie über dem Gesetz stehen.” Er äffte von Eggen nach. „Der Polizeipräsident ist ein persönlicher Freund von mir. — Von wegen. Nicht mit mir.” Er zwinkerte Ulli zu. Dann richtete er den Blick nach vorn und ging weiter.
Das Grundstück war groß. Ein Garagentor war integriert in den modernen, zweistöckigen Bau, den ein abgedeckter Swimmingpool flankierte.
„Ich schätze, dieses Haus ist ein Paradies für Einbrecher”, sagte Ulli.
Wolfgang nickte. „Darauf kannst du Gift nehmen.”
Plötzlich stoppten sie und tauschten überraschte Blicke aus.
„Hörst du das?” Ulli blickte hinauf zu einem Fenster im zweiten Stock. „Scheint von da oben zu kommen.”
„Okay”, sagte Wolfgang mit gesenkter Stimme. „Der alte Sack hat gesagt, dass niemand hier ist. Irgendwas stimmt also nicht. Du nimmst die Rückseite.” Er ging mit der Hand zur Pistole, zog sie aber nicht aus der Halterung. Ulli tat dasselbe. Dann trennten sie sich.
Vorbei am abgedeckten Swimmingpool schlich Ulli zur Rückseite des Hauses. Dort befand sich eine überdachte Terrasse mit Stühlen, Tischen, zwei Heizpilzen und einem supermodernen Elektrogrill. Er nahm die große Glastür genauer unter die Lupe: Sie war verschlossen. Er konnte keine Einbruchsspuren feststellen. Es war auch alles ruhig. Er wollte Wolfgang gerade per Funk kontaktieren, als er Stimmen hörte. Er schaute sich um. Etwa dreißig Meter entfernt, in der Nähe des hinteren Zauns, stand ein Schuppen. Die Tür war halb offen. Ulli ging vorsichtig näher. Neben der Tür war ein Fenster. Als er dort hindurchschaute, sah er zwei Gestalten: eine kleinere und eine größere. Obwohl ihm beide den Rücken zuwandten, konnte er sehen, dass von Eggen recht gehabt hatte: Sie sahen aus wie Ninjas. Ob sie auch Waffen bei sich trugen, konnte er von seiner Position aus allerdings nicht erkennen. Er zweifelte daran. Die Verkleidung war zwar ungewöhnlich, aber verständlich, weil sie nicht erkannt werden wollten. Aber warum sollten Einbrecher Pumpguns bei sich haben? Das wäre vollkommen untypisch.
Ulli lächelte vor sich hin: Gleich würde er seine erste Verhaftung als Polizist machen. Und dabei würde er sich an alle Regeln halten. Er atmete tief durch und bereitete sich innerlich auf den Zugriff vor. Dann zog er seine Waffe aus dem Holster und ging entschlossen zur Tür. „Polizei!” Er richtete die Waffe auf die Eindringlinge.
Die beiden drehten sich um, als sie seine Stimme hörten und richteten ihrerseits Pumpguns auf ihn.
Ulli starrte wie gelähmt in die Mündungen der Pumpguns. Der Nachbar hatte also mit allem recht gehabt.
„Waffe fallen lassen”, schrien die Vermummten wie aus einem Munde.
Bilder schossen Ulli durch den Kopf: Er sah sich, von Kugeln durchsiebt, blutüberströmt zusammenbrechen. Als die beiden durchluden, feuerte er. — Ein lauter Knall. Der größere der beiden fiel zu Boden.
Als der andere sah, dass sein Komplize getroffen war, warf er seine Waffe weg und riss die Arme hoch. „Nicht schießen!”
In dem Moment, als sie auf dem Boden aufschlug, wusste Ulli, dass er einen Riesenfehler begangen hatte. Auch wenn sie trügerisch echt aussah, prallte die Waffe vom Boden ab: Die Pumpgun war aus Kunststoff. Er hatte sich von einer Spielzeugwaffe bedroht gefühlt. Was hatte er nur getan! Über Funk vernahm er Wolfgangs Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Er blickte auf die zitternde Person ihm gegenüber. In ihren Augen stand die reine Angst.
Wolfgang stürzte in den Schuppen und beugte sich über die vermummte Person, auf die Ulli geschossen hatte. Er nahm deren Sturmhaube ab und das Gesicht eines Teenagers kam zum Vorschein. Leblos starrende Augen. Wolfgang schaute fassungslos zu Ulli hinüber.
Plötzlich wurde es laut. Mehrere Leute betraten den Raum. Alle redeten durcheinander. Da war ein Feuerwehrmann, eine Krankenschwester, ein Arzt, ein Clown, ein Cowboy, ein Soldat. Ihre Stimmen verschmolzen zu einem unerträglichen Fiepen. Alles verschwamm vor Ullis Augen.
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Usama erzählte Rahman alles, was er im letzten Jahr erlebt hatte. Den ganzen Nachmittag über feierten die beiden ihr Wiedersehen, rauchten Wasserpfeife und diskutierten über ihre Religion. Um den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten zu beweisen, zeigte Usama Rahman ein Fotoalbum auf seinem iPad.
Fasziniert blickte Rahman auf den Bildschirm. Er sah Szenen, in denen Hände abgehackt und Menschen ausgepeitscht wurden. Andere wurden mit Schneidbrennern und Handbohrmaschinen „verhört” und wieder andere hingerichtet: erschossen, enthauptet oder lebendig verbrannt. Es waren Videos, die Usama mit seinem Handy aufgenommen hatte; Fotos und bewegte Bilder, die die Angst in den Augen von Verrätern und Feinden des Islam zeigten, einzigartiges Material. Clips, die nicht auf YouTube zu finden waren, nicht einmal auf unzensierten Plattformen. Grausige Zeugnisse davon, was Menschen zu erwarten haben, die sich nicht an die Scharia halten.
Rahman hatte sehnsüchtig auf die Rückkehr seines Freundes gewartet, um von ihm in den Kampf gegen die Ungläubigen geführt zu werden. Er war mehr als bereit dafür.
Später, als es anfing, dunkel zu werden, verließ Usama das Zimmer. Vom Balkon aus sah Rahman ihn zum Schuppen gehen. Für ein paar Minuten verschwand er darin, um dann mit einem Rucksack in der Hand zurückzukehren.
Beide fuhren über die nächtliche Autobahn. Usama holte alles aus dem BMW heraus. In einer langen Kurve musste er vom Gas gehen, um nicht hinausgetragen zu werden. „Dieses Gefühl habe ich vermisst”, sagte er euphorisch und trat erneut aufs Gas, als die Strecke wieder gerade war.
„Wohin genau fahren wir?”, fragte Rahman und blickte auf die Uhr im Armaturenbrett.
Usama zwinkerte ihm zu. „Überraschung.”
Rahman zwang sich ein Lächeln ab. „Alles ist gut, solange wir um halb sechs zurück sind. Ich muss nämlich den Kiosk aufmachen.”
„Mach dir keine Sorgen”, sagte Usama. „Die Sache wird nicht lange dauern. Du wirst noch genug Schlaf bekommen, bevor du zur Arbeit gehst.” Nach ein paar Minuten mit Höchstgeschwindigkeit wurde er langsamer und setzte den Blinker.
Rahman atmete erleichtert auf, als sie von der Autobahn abfuhren. „Geht’s zum Gewerbegebiet Nordost?”
Usama grinste verschmitzt.
Je weiter sie der Landstraße folgten, desto klarer wurde, dass Rahman mit seiner Annahme richtig lag. Genau wie Usama kannte er diese Gegend aus dem Effeff. Vor Jahren waren sie fast an jedem Wochenende hier gewesen, um ihre Fähigkeiten im Mountainbiking im hügeligen Gelände einer verlassenen Kiesgrube zu perfektionieren. Und genau dort schien es hinzugehen.
Usama fuhr zwischen zwei verfallenen Säulen hindurch, die einst der Eingang waren. Einige hundert Meter weiter hielt er.
Rahman sah ihn fragend an. „Was machen wir hier?”
„Geduld, Bruder. In ein paar Minuten wirst du es sehen.” Es machte Usama offensichtlich Spaß, seinen Freund auf die Folter zu spannen. Er stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Dann zeigte er auf das Handschuhfach. „Da ist eine Taschenlampe drin.”
Rahman öffnete das Handschuhfach, holte die Taschenlampe heraus und gab sie seinem Freund. Nachdem Usama sie getestet hatte, drehte er sich um und nahm den Rucksack vom Rücksitz.
„Was ist da drin?”
Usama ignorierte die Frage und stieß die Fahrertür auf. „Auf geht’s, Bruder.”
„Wohin denn?”
Usama verdrehte genervt die Augen. „Ich habe dir gesagt, du sollst ein bisschen Geduld haben.”
„Da draußen ist es arschkalt, Bruder”, sagte Rahman. Er zögerte einen Moment, stieg dann aber ebenfalls aus. Als er neben dem Wagen stand, ließ er seinen Blick schweifen. Obwohl es Nacht war, konnte er die Umgebung gut erkennen, denn der Mond schien hell. Hier hatte sich nichts verändert. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hatte. In der Ferne sah er die Scheinwerfer von den Fahrzeugen auf der Autobahn. Dahinter die Chemiefabrik. Die vielen Lichter ließen die riesige Industrieanlage aussehen wie eine Stadt.
Rahman schlug den Kragen seiner Winterjacke hoch, steckte die Hände in die Taschen und stapfte mit eingezogenem Hals hinter Usama her. Der gefrorene Boden knirschte unter ihren Schuhen, und das Mondlicht warf lange Schatten. Rahmans war fast doppelt so groß wie der von Usama.
„Hat dein Onkel was gegen mich?”
„Wie kommst du auf die Idee?”, fragte Usama, ohne sich umzudrehen.
Rahman zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Der hat mich so komisch angeguckt, als ich gekommen bin.”
Usama blieb stehen und drehte sich um. „Und wenn es so wäre? Wen interessiert's?”
Rahman dachte kurz nach und nickte. „Schätze, du hast recht. — Müssen wir noch weit gehen?”
„Hör endlich auf mit dem Gejammer, Bruder” Usama stieß seinem Freund neckisch den Ellbogen in die Rippen. „Wir sind gleich da.”
Sie gingen auf etwas zu, das im Dunkeln wie ein lauerndes Monster aussah. Als sie näher traten, entpuppte sich die formlose Masse als Wohncontainer. Usama bat Rahman, dort zu warten, während er selbst weiterging.
Rahman schaute seinem Freund hinterher. Der blieb nach etwa 20 Metern stehen. Wenige Minuten später fing etwas an zu brennen. Es sah aus wie eine Wunderkerze. Usama kam ohne den Rucksack zurückgeeilt. Er zog Rahman hinter den Container. Sekunden später war ein lauter Knall zu hören. Steine und Erdreich fielen auf das Containerdach. Als der Schauer vorüber war, führte Usama Rahman zu der Stelle, an der die Explosion stattgefunden hatte. Eine Wolke aus Rauch und Staub schwebte darüber. Der Geruch von Sprengstoff lag in der Luft. Als Usama die Taschenlampe auf den Boden richtete, sah Rahman den Krater, den die Explosion in den Boden gerissen hatte. „Wow!” Sein Gesichtsausdruck war identisch mit dem, den er gehabt hatte, als er sich die Videos auf dem iPad anschaute.
„Ich habe nur eine kleine Menge Sprengstoff benutzt”, sagte Usama. „Kannst du dir vorstellen, wie viel Schaden ein Kofferraum voll von diesem Zeug anrichtet?”
Als Ulli die winkende Hand sah, trat er instinktiv auf die Bremse. Am Straßenrand stand eine Gruppe von Männern. Alle hatten Bierflaschen in der Hand. Ein Mann, der herausragte, weil er aussah, wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Tagen, trat an das Taxi heran und klopfte an die Scheibe der Beifahrertür.
Ulli ließ das Fenster herunter.
„Arnie” bückte sich, um den Fahrer sehen zu können und sprach ihn mit einem starken bayerischen Akzent an: „Kennst du dich hier aus?”
„Als Taxifahrer sollte ich das”, sagte Ulli.
„Ich will wissen, wo die Bräute sind”, schrie jemand aus der Gruppe heraus, während Arnie Ulli in ein Gespräch verwickelte. „Wir sind aus Augsburg. Sind extra hierhergekommen, weil Köln angeblich so lebendig ist. Hier ist aber überhaupt nichts los. Das ist 'ne tote Stadt. Alle Läden sind nur halb voll.”
„Ich will wissen, wo die Bräute sind”, ertönte die gleiche Stimme aus der Gruppe heraus.
Diesmal machte Ulli den Schreihals aus: Es war ein kleiner Mann mit extrem langen, verwuschelten Augenbrauen.
Arnie blickte über seine Schulter. „Halt’s Maul, Sepp. Ich versuche hier ein Gespräch zu führen”, sagte er. Dann wandte er sich wieder an Ulli.
„Was erwartest du?”, sagte der und zeigte auf die Uhr im Armaturenbrett. „Ihr seid zu früh. Richtig lebendig wird es erst nach zehn.”
„Wir wollen aber jetzt schon was erleben”, sagte Arnie. „Hier muss es doch irgendeinen Laden geben, der rund um die Uhr geöffnet hat. Köln ist eine Millionenstadt, oder nicht? Gib mir mal einen Tipp. Wo können wir hier ein paar vernünftige Bräute finden? Ich meine keinen billigen Laden wie den Pascha.” Er zwinkerte. „Du weißt schon, was ich meine.”
„Ja”, kam erneut lautstarke Unterstützung von Sepp. „Sag uns, wo die sind.”
Arnies letzter Satz hatte Ullis Puls in die Höhe schnellen lassen. Sollte er diese Jungs zu einem der Saunaclubs bringen können, wäre die Schicht für ihn gelaufen. Aber so schnell wie er hochgegangen war, kam sein Puls auch wieder herunter, war Ulli sich doch sicher, dass die Bayern kein Interesse mehr hätten, sobald er ihnen die Preise verkünden würde. Er versuchte sein Glück dennoch. „Ich kenne da einen Laden. Der ist aber nicht billig.”
Arnie sah ihn stirnrunzelnd an. „Definiere, nicht billig.”
„75 um reinzukommen und hundertfünfzig für eine Massage oder eine halbe Stunde mit einem Mädchen”, sagte Ulli, überzeugt davon, gleich ein „Nein-Danke“ zu hören.
Doch Arnie belehrte ihn eines Besseren. „Klingt nicht schlecht”, sagte der Riese. „Unsere Vereinskasse ist bis obenhin gefüllt und schließlich sind wir ja hierhergekommen, um es mal richtig krachen zu lassen.”
Ulli machte die Beckerfaust. Er konnte sein Glück kaum fassen. Da war nur eine Sache, die er bedauerte, und zwar die, dass er nur vier Leute mitnehmen konnte.
Ein anderes Taxi kam die Straße heruntergefahren und wurde von jemandem aus der Gruppe angehalten. „Vier hier rein und vier in das andere Taxi”, dirigierte Arnie seine Leute.
Ullis Fahrgäste furzten, rülpsten und redeten obszön während der kurzen Fahrt. Doch die Freude über diesen Glücksfall ließ ihn ihr schlechtes Verhalten tolerieren.
Als sie am Saunaclub angekommen waren, kassierte er ab und stieg zusammen mit den Männern aus. Er war überrascht zu sehen, dass das andere Taxi wegfuhr, nachdem es die Fahrgäste abgesetzt hatte. Das war seltsam. „Hat euer Fahrer irgendwas gesagt?”, fragte er Sepp, der in dem anderen Wagen gesessen hatte.
Der kleine Mann verzog grinsend das Gesicht. „Nein. Aber die sah gar nicht schlecht aus. Ich hätte mich mit ihr zufriedengegeben.” Er zuckte mit den Schultern. „Aber sie war nicht interessiert.”
Jetzt kapierte Ulli und konnte nachvollziehen, was passiert war: Sie hatte sich als Frau nicht in den Saunaclub gewagt, was verständlich war. Was aber auch bedeutete, dass ihr Anteil nun zu haben war. Ulli sah nichts Verwerfliches daran, ihn für sich zu reklamieren. Die Leute im Saunaclub wussten nicht, ob er einen Großraum oder eine Limousine fuhr. Er jauchzte innerlich, denn der Deal zwischen den Saunaclubs und den Taxifahrern legte fest, dass die Fahrer 100 Euro für jeden Kunden und eine Tafel Schokolade für jede Fuhre bekamen. In seinem Fall waren das 800 Euro.
Ulli erzählte Arnie, dass er mit ihnen in den Saunaclub gehen würde, um sich seine Tafel Schokolade abzuholen. Es war die Geschichte, die jeder Taxifahrer seinen Fahrgästen erzählte. Denn wenn es die Runde machte, wie viel ein Fahrer an solch einer Fahrt verdient, hätte manch einer darauf bestanden, umsonst dorthin kutschiert zu werden.
Nachdem Ulli geklingelt hatte, erschien ein Auge hinter dem Guckloch. Dann wurde die Tür geöffnet. Der Einlasser war muskulös, allerdings nicht sehr groß. Er zwinkerte Ulli zu, warf Arnie aus Bayern einen neidischen Blick zu und ließ die Gruppe eintreten.
„Boa. Guck dir mal ihre Titten an”, hörte Ulli Sepps aufgeregte Stimme, als sie auf die reife Empfangsdame zugingen. Diese wandte sich den Neuankömmlingen zu, während im Hintergrund nackte Mädchen warteten.
Ulli meldete sich an: „Ein Taxifahrer und acht Gäste.”
„Guten Tag, meine Herren”, sagte die Empfangsdame. „Ist das ihr erster Besuch bei uns?”
„Das ist unser erster Besuch in Köln”, sagte Arnie.
„Dann hoffe ich, dass Sie bisher einen schönen Aufenthalt hatten.” Die Frau lächelte für ein paar Sekunden, bevor sie wieder ihre Geschäftsmiene aufsetzte und ihren Text herunterspulte. „Der Eintrittspreis von 100 Euro beinhaltet die Benutzung unserer Einrichtungen wie Swimmingpool, Sauna und Solarium. Eine halbe Stunde mit einem Mädchen kostet 150 Euro. Eventuelle Extras müssen Sie mit den Mädchen selbst aushandeln. Getränke werden gesondert abgerechnet.”
Arnie nickte.
Die Empfangsdame lächelte. „Dann bekomme ich 800 Euro von ihnen.”
Arnie holte die Scheine aus der Tasche und bezahlte mit trockener Miene. Sekunden später steuerten acht blutjunge, nackte Mädchen auf die faszinierten Bayern zu und führten sie in den hinteren Teil. „Diese Nacht wirst du nie vergessen”, hörte Ulli eines der Mädchen sagen, als sie mit ihrem Kunden hinter der Ecke verschwand. Ihr slawischer Akzent war unüberhörbar.
Der Mann gab ihr einen Klaps auf den Po. „Das will ich doch hoffen.”
Sie kicherte.
Ulli musste auf sein Geld warten, bis die Bayern ihre Kleidung abgelegt hatten. Schließlich gab ihm die Empfangsdame seine Tafel Schokolade und steckte ihm die acht Hunderter, die sie gerade von Arnie erhalten hatte, zu. „Da ist aber einer ein Glückspilz”, flüsterte sie.
„So was nenne ich einen perfekten Schichtbeginn”, sagte Ulli und steckte 20 Euro in das Sparschwein auf der Theke.
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Rahman zögerte, als er die Nummer auf dem Display sah, nahm den Anruf dann aber entgegen. „Was gibt’s, Papa?”
„Ich brauche dich heute hier”, sagte sein Vater. „Nach dem Fußballspiel müssen beide Kassen besetzt sein.”
Rahman klickte verärgert mit der Zunge. Seine Miene verfinsterte sich und seine großen Hände verkrampften sich um das Lenkrad. „Du weißt, dass das heute mein freier Tag ist?” Während er sprach, versuchte er, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Der Wagen, den er verfolgte, wechselte die Spur. Rahman beschleunigte und wechselte ebenfalls. „Was ist mit Mehmed? Der ist doch heute dran.”
„Dein Cousin hat mich wieder mal im Stich gelassen”, sagte der Vater. „Sonst würde ich dich nicht anrufen.”
„Dieses unzuverlässige Stück –” Rahman hörte mitten im Satz auf zu sprechen. Zu spät dachte er an die Kamera am Ende der Severinsbrücke. In dem Moment, als er auf die Bremse trat, wurde er von einem roten Blitz geblendet. Das nachfolgende Fahrzeug fuhr fast auf ihn auf. Sekunden später zog der Wagen in der Nebenspur gleichauf. Der Fahrer hupte und grinste schadenfroh.
„Scheiß Kartoffelfresser”, brabbelte Rahman seine Standardbeleidigung für Deutsche vor sich hin.
„Was?”, sagte sein Vater.
Rahman atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich habe nicht mit dir gesprochen, Papa. Ich komme nachher vorbei. Ich kann aber nur bis sieben bleiben, weil ich für heute Abend schon was geplant hatte.”
„Danke, mein Sohn”, sagte der Vater und legte auf.
Rahman erinnerte sich, dass das Bußgeld für das Hantieren mit dem Handy während der Fahrt gerade erst angehoben worden war. Dies und das Knöllchen für das Rasen machten diese Fahrt ziemlich teuer. Im Moment hatte er allerdings andere Sorgen. Er konzentrierte sich wieder auf das Fahrzeug, das er beschattete. Er sah dessen Rücklichter durch die Gischt, die von den vorausfahrenden Fahrzeugen aufgewirbelt wurde. Der Abstand zwischen ihnen war ziemlich groß. Er beschleunigte, um die Lücke zu schließen. Nach einem weiteren Kilometer fuhr der Wagen in das Parkhaus eines Einkaufszentrums. Rahman blieb ihm auf den Fersen.
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Ulli fragte auf seinem Taxidisplay die anderen Halteplätze ab und sah, dass die durchschnittliche Wartezeit 30 Minuten betrug. Richtig losgehen würde es erst nach Ende des Fußballspiels. Er machte ein unzufriedenes Gesicht, als er auf die Uhr schaute: Es war noch viel zu früh, um zum Stadion zu fahren. Da er keine Lust hatte, sich auf einem Taxihalteplatz die Beine in den Bauch zu stehen, entschloss er sich, herumzufahren, in der Hoffnung, dass jemand am Straßenrand steht und winkt.
Vor einer Spielhalle sah Ulli eine winkende Hand. Nachdem der Mann ihm das Fahrziel genannt hatte, welches Chorweiler war, wurde Ulli misstrauisch, denn er hatte ein Déjà-vu. Vor ein paar Wochen hatte er genau vor dieser Spielhalle zwei Männer aufgenommen, die ebenfalls nach Chorweiler wollten. Sie dirigierten ihn zu einem der vielen Hochhäuser dort und baten ihn dann, ein paar Minuten auf sie zu warten. Sie sagten, sie wollten nur etwas abholen und würden mit ihm wieder zurück in die Stadt fahren. Da er den Ruf der Gegend kannte, wollte er Einwand erheben, doch die beiden waren bereits ausgestiegen und steuerten schnellen Schrittes auf die Haustür zu. Obwohl er ein schlechtes Gefühl hatte, reagierte er nicht und blieb im Auto sitzen. Alles, was er tun konnte, war hoffen, dass die beiden ihm die Wahrheit gesagt hatten. Nach 15 Minuten wurde ihm klar, dass dies nicht der Fall gewesen war. Frustriert fuhr er weg. Dreißig Euro den Ausguss hinuntergespült. Er hätte sich in den Hintern beißen können und nahm sich vor, beim nächsten Mal schneller zu reagieren.
Er betrachtete seinen Fahrgast unauffällig im Innenspiegel. Der konnte einer von den beiden sein. Ulli war sich aber nicht sicher. Seine Zweifel verschwanden, als der Mann ihn zum gleichen Hochhaus lotste, an dem er vor ein paar Wochen abgezogen worden war.
„Kannst du hier warten? Ich will nur eben was abholen. Dann fahre ich mit dir zurück in die Stadt.”
Ulli konnte es kaum glauben: sogar exakt die gleichen Worte.
Während der Mann sprach, stieg er schon aus. Doch diesmal war Ulli vorbereitet. Er schnallte sich ab, schnappte sein Handy und stieg ebenfalls aus. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die Haustür, bevor sie ins Schloss fiel.
Der Mann drehte sich überrascht um. „Was machst du denn hier?”
„Ich komme mit dir mit”, sagte Ulli. „Versteh‘ mich nicht falsch, aber ich kenne dich nicht. Du kannst mir ja sonst was erzählen.”
„Äh”, stammelte der Mann und räusperte sich. „Warte bitte im Auto. Ich habe dir gesagt, dass ich zurückkomme. Ich brauche höchstens fünf Minuten.”
Ulli forderte ihn mit einer Geste auf, weiterzugehen. „Mach einfach, was du machen willst. Tu’ so, als ob ich nicht hier wäre.”
Der Mann schüttelte energisch den Kopf. „Das geht nicht. Mein Kumpel wartet oben. Ich kann niemanden mitbringen.”
„Entspann dich”, sagte Ulli. „Ich werde seine Wohnung nicht betreten. Und was ihr zu mauscheln habt, interessiert mich überhaupt nicht. Ich warte ganz diskret vor der Tür.”
„Das kann ich nicht machen”, sagte der Mann. „Ich bin gleich zurück, ehrlich.” Er faltete flehentlich die Hände vor der Brust. Als ihm klar wurde, dass Ulli sich nicht umstimmen ließ, im Gegenteil, sogar weit davon entfernt war, ihm seine Geschichte abzunehmen, unternahm er einen letzten verzweifelten Versuch. „Also gut. Wenn das so ist, kann ich dich nicht bezahlen. Mein Kumpel hat nämlich das Geld.”
Obwohl der Mann alles andere als kräftig gebaut war, achtete Ulli darauf, ihm nicht zu nahezukommen. Er wollte kein Risiko eingehen, denn schließlich gibt es Leute, die immer ein Messer in der Tasche haben. Dennoch machte er seinem Gegenüber klar, dass der keinen Idioten vor sich hatte. „Hör zu. Du hast da oben keinen Kumpel. — Woher ich das weiß? Vor ein paar Wochen hast du die gleiche Nummer abgezogen. Das Sprichwort scheint zu stimmen: Man trifft sich immer zweimal im Leben. Hier ein kostenloser Rat von mir: Präge dir in Zukunft die Gesichter von den Taxifahrern ein, die du betrügst.” Er holte sein Handy aus der Tasche. „Du schuldest mir 60 Euro für zwei Fahrten. Entweder du bezahlst jetzt oder ich rufe die Polizei.”
Auf dem Gesicht des Mannes machte sich Resignation breit. Ullis Drohung, die Polizei zu rufen, hatte offensichtlich einen Effekt. „Okay. Du hast gewonnen. Ich habe aber kein Geld dabei. Wir müssen am Kiosk vorbeigehen. Mein Cousin arbeitet da. Der gibt dir das Geld.”
Ulli war überzeugt davon, dass von diesem Mann keine wirkliche Gefahr ausging. Er war nur ein Kleinkrimineller, den an diesem Tag das Glück verlassen hatte. Er warnte ihn dennoch. „In Ordnung. Lass uns gehen. Aber keine Tricks.”
Als sie aus dem Hochhaus kamen, schaute Ulli sich skeptisch um. „Wo soll der Kiosk sein?”
„Gleich um die Ecke”, sagte der Mann und ging voran.
Wenig später verließ Ulli den Kiosk mit 60 Euro. Es war definitiv sein Glückstag.
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Die Vereinshymne des 1. FC Köln schallte aus dem Rheinenergiestadion. Die Massen strömten heraus und steuerten auf die Straßenbahnhaltestellen, Parkplätze und Kneipen in der Umgebung zu. Der Regen tat der Freude über den Sieg ihrer Mannschaft keinen Abbruch.
Usama stand am Eingang Nord. Er trug die Fankappe des FC verkehrt herum und hatte einen rot-weißen Schal um den Hals. Obwohl es so aussah, war er nicht im Stadion gewesen. Er tat so, als würde er auf jemanden warten, doch in Wirklichkeit beobachtete er die Abläufe. Als eine jubelnde Gruppe an ihm vorbeiging, machte er ein ernstes Gesicht und zeigte keinerlei Freude über den Sieg seiner Mannschaft.
Ein Mann trat an ihn heran. „Hey, Kumpel. Schau nicht so finster drein. Wir haben drei zu null gewonnen. Jetzt ist Party Time angesagt.” Er streckte seine Arme in die Höhe und führte einen Siegestanz aus.
Usama zwang sich ein Lächeln ab, doch seine Gesichtszüge verhärteten sich sofort wieder, als der Mann ihm den Rücken zukehrte und mit seinen Freunden weiterzog. Usama wusste nicht einmal, gegen wen „seine” Mannschaft gespielt hatte. Es kümmerte ihn auch nicht. Er wusste aber, gegen wen sie am kommenden Mittwoch spielen würde. Das war wichtig für ihn und der Grund, warum er sich auf dem Stadiongelände befand.
Schließlich ging er weiter. Dabei schaute er sich die Umgebung an und nahm alle wichtigen Informationen auf. Er war vor vielen Jahren schon einmal hier gewesen. Das war mit seiner Schulklasse zu einer Stadionbesichtigung. Irgendwelche Tiefgaragenausfahrten hatten ihn zu diesem Zeitpunkt freilich nicht interessiert, — damals, als er noch unwissend war. Aber es war ohnehin noch das alte Müngersdorfer Stadion gewesen.
Die große Wiese vor dem Stadion leerte sich schnell. Auf den Zufahrtswegen waren viele Taxis unterwegs. Die eindrucksvolle Präsenz der Polizei hatte kurz nach dem Schlusspfiff geendet. Die Beamten waren jetzt damit beschäftigt, die Fans der Gastmannschaft zum Hauptbahnhof zu eskortieren. Die Bier- und Würstchenbuden machten dicht und die Krankenwagen fuhren ebenfalls weg.
Als Usama einen Fußballfan fragte, wo die Mannschaftsbusse aus der Tiefgarage kämen, erhielt er als Antwort: „Aus dem Tiefgaragenzugang auf der Rückseite zwischen Eingang West und Eingang Ost.“
Er machte sich auf den Weg. Dabei ging er um das Stadion herum, vorbei am Zugang zum VIP-Bereich und dem Stellplatz der Übertragungswagen. Er machte sich viele Gedanken und spielte verschiedene Szenarien durch.
Auf der Rückseite angekommen, überquerte er die Straße und setzte sich auf das Begrenzungsgeländer der Jahnwiese, genau gegenüber von der Tiefgarageneinfahrt. Nun hieß es Warten.
Schließlich kam der Bus der Gastmannschaft aus der Tiefgarage. Usama schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es etwa eine Stunde nach Spielende war. Er holte sein iPhone aus der Tasche. Ein Warnton zeigte an, dass der Akku fast leer war. Die Batterie hat nur noch fünf Prozent. Er verzog verärgert das Gesicht. Der Bus bog links auf die Hauptstraße und fuhr Richtung Militärring davon. Usama filmte ihn, bis er hinter einer Kurve verschwand. Er war sehr zufrieden mit dem, was er herausgefunden hatte.
Er hatte das Handy gerade wieder weggesteckt, als er ein Vibrieren spürte. Er holte es wieder heraus. Auf dem Display stand „Rahman”. Er nahm den Anruf entgegen. „Mach es kurz, Bruder”, sagte er auf Arabisch. „Ich habe vergessen, meinen Akku zu laden. Der ist fast leer.”
„Ich habe gute Neuigkeiten”, sagte Rahman ebenfalls auf Arabisch. „Sie haben sich wieder getroffen und etwa eine halbe Stunde miteinander gesprochen. Diesmal konnte ich ihm folgen. Rate mal, wo er hingegangen ist? — Ins Polizeipräsidium.”
Usama grinste triumphierend. „Hab ich‘s doch gewusst ... Gute Arbeit, Bruder. Wir treffen uns an der Moschee. Dann besprechen wir das weitere Vorgehen.”
„In Ordnung”, sagte Rahman. „Ich schaffe es aber nicht vor halb acht. Ich muss meinem Vater im Kiosk helfen. Mein Cousin hat ihn wieder mal sitzen lassen.”
„Kein Problem. Lass dir Zeit.” Usama beendete den Anruf.
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Da auf dem Taxistand zu viele Fahrzeuge standen, entschloss sich Ulli, auf das Stadiongelände zu fahren, in der Hoffnung, dort bessere Chancen zu haben. Als er die vielen Taxis vor dem VIP-Bereich sah, änderte er die Richtung und fuhr weiter. Das Stadiongelände war inzwischen so gut wie leer, was jedoch nicht viel zu bedeuten hatte. In der Vergangenheit hatte er Fahrgäste an den entferntesten Ecken aufgenommen. Etwa hundert Meter weiter sah er einen Mann in einer blauen Regenjacke. Der konnte ein potenzieller Kunde sein. Der Mann winkte, als das Taxi näher kam. Ulli ballte triumphierend die Faust. Bingo! Er nickte, als der Mann Augenkontakt herstellte, um sich zu vergewissern, dass das Taxi frei war.
Ulli stoppte.
Der Mann ging um den Wagen herum und stieg ein. Der muffige Geruch von feuchter Kleidung breitete sich aus. „In die Innenstadt”, sagte der Fahrgast, ohne zu grüßen.
Wie üblich rechnete Ulli im Kopf durch: Bis zur Innenstadt waren es etwa zwanzig Euro. Damit konnte er leben. Als er den Mann im Innenspiegel musterte, fiel ihm etwas auf, das er zuvor nicht gesehen hatte: Die rechte Gesichtshälfte des Mannes war entstellt. — Da war eine rötliche Färbung, die sich bis zur Schläfe hochzog. Ulli bemerkte ebenfalls den seltsamen Blick des Mannes. Er schaute schnell weg, als er ihm begegnete. Später begann er ein Gespräch. „Wie war das Spiel?”
„Okay”, sagte der Mann emotionslos.
Diese Reaktion überraschte Ulli, denn die Fans, die er bisher gefahren hatte, waren begeistert vom Sieg ihrer Mannschaft und wollten nicht aufhören, über das Spiel zu reden. Aber dann zuckte er mit den Schultern: Die Tatsache, dass der Mann nicht vorn, sondern hinten eingestiegen war, suggerierte bereits, dass er keine Lust zum Reden hatte, was legitim war. Ulli hatte ihm ein Gesprächsangebot unterbreitet, um auf der sicheren Seite zu sein. Wenn der Fahrgast jedoch in Ruhe gelassen werden wollte, respektierte er das.
Als sie durch eine große Pfütze fuhren, ergoss sich ein Wasserschwall nach links und rechts. Ulli sah den gelben Anorak zu spät. Vorher hatte es so ausgesehen, als würde da nur ein Fahrrad gegen den Baum gelehnt stehen. Erst jetzt sah er den dazugehörigen Mann. „Verdammt.” Ulli biss sich auf die Lippen. Er stoppte, ließ die Scheibe der Beifahrertür herunter und rief eine Entschuldigung. Doch er erntete nur einen wütenden Blick des Mannes. „Der war hinter dem Baumstamm nicht zu sehen”, sagte er und versuchte im Spiegel Blickkontakt zu seinem Fahrgast herzustellen.
Der schaute weiter aus dem Fenster. „Kann passieren. Fahren Sie weiter”, sagte er lediglich.
Ulli runzelte die Stirn ob dieser unfreundlichen Ansage. Dann fuhr er weiter und beschleunigte, um die grüne Ampel noch zu schaffen. Die Fahrzeuge vor ihm kamen allerdings nur schleppend voran, wegen eines Staus auf der Aachener Straße. Kurz bevor er die Kreuzung erreichte, schaltete die Ampel auf Rot. Als sie wieder grün wurde und er anfahren wollte, klopfte jemand hart gegen das Beifahrerfenster. Ulli zuckte erschrocken zusammen. Als er den gelben Anorak sah, verdrehte er genervt die Augen.
„Du hast mich total vollgespritzt”, schrie der Mann im gelben Anorak außer Atem. Während seiner Hochgeschwindigkeitsverfolgung hatte ihm der Fahrtwind die Kapuze vom Kopf geweht. Seine Frisur — ein schmaler Kranz von langen, grau-blonden Haaren, angeklatscht, an einen eiförmigen, kahlen Schädel — ließ ihn grotesk aussehen. Er zeigte auf seine braune Cordhose. „Deinetwegen bin ich total durchgeweicht.”
Das Aussehen des Mannes, in Verbindung mit der hohen Stimme und einem Lispeln, war comedyreif.
Ulli versuchte, einen Lachanfall zu unterdrücken. Er ließ das Fenster herunter. „Ich habe Ihnen gesagt, dass es mir leidtut. Mehr als entschuldigen kann ich mich nicht.”
Der Mann, der bemerkte, dass Ulli ihn nicht ernst nahm, reagierte mit einer wütenden Geste. „Ihr seid alle gleich. Scheiß Taxifahrer.”
Jetzt ließ der Fahrgast ebenfalls sein Fenster herunter und mischte sich ein. „Der Mann hat sich entschuldigt. Also lassen Sie uns bitte weiterfahren. Der Taxameter läuft. Das ist mein Geld.”
„Habe ich mit dir gesprochen, Arschloch? – Ich glaube nicht. Also halt deine Fresse. Scheiß–” Die Schimpftirade des Mannes ging in einem Hupkonzert der nachfolgenden Fahrzeuge unter.
Ulli fuhr an. „Der Typ hat sie nicht alle”, sagte er, während der Fahrgast etwas in einer fremden Sprache vor sich hinmurmelte.
Der Mann im gelben Anorak wollte sich aber nicht so einfach abspeisen lassen und fuhr weiter meckernd beharrlich neben dem Taxi her. „Sechs-drei-drei. Ich habe deine Taxinummer. Verdammtes Schwein. Nächstes Mal kriege ich dich.”
Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich.
Als er ein langes Hupen hörte, schaute Ulli noch mal in den Rückspiegel und sah, wie sein Verfolger von einem anderen Taxi fast über den Haufen gefahren wurde. Der Mann schlenkerte und wackelte auf seinem Drahtesel, fing sich aber gerade noch so. Ulli war erleichtert, als die nächste Ampel auf Grün schaltete. „Was für ein Idiot”, sagte er und fing an zu lachen.
Auf halbem Weg in die Stadt kamen sie in einen Stau. An der Stelle war eine starke Polizeipräsenz. Mehrere Straßenbahnen standen hintereinander, alle mit beschlagenen Scheiben und vollgepackt mit Fußballfans.
„Was ist hier los?”, fragte der Fahrgast.
„Sieht so aus, als ob die Gästefans in der Bahn randaliert haben”, sagte Ulli.
„Aber warum fahren die Autos nicht weiter?”
Ulli zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, die Polizei will die Randalierer aus der Bahn holen und sie haben den Verkehr angehalten, damit die Leute die Straße überqueren können.”
Der Fahrgast stieß einen Seufzer aus. „Jetzt sitzen wir hier fest, bis die alle über die Straße gegangen sind? Ist das immer so, nach einem Spiel?”
Ulli nickte. „Oft. Es kommt aber auch darauf an, gegen wen der FC spielt. Wenn die Jungs gegen Schalke, Dortmund oder, wie heute, Frankfurt spielen, ist so was Normalität. Das sind sogenannte Risikospiele, weil diese Vereine eine Menge Hooligans haben. Da ist dann auch das entsprechende Polizeiaufgebot im Einsatz. Aber wenn der FC, sagen wir, gegen Freiburg oder Hoffenheim spielt, ist kaum Polizei da.”
Der Fahrgast nickte. „Verstehe. Und wie sieht‘s aus bei Freundschaftsspielen?”
„Kaum Polizei”, sagte Ulli. „Der Name sagt es ja: Es ist ein Freundschaftsspiel.”
Der Fahrgast nickte wieder. „Kommt der Mannschaftsbus der Gastmannschaft eigentlich immer aus derselben Tiefgaragenausfahrt?”
„Eigentlich schon”, sagte Ulli. „Ich weiß gar nicht, ob es noch eine andere gibt.” Er überlegte. „Doch ... es gibt wahrscheinlich noch eine andere. Ich erinnere mich, als der FC mal gegen Leipzig gespielt hat, haben die FC-Fans die Tiefgarageneinfahrt blockiert. Da musste der Gästebus zu einer anderen Einfahrt umgeleitet werden. – Warum fragen Sie?”
„Reines Interesse. Wenn Bayern oder Dortmund kommen, will ich mich mal an die Tiefgaragenausfahrt stellen, um die Stars aus nächster Nähe zu sehen.