HÖLLENSCHEIN - Frank Zumbrock - E-Book

HÖLLENSCHEIN E-Book

Frank Zumbrock

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Beschreibung

Der Holocaust – ein unfassbares Kapitel der Menschheitsgeschichte, das niemals in Vergessenheit geraten darf. Für junge Menschen kann der Zugang zu diesem schwierigen Thema jedoch herausfordernd sein. "Höllenschein" bietet einen neuen Ansatz: In einem berührenden Fantasy-Roman nähert sich die Geschichte sensibel und einfühlsam diesem dunklen Kapitel und schafft damit eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Verbindung von Fantasy-Elementen mit realgeschichtlichen Themen ermöglicht es, jungen Menschen auf behutsame Weise an die Thematik heranzuführen. Die Leser*innen werden emotional abgeholt, ohne überfordert zu werden. Bildung und Erinnerung: Gerade für Schulen und Bildungseinrichtungen bietet das Buch eine wertvolle Ergänzung zum Geschichtsunterricht. Es regt zu Diskussionen an und vertieft das Verständnis für den Holocaust, auch bei Leser*innen, die bisher wenig Berührungspunkte mit dem Thema hatten. Ein Appell gegen das Vergessen: Zeitzeugen sterben, ihre Stimmen verstummen. Doch ihre Geschichten dürfen nicht verloren gehen. "Höllenschein" setzt genau hier an und trägt dazu bei, das Erinnern lebendig zu halten – für heutige und zukünftige Generationen. Eine Botschaft, die über Grenzen hinweg vereint: In "Höllenschein" geht es nicht nur um das Verstehen der Vergangenheit, sondern auch um die Vision einer besseren Zukunft. Der Roman thematisiert Freundschaft und Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur – eine Botschaft, die aktueller nicht sein könnte. Dieses Buch ist mehr als nur ein Roman. Es ist eine Einladung, sich mit den Schrecken der Geschichte auseinanderzusetzen und zugleich Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu schöpfen. "Höllenschein" zeigt, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Licht zu finden ist – in Form von Menschlichkeit, Freundschaft und Zusammenhalt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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HÖLLENSCHEIN

Der neue Roman

Von

Frank Zumbrock

© 2025 Frank Zumbrock

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Au-tors, zu erreichen unter: Mittelstraße 53, 48565 Steinfurt

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Inhalt

Kapitel 2. LAGER AUSCHWITZ-BIRKENAU ........................ 74

Kapitel 3. DIE FÜNF WEGGEFÄHRTEN .............................. 143

Kapitel 4. DIE VERMISSTEN ................................................. 214

Kapitel 5. RUNEN IN SCHWARZEM STEIN ........................ 285

KAPITEL 6. DAS KREMATORIUM 4. .................................. 355

Kapitel. 7 PAUKENSCHLAG DER HÖLLE .......................... 426

Kapitel 1. REISEVORKEHRUNGEN

An diesem Morgen hatte es den Anschein, die Welt in Steinfurt wolle untergehen. Der Himmel glich einem Geflecht aus Eisen. Die Meteorologen sagten einen Wahnsinnssturm vorher. Die Eltern entscheiden selbst, ob ihre Schützlinge am heutigen Unterricht teilnahmen. „Ich denke, du gehst heute zur Schule Fabian. Sei kein Weichei!“ Sein Vater brauchte bei diesem Wetter nicht vor die Tür.

Über ein Jahr hockte er zu Hause, nachdem seine

Firma die Tore geschlossen und die Mitarbeiter auf die Straße setzte. Die Familie Bünting zählte in Steinfurt zu den schrägsten Sippen. In der Schule nannten sie Fabian oft ei-nen rechten Spinner. So nach dem Motto: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Mittlerweile störte ihn das nicht mehr und er hörte

nicht mehr hin. Die Migranten und Flüchtlinge stürmten ihr Land, das behauptete zumindest sein Vater. Und sein älterer Bruder Stefan hatte sich auf seinem Po ein Haken-kreuz tätowieren lassen, wenn das nicht krass ist? Bei dem Gedanken huschte ein Grinsen über Fabians Gesicht.

„Hey Kleiner, was ist denn jetzt auf einmal so lustig?

Das Wetter dort draußen?“ Fabi schüttelte den Kopf und schaute zur Uhr. Die Zeit rannte und er nahm sich seine Pausenbrote. Im Vorbeigehen warf er der Schwester eine Grimasse zu, die diese ohne einen weiteren Kommentar erwiderte. Auf der Straße herrschte die sogenannte Ruhe vor dem Sturm.

Kaugummikauend lehnte Ansgar an der Straßenla-

terne. Er nickte stumm zum Gruß. Die beiden Jungen liefen den Weg gemeinsam zur Schule am Buchenberg. „Siehst du, was ich sehe?“ Fabian hielt einen Moment inne.

Auf der anderen Straßenseite trottete Ismael lang-

sam über den Gehweg. Er nahm keine Notiz von ihnen, das lag an den Kopfhörern, die in seinen Ohren steckten. Fabi-an klaubte einen Stein von der Straße und verfehlte das Opfer um Haaresbreite. Ansgar hingegen traf den Freund am Arm. Er schreckte zusammen. „Hey ihr beiden Spin-ner?“ Sie lachten um die Wette. Kurzerhand lief er zu ihnen. „Was sagt ihr über den Neuen?“ Die Frage über-raschte wie die Sturmböe, die den Dreien unvermindert ins Gesicht wehte. Fabian schaute in den düsteren Himmel, ohne dort eine passende Antwort zu finden. „Wie heißt einer nur Gurion Weizmann? Das ist doch vollkommen hirnrissig.“ Allgemeines Achselzucken. Der Sturm legte unterdessen einen Zahn zu. Endlich erreichten sie die Schu-le, die ihnen wie eine Rettungsinsel vorkam. Fabian Bünting bemerkte zuerst die hochgewachsene Gestalt, die von der anderen Seite den Eingang betrat. Der Neue.

Der Regen prasselte just wie ein Sturzbach auf das

Aluminiumdach. Der Kerl wischte sich seine Kapuze vom Kopf. Wallendes, schwarzes Haar fiel auf seine breiten Schultern. Fabian gestand sich ein, dieser Gurion sah ge-fährlich aus. Langsam trotteten sie weiter. Andere Schüler stürmten in die Aula. Alle liefen in Richtung der jeweiligen Klassenräume. Der Regen draußen verwandelte sich in Schnee. Bünting beobachtete den hochgewachsenen Jun-gen, der sich an eine der hinteren Bänke setzte. Von seiner Umgebung und den anderen Mitschülern nahm der Neue keine Notiz. Die Klasse ähnelte einem Bienenstock, erst mit dem Eintreten von Lehrer Klone herrschte augenblicklich Ruhe. „Okay, bitte setzen. Fehlt heute jemand im Unter-richt?“ Kopfschütteln und ratlose Blicke schweifen umher.

Der Neue hatte ein längliches Gesicht und die Nase

eines Adlers. Fabian drehte sich hastig um. Klone schrieb etwas an die Tafel. „Gurion Weizmann.“ Lächelnd wandte er sich um und schritt wie ein alter Schulmeister den Mit-telgang entlang. „Heute begrüßen wir einen neuen Mit-schüler in der Klasse, der mit seinen Eltern von Hamburg nach Steinfurt gezogen ist. Stelle dich kurz vor Gurion.“

Alle Augen richteten sich auf den Schüler. Fabian

grinste über das ganze Gesicht. Der Kerl ist ein Riese, schoss es ihm durch den Kopf. „Ich freue mich, dass ich hier in Borghorst bin. Mein Vater ist Dozent an der Fach-hochschule in Münster. Früher lebten hier Verwandte von uns in der Westfalenmetropole.“

Eine Stecknadel hätte man fallen gehört. Dann

klatschten alle Mitschüler, so wie wenn man einem Star applaudierte. Fabian enthielt sich demonstrativ. Dieser Weizmann ist nur krass. Seine Stimme hallte in einem tie-fen Singsang durch die Klasse. In der ersten Stunde stand Geschichte auf dem Plan. Napoleon erwachte mit der Ar-mee Grande de Nation zu erneutem Leben. Russland brach den Soldaten mit seinem eiskalten Winter das Genick.

Fabian zerbrach sich unterdessen seinen Kopf. Aus

Hamburg kam der komische Schnösel. Der Hafenstadt, dem Tor zur Welt. Was trieb sie dann hierher in unser be-schauliches Münsterland? Erst die harschen Worte von Lehrer Klone holten Fabian auf den Boden der Tatsachen zurück. „Wo fand die Völkerschlacht statt?“ Der Pauker stand wie ein drohendes Fallbeil direkt vor ihm. Das Ki-chern erwachte zu einem lauten Rauschen und Zischen. Bünting lief rot an. „Wie bitte?“

Mit einem Kopfschütteln schlenderte Klone zu dem

massiven Schreibtisch aus Eichenholz. „Fabian, läuft es immer so weiter mit dir? Wer kennt die Antwort?“ Die blonde Anne Marie hob wie eine Verrückte ihren Finger und zuckte dabei wie ein zappelnder Fisch auf dem trocke-nen Ufer. „Die Völkerschlacht bei Leipzig!“ Klone freute sich wie ein kleines Kind und sabberte in sein Taschentuch. Kurz suchte Fabian den Blick des Neuen. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Keine Regung, die Augen von unergründlicher Schwärze auf einen imaginä-ren Punkt an der Wand gerichtet. Was stimmte mit diesem Kauz nicht? Der kam aus einer anderen Welt. Ansgar haute einen drauf und beschoss Gurion mit seinen markanten Papierkügelchen. Keine Reaktion. Der Junge zeigte keiner-lei Regung. Erst der laute Wortschwall des Lehrers weckte ihn. „Ich notiere euch zwei Aufgaben für Geschichte an die Tafel und das ist eure Hausaufgabe für morgen.“

So ein Mist, sinnierte Fabian und suchte den Blick-

kontakt mit Ismael. Dieser schien ebenfalls nicht begeistert zu sein. Der Zeiger der Uhr in der Klasse hielt eindeutig Winterschlaf. Deutsch stand auf dem Stundenplan. Die beiden Stunden zogen sich wie ein Kaugummi geschmack-los in die Länge. Endlich das Signal zur Pause. Fluchtartig verließen die Schüler die Klasse. Gurion Weizmann saß wie eine Statue in Stein gemeißelt auf seinem Platz. Fabian ebenfalls, genau wie seine beiden Freunde. Lehrer Klone packte ein und wies die Jungen an, den Raum zu verlassen. Der Neue ist ein Riese, schoss es den dreien durch den Kopf. Er würdigte sie keines Blickes und schlenderte über den Flur in Richtung Ausgang. „Was ist bloß los mit dem Kerl? So verhält sich doch ein normaler Mensch nicht.“ Draußen bot das Wetter in diesem Winter alle Facetten. Schneeregen und Sturm zwangen die meisten Schüler, ei-nen passenden Unterstand zu suchen. Gurion lehnte an einer Wand. Er schaute anteilslos in das graue Schneetrei-ben. Fabian schenkte unterdessen Viola seine aufreizenden Blicke, die diese mit einem Achselzucken erwiderte.

Kurzerhand gab er auf und suchte seine Kumpels.

Hinter ihm schwoll ein lautstarker Streit an. Mohammed und Ali bauten sich vor Gurion auf. Sie beschimpften ihn lauthals mit unverständlichen Worten. Sofort bildete sich eine Traube von Schülern um die vermeintlichen Streithäh-ne. Immer mehr Schüler stoben heran.

Fabians Neugier wuchs ins Unermessliche. Was ist

denn da los? Ismael und Ansgar standen sofort neben ihm. Sie drängelten sich unter Protest durch die anderen Schü-ler. Laute Drohgebärden der Streitenden hallten über den Schulhof der Realschule. Alles passierte in Sekunden-schnelle. Mit flinken Handgriffen beförderte der Neue sei-ne Gegner schmerzhaft auf den nassen Grund und sie schrien.

Ein Pauker rannte auf die Gruppe zu und schrie ir-

gendwelche drohenden Worte. Er trennte die Streithähne schließlich. Weizmann stand wie ein Denkmal im Schnee-regen. Seine hochgewachsene Gestalt strahlte etwas Be-drohliches aus. Es folgte das übliche Procedere und das kannte Bünting selbst zu Genüge. Zusammen schlenderten die Schüler mit dem Lehrer zum Direktor. Dort gab es dann die wohlverdiente Zigarre. Alle Achtung für Gurion. Das sofort am ersten Tag. Ansgar räusperte sich und krächzte. „Das ist der Hammer, wie dieser Riese die beiden umhaute. Fabian, der haut dich auch um!“ Die Worte schmerzten. Weizmann ist ein komischer Kauz und wie der sich beweg-te. Klar, der ist nicht zu unterschätzen. Er bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Bünting schüttelte angewidert den Kopf und rief. „Der Hüne wird in der freien Wildbahn nicht gegen mich bestehen. Das ist so sicher wie Kloßbrühe! Das verspreche ich euch!“

Den Gesichtern der beiden Freunde zu urteilen,

starb die Hoffnung zuletzt. Der Gong rief zur nächsten Stunde. Schüler drängelten durch den dunklen Flur. Herr Trautmann blieb hinter dem Schreibtisch sitzen und die Stille im Rektorat wirkte bedrohlich. Seine Blicke allein rüg-ten mit Tadel. Er nahm seine Brille ab.

„Was ich hier mitgeteilt bekomme, ist vollkommen

unakzeptabel. So läuft es hier nicht an dieser Schule meine Herren. Weizmann, eine Superleistung an deinem ersten Tag hier in Borghorst. Alle Achtung! Und was sagst du da-zu?“

Gurion starrte geistesabwesend auf den vertäfelten

Boden. Er erwachte aus seiner Lethargie und sprang auf. „Die beiden Kerle griffen mich an! Weil ich Jude bin!“ Trautmann schnappte Luft wie ein gestrandeter Fisch. Ali und Mohammed verloren ihrerseits langsam die Schock-starre und flüsterten miteinander. Der Rektor stellte sich ans Fenster. „Die Religion ist für jeden Menschen frei. Das gilt insbesondere hier an der Realschule. Drücke ich mich klar und deutlich aus? Zur Strafe helft ihr Hausmeister Schirmer in den Rabatten.“ Es schneite federballgroße Flo-cken aus einem aschgrauen Himmel.

Fabian Bünting verfolgte den Schneefall mit Begeis-

terung. Zwei Stunden Mathe und keiner hatte ein Lö-sungsmittel parat. Frau Bellheim kritzelte einige Aufgaben an die Tafel. Dabei rutsche ihr ständig die Brille von der Nase. Ein lautes Klopfen brachte sie aus dem Konzept. Vollkommen überrascht folgten ihre kleinen Augen dem hochgewachsenen Jungen, der zu seinem Platz schlich. „Oh, unser neuer Mitschüler. Wie ist doch gleich der Na-me?“

Das Kichern und Lachen in der Klasse erfreute den

strapazierten Schülergeist. „Gurion Weizmann und wie spricht man sie an?“ Das hatte endgültig gesessen und die wilde Meute brüllte auf. Fabian riss sich zusammen, sonst würgte er sein Frühstück hoch. Der Neue hatte es faustdick hinter den Ohren. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wieder Ruhe einkehrte. Die Lehrerin grinste von einem Ohr zum anderen. „Mein Name ist Monika Bellheim.“

Erneut schien das Lachen kein Ende zu nehmen. Erst

die brutale Mathekeule sorgte für Ruhe. Unendliche Zeit später ertönte der rettende Gong zum Schulschluss. Die Schüler drängelten sich aus der Klasse. Fabian beobachtete Weizmann, wie er mit Frau Bellheim quatschte. Der Kerl strebte eindeutig nach Höherem, das lag auf der Hand. Rasch packte er sein Kram zusammen und verließ den Raum. Draußen warteten Ansgar und Ismael.

„Das ist Wahnsinn mit dem Neuen, der Kerl macht

mich kirre.“ Gemeinsam schlenderten sie dem Ausgang entgegen, wo die Schneeflocken die Schüler umtanzten. Auf dem Wendehammer parkten die Busse mit dampfen-den Auspuffrohren. Fabian und seine Kumpels suchten Weizmann, der sich auf den Heimweg begab. „Wo wohnt der Kerl eigentlich?“

Mohammed und Ali traten zu ihnen. Sie spuckten in

den Schnee. „Gurion ist ein Jude! Mit dem steht eine Menge Ärger bevor! Bünting und was ist mit deiner rechten Ideo-logie? Das lässt sich nicht vereinbaren, oder?“ Sie schlugen zeitgleich ihre Hacken zusammen. „Verpisst euch ihr Spin-ner! Außerdem begreift ihr nicht einmal ansatzweise, wo-von ihr da überhaupt redet.“ Lachend liefen die beiden Jungs auf den nächsten Bus zu und stiegen ein. Es schneite weniger. Sie stapften durch den Schneematsch auf dem Gehweg. Fabian drehte sich um und verkündete. „Am Le-bensmittelmarkt lauern wir unserem Freund auf und fol-gen ihm zu seiner Synagoge.“ Ismael und Ansgar brüllten vor Lachen. Das letzte Stück rannten sie. Hinter einer pas-senden Häuserecke warteten sie. Die beiden schauten Fabi-an überrascht an. „Wer sagt, dass der Weizmann durch diese hohle Gasse kommt?“

Die Frage schien durchaus berechtigt. Ismael streck-

te seinen Rücken und seufzte. Fabian grinste. „Mein Bauchgefühl verrät mir das.“ Die Sekunden wuchsen zu Minuten und bald ist eine gefühlte Ewigkeit um. „Ich spüre einen immer stärker werdenden Hunger, wenn ihr mich fragt?“

Geschlagen erhoben sich die drei Freunde aus ihrem

Versteck. Sie traten den Heimweg an. Fabian öffnete die Tür zum Hausflur des Mietshauses. Sofort schlug ihm ein undefinierbarer und übler Geruch entgegen. Er hatte nicht einmal die Wohnungstür erreicht, da vernahm er den lau-ten Streit seiner Eltern. Wie so häufig drehte es sich in ers-ter Linie ums liebe Geld. Die Mutter heulte und schluchzte.

„Den ganzen Tag hängst du vor der Glotze und

guckst dir diesen Mist an! Ich besitze wenigstens die Putz-stelle bei Frau Wagner.“

Irgendetwas krachte im Flur scheppernd zu Boden.

„Susi! Du gehst mir tierisch auf den Sack. Der Boss hat die Bude aufgegeben! Das ist nicht auf unserem Mist gewach-sen! Einen neuen Traumjob finde ich in meinem biblischen Alter leider nicht mehr so schnell.“

Immer die gleiche Leier, dachte der Junge. Er kramte

nach seinem Schlüssel. Den Schatten, der von hinten auf ihn zueilte, bemerkte er zu spät. Bruder Stefan grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Wir lauschen doch nicht etwa an der Tür Bruderherz?“ Fabian schloss die Tür auf. „Auf gar keinen Fall.“ Zur Antwort bekam er den kategorischen Schlag in den Nacken. Drinnen hatte ein Sturm gewütet, denn einige Gegenstände säumten den Fußboden. „Wo kommt ihr her?!“ Vater Büntings Gesicht glühte puterrot. Fabian stammelte. „Die Schule ist für heute aus. Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen. Echt krass, der ist, glaube ich ein Jude.“ Paul starrte seine Söhne und seine Frau überrascht an.

„Ich spare mir einen Kommentar. Und Stefan wa-

rum bist du schon zuhause um diese Zeit?“ Der Ältere er-rötete und schlug die Augen nieder. „Mir ist gekündigt worden.“ Wie von einer Tarantel gestochen schnellte der Herr des Hauses in die Höhe. Er bekam Schnappatmung. Mutter Bünting lief heulend ins Schlafzimmer. An der Wohnungstür klingelte es. „Paul schau nach wer da ist?“, rief die Mutter.

Mit schleppenden Schritten näherte er sich der Tür

und riss sie auf. Der Nachbar Herr Gündoğan schaute ihn fassungslos an und stammelte. „Ist alles klar bei euch? Meine Frau beabsichtigt sonst die Polizei zu rufen.“

Bünting schlug sich mehrmals vor seine hohe Stirn.

„In bester Ordnung Mustafa und sag Aischa, wir klären die Sache schnell auf.“ Der Nachbar starrte konsterniert auf die Gegenstände, die auf dem Boden verstreut lagen. „Paul dann noch einen schönen Tag.“ Er schluckte und kratzte sich über seinen kahlen Schädel. Tochter Vera trottete jetzt ebenfalls die Treppe hinauf. „Hallo Paps!“

Er schüttelte heftig den Kopf und murrte. „Was ist

nur mit meiner Familie los? Du hast deinen Job aber, oder?“ Töchterchen nickte und schlich an ihm vorbei.

Gurion Weizmann checkte sein Smartphone, bevor

er die Tür zu der alten Villa aufschloss. Seine Eltern arbeite-ten in Münster und er ist ihr einziger Sprössling. Er hatte sich immer Geschwister und wenigstens ein paar Freunde gewünscht. Eine Illusion ohne Boden. Hamburg fehlte ihm. Kopfschüttelnd betrat er den riesigen Flur, der in Finsternis getaucht ist. „Ist hier jemand?“ Fast erwartungsvoll wartete er eine Antwort ab, welche ihm das antike Gemäuer schul-dig blieb. Allein diese Stille hier erdrückte ihn. Die Katze schlich um seine Beine. „Blacky, alles klar mein Kater? Wir schauen mal, was uns der Kühlschrank zu bieten hat.“

Wehmütig traf sein Blick auf die vielen Umzugskar-

tons, die sich unter der Treppe stapelten. Langsam trottete er in die Küche. Auf dem Tisch fand er die Notiz seiner Mutter. Ein Lächeln umspielte augenblicklich seine Lippen. Kartoffelsalat und Wurst im Überfluss, koscher verstand sich. Seine Eltern hatten einen exzellenten Metzger in Münster aufgetan. Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Der Kater ließ keine Ruhe und suchte die Freiheit. Schneefall setzte ein. Der Himmel über der Stadt verdunkelte sich. Zuerst reagierte Gurion nicht auf das Geräusch. Das Rum-peln schreckte ihn hoch. Sind seine Eltern doch daheim? Dann ist alles wieder still. Unterdessen häufte er weiteren Kartoffelsalat auf seinen Teller. Blacky ließ ihm keine Ruhe. „Du bekommst Futter mein Lieber!“ Er schnappte sich das Katzenfutter aus dem Schrank. Er erstarrte im selben Au-genblick. Wieder ein lautes Geräusch. Es kam eindeutig von oben, schoss es Gurion durch den Kopf. Er füllte den Fressnapf der Katze. Er rannte die Treppe ins erste Oberge-schoss hoch. „Vater! Mutter! Was macht ihr auf dem Dach-boden?“ Er verharrte kurz. Keine Antwort. Ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken. Hier oben standen alle Türen zu den Zimmern offen. Drei Etagen war dieser Rie-senbau hoch. Tief durchatmen und dann raste er die weite-ren Treppenstufen bis zum dritten Geschoss empor. Er hol-te erst einmal neuen Atem. Was erwartete er denn? In der gesamten Villa herrschte wieder diese undurchdringliche Stille. Langsam drehte er sich um und war im Begriff die Treppe hinabzusteigen, da schepperte es auf dem Boden. Das war unmöglich! „Ist da jemand? Ich finde das nicht mehr lustig!“ Erst meinte er, ein Stimmengewirr und ein Stöhnen zu hören. Die Luke ist fest verschlossen. Er hatte keinen Schlüssel. Ein lauter Schrei durchbrach die Stille und Gurion raste wie von Sinnen die Treppe hinunter.

Unten stieß er mit seiner Mutter zusammen. Melanie

Weizmann schrie auf und wäre um ein Haar gestürzt. „Junge, was ist denn in dich gefahren? Hat sich ein Verfol-ger an deine Fersen geheftet?“

Der Sohnemann keuchte und zitterte. Er hockte sich

erst einmal auf die unterste Stufe. „Mama! Oben ist jemand auf dem Dachboden. Diese alte Villa ist krass und tötet ei-nem den letzten Nerv!“ Melanie Weizmann betrachtete ih-ren Sohn voller Erstaunen. Sie streichelte ihm über die Haare. „Beruhige dich erst einmal.“ Er bibberte am ganzen Leib und stammelte. „Glaub mir Mutter, da oben ist ir-gendwer.“

Nach dem Mittagessen schlich sich Fabian in sein

Zimmer. Vor dem Spiegel zog er sich das T-Shirt aus. Er spannte seine Muskeln an. Das sah vielversprechend aus. Er absolvierte ein paar Liegestütze. Es folgten Situps und Kniebeugen. Dieser Gurion Weizmann ist ein komischer Kauz. Unterdessen krachte wieder ein Gegenstand in der elterlichen Wohnung zu Boden. Der Vater fluchte in den höchsten Tönen. Fabian stellte sich ans Fenster und sein Blick schweifte langsam über die Dächer von Borghorst. Dieser Winter ähnelte einer Eiswüste und just schneite es ohne Unterlass im Münsterland. Eindeutig der Klimawan-del schoss es ihm durch den Kopf. Er ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und starrte einige Sekunden grinsend an die Decke. Die verdammten Hausaufgaben warteten auf ihn. Seine Augenlider wurden immer schwerer. Dann rauschte ein Traum durch die Kapillaren seines Hirns. Paul Bünting schnaufte wie ein wütender Stier. Er begriff nicht, dass der Sohnemann Stefan seinen Job los ist. Und Töchterchen ver-brachte die meiste Zeit mit ihrem neuen Lover, anstatt eine vernünftige Ausbildung anzutreten. Er selbst? Ach, das Leben glich nur einem verdammten Scherbenhaufen oder einem Haufen Hundekot. Apropos Hund, sie hatten ihren Labrador bei seiner Schwester zur Pflege untergestellt. Sein Smartphone blieb stumm, denn der Akku hatte wieder sei-nen Geist aufgegeben; es ist zum Heulen. Seine Frau wusch in der Küche das Geschirr ab, er schnappte sich, ohne sie zu fragen, ihr Telefon und rief seine Schwester an.

Professor Weizmann schloss die Tür auf und wun-

derte sich über seine Frau, die ihn empfing. „Melanie was ist los?“ Mit ihren Fingern wies sie auf das Wohnzimmer und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Gurion stand vor dem Fenster und nahm seinen Vater unverzüglich in den Arm. „Eine Unterhaltung ist angebracht Ullrich.“ Sie setzten sich auf die Wohngarnitur. Er traute seinen Ohren nicht, was er dann hörte. „Unser Sohn hat auf dem Dachboden irgend-welche Geräusche gehört. Vollkommen in Panik versetzt kam er die Treppe hinab gerast.“ Gurion hockte da wie er-schlagen und starrte seinen Vater nur an. Dieser schüttelte langsam den Kopf. Er schlenderte zum Schreibtisch. Dort entnahm er eine Schatulle aus kostbarem Silber einen di-cken Schlüsselbund. „Dann schauen wir gleich oben nach. Wer sich da herumtreibt.“ Mit einem süffisanten Lächeln um die Lippen schritt er voran. Die beiden folgten ihm. An der Dachluke angekommen, schloss der Vater das Sicher-heitsschloss auf und ließ die Fallleiter hinab. „Ich vergewis-sere mich erst einmal, ob oben alles in Ordnung ist. Ich rufe euch.“ Er verschwand auf dem Boden. Seine Schritte ertön-ten vom Holz gedämpft. „Kommt beide hoch!“

Gurion folgte seiner Mutter zögerlich. Er war sich

hundertprozentig sicher, dass er das Szenario heute Mittag hier oben erlebt hatte. Die Luft ist staubtrocken und stickig. Nur die Kälte behielt hier die Oberhand. Unter Decken und Planen sind viele Gegenstände vor dem tanzenden Staub geschützt. Der gesamte Dachboden glich einem Museum. Ein Chanukkaleuchter aus massivem Silber thronte in einer Ecke und glänzte fluoreszierend im Licht. Die Menora kos-tete ein Vermögen.

„Das sind alles Zeugnisse unseres Volkes. Viele Sa-

chen gehörten meinem Ururgroßvater Urban, der leider im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ums Leben ge-kommen ist. In diesen Artefakten und Erinnerungen finden Trauer und Hoffnung zusammen Gurion. Dieser Nachlass wird in einem Museum in Jerusalem ausgestellt werden und Zeugnis über den Holocaust ablegen. Was denkst du, hier oben gehört zu haben?“ Dem Sohn hatte es die Sprache verschlagen. Er staunte. In einer Vitrine auf einem roten Samtkissen lag eine wuchtige Ausgabe der Tora. Hinter Glastüren hingen unterschiedliche Kleidungsstücke aus alter Zeit. Eine lebensgroße Schaufensterpuppe trug einen Kaftan von unendlicher Anmut. Erschreckende Bildnisse und Fotografien. Nach Nummern geordnet zeigten sie den Schrecken einer längst vergessenen Epoche, die präsent und gefährlich zu sein schien. Russische Soldaten neben ausgemergelten Menschen, die sich bei genauerer Betrach-tung in KZ – Häftlinge verwandelten. Eine weitere Figur trug eine gestreifte Sträflingsuniform mit einem gelben Ju-denstern auf der Brust. Gurion verschlug es den Atem. Für den Bruchteil von Sekunden sah er, das Tränen die Wangen der Puppe benetzten. Zögerlich näherte er sich dieser schrecklichen Animation. Er las den Namen auf dem Schild. „Urban Weizmann.“

Ein kalter Schauer kroch ihm augenblicklich über

seinen Rücken. Hier oben schien die Zeit still zu stehen. Die ganze Welt drehte sich nicht weiter. Da waren diese Bilder an den Wänden und Gurion merkte just in diesem Mo-ment, das hier oben etwas Fremdes lauerte und sie beo-bachtete. Er sagte nichts zu seinen Eltern. Ein leichter Tau-mel ergriff den Jungen. „Mein Gott Jahwe.“ Ullrich Weiz-mann nahm seinen Sohn in die Arme und schluchzte. „Ich verstehe das, mit fünfzehn Jahren eine verdammt harte Nuss.“ Gurion schaffte es nicht, den Blick von dem Sträf-ling abzuwenden, der sie anklagend aus seinen toten Pup-penaugen anstarrte.

Schweigsam stiegen sie die Treppe nach unten. Im-

mer klang Gurion die Geräuschkulisse von heute Mittag in den Ohren. Er hatte sich das nicht eingebildet. Beim ge-meinsamen Abendbrot sprachen sie das Thema nicht mehr an. Sein Vater berichtete von seiner Arbeit in der Fachhoch-schule. Gurion schlich in sein Zimmer, um zu lesen, und legte nach kurzer Zeit das Buch aus den Händen. Draußen tanzten die Schneeflocken vor dem Fenster unter der Stra-ßenlaterne. Langsam streckte jetzt die winterliche Nacht ihre eisigen Klauen über das Land.

Fabian Bünting saß unterdessen mit seinen Eltern

vor der Flimmerkiste. „Was läuft bloß für ein Blödsinn im Fernsehen? Und es ist ein Rätsel, wofür man die Rund-funkgebühren berappt.“ Die Mutter nickte zustimmend und knabberte ihre Kartoffelchips. Die beiden älteren Ge-schwister hielten sich in der Stadt auf. Die Schulaufgaben warteten und Fabian schlenderte in sein Zimmer. Der Schnee bedeckte die Fensterbank von außen und eine Kohlmeise suchte dort nach Futter.

Am folgenden Morgen schien die Sonne von einem

blauen Himmel. Die weiße Pracht schmolz regelrecht da-hin. Fabian graute vor der Schule und nur der Gedanke an den Neuen motivierte ihn. Ansgar wartete wie gewohnt an der Bushaltestelle. „Ich plante, zu Hause zu bleiben, aber meine Alten flippten aus!“ Bünting grinste und stapfte in den Haufen Schnee auf dem Bürgersteig. „Verstehe ich, ist bei mir nicht anders.“ Auf der gegenüberliegenden Stra-ßenseite trottete Ismael lustlos entlang und grüßte mit einer kraftlosen Geste seine Freunde. „Morgen Männer, wie ist die Lage?“ Nach gegenseitigem Schulterklopfen schlender-ten die Jungen weiter in Richtung Realschule. Andere Schü-ler säumten in dieser Frühe ebenfalls die Gehwege zum Buchenberg.

Fabian stoppte abrupt, denn da kam der Neue aus

Hamburg. Ansgar fasste sich an seinen Schmerbauch und räusperte sich. „Mein Vater sagt, diese Familie wohnt in der großen Villa am Enten See. Sein Alter ist so ein Profes-sor in Münster.“ Ismael kaute lautstark sein Kaugummi. Die Bemerkung seines Freundes schien ihn nicht weiter zu interessieren. Fabian nickte. Gurion schlenderte durch den Schneematsch. Die Sonne blendete ihn. So merkte er nicht, dass die drei Jungen ihm direkt folgten. Erst das laute Schmatz Geräusch von Ismael riss ihn aus seinen Gedan-ken. „Morgen Herr Weizmann.“

Der Junge mit den schwarzen Haaren reagierte

nicht, sondern trottete mit flinken Schritten voran. Seine Verfolger erhöhten ihr Tempo ebenfalls. Gurion stoppte abrupt und blaffte sie an. „Ich brauche kein Geleit zur Schule! Lasst mich gefälligst in Ruhe.“ Verblüfft sahen ihn die drei Freunde an. Fabian ergriff das Wort. „Wir haben dir nur einen guten Morgen gewünscht, wenn das schon ein Problem ist. Was stimmt mit dir nicht?“ Ohne ihnen eine Antwort zu geben, lief er schnurstracks weiter. „Der Kerl ist echt unterirdisch, dem fehlen einige Latten am Zaun.“ Das Lachen wirkte befreiend und sie schlenderten in Richtung Buchenberg.

Die Schulbusse verließen den Wendehammer und

fuhren stadtauswärts. Vor dem Haupteingang der Schule sammelte sich eine Menschentraube und lautes Geschrei durchschnitt die kalte Luft. Fabian und seine Begleiter er-höhten die Geschwindigkeit. Weizmann wälzte sich auf dem Boden und wehrte gleich drei Angreifer ab. Krass, da-bei hatte die Schule nicht einmal begonnen. Bünting ver-passte einem Streithahn eine deftige Backpfeife und er ließ von Gurion ab. Die beiden anderen Jungen suchten darauf-hin das Weite. Langsam richtete sich der Neue auf und be-freite sich von Schmutz und Nässe. Die Schüler marschier-ten an ihnen vorbei, denn die Vorstellung war vorüber.

„Ich danke dir, was stimmt mit diesen Freaks hier in

Borghorst nicht?“ Fabian schüttelte den Kopf und Ansgars Mund stand weiterhin offen. Zusammen betraten sie die Klasse. Geschichte laut Stundenplan. Doch der Lehrer Herr Bürger ist erkrankt. Gemurmel schwoll an, bevor Frau Schulze hereinschneite. „Es gibt zwei Stunden Deutsch, Ruhe jetzt!“ Die Zeit zog sich in die Länge und der Pausen-gong glich einem Rettungsanker in höchster Not. Fabian beobachtete Weizmann unauffällig. Gurion fuhr ihn un-vermindert an. „Wie helfe ich dir am besten Bünting?“ Er errötete und drehte seinen Kopf in die andere Richtung. Er schreckte zusammen, wo Ansgar ihm auf die Schulter tipp-te. „Lass doch diesen Schnösel, wenn er etwas von uns braucht, wird er sich schon melden.“ Er nickte und sie schlenderten hinaus auf den Pausenhof. Erst jetzt bemerk-ten sie die drei Mädchen, die sie anstarrten. Ismael kicherte. „Ich denke, die Angie ist scharf auf dich Fabian.“ Bünting schaute demonstrativ genau in die andere Richtung. „Non-sens nicht so einen Müll! Die Tussi steht nur auf reiche Bonzen. Angela ist für höhere Mächte auserkoren, das sagt meine Mutter zumindest.“ Dennoch gestand er sich ein, sie ist ein echter Hingucker. Lange blonde Haare wallen über ihre schmalen Schultern und ihre Augen so blau wie das Meer. Das Antlitz in den Farben von edlem Porzellan. Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken hinauf. Er suchte schnell das Weite. Lachend folgten ihm die Freunde. Angela ki-cherte und schaute Susi mit einem Wimpernaufschlag an. „Die treten die Flucht an. Dieser Bünting rafft überhaupt nichts. Ob der rechts ist? Er spielt allen nur etwas vor.“ Claudia meldete sich just zu Wort. „Holla die Waldfee. Da steht eine sicher auf den Fabian.“ Angie warf ihrer Freun-din einen finsteren Blick zu und schmollte.

Nach einer Stunde Biologie folgte der heißersehnte

Sport. Nicht alle Schüler teilten Büntings Passion. Zugege-ben, die meisten daddelten lieber die Spiele auf ihren Smartphones. Dabei fochten sie regelrechte Meisterschaften aus. In der Umkleidekabine roch es nach Käse und anderen undefinierbaren Kredenzen. Gurion trug schwarze Klamot-ten. Das ließ ihn bedrohlich erscheinen. Fabian grinste und malte sich in seinen Gedanken aus, wie er den Neuen ab-zog. Erst das makabre Grinsen auf den Gesichtszügen Weizmanns holte ihn aus seinem Tagtraum. Dem würde er es gleich zeigen, schwor sich Fabian. Hindernis-Parcours, genau das Richtige. Alle bauten zuerst die Stationen auf. Ansgar reichte der Aufbau zur sportlichen Leistung des Tages. Es folgte ein kurzes Aufwärmtraining und Herr But-ler, der Sportpauker ließ es krachen. Die Entscheidung rückte näher für Bünting. Er oder dieser Gurion? Weiz-mann hatte scheinbar ähnliche Gedanken und musterte ihn mit seinen dunklen Augen eindringlich. Der Sprung über das Pferd ist für viele Schüler die Inkarnation des Grauens. Die Mädchen schrien und kreischten sich in Ektase. Ansgar Möllers nahm gehörig Anlauf und Fabian und Ismael feu-erten ihn an. Doch sein Hochsprung über das Gerät endete in einer unendlichen Flut von Schmerzen.

Alle Blicke richteten sich auf Gurion Weizmann, der

nicht einmal Anstalten zeigte, einen Anlauf für das Pferd zu nehmen. Mit einem gewaltigen Sprung überwand er das Hindernis. Er lief sofort zur nächsten Schikane. Fabian übersprang den Gaul ebenfalls mühelos und sprintete dann zu den Kästen. Runter und rasch hindurchkriechen. Butler stoppte die Uhr. Die Hochseile. Die Königsdisziplin. Rauf und hinab und das in einem Wahnsinnstempo. Die beiden Jungen zogen gleich. Die Barren folgten dann und Über-schlag und ab dafür! Fabian wehrte sich nicht gegen den aufkommenden Gedanken, dass Weizmann ihn hier heute besiegte. Der Kerl legte ein wahnsinniges Tempo vor. Hin-legen und den Volleyball an die Wand schmettern. Zwan-zig Mal und mehr. Ein leichter Taumel der Erschöpfung überfiel Fabian und er keuchte wie ein Stier. Schnappat-mung wie bei einem Fisch auf dem trockenen Ufer. Er hatte Gurion für einen Augenblick aus den Augen verloren. Jetzt hüpfen durch diese verdammten Kreise und ein lautstarker Applaus setzte ein.

„Weizmann Erster! Bünting Zweiter!“ Butler ver-

kündete das Ergebnis mit Begeisterung. Fabian hechelte nach Atem und ihm war speiübel. Kraftlos schmiss er sich auf die Matte. Niemals hatte er in seiner Lieblingsdisziplin gelost. Gurion stand vor ihm und streckte seine Hand aus. Eine Schmach und trotzdem griff er dessen Pranke und ließ sich hochziehen. „Nicht übel gelaufen und um ein Haar die gleiche Zeit.“ Bünting verschlug es augenblicklich die Sprache. Andere Schüler klatschten den beiden zu und Fa-bians Brust wuchs ein wenig an und war von Stolz erfüllt.

Das Duschen glich einer Farce, denn Gurion hatte

seine Beschneidung nicht schnell genug vor aufdringlichen Blicken abgewendet. Und so schirmten die drei Freunde den Neuen ab. Ihr Freundeskreis hatte sich just in diesem Moment vergrößert. Vor Schulschluss standen zwei Stun-den Mathe bevor. Hammeraufgaben. Fabian qualmte der Schädel. In der Klasse hätte man die berühmte Stecknadel fallen gehört. Kurz nach der Hausaufgabenverteilung er-tönte der Gong zum Ende des Unterrichtes. Scharen von Schülern stürmten ins Freie, wo erneut Schneeflocken vom Himmel tanzten. Ansgar und Ismael warteten auf Fabian. „Gurion schlug dich um Haaresbreite Alter. Ist das ein Omen?“ Bünting zückte grinsend die Achseln. „Wer siegt, verliert mit Anstand. Am See wohnen die?“ Die beiden Freunde nickten und liefen los. Weizmann trottete ein Stück vor ihnen her, er drehte sich um, hob die Hand zum Gruß und verschwand in einer Nebenstraße.

„Er grüßt uns, wenigstens ein kleiner Anfang.“ In

der alten Staufenvilla wohnte die Familie. Die hatten auf jeden Fall eine Menge Geld, sinnierte Fabian. Zuhause trat er in den Hausflur und im Hof gurrten lautstark die Tau-ben.

Hier drinnen herrschte Finsternis wie in einem Ker-

ker und überhaupt ist in diesem Haus Licht Mangelware. Oben schrie ein kleines Kind und die Mutter versuchte, den Schreihals zu beruhigen. Langsam kletterte er die Stufen empor und wieder einmal brüllte der Vater lauthals. Mein Gott er hasste diese ganze Situation zutiefst. Warum lebte er nicht in einer halbwegs normalen Familie? Zögerlich kramte er den Schlüssel aus seiner Hosentasche. „Jetzt ist der Strom abgedreht! Just bereite ich den Eintopf über einer Kerze zu?“ Mutter Bünting schnaubte verächtlich. Ihr Mann Paul schien der Wutausbruch seiner Frau nicht zu stören. Er beugte sich tiefer auf die Zeitung, die er einem Nachbarn zuvor stibitzt hatte.

„Der Sohnemann! Na, wie schaut es aus Kleiner?“

Der alte Herr bekam einen Bart, denn rasieren schien er verlernt zu haben. „Alles in bester Ordnung und bei euch?“ Paul Bünting starrte seinen Sohn aus glasigen Augen an. Er schüttelte den Kopf. „Nein, mein Junge, wir versinken hier im Chaos und in der Kacke.“ Von den anderen beiden Ge-schwistern keine Spur, dachte Fabiani. Die Mutter klingelte bei einer Nachbarin, um den Eintopf aufzuwärmen. Der Alte sturzbesoffen und dann grölte er lauthals los. Ein ver-botenes Liedgut und doch grinste Fabian. „Ruhe da oben! Sonst rufe ich die Polizei!“

Die Mutter knallte den Topf auf den Tisch. Erst jetzt

sah der Junge ihre Tränen, die in einem Fluss über ihre Wangen liefen. Das hier ist schließlich der normale Wahn-sinn bei den Büntings.

Gurion Weizmann hockte sich auf die Bank und

schaute auf den Teich hinaus. Die Enten schwammen auf ihn zu und prompt fütterte er sie mit dem übrigen Pausen-brot. Eine innere Stimme verbat ihm, nach Hause zu laufen. Seine Eltern arbeiteten beide. Die Geräusche auf dem Dachboden gestern, hatte er sich nicht eingebildet. Etwas Uraltes lauerte dort oben. Die Gegenstände bereiteten ihm Angst. Der Urururgroßvater ist in einem KZ gestorben. Genau dieser Gedanke malträtierte sein Hirn. Schreckliche Bilder an den Wänden. „Urban Weizmann.“ Sein Opa hatte nie über seinen Vater gesprochen damals in Hamburg. Und dieser Großvater, ein angesehener Anwalt ist mittlerweile auch verstorben. An seine Großmutter erinnerte sich Guri-on schemenhaft. Sie ist vor ihrem Mann verschieden. Er hatte die letzten Brotkrumen verfüttert und trottete dann langsam zur Villa. Die aufkommende Panik schnürte ihm den Hals zu, denn die Gardine an einem der oberen Fenster bewegte sich. Das ist unmöglich und er griff in seine Ja-ckentasche und wählte die Nummer des Festnetzes im Haus. Erwartete er, dass jemand abhob? Er beendete seinen Anruf und ein lautes Rauschen ertönte. Fast schrie er auf. „Mutter! Vater!“ Er kam sich in diesen Sekunden wie ein kleines Kind vor. „Gurion mein Junge und schon bald kommst du!“ Hitze schlug ihm durch die Finger. Er ließ das Smartphone fallen. Diese krächzende Stimme hatte er nie in seinem Leben gehört. Was um alles in der Welt erleb-te er jetzt hier?

Er rührte sich kaum von der Stelle, seine Glieder

sind wie eingefroren. Es ist erst sechzehn Uhr am Nachmit-tag. Sein rechter Arm zitterte und seine Armbanduhr wa-ckelte. Die Villa lag wie ein gefährliches Monstrum in der kleinen Baumschonung. Alte Bäume mit knorrigen Ästen, die wie Tentakel in den grauen Winterhimmel griffen. Eine Kulisse wie in einem Gruselfilm, dachte Gurion. Zusam-menreißen hieß die Devise. Zögerlich schlenderte er auf den Eingang zu. Seine Eltern anrufen oder sofort die Poli-zei? Die hielten ihn sowie so für einen durchgeknallten Spinner. Andererseits blieb ihm die Möglichkeit, der Sache im Haus selbst auf den Grund zu gehen. Mit zitternden und schwitzenden Fingern suchte er den Schlüssel und schloss die Tür auf. Verstohlen blickte er sich um, doch hier draußen ist niemand. Kleine Schneeflocken tanzten lautlos von einem grauen Himmel.

Drinnen umarmte ihn die Wärme. Gurion atmete tief

ein. Er schaltete das Licht an und Wohlbefinden und Si-cherheit umgab ihn. Kopfschüttelnd betrat er die Küche und öffnete den Kühlschrank. Der Hunger meldete sich sofort und er stellte den kleinen Topf auf das Ceranfeld. Er drehte sich um und ein eiskalter Hauch schlug ihm unver-mindert entgegen. Nicht schon wieder. Ein Fenster, das nicht geschlossen ist? Er schlang sein Essen hinunter und trat in den Flur. Dieses Haus hatte einige Generationen von Menschen überdauert. Überall schienen Schatten in den Ecken zu kauern. „Ist hier jemand?“ Der Wind draußen gab die Antwort und rüttelte an den Fensterläden.

Unter dem Vorwand, Freunde zu treffen, schlich

sich Fabian aus der Wohnung. Das Gemecker seiner Eltern hielt er nicht mehr aus. Er beschloss kurzerhand, bei Ans-gar und Ismael anzuläuten. Seine Kumpels. Der eine hatte libanesische Vorfahren und seine braunen Augen hinterlie-ßen bei den Mädels ihre Spuren. Zudem hatte er einen schwarzen Lockenkopf und ist groß gewachsen. Der andere genau das Gegenteil, er glich einer lebendigen Kugel und hatte immerzu Heißhunger. Sein Rucksack ist in den meis-ten Zeiten prall gefüllt. Sein blonder Haarschopf verlieh ihm eine schelmische Note und die blauen Augen strahlten förmlich. Fabians Stoppelhaarschnitt und seine kräftigen Arme und Schultern fielen direkt auf.

Zögerlich drückte er die Klingel bei Ansgar. Lautes

Hundegebell ist die Antwort. Dann ertönen die typischen schlurfenden Schritte auf der Treppe. Nicht anders zu er-warten, stand der kauende Freund ihm gegenüber. „Ist die Schule nicht vorbei Bro? Nur ein Scherz, komm rein.“ Fabi-an folgte ihm in sein Zimmer und beide hockten sich auf das ungemachte Bett. „Ich denke, wir besuchen unseren neuen Freund Gurion und unterwegs holen wir Boudag ab.“ Ansgar nickte und zog sich seine Daunenjacke falsch herum an. Fabian grölte und schlug ihm auf die Schulter. Zusammen verließen sie das Haus. Der Himmel verfinster-te sich. Ismael wohnte in einer heruntergekommenen Mietskaserne. An vielen Stellen bröckelte der Putz. Die di-cken Schneeflocken tanzten in einem wilden Reigen und der eisige Wind fegte durch die Straßen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er das Klingeln hörte. Zu dritt schlenderten die Freunde zur Villa. „Wir kreuzen da jetzt so auf, oder wie genau lautet der Plan?“ Fabian Bünting grinste und schüttelte den Kopf. „Wir peilen die Lage erst einmal von draußen und sehen dann, ob Gurion sich über unseren Besuch freut.“

Der Wind wuchs zu einem Sturm heran und eisige

Kristalle schlugen in ihre Gesichter. Kurze Zeit später er-reichten sie das alte Gemäuer. „Das sieht verdammt un-heimlich aus.“ Die Fenster glichen monströsen Augen, die ihre Umgebung misstrauisch absuchten. Der Kasten ist hoch gebaut und das weitläufige Grundstück lud zum Ver-irren ein. Der Teich fror langsam zu. Kein Wunder, denn die Temperaturen traten in den nächsten Tagen eine Tal-fahrt an. „Dort drüben zu den Bäumen, na macht schon!“ Sie rannten auf die Tannen zu. Ansgar rutschte aus. „Pass doch auf!“ Geschafft, sie beobachteten von hier aus die obe-ren Fenster. In einem Raum unten rechts brannte Licht. Sonst herrschte in dem Protzkasten Dunkelheit. Fabian gluckste und erhob sich. Ismael hielt ihn zurück. „Da steht jemand und glotzt hinaus. Gurion?“

Eine Weile beobachtete Weizmann den Vorgarten.

Es hatte den Anschein, nicht nur die Schneeflocken tanzten hier draußen. Da hatte sich etwas bewegt oder täuschten ihn seine Sinne? Doch da. Drei Gestalten schlichen um die Villa herum und Gurion gestand sich ein, dass ihm das ge-legen kam. Ein Grinsen umspannte seine Lippen. Seine neuen Freunde aus der Klasse. Fabian Bünting, Ansgar Möllers und Ismael Boudag. Rasch trat er vom Fenster zu-rück. Er wechselte in den Raum nebenan und die Dunkel-heit verschluckte ihn.

„Er ist weg. Los auf die andere Seite der Villa und

robben, wie beim Militär ist angesagt.“ Mit einem Schwung setzten sich die Freunde in Bewegung. Das Wetter hier draußen erreichte einen weiteren Tiefpunkt. Zum Glück ließ just der Sturm ein wenig nach. Erst einmal durchat-men, sinnierte Fabian. Ansgar pustete wie ein Dromedar auf einem Laufband. Ismael kicherte. Sie schlichen zum Fenster und spähten in die Finsternis. Nichts. Von innen blendete sie das gleißende Licht und sie schrien gleichzeitig auf. Fabian hetzte in gebückter Haltung voran. Dasselbe Spiel. Der Kronleuchter brannte. Ein kurzes Stück weiter thronte eine Terrasse ungeahnten Ausmaßes. „Die scheinen Kohle ohne Ende zu haben. Schaut euch das mal an.“ Diese Villa übertraf bisher alles, was Fabian je gesehen hatte. Er prallte ungebremst auf Weizmann. „Hey ihr Schneehühner was habt ihr hier zu suchen?“ Eine geraume Weile herrsch-te Sprachlosigkeit. Ismael fand zu seinen Worten zurück. „Mal sehen, wo du wohnst.“ Gurion nickte und trat einen Schritt zur Seite. Gemeinsam betraten sie die imposante Villa.

Fabian Bünting staunte und sein Mund stand offen.

Hier stank es förmlich nach Moneten. An den Wänden hin-gen zahlreiche Gemälde wie in den alten Schlössern. Ihn beschlich augenblicklich das Gefühl, es beobachteten zahl-lose Blicke die Eindringlinge. Wie in einem Museum schoss es ihm durch den Kopf. „Raus mit der Sprache, was führt euch zu mir?“ Da ist er wieder der komische Kauz, sinnier-te Fabian.

„Um ehrlich zu sein, wir beabsichtigen, dich ein we-

nig besser kennen zu lernen, wenn es dir nicht in den Kram passt?“ Gurion verzog sein Gesicht zu einer starren Maske und räusperte sich. „Mhh. Es ist oft nicht so, wie es sich anhört. Ich freue mich über euren spontanen Besuch. Mir fällt hier nach der Schule oft sowie so die Decke auf den Kopf. Wenn ihr Bock habt, zeige ich euch das ganze Haus?“ Das gleichzeitige Nicken ist Antwort genug.

Hohe Räume mit reichlich Stuck verziert und ver-

putzt. In weiteren Zimmern hängen Bilder. Geschmack ist hier zu Hause. Die Küche auf das Modernste eingerichtet und dem Betrachter überkam eine Reizüberflutung. Das Pedantische dieser Villa schien einen zu erschlagen. „Wenn meine Mutter das sieht, hier kocht ein Starkoch.“ Das La-chen kam spontan und schenkte der anfänglichen Tristesse etwas Lebendiges. Im Keller erstarb die kurze Euphorie. Erst das helle Licht ließ die Freunde erneut staunen. „Abso-luter Wahnsinn! Der Partykeller war eine Diskothek. Und dort drüben eine Werkstatt und da rülpst doch selbst der Fürst der Finsternis!“

„Hier unten thront die große Badewanne und ihr

bringt am besten nächstens eure Schwimmklamotten mit.“ Ein Swimmingpool füllte den Raum aus.

Sie trabten hintereinander die Marmortreppe empor.

Gurion überlegte einige Zeit, ober er die Freunde in seine geheimen Erlebnisse einweihte. Andererseits beabsichtigte er, diese neue Freundschaft nicht sofort aufs Spiel zu set-zen. Es reichte, dass er sich seinen Eltern gegenüber erklär-te. Er führte sie ins nächste Stockwerk und fast traf ihn der Schlag. Die Luke zum Dachboden stand offen. „Was ist denn da oben?“ Gurion antwortete nicht, sein Vater hatte den Schlüssel. „Ich glaube, mein alter Herr wird langsam tatterig, manchmal vergisst er diese Falltür zum Boden. Das zeige ich euch ein andermal.“ Ein flaues Gefühl durchflute-te seinen Magen. Er schluckte mehrmals. Er führte seine Freunde ins Wohnzimmer. Kinosaal wäre die treffendere Bezeichnung. Sie schauten sich einen Film an. Das Popcorn landete erst einmal bei Ansgar. Mutter Weizmann kam nach Hause und sofort stellte Gurion sie zur Rede. „Oben beim Dachboden steht die Luke offen.“ Melanie schmierte sich ein Brötchen und nuschelte. „Dein Vater holte etwas. Er wird langsam vergesslich, sind das Freunde von dir?“ Gurion nickte und verschwand mit einem beruhigenden Gefühl ins Wohnzimmer. Der Professor kam nach Hause. Die Jungen verabschiedeten sich voneinander. Fabian grau-te es vor seiner Familie. Die Sterne strahlten an einem fros-tigen Himmel. Kurze Zeit später betrat er das Mietshaus. Die Gerüche schlugen ihm entgegen. Die Leute schafften es nicht einmal, ihren Unrat in die Tonnen zu schaffen. Tage-lang standen die offenen Beutel im Hausflur. Langsam steckte er den Schlüssel ins Schloss. Vor seinem geistigen Auge sah er das luxuriöse Ambiente der Villa und er schmunzelte.

„Wo kommst du denn jetzt her? Hast du keine

Uhr?“ Alle Blicke richteten sich auf Fabian. Vater Paul schwankte ins Wohnzimmer, wo die Flimmerkiste lief. Sei-ne Mutter nähte an einer Jacke und die beiden Geschwister verschwanden in ihre Zimmer. Ein Abend wie jeder ande-re. Er griff sich eine Scheibe Toast und bestrich sie mit Kä-se. Der alte Herr trank eine Flasche Bier, ohne abzusetzen leer. „Nacht, ich gehe in meine Bude, falls mich jemand sucht.“

Frau Bünting lächelte ihn an, wenigstens was. Er

schaute aus dem Fenster und sinnierte wieder über die Prunkvilla. Das ist der absolute Wahnsinn. Gurion mauser-te sich zu einem neuen Freund. Das wirkte auf Fabian be-ruhigend. Er kramte in den Unterlagen aus der Schule, um die Hausaufgaben zu erledigen.

Professor Weizmann schleppte einen schweren Kof-

fer vom Boden, den er morgen in der Fachhochschule benö-tigte. Gurion beobachtete seinen Vater dabei, wo er den Schlüssel für die Dachluke aufbewahrte. Ihrer zukünftigen Entdeckungstour dort oben stand nichts mehr im Wege. Bevor er die Jungs mit hochnahm, würde er die Lage selbst checken. Sein Ururgroßvater kam ihm in den Sinn. Ein Konzentrationslager in Auschwitz, das größte von allen. Ein Grauen, welches immer wieder aus den Nebeln der Vergangenheit aufsteigt. In der Schule diese verstörenden Bilder und Filme. Dieser Anrufer des Haustelefons. Er hatte die korrekte Nummer gewählt, da war er sich hundertpro-zentig sicher. Eine fremde unheimliche Stimme oder spiel-ten seine Sinne ihm einen gehörigen Streich?

Ismael schaute aus dem Fenster. Die Eltern reagier-

ten wütend, wo er ihnen von seinem Besuch bei den Weizmanns erzählte. Der Vater tobte. Er redete ständig da-von, dass die Israelis ihr Land besetzten. Er stellte sich mu-tig vor die beiden. „Das ist eine andere Geschichte. Dieser Gurion ist mein Freund.“ Abdullah Boudag schaute seinen Sohn verblüfft an. Die Mutter entgegnete. „Der Junge lebt heute in einer besseren Welt.“ Sie räumte dabei den Tisch ab. Ismael hielt den zornigen Augen des Vaters stand. Der drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer. „Trefft euch weiter. Papa kämpft gegen die Vergangenheit. Er meint es nicht so.“ Der Streit schmolz wie der Schnee an der Sonne.

Unterdessen lobte Ansgar einmal mehr die Koch-

kunst seiner Mutter. Hamburger, die zehn Zentimeter in die Höhe maßen. Eine Remoulade nicht von dieser Welt. Himmlisch und er haute rein. „Du schlingst schon wieder mein Sohn, du verhungerst hier nicht!“ Der Vater schüttelte den Kopf. Mutter Möllers warf ihrem Mann vorwurfsvolle Blicke zu. „Der Junge isst, wenn es ihm schmeckt. Immer deine Kommentare.“ Günter, das Familienoberhaupt wink-te verbittert ab. „Der Bube platzt aus allen Nähten. Man macht sich Sorgen.“ Ansgar schien den Worten seines Va-ters keine Beachtung zu schenken, denn der zweite Burger wanderte auf seinen Teller. Einmal ist keinmal, lautete die Devise. Er kaute wie ein Wahnsinniger. Der Rülpser kam nicht von dieser Welt. Ansgar grinste und der Vater schüt-telte seinen Kopf.

Gurion träumte in dieser Nacht einen schrecklichen

Traum. „ARBEIT MACHT FREI“ stand direkt über einem Gelände, welches unendlich schien. Ist es das Tor zur Höl-le? Reges Treiben herrschte hier. Die Menschen, die er sah, kamen eindeutig aus einer anderen Zeit. Der Wind peitsch-te das Wasser auf die Dächer. Langsam schritt er auf das Gebäude zu. Die Fenster hatten Gitter aus Eisen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in das Innere zu erhaschen. Das ist unmöglich! Die Leute trugen Uniformen der SS. Eindeutig, er hatte es im Geschichtsunterricht gese-hen. Frauen saßen an den Schreibtischen und tippten auf altmodischen Schreibmaschinen. Gurion drehte sich lang-sam um und schaute auf seine Hände. Was erlebte er hier? Er lief ein Stück an dem Gebäude entlang und überall, so weit sein Auge reichte, standen diese Baracken. Sie kauer-ten in Reih und Glied davor, erbärmlich in ihrer gestreiften Häftlingsuniform. Menschen in der eisigkalten Luft. Einige trugen Kappen. Erst jetzt registrierte der Junge, dass viele von ihnen keine Oberbekleidung besaßen. Soldaten mit Maschinenpistolen und Schäferhunden bewachten die traurigen Gestalten. Gurion traute sich nicht weiterzuge-hen. Hier schien die Zeit still zu stehen. Erst der lautstarke Ton des Weckers riss ihn aus seinem Albtraum. Er streifte sich die Decke vom Körper. Eine Erklärung für diesen Traum fand er nicht. Dort kam sein Ururgroßvater ums Leben? Er schüttelte seinen Kopf und stand auf. Zeit, um sich für die Schule vorzubereiten.

In der Villa ist es still. Kein Wunder, denn seine El-

tern hielten sich in der Küche auf. „Alles klar mein Junge, du siehst verstört aus?“ Der Vater klopfte Gurion auf die Schulter. „Ich hatte einen Traum heute Nacht. Fürchterlich. Es erschien so echt und greifbar. Was bedeutet das?“ Ver-ständnislose Blicke trafen ihn. Er schnappte sich einen Toast und den Rucksack und zog sich an. „Uns ist in der letzten Woche aufgefallen, dass dir die Gedanken zusetzen. Du bringst deine Freunde zu jeder Zeit hiermit hin.“ Das klang positiv. Er verabschiedete sich von seinen Eltern. Fa-bian Bünting griff sein Pausenbrot und schlich die Treppe hinab. Die Geräusche im Haus wuchsen zu einem nicht definierbaren Kosmos an. Dieser Traum, den er in der ver-gangenen Nacht hatte, saß ihm in den Knochen. Ein Kon-zentrationslager und er hatte es in Filmen gesehen. Diese Menschen, abgemagert und ihre Gesichter vollkommen emotionslos. Furchtbar und nicht zu beschreiben. So echt hatte er einen Traum nie erlebt. Andere Kinder liefen an diesem Morgen ebenfalls in die Schule. Fabian trat in die kalte Luft und ein eiskalter Schauer kroch über seinen Rü-cken. Ansgar wartete an der Bushaltestelle. „Krass Alter! Ich habe geträumt, einen regelrechten Albtraum. Vor dem Schlafen kein Essen mehr. Das war Auschwitz, dieses La-ger du weißt schon. Ein KZ.“ Fabian traute in diesen Se-kunden seinen Ohren nicht. Er hatte denselben Traum?

Ismael kam ihnen heute Morgen entgegen und zog

eine Fleppe wie sieben Tage Regen. Dabei stieg die Sonne langsam am Horizont empor. „Hallo zusammen. Mein alter Herr ist mich gestern angegangen. Er findet es nicht in Ordnung, dass ich mit Gurion abhänge. Und heute Nacht der Traum von einem KZ. Verdammt ist das unheimlich.“ Sprachlosigkeit herrschte unter den Freunden. Sie standen eine geraume Weile zusammen. Bünting ergriff das Wort. „Wir haben den Mist alle geträumt? Da stimmt etwas nicht.“ Die beiden anderen starrten ihn verblüfft an und schritten weiter. Heute Morgen wartete Gurion Weizmann auf sie. Fabian beobachtete den neuen Freund.

Er hatte diesen fürchterlichen Traum. Ab jetzt gab es

kein Halten mehr. Brühwarm erzählte er von seinen Erleb-nissen der vergangenen Tage. Der geheimnisvolle Dachbo-den der Villa. Den Freunden standen die Münder offen. Nachdem sie den Eingang der Schule erreichten, kehrten sie langsam zur Realität zurück. „Kein Wort zu irgendje-mand, das ist absolut vertraulich.“ Gemeinsames Nicken und ein Händedruck untermauerten ihr Wissen. Heute Morgen stand Geschichte auf dem Stundenplan. Es über-raschte Fabian nicht einmal, dass es sich bei ihrem Thema um Konzentrationslager handelte.

Da waren sie wieder diese schrecklichen Bilder mit

den ausgemergelten Menschen und in der Klasse herrschte eine angespannte Stille. Der Lehrer legte seine Unterlagen zusammen und die Schüler diskutierten. Wenn die wüss-ten, sinnierte Fabian. Nächste Stunde Biologie und alle ent-spannten sich. Erst der Gong zur Pause befreite die Klasse. Mit Geschrei stürmten sie aus dem Raum. Nur die Freunde verweilten auf ihren Plätzen. Gurion schaute aus dem Fens-ter. Eine dichte Wolkenfront kündigte den Wetterum-schwung an. Ansgar biss in ein üppiges Sandwich und er kaute kräftig. Ismael schlenderte zum Mülleimer. Wortlos verließen sie zusammen die Klasse. Dabei wurden sie aus einiger Entfernung von drei Mädchen und einem Jungen beobachtet. „Das Quartett hat sich nicht gesucht. Glücklich gefunden. In der letzten Zeit hängen die immer öfter bei-sammen.“ Lydia schaute Bernd kaugummikauend an und nuschelte. „Ist da jemand neidisch? Geh doch zu denen, dann gehst du uns nicht mehr auf den Sack.“ Der Junge zog eine Fleppe und verschwand. Frau Holle schickte die nächsten Flocken des Firmamentes. Der Schnee blieb lie-gen. „Der Unterricht über die Konzentrationslager kam wie eine Keule, was meint ihr?“ Hinter einer Mauer kauerten sie sich eng zusammen. Hier kam der Schnee nicht hin. Leider ist die Pause zu schnell vorbei. Zwei weitere Stun-den Mathematik raubte den Schülern den letzten Verstand. Nur Ansgar kaute vor sich hin. An diesem Tage schneite es ununterbrochen. Bald verschwand das Umland von Stein-furt unter einer dichten Schneedecke.

Endlich der ersehnte Schulschluss und nur wenige

Tage bis zu den Weihnachtsferien. In der Stadt herrschte der gewohnte Trubel. Am E-Center füllte sich der Park-platz. Viele Auswärtige suchten in den Geschäften ihre Ge-schenke. Nach erlesenen Speisen für die festlichen Tage. Da kam sie wieder, diese stille Zeit und leider ist sie öfter das Gegenteil. In der letzten Nacht hatte es auf der Straße in Richtung Burgsteinfurt einen schweren Verkehrsunfall ge-geben. Zwei Tote und immer weiter kämpfte die Feuer-wehr mit den Spuren der Verwüstung.

Diebe kamen ebenfalls in dieser besinnlichen Zeit zu

fetter Beute. Genau in diesen Minuten. Drei maskierte Männer beobachteten eine geraume Weile die Villa, die durch den großen Garten und einen Teich gesäumt ist. Das Fluchtfahrzeug mitsamt Fahrer parkte in einer Nebenstra-ße. Die drei wandten sich um. „Durch den Keller brechen wir ein. Die Nachbarschaft bekommt nichts mit. Die Alarmanlage ist kein Problem.“ Die beiden anderen nickten stumm. Brenner räusperte sich und flüsterte. „Warum ent-scheidet ihr euch für diese jüdische Villa?“ Feldmann der Boss hasste es wie die Pest, wenn es immer so blöde Kom-mentare gab. „Weil es hier eine ganze Menge zu holen gibt. Los jetzt.“ Einer trug einen Werkzeugkoffer und die beiden anderen schulterten große Rucksäcke. Das dichte Schnee-treiben spielte ihnen in die Karten. Keine Menschenseele zu sehen. Wenige Meter trennten die Einbrecher von ihrem Objekt der Begierde. Brenner bemerkte ihn aus dem Au-genwinkel. Ein großer Hund trottete gemütlich über den Rasen. Er beobachtete sie aus sicherer Entfernung. „Das Vieh sieht wie ein Wolf aus. Verschwinde schon!“ Der Vierbeiner rührte sich nicht vom Fleck. Lautes Knurren wechselte in ein Jaulen. Der vermeintliche Isegrim ver-schwand zwischen den Bäumen. Irritiert schauten sich die Männer an. „Was ist denn das für ein Mist hier? Weiter gehts.“

Mit flinken Schritten erreichten sie den Kellerein-

gang. Alles passierte in Sekunden, da ist dieser Wolf ver-gessen. Finsternis umschlingt die Einbrecher, die sich die Sturmhauben tiefer zogen. Die richtige Entscheidung. Die-ses ehrfurchtsvolle Haus scheint die reinste Schatztruhe zu sein. Allein der Keller ist der absolute Wahnsinn. Eine Werkstatt von ungeahnten Ausmaßen. Ihr eigenes Werk-zeug schien überflüssig zu sein. Nebenan ein Swimming-pool. „Eine kurze Runde durch den Pool?“ Feldmann schüttelte den Kopf. „Los weiter! Nachher gibt es ein Bad in der Südsee.“ Andere Räume hier unten sind riesig und mit Schätzen gefüllt. Sie hatten es auf Bargeld, Schmuck, Digitalgeräte und Kunst abgesehen. Oben erwartete sie die fette Beute. So erreichten sie die erste Etage. „Nimm die beiden Säcke aus den Rucksäcken. Sofort alles säuberlich verstauen. Die oberen Stockwerke knöpfen wir uns hinter-her vor!“ Einige Sachen von Wert wurden verstaut. Sie stö-berten an den markanten Verstecken. Alte Möbel rochen nach Altertum und Geld. An den Wänden hingen Gemäl-de, die auf die Einbrecher finster hinabblickten. Linksseitig eine moderne Küche. Schränke und der Kühlschrank wur-den in Windeseile durchwühlt. Brenner betrat das Wohn-zimmer und stieß einen leisen Pfiff aus. Er ließ einige Gerä-te in einen Beutel verschwinden. Ein digitales Mekka diese Villa. Er zog ein Bild von der Wand, vermutlich Picasso, so ein Druck kostete ein Vermögen. Fieberhaft suchten seine Augen das Regal ab. Das eine oder andere Buch ver-schwand im Sackleinen.

Draußen im Schneetreiben trat eine hochgewachsene

Gestalt aus den Bäumen hervor. Langsam schaute sie sich um. Nur die Flocken tanzten leise zur Erde. Gekleidet mit einem langen, schwarzen Ledermantel. Ein blonder Zopf fiel dem Hünen über die breiten Schultern. Das markante Gesicht zu Boden gerichtet, näherte er sich dem Keller. Er saugte die eigentümliche und vertraute Luft hier unten ein. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die Menschen sind überwiegend armselige Kreaturen der Schöpfung, oft ein Fehlgriff unseres Herrn. Diese drei Exemplare lebten da-von, anderer Leute Sachen zu stehlen. Das schon seit Jah-ren, solange er sie beobachtete. Er näherte sich langsam der Treppe. Geräusche von oben. Klappern, Fluchen und Flüs-tern, das übliche. Er verweilte ein wenig. Ihr Werk ist nicht zu Ende gebracht.

Feldmann fand in einer Banktasche fast vierhundert

Euro. „Jetzt eine Etage höher los!“ Die beiden anderen zö-gerten einen Moment. „Hey was ist? Kommt!“ Zusammen stiegen sie die Treppen hoch. Brenner blieb wie angewur-zelt stehen. „Ist unten ein Geräusch? Habt ihr das gehört?“ Die Begleiter schüttelten synchron die Häupter und sie trot-teten weiter.

Der Hüne stand unterdessen in der Küche. Er

lauschte den Schritten der Einbrecher. Langsam drehte er sich um und betrachtete das Interieur des Hauses. Ein altes Domizil, denn vor über einhundert Jahren lebte hier eine reiche jüdische Kaufmannsfamilie. Zu einer Zeit des Auf-bruchs in eine vollkommen neue Ära. Aber ein gewaltiger Irrtum, der wie eine Sturmflut das Land und seine Men-schen unter sich begrub. Mit der braunen Horde zeigte der Leibhaftige seine Krallen und Zähne. Ein gefallener Engel und ein gewisser Adolf Hitler.

Die Einbrecher erreichten das obere Stockwerk. Je-