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Hochbegabte können alles! Oder sind sie doch verrückte Genies? Solche Stereotype sind noch immer verbreitet und verhindern einen offenen Umgang mit dem Thema Hochbegabung sowie eine differenzierte Sicht auf weit überdurchschnittlich intelligente Menschen. Vielen fällt es daher auch im psychotherapeutischen Kontext schwer, ihre Hochbegabung zu offenbaren. Dabei bilden das hochbegabungsspezifische Erleben und Verhalten jedoch einen wesentlichen Teil ihres Selbstkonzepts und sind demnach eng mit der eigenen Lebensgeschichte verwoben. Das psychotherapeutische Fallverständnis kann folglich nur gelingen, wenn auch die begabungsbezogenen Zusammenhänge angemessen berücksichtigt werden. Zudem können Fehldiagnosen dadurch vermieden und ein tiefgreifendes Verständnis aufgebaut werden. Dieses Buch stellt erstmals einen wissenschaftlich fundierten, praktischen Leitfaden für die Integration der Hochbegabung in die therapeutische Fallkonzeption zur Verfügung und bietet eine methodenübergreifende und praxisorientierte Anleitung für die einzelnen Abschnitte des kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prozesses.
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Cover
01_Stark_Titelei
Geleitwort
Vorwort und Danksagung
Warum braucht es einen Fokus auf hochbegabte Erwachsene in der Psychotherapie?
Teil I Hochbegabung erkennen und verstehen
1 Hochbegabung – mehr als nur ein hoher IQ
1.1 Der Blick auf das Konstrukt Intelligenz
1.2 Verschiedene Konzepte von Hochbegabung
1.3 Identifizierung Hochbegabter: Von IQ-Tests und Checklisten
1.4 Neurokognitive Befunde zu Intelligenz und Hochbegabung
1.5 Wie sind Hochbegabte?
1.5.1 Laientheorien über Hochbegabte
1.5.2 Empirische Befunde über Hochbegabte
2 Hochbegabt ist nicht gleich hochbegabt
2.1 Hochsensible Hochbegabte
2.1.1 Overexcitability nach Dabrowski
2.1.2 Hochsensibilität nach Aron & Aron
2.2 Hochbegabte unterschiedlichen Geschlechts bzw. LGBTQ
2.2.1 Geschlechtsunterschiede bei Hochbegabten
2.2.2 Hochbegabt und LGBTQ
2.3 Hochbegabte Underachiever
2.4 Impostor-Selbstkonzept bei Hochbegabten
2.5 Früh versus spät erkannte Hochbegabte
2.6 »Twice exceptional« – zweifach außergewöhnlich
2.7 Höchstbegabte
Teil II Hochbegabungsspezifisches Erleben und Verhalten erkennen, verstehen und einordnen
3 Hochbegabungsbezogenes Erleben und Verhalten
3.1 Ressourcen
3.1.1 Komplexität
3.1.2 Intensität
3.1.3 Konnektivität
3.1.4 Kompetenz
3.1.5 Vielfältigkeit
3.2 Add-ons – aber nicht bei jedermann
3.3 Kehrseite der Medaille: Herausforderungen
3.4 Daraus resultierende Selbstwahrnehmung: Sich anders fühlen
3.5 Arbeitshypothese aus der Praxis: Motivprofil bei Hochbegabten
4 Biografische Lernerfahrungen von Hochbegabten und Auswirkungen auf das Selbstkonzept
4.1 Eine entwicklungspsychologische Perspektive übertragen auf Hochbegabte
4.2 Modifiziertes Modell der Doppelten Handlungsregulation übertragen auf Hochbegabte
4.2.1 Authentische Handlungsregulation
4.2.2 (Kompensatorische) Schemata
4.2.3 Bewältigungsstrategien (Coping)
4.2.4 Interaktionstests
4.3 Exkurs: »stigma of giftedness« und Auswirkung auf die Identitätsentwicklung
4.3.1 Minoritätenstress-Modell übertragen auf Hochbegabte
4.3.2 Cass-Identitätsentwicklungsmodell übertragen auf Hochbegabte
4.4 Zusammenfassende Schlussfolgerungen
5 Hilfestellungen für den klinisch-diagnostischen Prozess
5.1 Mögliche Fehlerquellen im klinisch-diagnostischen Prozess bei hochbegabten Patienten
5.2 Praktische Hinweise: Symptomatisch oder hochbegabungsspezifisch?
5.3 Exkurs: Diagnostische Abgrenzung bei Reizüberempfindlichkeit
Teil III Integration hochbegabungsbezogener Aspekte in die therapeutische Fallkonzeption
6 Allgemeine Rahmenbedingungen für die Therapie mit Hochbegabten
6.1 Wünsche hochbegabter Patienten an Psychotherapeuten
6.2 Häufige Themen Hochbegabter in der Psychotherapie
6.3 Praxistipp: Hilfreiche psychotherapeutische Grundhaltung
6.3.1 Komponenten der therapeutischen Haltung
6.3.2 Bezug zur psychotherapeutischen Arbeit mit hochbegabten Patienten
7 Spezifische Therapiekonzeption anhand des 7-Phasen-Modells des Selbstmanagement-Ansatzes
7.1 Phase 1: Schaffen günstiger Ausgangsbedingungen
7.1.1 Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung bei hochbegabten Patienten
7.1.2 Adaption der problembezogenen Informationssammlung
7.1.3 Klären der Rahmenbedingungen
7.2 Phase 2: Aufbau von Änderungsmotivation und vorläufige Auswahl von Änderungsbereichen
7.2.1 Motivationsklärung und -aufbau bei hochbegabten Patienten
7.2.2 Auswahl von Änderungsbereichen
7.3 Phase 3: Erarbeiten eines Hypothetischen Funktionalen Bedingungsmodells
7.3.1 Berücksichtigung der Hochbegabung im SORK-Modell
7.3.2 Hochbegabungsspezifische Anamneseerhebung
7.3.3 Berücksichtigung der hochbegabungsspezifischen Lernerfahrungen in der Makroanalyse
7.3.4 Exkurs: Plananalyse bei hochbegabten Patienten
7.4 Phase 4: Vereinbarung therapeutischer Ziele bei hochbegabten Patienten
7.5 Phase 5: Planung, Auswahl und Durchführung von Methoden und Techniken
7.5.1 Inhaltliche Erweiterung des störungsspezifischen Behandlungsplans
7.5.2 Adaption der Durchführung von Methoden und Techniken
7.6 Phase 6: Evaluation der Fortschritte und der Integration hochbegabungsspezifischer Aspekte
7.7 Phase 7: Abschluss der Therapie und Katamnese bei hochbegabten Patienten
7.8 Abweichung vom Idealfall: Nutzen des rekursiven Vorgehens
7.8.1 Patient offenbart sich mit der Hochbegabung erst im Therapieverlauf
7.8.2 Therapeut und/oder Patient vermuten im Therapieverlauf eine Hochbegabung
7.8.3 Twice Exceptionality wird erst im Therapieverlauf erkannt
8 Anlaufstellen und Vernetzungsmöglichkeiten
8.1 Hochbegabten-Vereine und Beratungsstellen
8.1.1 Vereine und Plattformen
8.1.2 Beratungsstellen
8.2 Berufliche Netzwerke sowie Ansprechpartner für Therapie, Beratung und Diagnostik
8.3 Bibliotherapie und Informationsmaterialien
Teil IV Ausblick
9 Der Blick in die Zukunft: Ein Paradigmenwechsel?
Teil V Verzeichnisse
Literatur
Stichwortverzeichnis
Kohlhammer
Die Autorin
Sabine Stark, Dipl.-Psych., ist als approbierte Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) in eigener Privatpraxis in München mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Hochbegabung im Erwachsenenalter niedergelassen. Zudem ist sie seit Jahren als Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin für mehrere psychotherapeutische und neuropsychologische Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitute tätig. Sie ist Teilnehmerin im ehrenamtlichen Netzwerk Münchner Zirkel Hochbegabung e. V. und Mitglied bei Mensa in Deutschland e. V.
Weitere Informationen unter: https://www.stark-psychotherapie.de
Meiner Familie
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-042341-1
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042342-8epub: ISBN 978-3-17-042343-5
Im Laufe vieler Jahre als Hochschullehrer sind mir viele interessierte und wissenshungrige junge Menschen begegnet, das macht auch die Faszination dieses Berufes aus. Sabine Stark gehört zu diesen jungen Kolleginnen, die sich im Verlauf von Studium und der Ausbildung in Psychotherapie für unterschiedliche Bereiche engagiert und sich dort fundiertes Wissen angeeignet hat. Dazu gehören u. a. der Bereich Diabetes und Depression, das weite Feld der Neuropsychologie und ein vertieftes Repertoire an psychotherapeutischen Kompetenzen.
Dieses Wissen und die einschlägigen Kompetenzen kommen Betroffenen in der Praxis der Psychotherapie ebenso zugute wie den vielen Studierenden, die die Chance haben, Frau Stark als Dozentin und Supervisorin an der Universität und in verschiedenen Ausbildungsgängen zur Psychotherapie zu erleben.
Die Autorin stellt selbst dar, wie sie auf das Thema der Hochbegabung durch ihre praktische Tätigkeit gestoßen ist – es ist vielleicht auch kein Zufall, dass gerade diese Personen zu Frau Stark in die Praxis gekommen sind. Hochbegabung bei Erwachsenen und gerade auch psychische Störungen bei diesen Personen sind offenbar ein Rätsel für die Person selbst, hinsichtlich Identität und entsprechender Reflexion. Natürlich ist dies ein Spezialthema, aber deshalb genauso wichtig. Frau Stark leistet einen wichtigen Beitrag, um das Thema Hochbegabung stärker in den Fokus zu stellen, für Betroffene, Therapeutinnen und Angehörige. Grundlage dafür bildet eine genaue Beschreibung im Sinne eines fundierten verhaltenstherapeutischen Verständnisses – mit dem Ziel, die Problematik auch besser zu verstehen.
Frau Stark greift in der Analyse auf einen Ansatz zurück, der mich ein wissenschaftliches Leben lang begleitet hat: Selbstmanagement mit dem Augenmerk auf ein Menschenbild, das Autonomie und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt. Damit sollte den Betroffenen auf Augenhöhe begegnet werden, im Sinne von Verstehen als emotionaler Fähigkeit, ein rätselhaftes Ereignis oder einen Prozess auch nachvollziehen zu können.
Ich wünsche dem Buch viele interessierte Leserinnen und Leser, die dann das Phänomen der Hochbegabung bei Erwachsenen und auch psychische Störungen besser verstehen können.
Hans Reinecker
Hochbegabte Patienten1 wünschen sich ein Gegenüber auf Augenhöhe. Das bedeutet nicht, dass nur ebenfalls hochbegabte Therapeuten dies bewerkstelligen können. Aus meiner Sicht ist vielmehr gemeint, einem ebenso interessierten Menschen gegenüberzusitzen, welcher bereit ist Aufwand auf sich zu nehmen, um Themen wirklich zu durchdringen – sich gemeinsam explorierend dem Verständnis der eigenen inneren Wahrnehmung zuzuwenden, um Lösungen zu generieren, welche die Weiterentwicklung ermöglichen.
Werner Heisenberg hat 1921 einmal zu Wolfgang Pauli – beides Ausnahmephysiker, welche die Quantenphysik am Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend mitentwickelt haben – bei einem gemeinsamen Ausflug in die bayerischen Berge während einer Diskussion über die Einstein'sche Relativitätstheorie gesagt, er habe die Theorie mit dem Kopf, jedoch noch nicht mit dem Herzen verstanden. »Die Fähigkeit zum Vorausberechnen wird oft eine Folge des Verstehens, des Besitzes der richtigen Begriffe sein, aber sie ist nicht einfach identisch mit dem Verstehen« (Heisenberg, 2017, S. 46). Um mich an diese Umschreibung von Verstehen anzulehnen, möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten, die Wahrnehmungswelt einer hochbegabten Person »mit dem Herzen« nachvollziehen zu können. Denn wahrscheinlich die meisten, wenn nicht alle Hochbegabten fühlen sich von anderen zuweilen nicht verstanden. Mir war es deshalb während des Entwicklungsprozesses des Buches wichtig, Ihnen als Leser sowohl die fachlichen Begriffe als auch einen fundierten Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen, um anschließend darauf aufbauend die Innensicht Hochbegabter zu beschreiben – das hochbegabte Gegenüber in der Therapie also auch mit dem Herzen verstehen zu können, zumindest so gut es eben geht. Betrachten Sie die dargestellten Inhalte bitte nicht als absolute Wahrheit, sondern nutzen Sie diese, um mit hoffentlich passendem Rüstzeug gemeinsam mit Ihren Patienten deren Erleben sichten und sortieren zu können. Es geht in der Therapie mit hochbegabten Patienten nicht nur darum, einen störungsbezogenen, sondern eben einen individuellen Weg bei der Bewältigung bestehender Probleme zu finden, welcher das hochbegabungsspezifische Erleben angemessen einbezieht.
Ich mute Ihnen als Leser deshalb eine nicht leicht zu erklimmende Hürde in den ersten Kapiteln zu. Sie werden keine plakative, sondern eine differenzierte, auf wissenschaftlichen Ergebnissen beruhende Darstellung über Hochbegabung und hochbegabte Personen finden, bevor dieses Wissen in den nachfolgenden Kapiteln in die praktische verhaltenstherapeutische Arbeit übersetzt wird. Ziel dieses Buches ist, Ihnen einen fundierten Leitfaden an die Hand zu geben, wie Sie die Hochbegabung und die damit verbundenen Erlebens- und Verhaltensweisen eines Patienten in der Therapie berücksichtigen können. Das Gerüst, an welchem ich insbesondere den praktischen Teil des Buches entlang ausrichte, bildet das 7-Phasen-Modell des Selbstmanagement-Ansatzes (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012), welches ich durch Herrn Prof. em. Dr. Hans Reinecker selbst während meines Studiums und meiner Psychotherapeutenausbildung kennenlernen durfte.
An dieser Stelle möchte ich mich deshalb bei Herrn Prof. em. Reinecker2 im besonderen Maß bedanken. Ich hatte das Glück, bei ihm in Bamberg zu studieren und die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin zu absolvieren. Er ist für mich nicht nur ein fachlicher Lehrer, sondern stellt auch in persönlicher Hinsicht einen Mentor dar. Er vermittelt und »lebt« den therapeutischen Selbstmanagement-Ansatz und tritt jedem Individuum offen, interessiert, fördernd und unterstützend entgegen – sowohl im universitären und curricularen Rahmen den Studenten und Kollegen als auch im therapeutischen Kontext den Patienten und Ratsuchenden. Er stellt sich als Modell zur Verfügung, das aufrichtig am persönlichen Wachstum des Gegenübers interessiert ist. Mein verhaltenstherapeutisches Grundverständnis fußt deshalb auf dem Selbstmanagement-Ansatz, um einem Patienten auf Augenhöhe, wertschätzend und autonomiefördernd zu begegnen. Gerade deshalb möchte ich das Rahmenmodell des Selbstmanagement-Ansatzes als Heuristik in diesem Buch verwenden. Aus diesen Gründen freut es mich besonders, dass sich Herr Prof. em. Reinecker bereit erklärt hat, mein Buch mit einem Geleitwort zu unterstützen.
Ebenso möchte ich meinen Patienten einen großen Dank aussprechen, welche sich mit ihrer Hochbegabung und ihrem individuellen Erleben und Verhalten offen, zugewandt und interessiert in den Therapie- oder Beratungssitzungen eingebracht haben. Im Laufe meiner therapeutischen Tätigkeit wurde mir dadurch die Möglichkeit gegeben, immer präziser die im Zusammenhang mit der Hochbegabung stehenden therapierelevanten Aspekte zu erfassen, zu verstehen und durch gemeinsame vertiefte Auseinandersetzung in Konzepte zu übersetzen. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Inhalte immer konkreter verdichtet, welche sich nun in diesem Buch wiederfinden, um Kollegen eine Orientierung anzubieten und die Therapie mit hochbegabten Patienten maßgeschneidert zu gestalten.
Für einen sehr unterstützenden Austausch möchte ich zudem herzlich Benjamin Hildebrandt danken.
Bedanken möchte ich mich auch beim Kohlhammer Verlag. Gerade der Austausch mit Frau Dr. Carmen Rommel am Beginn des Buchprojektes war sehr konstruktiv und bestärkend. Ebenso möchte ich Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und insbesondere Frau Anita Brutler für die umfassende Unterstützung danken. Die stets freundlich-interessierte, konstruktive und professionelle Zusammenarbeit mit Frau Brutler empfand ich über alle Phasen des Buchprojektes als gewinnbringend und bereichernd. Zudem möchte ich auch Herrn Julius Jansen für die äußerst differenzierte und hilfreiche Unterstützung zur Fertigstellung des Manuskriptes danken.
Und schließlich gilt mein besonderer Dank meinem Mann, der mich vor allem dazu ermutigt hat, dieses Projekt auf den Weg zu bringen.
München, im Frühjahr 2024Sabine Stark
1Um einen ungestörten Text- und Lesefluss zu gewährleisten, wird in diesem Buch durchgehend das generische Maskulinum verwendet, das selbstverständlich für sämtliche Geschlechter steht (männlich, weiblich, divers).
2https://www.uni-bamberg.de/klinpsych/team/prof-em-dr-hans-reinecker/
Das Konzept Intelligenz stößt als Forschungsfeld der Psychologie anhaltend auf großes Interesse und stellt einen »der wenigen ›Dauerbrenner‹ dieser Disziplin« dar (Schweizer, 2006a, S. 2). Auch das öffentliche und mediale Interesse an der weit überdurchschnittlich ausgeprägten Intelligenz, der Hochbegabung, stieg in den letzten Jahren stetig an. Dies geht auch mit einer Zunahme der Publikationen in der psychologischen Hochbegabungsforschung einher (Preckel & Krampen, 2016). Jedoch ist das Themenfeld leider noch nicht ausreichend in seiner Breite untersucht. Deutsch- und englischsprachige Publikationen zwischen 1980 und 2014 beziehen sich zu 80 % auf hochbegabte Schüler, während Studien zu Erwachsenen, je nach Datengrundlage, mit 9 % bzw. 23 % der Fachliteratur aus den deutschsprachigen Ländern stark unterrepräsentiert sind; hierbei herrscht leider ein besonders ausgeprägter Mangel für die Bereiche Beruf, Freizeit sowie soziale Beziehungen (Preckel & Krampen, 2016). Erwähnenswert ist weiter, dass sich wenige Studien zu psychischen Störungen bei Hochbegabten finden lassen (Dai et al., 2011). Dies überrascht, da dieses Thema doch kontrovers betrachtet wird und sich das Stereotyp des verrückten Genies weiterhin hartnäckig zu halten scheint. Frau Prof. T. G. Baudson diskutierte einst mit dem Plenum in einem Vortrag auf der Jahrestagung von MinD3, ob sich ein Hochbegabter – zumindest nach empirischer Datenlage – überlegen solle, wann er sich bei wem in welchem Kontext oute (persönliche Kommunikation, 28. 04. 2017). Sie machte hierbei unter anderem auch auf aktuelle Suchmaschinen-Vorschläge aufmerksam: Gibt man in Google »Hochbegabte sind ...« ein (Stand November 2023), wird eine Liste vieler Stereotype in der Suchleiste angeboten, wie »seltsam«, »verhaltensauffällig«, »gut in der Schule« und »Einzelgänger«. Sichtet man die populärwissenschaftlichen Ratgeber, finden sich Darstellungen mit einer großen inhaltlichen Variationsbreite und einem leider oft sehr defizitorientierten Blickwinkel: Sei man doch durch die Besonderheit Hochbegabung besonders belastet und leide deswegen an vielen zusätzlichen Problemen. Oftmals werden auch (Einzel-)Befunde für die gesamte Gruppe der Hochbegabten übernommen, ohne dies kritisch zu diskutieren, was zur Aufrechterhaltung von Vorurteilen verleiten kann (bspw. jeder Hochbegabte sei hochsensibel4). Auch bereits die bloße Reduktion des Konzepts Hochbegabung auf einen IQ ≥ 130 scheint vor dem Hintergrund heterogener Hochbegabungsmodelle oft zu kurz gegriffen. Somit lässt sich konstatieren, dass eine hochbegabte Person Gefahr läuft, in ihrem begabungsbezogenen Erleben und Verhalten nicht umfassend verstanden zu werden.
Es kann darüber hinaus auch nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Hochbegabte selbst über seinen weit überdurchschnittlich ausgeprägten IQ informiert ist. Denn erst mit dem Beginn der 1980er Jahre erhielt die schulische Hochbegabtenförderung in Deutschland einen Aufschwung, wobei die Identifizierung und Förderung hochbegabter Kinder selbst in den 1990er Jahren nicht flächendeckend erfolgte (Fels, 1999). Weinschenk (1979, zitiert nach Fels, 1999, S. 67) bezeichnete den Hochbegabten sogar als »bundesdeutsche Unperson«. Etliche heute Erwachsene wissen demnach nicht, dass sie hochbegabt sind, und haben die eigene Begabung und das damit verbundene Erleben oft noch nicht in ein stimmiges biografisches Narrativ im Identitätskonzept integriert.
Dies kann einen Anlass für das Aufsuchen einer Therapie darstellen. Denn ein weit überdurchschnittlicher IQ ist nach Brackmann (2012) für die Person mit »mehr von allem: mehr denken, mehr fühlen und mehr wahrnehmen« (S. 19) verbunden und stellt einen wesentlichen Aspekt des Selbstkonzeptes dar (Blut, 2020; Brackmann, 2020b). Bleibt dieser auch in der Therapie unberücksichtigt, können Hochbegabte selbst in diesem geschützten Setting, das vor allem korrigierende Erfahrungen im Vergleich zum Alltag ermöglichen soll, erneut ein Nicht-gesehen-Werden in einem wesentlichen Teil ihrer Identität erleben. Betrachtet der Therapeut die geschilderten Beschwerden nicht unter einem begabungs- und ressourcenorientierten Blickwinkel, kann es sogar zu Missverständnissen, Frustration oder schlimmstenfalls Therapieabbrüchen kommen. Werden Fehldiagnosen gestellt (vgl. Webb et al., 2020) oder wesentliche der Hochbegabung immanente Aspekte (bspw. kritisches Denken) fälschlich pathologisiert, läuft der Therapeut Gefahr, die oftmals gelernten Copingstrategien Hochbegabter (bspw. sich an andere anzupassen) dysfunktional zu verstärken, statt mit den Patienten nach individuellen Lösungen für das Authentischsein zu suchen.
Das Seltenheitsargument, nach dem per definitionem ca. 2 % der Bevölkerung hochbegabt sind und somit ein Therapeut statistisch selten mit hochbegabten Patienten in Berührung kommt, relativiert nicht die Notwendigkeit, entsprechende Expertise vorzuhalten. Gerade hochbegabte Erwachsene reflektieren sehr genau ihre Situation, möchten aufkommenden Herausforderungen problemlösend begegnen, die dahinterliegenden Beweggründe verstehen und suchen deshalb – nach langjähriger Erfahrung der Autorin – häufig eine Beratung oder Psychotherapie auf. Leider fallen jedoch im Psychologiestudium oder in der Psychotherapieausbildung die Berührungspunkte mit dem Thema eher spärlich aus und Fortbildungen hierzu für bereits approbierte Kollegen werden selten oder auf wenige Standorte in Deutschland begrenzt angeboten. Demnach sind Fachpersonen oft nicht über Anlaufstellen zu Testdiagnostik, Beratungs-, Vernetzungs- oder Fördermöglichkeiten informiert, um einem hochbegabten Patienten weiterhelfen zu können.
Insgesamt soll dieses Buch einen Beitrag leisten, um den hochbegabten Patienten in der Therapie in einem wesentlichen, im Alltag oft zurückgehaltenen Aspekt seines Selbst verstehen und diesem eine maßgeschneiderte Fallkonzeption anbieten zu können. Inhaltlich ist der erste Teil des Buches dem differenzierten Verständnis von Hochbegabung und Hochbegabten unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten gewidmet. Es werden Konzepte sowie für die Therapie relevant erscheinende Aspekte, wie bspw. Underachievement, Hochsensibilität oder Neurodiversität, vorgestellt. Im zweiten Teil wird der Fokus auf das Erkennen, Verstehen und Einordnen hochbegabungsspezifischen Erlebens und Verhaltens gelegt, sowohl auf die damit verbundenen Ressourcen als auch die Herausforderungen. Zudem werden biografische Lernerfahrungen Hochbegabter und deren Auswirkungen auf das Selbstkonzept systematisiert erarbeitet – als Grundlage für eine spezifische Anamneseerhebung in der Therapie. Ebenso erfolgen Hilfestellungen für den klinisch-diagnostischen Prozess, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Im dritten Teil des Buches werden die dargestellten Inhalte systematisch in die therapeutische Fallkonzeption übersetzt. Es werden relevante Rahmenbedingungen für die Therapie mit Hochbegabten vorgestellt, insbesondere, was sie sich von Psychotherapeuten wünschen und welche therapeutische Grundhaltung hilfreich erscheint. Im Herzstück des Buches wird schließlich mithilfe des in Theorie und Praxis etablierten rekursiven Strukturierungsmodells für den diagnostisch-therapeutischen Prozess in der Verhaltenstherapie – das 7-Phasen-Modell des Selbstmanagement-Ansatzes (Kanfer et al., 2012) – die Integration begabungsbezogener Aspekte in die therapeutische Fallkonzeption ermöglicht. Es dient dabei als Meta-Konzept für die Therapieplanung, ohne jedoch die Anwendung bestimmter Methoden oder Techniken für den Anwender vorzuschreiben. Ergänzend werden praktische Tipps für Anlaufstellen und Vernetzungsmöglichkeiten für Patienten, deren Angehörige sowie für Therapeuten genannt. Und schließlich soll im vierten Teil des Buches ein kurzer Ausblick auf einen Paradigmenwechsel gegeben werden, welcher eine alternative Sichtweise für das Erkennen, Offenbaren und Ausleben der Hochbegabung ermöglichen kann.
3Der Hochbegabtenverein Mensa in Deutschland e.V. (MinD) (▸ Kap. 8.1).
4Dabei scheint insbesondere das Attribut »hochsensibel« sowohl alltagssprachlich deskriptiv als auch im originären Sinne des Konzepts nach Aron und Aron (▸ Kap. 2.1.2) verwendet zu werden, was unreflektiert zur Folge haben kann, Hochbegabung und Hochsensibilität gleichzusetzen oder beide Konzepte als unweigerlich verbunden anzunehmen. Kurzum: Jeder Hochbegabte ist zwar auf eine gewisse Art und Weise hochsensibel, jedoch ist nicht jeder Hochbegabte hochsensibel nach der Konzeptualisierung von Aron und Aron.
Im Rahmen eines deduktiven Vorgehens soll zuvorderst ein allgemeines theoretisches Verständnis für Hochbegabung erarbeitet werden (▸ Kap. 1). Nachfolgend wird eine differenzierte Sichtweise auf hochbegabte Personen eingenommen, so dass von übergreifenden Annahmen über alle Hochbegabten im Mittel hinweg der Blick auf verschiedene Merkmalsgruppen geleitet wird (▸ Kap. 2). Es wurden insbesondere diese ausgewählt, welche für den therapeutischen Kontext relevant erscheinen. Für das Verständnis eines hochbegabten Patienten braucht es nicht nur die übergeordnete, sondern auch die differenzielle Perspektive – um schließlich im weiteren Verlauf des Buches zu einer individuellen therapeutischen Fallkonzeption zu gelangen und den Hochbegabten vor dem Hintergrund seines persönlichen Lebenskontextes verstehen (▸ Teil II) und ihm passgenau helfen zu können (▸ Teil III).
Die Hochbegabungsforschung hat seit der Antike eine lange Geschichte aufzuweisen, so dass vielfältiges Wissen zum Aufbau eines Verständnisses für Hochbegabung zur Verfügung steht (Preckel & Baudson, 2013). Dieses interdisziplinäre Forschungsfeld zeichnet sich jedoch durch diverse Interessensgruppen und Fragestellungen aus und lässt sich (noch) nicht zu einem einheitlichen Gebiet bündeln (Dai, 2009). Das Konzept selbst ist zudem immer unter einem größeren Kontext – dem sog. Zeitgeist – zu verstehen (Robinson & Clinkenbeard, 2008) und hat sich im Laufe der Geschichte konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert (Dai, 2009).
Intelligenz spielt in den meisten Hochbegabungsmodellen eine zentrale Rolle und somit erscheint deren Verständnis notwendig, möchte man sich mit der Bedeutung von Hochbegabung auseinandersetzen. Zu betonen ist, dass es sich bei Intelligenz um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt, welches nicht als phänotypische Ausgestaltung direkt beobachtet werden kann, sondern indirekt untersucht und unterschiedlich definiert wird (Preckel & Vock, 2021). Dies bedeutet nicht, dass Psychologen »sich sowieso nicht auf eine einheitliche Definition einigen« (Stern & Neubauer, 2016, S. 3), sondern dass die Bestimmung des Begriffs vor dem Hintergrund der jeweiligen Intelligenzmodelle und Fragestellungen der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen betrachtet werden muss. Als Arbeitsdefinition zum damaligen Stand der Forschung wurde angenommen, dass Intelligenz »involves the ability to reason, plan, solve problems, think abstractly, comprehend complex ideas, learn quickly and learn from experience« (Nisbett et al., 2012, S. 2). Je nach Forschungsansatz werden unterschiedliche Facetten des Konstrukts fokussiert: Während die Kognitive Psychologie und Neuropsychologie den Zusammenhang mit Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis oder funktionellen und strukturellen Merkmalen des Gehirns untersuchen, beschäftigt sich die Differenzielle Psychologie mit der Struktur der Intelligenz und deren Teilfaktoren (Preckel & Vock, 2021). Zentrale Fragestellung ist hierbei, inwieweit Intelligenz homogen ist oder sich Teilfacetten unterscheiden lassen (▸ Tab. 1.1).
Tab. 1.1:Beispiele für Intelligenzstrukturmodelle (Preckel & Vock, 2021; Schweizer, 2006a)
Art
Modell
Nicht-hierarchische Modelle
Zwei-Faktoren-Theorie (g- und s-Faktoren) nach Spearman (1904)
Primärfaktorenmodell nach Thurstone (1938)
Structure-of-Intellect (SI) Model nach Guilford (1966)
HierarchischeModelle
Modell der kristallinen und fluiden Intelligenz nach Cattell (1963)
Berliner Intelligenz-Strukturmodell (BIS) nach Jäger (1982)
CHC-Modell (Cattell-Horn-Carroll-Modell) modifiziert nach Alfonso, Flanagan & Radwan (2005)
Neben diesen Intelligenzstrukturmodellen existieren noch weitere Konzepte zur Erweiterung von Intelligenz. Jedoch wird der Einbezug solcher »multiplen Intelligenzen« als Verwässerung des Intelligenz- und Begabungsbegriffes verstanden (Rost, 2008). Van Rooy und andere (2006) diskutierten das Multiplizieren von Intelligenzen, insb. der emotionalen, praktischen oder sozialen Intelligenz, als den Versuch, zwischen allgemeiner Intelligenz und ihren spezifischen Facetten hinsichtlich des prädiktiven Erfolgs zu unterscheiden. Die Attraktivität solcher Konstrukte erscheint nach Gottfredson (2003) als »tapping the popular preference for an egalitarian plurality of intelligences (everyone can be smart in some way) and a distaste for being assessed, labeled, and sorted by inscrutable mental tests« (S. 329). Heute hat sich jedoch der gemeinsame Faktor – die allgemeine Intelligenz nach Spearman (1904) – als sog. g-Faktor etabliert und vielfach als bester Prädiktor für die Bewältigung des Alltags, den Schul- und Berufserfolg gezeigt (Gottfredson, 1997; Kuncel et al., 2004). Auch die Messbarkeit der Intelligenz kann heute auf eine lange Geschichte zurückblicken: Von Binet und Simon über William Stern hin zu Wechsler, welcher das Maß für den IQ als Abweichungs-Intelligenzquotienten festgelegt und somit in Bezug auf die zugrundeliegende Population einer bestimmten Altersgruppe normiert hat (Schweizer, 2006b). Die Formel ist bis heute gültig und wird auch modernen IQ-Tests zugrunde gelegt (▸ Kap. 1.3).
Ebenso wie das Konstrukt Intelligenz wird Hochbegabung je nach wissenschaftlichem Kontext uneinheitlich verwendet. Einigkeit besteht darin, dass eine weit überdurchschnittliche Intelligenz als zentraler Faktor in vielen Hochbegabungsmodellen angenommen wird (Preckel & Vock, 2021). Wie bei jeder psychologischen Variablen braucht es jedoch Operationalisierungen, um das Konstrukt messbar zu machen, wofür vor allem Leistungssituationen herangezogen werden (Rost et al., 2006).
»Intellektuelle Hochbegabung kennzeichnet ein extrem hoch ausgeprägtes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial für Leistungsbereiche, in denen Informationsverarbeitung, Lernen, Wissensaneignung, abstraktes Denken sowie Problemlösen und die Entwicklung neuer Ideen relevant sind. Damit ist intellektuelle Hochbegabung ein sehr breites Konstrukt, denn es gibt kaum einen Bereich, in dem Lernen, abstraktes Denken oder Problemlösen keine Rolle spielen« (Preckel & Vock, 2021, S. 15).
Die intellektuelle Hochbegabung steht demzufolge nicht allein für sich, sondern wird in einen Bezug gesetzt respektive konzeptualisiert (▸ Abb. 1.1).
Abb. 1.1:Unterteilung von Hochbegabungsdefinitionen (angelehnt an Preckel & Vock, 2021)
In sog. Performanzdefinitionen findet sich dieser Bezug zu Leistungssituationen sehr deutlich, denn Hochbegabung wird ausschließlich nach der gezeigten außergewöhnlichen Leistung beurteilt (Preckel & Baudson, 2013). Sternberg und Zhang (1995) erweiterten diesen Blickwinkel noch um eine soziale Komponente. In ihrer Theorie formulierten sie fünf Kriterien zur Beurteilung von Hochbegabung (als außergewöhnliche Leistung) und führen neben »Exzellenz«, »Seltenheit«, »Produktivität« und »Beweisbarkeit« eben auch »Wert« an: »the person must show superior performance in a dimension that is valued for that person by his or her society« (S. 90). Dies lässt sich als Beispiel für sog. soziale Definitionen von Hochbegabung anführen. Auch Baudson (2017d) bezieht sich auf diese Art von Definition und zitiert in einem Onlinebeitrag William Stern, der Begabung nicht als Verdienst, sondern als Verpflichtung beschrieben haben soll, und regt zu einer spannenden Diskussion an.
Der Blickwinkel auf Highperformance wird bei sog. Kompetenzdefinitionen hingegen nicht eingenommen, nach denen Hochbegabung als hohes Entwicklungspotenzial verstanden und rein über Intelligenztests operationalisiert wird (Preckel & Vock, 2021).
Wird Hochbegabung in sog. eindimensionalen Definitionen jedoch nur auf den IQ reduziert, erscheint es gerade unter einem pädagogisch-psychologischen Blickwinkel zu kurz gegriffen. Es wird heute unumstritten angenommen, dass (nicht-)kognitive Aspekte (bspw. Motivation, Interesse) mit der Lernumwelt (bspw. Eltern, Lehrer, Peers) zusammenwirken, damit exzellente Leistungen entstehen können (Müller-Oppliger, 2021). Genau solche multifaktoriellen Bedingungen werden in sog. mehrdimensionalen Hochbegabungsmodellen abgebildet, welche sich seit dem Beginn des sog. Drei-Ringe-Modells von Renzulli stetig weiterentwickelt haben (▸ Abb. 1.2).
Abb. 1.2:Chronologische Beispiele für mehrdimensionale Hochbegabungsmodelle (Müller-Oppliger, 2021; Preckel & Vock, 2021)
Diese Hochbegabungsmodelle können darüber hinaus noch mit multidimensionalen systemtheoretischen Modellen ergänzt werden. Hierbei wird die Bedeutung der Handlungsmöglichkeiten der Person (statt der Intelligenz als basaler Grundausstattung) und ihre Wechselwirkungen mit soziokulturellen und gesellschaftlichen Faktoren bei der Ausbildung überdurchschnittlicher Leistungen betrachtet (Müller-Oppliger, 2021). Ebenso erweitern Annahmen aus der Expertiseforschung den Blick auf die Leistungsexzellenz im Zusammenspiel mit Begabungs- und Umweltfaktoren (Hambrick et al., 2018). Diese kann sich nur entwickeln, wenn zielgeleitete langjährige Übung als hoch organisierte Lernaktivität, die sog. deliberate practice, stattfindet (Ericsson et al., 1993). In vielen multidimensionalen Modellen wird schließlich noch Kreativität als Variable aufgeführt, ohne bedauerlicherweise oftmals das Konstrukt selbst oder die Art des Zusammenhangs mit Intelligenz präzise zu definieren (Rost et al., 2006).
Preckel und Vock (2021) vermerken in Bezug auf die mannigfachen Hochbegabungsmodelle, dass diese aufgrund ihrer Komplexität, der vielfältigen Variablen und der nicht spezifizierten Zusammenhänge kaum mehr operationalisierbar oder überprüfbar seien. Es lässt sich sogar besonders drastisch ausdrücken: »Sie sind kaum mehr als umfangreiche und teilweise arbiträre Auflistungen pädagogisch-psychologischer Variablengruppen, grafisch in Kreise, Ellipsen, Dreiecke oder kleine Kästchen gesetzt, mehr oder weniger beliebig mit Strichen verbunden« (Rost et al., 2006, S. 195). Dennoch lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass diese – trotz ihrer Kritik – eine wichtige Rolle für die pädagogische Begabungsförderung, insb. im schulischen Kontext, spielen (Müller-Oppliger, 2021).
Im Vergleich dazu ist das aktuell publizierte TAD-Rahmenmodell (Talent Development in Achievement Domains) als gelungener Versuch anzusehen, die Komplexität der Variablen wieder zu reduzieren (Preckel et al., 2020). Aus psychologischer Sicht ist dies besonders interessant, da das Modell sich auf überprüfbare personenbezogene Merkmale fokussiert. Es lassen sich dadurch bei der individuellen Diagnostik und Einschätzung der Talententwicklung zielführende Fragen stellen, bspw.: »Wo liegen [...] die individuellen Stärken einer Person? Zeigen sich diese auch im Selbstbild eigener Fähigkeiten? Passen sie zu den Interessen und Werten einer Person?« (Preckel, 2021, S. 285). Auch Umwelteinflüsse werden aus der Sicht des Individuums einbezogen: »Welche Option sieht eine Person für sich in ihrem Alltag? Wer wird als besonders unterstützend wahrgenommen und warum?« (Preckel & Vock, 2021, S. 42).
Dieses integrative Modell scheint deshalb auch für den therapeutischen Kontext geeignet, um hochbegabte Erwachsene in Fragen der eigenen Begabungsentwicklung, Stärken, der aktuellen Person-Umwelt-Passung oder des eigenen Selbst- und Wertekonzepts zu beraten.
Um abschließend die Vielfalt an Modellen besser nachvollziehen zu können, kann es helfen, sich die dahinterliegenden Paradigmen der Begabungsförderung im Wandel der Zeit bewusst zu machen (Dai & Chen, 2013). Zu Beginn stand das »Paradigma des hochbegabten Kindes« mit der Annahme, dass Begabung eine allgemeine Fähigkeit ist, welche mit IQ-Tests messbar ist. Später erweiterte in den 1980/90er Jahren das »Paradigma der Talententwicklung« den Blick auf die individuelle Potenzialentwicklung in unterschiedlichen spezifischen Domänen. Die IQ-basierte Sichtweise reichte demnach nicht mehr aus, denn Begabungen sind vielfältig, bereichsspezifisch und veränderbar. Und schließlich liegt im aktuellen »Differenzierungs-Paradigma« der Fokus auf der Passung mit der Lernumwelt sowie der flexiblen Anpassung der Förderung. Der Blick verschiebt sich folglich von einer allgemeinen, statischen Ansicht hin zur Individualität und Kontextabhängigkeit (Dai & Chen, 2013; Lo & Porath, 2017).
Um Hochbegabte zu identifizieren und die Ergebnisse einer Testung sinnvoll interpretieren zu können, müssen zwei Fragen beantwortet werden (Preckel, 2010): Was genau wird gemessen und wozu wird getestet? Diagnostik steht nicht isoliert für sich, sondern ist mit einer spezifischen Fragestellung für das Individuum verbunden, bspw. statusorientiert, ob überhaupt eine Hochbegabung vorliegt, oder entwicklungsorientiert, welche Prognose für die weitere Leistungsentwicklung abgegeben werden kann (Ziegler, 2018). Aber selbst bei der Statusdiagnostik braucht es einen individuellen Auftrag, wozu getestet wird, denn die bloße Frage, ob hochbegabt oder ob nicht, reicht nicht aus (Preckel & Vock, 2021).
Zu Recht fragen manche Patienten, was ihnen ein Test und das Wissen um die Begabung überhaupt bringe. Solange sich hierauf keine stimmige Antwort vor dem Hintergrund des eigenen Lebenskontextes finden lässt, ist eine Messung als nicht zielführend anzusehen. Ein positives Testergebnis kann weitreichende persönliche Konsequenzen haben. Es stellt nicht in jedem Fall ein entlastendes Ereignis dar, sondern kann auch zu einer Destabilisierung bezüglich des eigenen Selbstkonzeptes führen und tiefgreifende Emotionen auslösen (bspw. Wut, Traurigkeit, Angst, Scham, Schuld, Stolz, Freude).
Für die Diagnostik wird meist die klare Konzeption der Hochbegabung als sehr hohe Ausprägung der allgemeinen Intelligenz zugrunde gelegt, so dass Intelligenzstrukturtests als Mittel der Wahl gelten, die ein breites Spektrum an kognitiven Teilfertigkeiten erfassen und damit ein individuelles Begabungsprofil ermöglichen (Preckel & Vock, 2021). Die Auswahl geeigneter Tests5 ist jedoch nicht nur von der jeweiligen Fragestellung abhängig, sondern unterliegt noch anderen Eingrenzungen:
Alter: IQ-Tests sollten erst ca. ab dem fünften Lebensjahr eingesetzt werden, da nach Studienlage beginnend ab dem Schulalter von einer ausreichenden sog. Strukturstabilität der Intelligenz, und damit der Hochbegabung, über mehrere Jahre hinweg ausgegangen werden kann (Rost, 2010; Tideman & Gustafsson, 2004).
Profil: Um unterschiedliche Begabungsschwerpunkte erfassen zu können, sollten mehrdimensionale Intelligenzstrukturtests eingesetzt werden (Preckel, 2010). Eindimensionale Tests, bspw. nonverbale Intelligenztests mit ausschließlich figuralem Material, erfassen lediglich ein sehr reduziertes Bild der kognitiven Fähigkeiten (Lohman, 2005).
Normierung: Um sog. Deckeneffekte zu vermeiden (d. h. durch den Mangel an genügend schwierigen Aufgaben wird eine ausreichende Differenzierung im oberen Begabungsbereich verhindert), sollten Tests eingesetzt werden, die auch an Hochbegabtenstichproben normiert wurden (Preckel, 2010). Die Normierung von Tests spielt zudem vor dem Hintergrund des sog. Flynn-Effekts eine weitere wichtige Rolle (Schweizer, 2006b). Testleistungen bleiben über längere Zeiträume nicht stabil, sondern es kommt zu einem Anstieg – ca. einen halben IQ-Punkt pro Jahr (Rost, 2010); würden dieselben Normen zugrunde gelegt, käme es folglich nach zehn Jahren zu einer deutlichen Überschätzung des Intelligenzwertes (Flynn, 1999).
Objektivität: Schließlich sollten nur solche Tests verwendet werden, für welche der Testleiter ausreichend ausgebildet ist, um die entsprechende Durchführungsobjektivität zu gewährleisten und ein valides Ergebnis zu erzielen (Lipsius et al., 2008).
Testtheoretischer Exkurs
Spearman wies 1904 die Existenz des g-Faktors durch die positiven Korrelationen zwischen Intelligenztests nach und stellte 1927 fest, dass die Interkorrelationen zwischen Tests bei höherem IQ immer kleiner werden. Er formulierte dies als Analogie zu einem Grundprinzip der Ökonomie mittels des »law of diminishing returns« (Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs)6, d. h., die g-Sättigung der einzelnen Fähigkeitstests nimmt mit zunehmender Intelligenz ab (Blum & Holling, 2017). Die Gesamtpunktzahlen im IQ-Test sind bei Hochbegabten erheblich weniger »g-belastet« und stärker durch Nicht-g-Faktoren beeinflusst als bei niedrigeren Punktwerten, welche durchschnittlich Begabte erreichen (Jensen, 2003). Folglich finden sich bei durchschnittlich Begabten, bei welchen die Subtests höher miteinander korrelieren und weniger von ausdifferenzierten Faktoren abhängig sind, häufiger flache, ausgeglichene Begabungsprofile (bezogen auf verbale, numerische oder figurale Inhalte) (Preckel & Vock, 2021). Auch wenn Hochbegabte im Durchschnitt in IQ-Tests einen höheren Test-Score erreichen als durchschnittlich Begabte, bedeutet dies jedoch nicht, dass Hochbegabte gleichermaßen gut in allen spezifischen Leistungsbereichen abschneiden (Lang et al., 2019). Tatsächlich finden sich lediglich bei 39.8 % der Hochbegabten (Lohman et al., 2008) bzw. 58 %, wenn die räumlichen Fähigkeiten für die Beurteilung nicht mit einbezogen werden, ausgeglichene Begabungsprofile als sog. Multipotenzialität (Achter et al., 1997). Begabungsschwerpunkte bilden sich bereits im Kindesalter heraus und sind relativ stabil (Lubinski, 2016), so dass durch die Begabungsmuster auch gute Prognosen für die berufliche Leistung erstellt werden können (Makel et al., 2016).
Liegt bei einem hochbegabten Patienten bereits ein IQ-Befund vor, sollte dieser vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Fragestellung, der Art und der Aktualität des eingesetzten Verfahrens sowie der fachgerechten Durchführung betrachtet werden. Das individuelle Begabungsprofil kann für eine persönliche Stärkenanalyse genutzt werden.
Für die Auswertung der Testergebnisse werden schließlich Cut-off-Werte festgesetzt. Zugrunde gelegt wird die sog. Standardnormalverteilung der Intelligenz (▸ Abb. 1.3).
Abb. 1.3:Standardnormalverteilung der Intelligenz
Der Intelligenzwert wird als sog. Abweichungs-Intelligenzquotient angegeben, d. h. relativ zur Intelligenz anderer Personen derselben Altersklasse, mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15. Die gängige Konvention ist, dass Hochbegabung ab einem IQ-Wert von ≥ 130 beginnt, d. h., ca. 2 % der Bevölkerung sind hochbegabt oder mittels des Prozentrangs ausgedrückt, ein Hochbegabter ist intelligenter als ca. 98 % der Bevölkerung. Zu bedenken ist jedoch, dass jede Testung auch von einer gewissen Messungenauigkeit betroffen ist und daher die reine Cut-off-Setzung beim Einzelfall problematisch sein kann. Demnach sollte gerade bei der individuellen Testung das sog. Vertrauensintervall angegeben werden, in dem je nach gewählter Sicherheit 95 bzw. 99 % der wahren Werte liegen (Preckel & Vock, 2021). Die Festlegung des Cut-off-Wertes ist in diesem Fall willkürlich, denn inhaltlich begründet (Preckel & Vock, 2021). Hochbegabte und nicht Hochbegabte unterscheiden sich graduell und weisen keine qualitativen Unterschiede hinsichtlich der kognitiven Prozesse auf (Rost, 2010). Preckel und Baudson (2013) empfehlen, dies auch im Sprachgebrauch zu berücksichtigen. Anstatt von Normalbegabten sollte eher von nicht Hochbegabten oder durchschnittlich Begabten gesprochen werden, um nicht fälschlich zu suggerieren, dass Hochbegabte eben nicht normal wären.
Auch wenn der IQ-Test das aktuelle Mittel der Wahl zur Identifizierung von Hochbegabten ist, erfreuen sich im pädagogisch-psychologischen Kontext jedoch noch sog. Checklisten großer Beliebtheit, die vor allem für die Nominierung von hochbegabten Kindern/Jugendlichen von Lehrern und Eltern verwendet werden (Perleth, 2010). Aus wissenschaftlicher Sicht sind solche Checklisten für eine eindeutige Diagnostik kaum brauchbar: Zum einen sind die aufgeführten Merkmale nicht alleinig typisch für Hochbegabte, zum anderen sind die Items bzw. die Quantifizierung oftmals zu vage formuliert (Preckel & Vock, 2021). Beispiele wie »hat in einzelnen Bereichen ein sehr hohes Detailwissen«, »hat für sein Alter einen ungewöhnlichen Wortschatz«, »erkennt sehr schnell zugrundeliegende Prinzipien«, »ist individualistisch« oder »kann sich in andere hineinfühlen« (Perleth, 2010, S. 77 f.) verdeutlichen dies sehr gut. Studien zu deren psychometrischen Güte zeigen keine zufriedenstellenden Ergebnisse; sie sind nicht geeignet, um zwischen Hochbegabten und nicht Hochbegabten eindeutig zu differenzieren (Jarosewich et al., 2002; Perleth, 2010). Die Beurteilung via Checkliste stimmte mit den testdiagnostischen Befunden am ehesten noch bei denjenigen Items überein, welche die allgemeine Intelligenz operationalisierten. Diese sind meist konkreter auf beobachtbares Verhalten bezogen als rein abstrakte Formulierungen (Perleth, 2010). Auch bei der vergleichenden Einschätzung von Lehrern und Eltern mittels Checklisten fand sich eine hohe Übereinstimmung für intellektuelle und eine geringere für kreative und soziale Fähigkeiten (Machts et al., 2016; Sommer et al., 2008). Checklisten stellen folglich kein absolutes Diagnoseinstrument dar, sondern können lediglich für Merkmale von Hochbegabung sensibilisieren (Preckel & Vock, 2021).7
Neben der klassischen psychometrischen Herangehensweise an die Intelligenz (mittels IQ-Messung) untersuchen die Neurowissenschaften, welche strukturellen, aber auch funktionellen Zusammenhänge im Gehirn bei hoch intelligenten Menschen zu finden sind.
Exkurs: Positive Mannigfaltigkeit
Es ist an dieser Stelle notwendig, zwischen dem g-Faktor als psychometrisches und psychologisches Konstrukt zu unterscheiden. Aus psychometrischer Sicht ist dieser das Ergebnis von Faktorenanalysen und wird als allgemeiner Faktor erster Ordnung im Vergleich zu spezifischen untergeordneten Faktoren angenommen (van der Maas et al., 2006). Im psychologischen Sinn ist g hingegen ein zusammenfassendes Konstrukt zur sog. positiven Mannigfaltigkeit(»positive manifold«), d. h., die unterschiedlichen Teilaufgaben in einem Intelligenztest korrelieren typischerweise positiv miteinander, so dass »people who perform well in one domain also tend to perform well in the others« (Deary et al., 2010, S. 201). Es wird hierfür eine hierarchische Struktur von kognitiven Variablen angenommen, bspw. werden logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Wortschatz als Teilfähigkeiten des g-Faktors postuliert (Salthouse, 2004). Während g psychometrisch als allgemeiner Intelligenzfaktor etabliert ist, wird jedoch unter der neurokognitiven Perspektive stark bezweifelt, dass ein »neuro-g« eben nur ein anatomisches Substrat aufweist (Haier et al., 2009). Es gibt unterschiedliche Bemühungen, diese positive Mannigfaltigkeit zu erklären. Van der Maas und andere (2006) vergleichen ihre Herangehensweise mit der mathematischen Untersuchung eines Ökosystems von Seen; würden unterschiedliche Daten in Bezug auf diese Seen gesammelt und eine positive Mannigfaltigkeit angenommen, würden »gute« Seen besser in allen gemessenen Aspekten sein. Als Erklärung für den Neuro-g-Faktor wird ein mathematisches multivariates dynamisches System abgeleitet: Die positive Mannigfaltigkeit ist hierbei ein Nebenprodukt der positiven Wechselwirkungen zwischen verschiedenen kognitiven Prozessen. Diese gingen eine Art von vorteilhafter und erleichternder Beziehung im Sinne eines Mutualismus ein und unterstützen sich gegenseitig in der Entfaltung, was schließlich zu positiven Korrelationen führt (Van der Maas et al., 2006). An anderer Stelle wird hingegen Intelligenz als ein Netzwerk von zusammenhängenden kognitiven Fähigkeiten und Wissensbestandteilen konzeptualisiert und als verdrahtete Intelligenz (»wired intelligence«) bezeichnet (Savi et al., 2019). Dieses erklärt sowohl die positive Mannigfaltigkeit als auch die hierarchische Struktur der Intelligenz. Neben dieser statischen, »verdrahteten« Sicht wird noch ein »dynamischer« Aspekt angenommen: ein sich entwickelndes Netzwerk, in dem neue Fakten und Prozesse miteinander verknüpft werden (»wiring intelligence«) (Savi et al., 2019).
Es kommt wohl doch auf die Größe an: Intelligenz korreliert positiv mit Kopfgröße (r=.20) und intrakraniellem Volumen (r=.40) (Deary et al., 2010). Die kortikale Dicke, insbesondere im Präfrontalkortex und in den Temporallappen, hängen positiv (r=.14–.27) mit allgemeiner Intelligenz zusammen (Colom et al., 2006). Hinsichtlich subkortikaler Strukturen zeigt sich, dass das Volumen des Striatum (inkl. Nucleus Caudatus und Putamen) als Teil der Basalganglien positiv mit Intelligenz im Zusammenhang steht. Auch die Dicke des Corpus Callosum (insb. das Splenium) korreliert positiv mit Intelligenz (Deary et al., 2010; Kuhn et al., 2021).
Hirnstrukturell treten zudem Geschlechtsunterschiede auf: Bei Männern ist Intelligenz stärker mit dem Volumen der fronto-parietalen grauen Substanz korreliert, bei Frauen mit Volumen der weißen und grauen Substanz im Broca-Areal. Die Dicke von frontalen Regionen korreliert bei Frauen stärker mit Intelligenz, hingegen bei Männern die Dicke im temporal-occipitalen Bereich. Dies erscheint interessant, da Frauen und Männer sich in der Gehirngröße und der Struktur unterscheiden, jedoch nur vernachlässigbare Unterschiede in der Intelligenz zu finden sind (Haier et al., 2005). Deary und andere (2010) drückten es treffend aus, dass »many neuronal roads to intelligence« anzunehmen sind (S. 208).
Bei vielen dieser Gehirnstrukturen zeigt sich außerdem eine starke genetische Komponente, wie für die Volumina der grauen und weißen Substanz im Corpus Callosum, in Bereichen des frontalen und temporalen Kortex, im Broca-Areal und in Bezug auf das gesamte Hirnvolumen (Deary et al., 2010).
Hirnfunktionell zeigt sich ebenfalls ein starker genetischer Einfluss, bspw. auf exekutive Funktionen oder die Verarbeitungsgeschwindigkeit (Posthuma et al., 2001). Insbesondere wird auch eine hohe Heritabilität hinsichtlich lokaler und globaler Netzwerke im Gehirn angenommen (Smit et al., 2008).
Intelligenz lässt sich vor allem durch eine hirnfunktionelle Konnektivität neuronaler Netzwerke beschreiben, anstatt nur durch eine isolierte kognitive Funktion. Dies wird als »small-world-network« bezeichnet, welches durch ein hohes Maß an Clusterbildung zwischen Knotenpunkten (Informationsverarbeitung im Kortex und in subkortikalen Strukturen) und kurzen Pfaden (Nervenfasern der weißen Substanz) gekennzeichnet ist und den für die hohe Intelligenz erforderlichen ungestörten Informationsfluss zwischen den beteiligten Hirnstrukturen ermöglicht (v. a. frontal, bilaterale untere Parietalregionen sowie linker oberer Temporallappen und unterer frontaler Gyrus8) (Li et al., 2009; van den Heuvel et al., 2009). Bei intelligenteren Menschen findet eine effizientere Informationsübertragung statt: Ein höherer IQ entspricht folglich einer höheren globalen Effizienz des anatomischen Netzwerkes. Außerdem lassen sich signifikant kürzere Pfadlängen in den Clustern bei höherer Intelligenz finden (Li et al., 2009). Gleichzeitig existieren mehrere Langstreckenverbindungen, welche ebenso eine starke globale Kommunikationseffizienz über das Netzwerk hinweg gewährleisten und Informationen zwischen verschiedenen Regionen des Gehirns integrieren; diese effizienten funktionellen Netzwerke sind folglich auf eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit ausgelegt (van den Heuvel et al., 2009). Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Theorien, die sich von der Annahme, eine Gehirnregion sei wesentlich für die allgemeine Intelligenz, hin zu funktionellen Netzwerk-Theorien entwickelt haben, bspw. Parieto-Frontal Integration Theory (P-FIT) (Jung & Haier, 2007), Process Overlap Theory (POT) (Kovacs & Conway, 2016) oder Network Neuroscience Theory (NNT) (Barbey, 2018). Hohe Intelligenz hängt also nicht direkt mit der Ebene der lokalen Informationsverarbeitung oder der Gesamtzahl an funktionellen Verbindungen zusammen, sondern damit, wie effizient die globalen Verbindungen des Gehirns organisiert sind (Neubauer & Fink, 2009).
Die neurokognitive Sicht kann für Patienten, die sich bisher wenig mit ihrer Hochbegabung auseinandergesetzt haben oder sie auf den reinen IQ-Wert reduzieren, als Perspektivenerweiterung für die Art des Denkens genutzt werden.
Die bisher dargestellten Inhalte sind Teil der sog. expliziten Theorien, mit klar operationalisierten Variablen auf Basis von theoretischen Modellen (Baudson, 2021b). Im Vergleich dazu stellen sog. implizite Theorien (Laientheorien) alltägliche Annahmen dar, welche zumeist erst dann überprüft werden, wenn danach gefragt wird (Sternberg & Zhang, 1995).
In Laientheorien finden sich gehäuft kategoriale Auffassungen über Hochbegabte, d. h. die Annahme, sie unterschieden sich qualitativ von durchschnittlich Begabten und würden demnach eine »Outgroup« darstellen (Baudson, 2021b).
Bei der sozialen Wahrnehmung, der Einschätzung anderer Personen, spielen zwei Dimensionen eine besondere Rolle: das individuelle Potenzial, also die (intellektuelle) Kompetenz einer Person und deren Umsetzung (»agency«/»competence«), sowie das soziale Miteinander, im Sinne einer Zugewandtheit oder Wärme, inwieweit die Person sich integriert und empathisch zeigt (»communion«/»warmth«) (Abele & Wojciszke, 2007). Diese beiden Dimensionen finden sich im sog. Stereotype Content Model (Cuddy et al., 2009), welches sich auch auf die Einschätzung Hochbegabter übertragen lässt. Da die Zuschreibung von hoher intellektueller Kompetenz und hohem Leistungspotenzial von Hochbegabten auch in Laientheorien unumstritten ist, verbleibt bei Stereotypen über Hochbegabte noch die divergierende Einschätzung bzgl. sozialer und emotionaler Kompetenzen (Baudson, 2021b). Folgt man dem Befund von Imhoff und Koch (2017), besteht zwischen »agency« und »communion« sogar eine kurvilineare Beziehung, so dass bei überdurchschnittlicher intellektueller Kompetenz eine niedrige Zugewandtheit anzunehmen wäre; dies entspräche der sog. Disharmoniehypothese. In der Literatur findet sich hierzu auch eine entgegengesetzte Annahme, die sog. Harmoniehypothese. Die offene Frage bleibt, inwieweit diese durch empirische Befunde wider- oder belegt werden können (▸ Abb. 1.4).
Abb. 1.4:Annahmen über Hochbegabte unter der Disharmonie- und der Harmoniehypothese entsprechend des Stereotype Content Models (angelehnt an Baudson, 2017b)
Gerade das Klischee des »verrückten Genies« hat eine lange Geschichte. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde im Rahmen der psychiatrisch-medizinischen Genieforschung angenommen, dass Hochbegabung mit maladaptiven Merkmalen, bspw. einem Mangel an sozial-emotionalen Fähigkeiten bis hin zu psychischen Auffälligkeiten, einhergehe (Preckel & Baudson, 2013). Obwohl heute fundierte wissenschaftliche Befunde die Disharmoniehypothese widerlegen, werden oft uneinheitliche Ergebnisse aus Studien – vor dem Hintergrund von terminologischen und methodischen Problemen – als Beleg für diese veraltete Annahme herangezogen (Preckel & Vock, 2021). Bergold und andere (2021) stellen auch heute noch fest, dass bedauerlicherweise in dieser Hinsicht »empirically based evidence does not necessarily become public knowledge« (S. 75). Sowohl bei Eltern (Friedl & Hoyer, 2014) und bei Lehrkräften (Baudson & Preckel, 2013/2016) als auch in einer repräsentativen deutschen Stichprobe (Baudson, 2016) lässt sich das Stereotyp des unangepassten und sozial-emotional problematischen Hochbegabten finden. Dies
