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Hugo von Hofmannsthals Märchen "Die Frau ohne Schatten" erzählt von der Menschwerdung eines Geistwesens - einer Fee. Im vorliegenden Band sollen die hauptsächlichen fünf handelnden Personen vom Standpunkt einer entwicklungspsychologisch orientierten Homöopathie untersucht werden, um allgemein geltende psychische Entwicklungslinien aufzuzeigen und die bei Störungen des Prozesses möglichen homöopathischen Mittel zu differenzieren. Das Buch ist für Homöopathen bestimmt, kann aber auch von Psychologen und interessierten Laien mit Gewinn gelesen werden. Bisher in dieser Reihe erschienen: Homers "Ilias" (2013) Odysseus und Aeneas (2014) Lars von Triers Melancholie-Zyklus (2015) Die Homöopathie-Wahrheit (2016) Alternative Fakten (2017) Die Unendliche Geschichte (2018) Marie Curie, Steve Jobs (2019) Undinen und Leviathan (2020) Kafka (2020) Hitler und Exupéry (2020) Parzival (2021)
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2023
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„Die Frau ohne Schatten“ als romantisches Märchen
Die Zeit
Der Ort und seine Bewohner
Zwischenstück: Ad me ipsum
Zwischenstück: H
EARN
und die Präexistenz
Die Tierverwandlung oder: Das nicht festgestellte Tier
Noch einmal: Der Kaiser und die Fee
Der Beginn der Handlung
Schatten und Schwangerschaft
Stein und Schatten
Das Ästhetische und der Schatten
Der Talisman
Der rote Falke
Die zwei Wanderer ohne Schatten
Zwischenstück: Sepia und der Rückzug von Rollenerwartungen
Das Geschäft mit der Färbersfrau
Der Kaiser in der Höhle der Ungeborenen
Die Versteinerung
Im Haus des Färbers und in der Umgegend
Das Ausdrehen aus einem alten Gesetz: Die Mutter
Die Erlösung: Jenseits der Mondberge unter dem Sichelmond
Hinter sich zurücktreten und mit geschlossenen Füßen gehen: Zwei Bewegungsmetaphern für psychische Zustände
Zwischenstück: Ödipus, der Schwellfuß
Das Goldene Wasser, der Schatten und die Statue des Kaisers
Diskussion der möglichen Arzneimittel
1. Die Amme
2. Die Kaiserin
3. Der Kaiser
4. Barak
5. Baraks Frau
Nachtrag
Danksagung
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Der Limerick. Beispiele einer textkritischen Analyse vom Blickwinkel der Jungianischen Homöopathie Teil 10: Über die Bedeutung von nicht vorhandenen Symptomen oder: Was, wenn es nicht wehtut? Von Anonymus
1919 wurde die Oper „Die Frau ohne Schatten“ uraufgeführt. Das Libretto stammt von Hugo VON HOFMANNSTHAL, die Musik von Richard STRAUß. Zeitgleich erschien die Erzählung „Die Frau ohne Schatten“, ebenfalls von Hugo VON HOFMANNSTHAL, auf die ich mich hier vor allem beziehe und die ich als Märchen bezeichnen möchte. 1919 ist die literarische Epoche, die wir gern als die Romantik bezeichnen, sicher vorbei, der Geist jener Zeit ist aber damit nicht tot. So konnte STRAUß das Gemeinschaftswerk als „romantische Oper“ bezeichnen und auch in dem Märchen ist der romantische Geist deutlich zu sehen.
Er zeigt sich auch darin, dass HOFMANNSTHAL um 1924 darüber nachdachte, eine „blaue Bibliothek“ herauszugeben. Darin sollten unter anderem aufgenommen werden: Ludwig TIECK, Adalbert CHAMISSO, Joachim VON ARNIM, E.T.A. HOFFMANN, Edgar Allan Poe, Clemens BRENTANO, Justinus KERNER, NOVALIS, GOETHE („Das Märchen“). Da befindet sich VON HOFMANNSTHAL mit seinem Buch „Die Frau ohne Schatten durchaus in guter romantischer Gesellschaft1.
Interessanterweise weist die Farbe Blau zurück auf das romantische Symbol der Blauen Blume, aber auch zum Märchen „Die Frau ohne Schatten“, wo wir bereits in der zweiten Zeile etwas vom blauen Palast erfahren, der Wohnstätte von Kaiser und Kaiserin / Fee. Und gleich auf der ersten Seite erscheint auch ein blauer Bote aus dem Geisterreich.
Eine wesentliche Gemütsbewegung der Romantik ist die „unstillbare Sehnsucht“, von der oft nicht einmal gesagt werden kann, wohin sie sich richtet. Aber eine Eigenschaft hat dieses Dort, was immer es auch sei: Es ist das Andere, es ist eine andere Welt (die Welt hinter den Mondbergen, hinter dem Regenbogen2). Auch diese Sehnsucht wird sich in HOFMANNSTHALs Märchen zeigen.
Wir können versuchen, die Sehnsucht nach dem Anderswo zu fassen. Im Außen ist es natürlich die Reiselust, das Träumen von fernen Ländern, das Erleben des Fantastischen, das es in den nördlichen Breiten so nicht gibt (vgl. die Furcht Mephistopheles‘ vor der im Süden stattfindenden klassischen Walpurgisnacht). Es ist aber nicht nur das, sondern es gibt auch eine innere Sehnsucht. Wir sprechen ja von der Zeit um die Jahrhundertwende und das ist auch die Zeit, in der das Unbewusste entdeckt wurde bzw. mehr Aufmerksamkeit als bisher bekam, angefangen bei GOETHE, aber mit einer ersten Kulmination bei CARUS und HARTMANN (mit dem philosophischen Hintergrund von SCHOPENHAUER) und schließlich FREUD (hier sehen wir teilweise NIETZSCHE im Hintergrund). Und natürlich ging jene Kette weiter – zu JUNG und vielen anderen. Auch VON HOFMANNSTHAL hatte seinen Platz in dieser Kette: Er gestaltete als Literat das, was er als die Präexistenz und die Existenz bezeichnete und was durchaus etwas zu tun hat mit dem Bewussten und dem Unbewussten, aber auch mit jener unstillbaren Sehnsucht (in beide Richtungen). Von diesen zwei Welten wird in der Folge noch mehrfach die Rede sein.
Der Bewegung zwischen den Welten, die als außen gedacht werden, entspricht natürlich eine innere Bewegung, eine Wandlung, Verwandlung. Auch das ist ein großes Thema des Märchens.
Aber es wird Zeit für eine kurze inhaltliche Einführung, die im Verlaufe des Textes ergänzt werden soll:
Es geht um zwei Paare. Das eine wird von dem Kaiser der Südöstlichen Inseln und der Kaiserin gebildet, die vom Kaiser in Gestalt einer weißen Gazelle gejagt und gestellt wurde. Bei der Kaiserin handelt es sich um eine Fee, die damit kein vollständiger Mensch ist (was mehr oder weniger bzw. mehr und weniger als ein Mensch sein kann). Äußerlich fehlt ihr der Schatten. Dem entspricht innerlich, dass sie keine Kinder empfangen kann.
Dem Kaiser fehlt auch einiges. Was das ist, wird im Verlaufe dieses Textes deutlich werden.
Kann die Kaiserin binnen eines Jahres und drei Tagen keinen Schatten erlangen, so kommt es zum Verhängnis: Der Kaiser wird zu Stein. Die Amme der Fee soll ihr einen Schatten verschaffen.
Beim zweiten Paar gibt es auch Probleme: Der Färber Barak möchte Kinder, aber seine Frau lehnt diesen Wunsch ab. Die Amme wählt diese Frau dafür aus, dass sie der Kaiserin ihren Schatten überlässt im Tausch für eine magische Prozedur, nach der sie keine Kinder mehr bekommen kann. So viel zum Ausgangspunkt der Geschichte.
Die Zeit:
Wohl könnte man, wenn von einem Kaiser die Rede ist, auf vergangene Zeiten schließen, dem ist aber natürlich nicht so, denn es handelt sich ganz eindeutig um die mythische, ewig gültige Zeit des Märchens, die wir nur vergessen können, nicht aber außer Kraft setzen. Genauso gut könnten wir von der Zeitlosigkeit des Märchens reden. Wir werden noch sehen, dass die Zeit in diesem Märchen etwas anders verläuft als die von uns vorgestellte Zeit. Zeit ist hier nichts, was man an der Uhr abliest, sondern an der Sonne (nachts ist der Kaiser bei der Kaiserin, tagsüber auf der Jagd) und am Mond (zwölf Monde sind vergangen, ohne dass die Kaiserin einen Schatten wirft) und schließlich gibt es noch jene drei Tage, die der Kaiser noch leben (im Leben sich bewegen) kann. Und völlig zeitlos scheint uns dann die "Zeit" in der Höhle der Ungeborenen zu sein.
Der Ort und seine Bewohner: Die zwei Welten
Zwei Welten gibt es also in Hugo VON HOFMANNSTHALs Erzählung (seinem Märchen): die Welt der Menschen und die Welt der Geister. Das ist uns nichts Neues. In den letzten Ausgaben dieser Schriftenreihe ging es auch um zwei Welten: Die "weltliche" Welt, die von König Arthus angeführt wird und die geistige Welt des Grals. Parzival macht sich auf, um in die Welt Arthus' einzutreten und landet schließlich in der Welt des Grals als deren König. Oder man kann auch sagen, dass er zur Vereinigung dieser beiden Welten beiträgt.
Oder es geht in der "Unendlichen Geschichte" um Phantásien und unsere Welt. Auch hier kann man von Annäherung bis Vereinigung sprechen.
Oder wir schrieben von der Welt der Undinen und Leviathane gegenüber der Welt der Menschen3. Bis hin zur Welt der Götter und der Welt der Menschen in den Ausgaben über die Ilias und die Odyssee.
Eines wird an dieser Stelle deutlich: dass es sich bei diesen verschiedenen Welten nicht nur, wie in der Überschrift angekündigt, um verschiedene Orte handelt, sondern eben auch um verschiedene Zeiten. Unsere Welt (bzw. unsere Lebenszeit in ihr) ist endlich, während die andere Seite wenn schon nicht unendlich, so doch mindestens von erheblich längerer Dauer ist.
Auch bei HOFMANNSTHAL gibt es Repräsentanten dieser beiden Welten: den Kaiser der südöstlichen Inseln4 auf der einen Seite und den Geisterkönig Keikobad auf der anderen Seite. Keikobad ist das einzige Wesen jener Welt, das einen Namen hat bzw. dessen Namen wir erfahren. Das bedeutet, dass er irgendwie auch Kontakt zu unserer Welt haben muss, denn von einem Wesen der anderen Welt, das die Grenze nicht überschreiten kann, kennten wir den Namen nicht, ja, wir wüssten nicht einmal, dass es dieses Wesen gibt.
Der Kaiser ist wohl der Repräsentant unserer Welt, aber er ist von dieser auch relativ geschieden, da er zwar in unserer Welt lebt, sein blauer Palast aber doch weit von den normalen Menschen der Städte und Dörfer entfernt ist. Wahrscheinlich macht diese Abgeschiedenheit die Verbindung mit der Fee – der Frau ohne Schatten – überhaupt erst möglich. Der Kaiser hat keinen Namen (bzw. erfahren wir diesen nicht). Er ist also ein Wesen, das noch nicht vollständig zur Existenz gelangt ist (um schon einmal in der noch zu erläuternden HOFMANNSTHALschen Nomenklatur zu sprechen).
Andererseits ist diese Abgeschiedenheit vom Rest der Welt aber auch notwendig, denn er ist nun einmal der Kaiser der südöstlichen Inseln (und nicht der Kaiser des Festlandes). Inseln sind bei aller Sonne, die dort scheinen mag, immer auch Orte der Abgeschiedenheit.
Jeder Mensch ist eine Insel, die sich nach der Vereinigung mit dem Festland sehnt.
Arthur KOESTLER
Und als Kaiser muss man wohl von den anderen Menschen geschieden sein, denn sonst wäre man kein Kaiser mehr. Andererseits muss aber Kontakt da sein, denn ohne diesen Kontakt könnte man seine Aufgaben als Kaiser nicht erfüllen und dadurch kein Kaiser sein. Wir werden sehen, dass dieser Kaiser das Gleichgewicht zwischen Abgeschiedenheit und Kontakt nicht gefunden hat. Homöopathisch denken wir dabei an das Geschwisterpaar von Mitteln: Natrium muriaticum und Phosphorus – so gegensätzlich diese Geschwister auch sein mögen, es sind Geschwister.
Die eigentliche Grenze – die zwischen den beiden Welten – wird durch die Mondberge gebildet. Es handelt sich aber nicht um eine unüberwindliche Grenze, so wie auch die Grenze zum Gralsbezirk durchlässig ist.
Wir wissen über diese Grenze, dass Tiere sie mühelos überqueren können. Vielleicht spüren sie das nicht einmal. Wie es mit den Menschen ist und mit den Geistwesen, ob sie zur Überwindung der Grenze irgendwelche Voraussetzungen benötigen, wissen wir nicht. Es scheint aber so zu sein, dass zumindest der Vorsatz, die Grenze zu überqueren, nötig ist.
Das Geisterreich spielt nicht nur bei HOFMANNSTHAL eine Rolle, sondern auch im „Faust“. Faust weiß, dass es einen Weg über die Grenze gibt:
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Die ird’sche Brust im Morgenrot!
„Faust“,443 ff
Das Morgenrot ist hier das Symbol für die Geisterwelt bzw. den Weg dorthin. Aber dieser Weg hat irgendwie auch etwas mit dem Mond zu tun:
Ach, könnt' ich doch auf Berges-Höh'n
In deinem lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,
Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Tau gesund mich baden.
"Faust", 392 ff
Was mich hier lange gestört hat, ist der Konjunktiv. "Ja, dann mach doch endlich!" möchte ich Faust zurufen, „was fehlt dir denn noch?"
Was fehlt, ist natürlich das Loslassen des Wissensqualms, denn wir sehen Faust gleich wieder mit einem Buch in der Hand, so sprunghaft, wie er am Anfang ist.
Der Mond kann offenbar einen Weg darstellen, die Grenze zu überwinden. Der Mond, der irgendwie ein Gegensatz zur Sonne ist, aber eben auch nicht völlige Dunkelheit. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass bei VON HOFMANNSTHAL die Grenze zum Geisterland eben durch die Mondberge gebildet wird.
Nun, von Faust wissen wir, dass er diesen Weg nicht wählt, sondern einen anderen, den gefährlichsten, den der Magie.
Es möchte kein Hund so länger leben,
Drum hab' ich mich der Magie ergeben,
Ob mir, durch Geistes Kraft und Mund,
Nicht manch Geheimnis werde kund
"Faust", 376 ff
Dieser Weg funktioniert (nicht zuletzt dank der Wette zwischen dem Herrn und Mephistopheles), aber Faust bereut schließlich, ihn gegangen zu sein:
Noch hab ich mich ins Freie nicht gekämpft.
Könnt ich Magie von meinem Weg entfernen
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen;
Stünd ich, Natur! Vor dir ein Mann allein
Da wär’s der Mühe wert ein Mensch zu sein.
„Faust“, 11403 ff5
Es ist also möglich, ins Geisterreich zu gelangen, und es ist auch in HOFMANNSTHALs Erzählung möglich. Und auch bei ihm gibt es verschiedene Wege, auch den der Magie (der hier von der Amme praktiziert wird).
Eine weitere Frage wäre, was es bedeutet, wenn jemand die Grenze überschreitet? Aus unserer Sicht ist die Fee ja unvollständig, wenn sie auf unsere Seite gelangt. Ihr fehlt etwas, das HOFMANNSTHALdurch den fehlenden Schatten verdeutlicht. In der Geisterwelt ist das Fehlen des Schattens wahrscheinlich kein Problem. Um in unserer Welt womöglich einen Schatten erwerben zu können (auf welchem Weg auch immer), verliert sie aber auch etwas: Die Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln.
Ungewiesen seinen Weg finden wie die Schlange an der Erde und wie der Weih in der Luft ist Seligkeit, aber Liebe ist mehr.
Mit anderen Worten gibt es eine Dreiheit: Verlust der Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln, Gewinn des Schattens (den man auch als Schatten des Todes auffassen kann), aber dadurch die Fähigkeit zur Wandlung in der Liebe.
Wir Menschen können also ins Geisterreich gelangen und die Bewohner jenes Reiches in unsere Welt.
Allerdings scheint es so zu sein, dass sich das Interesse der Bewohner der Geisterwelt an der unseren zumeist in Grenzen hält. Sie müssen erst beschworen werden, gewissermaßen gezwungen werden, wie es bei Faust geschieht, als er den Erdgeist ruft:
FAUST
Du mußt, du mußt
und kostet‘ es mein Leben!
ERDGEIST
Wer ruft mir?
FAUST
Schreckliches Gesicht!
ERDGEIST
Du hast mich mächtig angezogen,
An meiner Sphäre lang gesogen,
Da bin ich.
"Faust", 481 ff
Dass Faust an dieser Stelle ein Grauen packt, steht auf einem anderen Blatt.
Und auch Mephistopheles wird von Faust beschworen, auch wenn sich Faust dessen vielleicht gar nicht so bewusst ist (Mephistopheles ist ja durch den Prolog auf die Begegnung bereits vorbereitet):
O gibt es Geister in der Luft,
die zwischen Erd' und Himmel herrschend weben,
so steiget nieder aus dem goldnen Duft
und führt mich weg zu neuem, bunten Leben.
"Faust", 1118 ff
Die Amme betritt hingegen unsere Welt mehr oder weniger freiwillig, weil sie ihrem Pflegekind, der Fee, folgen will und muss. Eigentlich ist ihr die Gegenwart der Menschen zuwider. Und sie ist noch in einem weiteren Zwiespalt: Einerseits ist sie die Amme der Fee und muss deren Wünsche erfüllen, andererseits aber ist sie Keikobad und dem Geisterreich insgesamt verpflichtet. Sie versucht, ihre doppelte Aufgabe zu erfüllen, bleibt aber dabei leider an der Oberfläche, was sie zu einer problematischen, wenn nicht gar boshaften Gestalt macht.
Aber wie und warum kam denn die Fee in unsere Welt?
Eine Antwort läuft parallel zu ANDERSENs Geschichte der kleinen Seejungfrau6. Immer wird es in einer Welt ein paar wenige geben, die sich an einen anderen Ort sehnen. Dabei kann es sich um ein Fern-Sehnen oder um ein Zurück-Sehnen handeln (was in gewisser Hinsicht manchmal dasselbe sein mag und was manchmal, wie bei der portugiesischen Saudade, auch in eins fällt7).
Die zweite Möglichkeit wäre, dass die Fee in Tiergestalt (denn solche Verwandlung beherrscht sie dank eines Talismans) unwissend die Grenze überquert.
Eine dritte Möglichkeit ist, dass die Geschichte von ihrem Vater inszeniert worden ist, damit die Fee ein vollwertiger Mensch wird – was allerdings bedeuten würde, dass er sie als Tochter verliert, es sei denn, sein Plan wäre viel weitreichender: die Vereinigung der beiden Welten. Ich halte diesen Plan aber durchaus für denkbar (wir kennen ihn auch aus der Unendlichen Geschichte).
Die Fee ist ein merkwürdiges Wesen: Sie ist nicht unsichtbar, aber irgendwie durchscheinend und vor allem wirft sie keinen Schatten (was, wie wir sehen werden, physisch und metaphorisch aufgefasst werden kann). Ganz Mensch zu werden, würde bedeuten, dass sie einen Schatten wirft und dass sie menschliche Kinder gebären kann. Und: dass sie sterblich wird. Letzteres wird zwar im Märchen nicht direkt gesagt, aber ich glaube stark, dass es auch darum geht, denn wer Leben geben kann, muss sterben können8.
Neben dem Paar Kaiser – Fee gibt es noch ein zweites Paar, das ganz menschlich ist: den Färber Barak und seine Frau. Barak ist die einzige im Märchen auftretende Person mit einem Namen – ein Zeichen dafür, dass er ganz Mensch ist. Eigentlich ist zu erwarten, dass auch seine Frau einen Namen trägt, diesen erfährt der Leser aber nicht. Es wird sich auch zeigen, dass sie dem Geisterreich und der Magie nähersteht als ihr Mann.
Aber damit sind wir schon mittendrin in der Geschichte (bzw. eigentlich der Vorgeschichte dessen, was sich im Märchen ereignen wird).
1 Dass GOETHE das Romantische als das Kranke und das Klassische als das Gesunde bezeichnete, schließt nicht aus, dass er in Teilen selbst der Romantik zugeordnet werden kann. Das „Märchen“ gehört sicher hierzu. Den Titel bezog die geplante Buchreihe wahrscheinlich aus zweierlei Quellen: Zum einen die 1790-1800 von Friedrich Justin BERTUCH herausgegebene Buchreihe „Blaue Bibliothek aller Nationen“ und aus den französischen Märchenheften „bibliothèque bleu“. (Angaben über die von HOFMANNSTHAL geplante Reihe nach MIEHE)
2 Ja, auch in Dorothy lebt die Romantik fort (BAUM).
3 Erwähnt werden muss natürlich an dieser Stelle, dass es in einer etwas anderen Sichtweise drei Welten gibt. Die Welt der Menschen liegt dabei gewissermaßen in der Mitte, darunter ist die Unterwelt und darüber die Welt der Götter, symbolisiert durch Schlange und Vogel (bzw. für unsere Welt ein Säugetier von großer Stärke – Tiger, Löwe – Puma). Und natürlich kann die Zahl der Welten auch nach oben ausgeweitet werden, wie nach unten; man kann auch sagen, es gebe nur eine Welt – oder gar keine (Solipsismus). Aber bei alledem sollte man sich auch fragen, was die merkwürdige Formulierung "es gibt ..." eigentlich bedeutet.
4 Wir erfahren wohl, dass der Herrschaftsbereich des Kaisers im Südosten liegt und aus Inseln besteht. Das wirft aber weitere Fragen auf: Inseln in welchem Meer? Von wo aus liegen sie südwestlich? Von den menschlichen Ansiedlungen? Vom Reich Keikobads? Meine Assoziation zu den südöstlichen Inseln ist Wärme und Sonne und Aloha, während ich im blauen Palast eher einen Ort der Kühle und Einsamkeit vermute.
5 Dieses Zitat halte ich deswegen für bedeutsam, weil es an das erinnert, was KIERKEGAARD als „christlichen Heroismus“ bezeichnet: … und wahrlich kommt es vielleicht selten genug vor, daß einer ganz er selbst zu sein wagt, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortung.Das macht den frühen Vertreter der Existenzphilosophie KIERKEGAARD dem Verfasser der „Frau ohne Schatten“ ähnlich, denn auch für ihn ist der Begriff der Existenz zentral.
6 KUCKARTZ ordnet "Die Frau ohne Schatten" tatsächlich dem Typus der Undinenmärchen zu.
7 Das mag so stimmen, ist aber fern einer Definition dessen, um was es sich bei der Saudade handelt (die sich zum Glück einer Definition entzieht). Erwähnt wird die Saudade an dieser Stelle deshalb, weil die ganze Geschichte in einer Stimmung geschrieben ist, die ich als der Saudade nicht unähnlich empfunden habe (was durchaus auch ein wenig auf mich abgefärbt hat)
8 Ganz so kann man das natürlich nicht stehen lassen, denn die mythische Geschichte ist voll von Kindern, die aus einer Vereinigung von Sterblichen und Unsterblichen entstanden sind. Mir scheinen aber die Mythen von einem männlichen Gott und einer sterblichen Frau eindeutig zu überwiegen (bis hin zu Christus). In der lange Zeit üblichen Auffassung gibt die Mutter das Leben und das Sein, der Vater den Geist.
Bei VON HOFMANNSTHAL gibt es eine Besonderheit: Er liefert gewissermaßen eine Interpretationshilfe für seine Werke mit, die er in seinem Aufsatz: "Ad me ipsum" zusammenfasst10. Das bedeutet nichts weniger, als dass HOFMANNSTHAL zumindest zum Teil weiß, was er uns mit seinen Werken sagen will, dass diese Geschichte nicht gänzlich aus dem Unbewussten stammt (das ist natürlich bei allen Geschichten so, mit der einen oder der anderen Betonung; und eben das ist HOFMANNSTHAL bewusst).
Hierbei spielt ein Begriffspaar die zentrale Rolle, mit dem wir als Psychologen und miasmatisch denkende Homöopathen etwas anfangen können: die Präexistenz und die Existenz. Es macht sich aber erforderlich, hierüber einiges zu schreiben. Zunächst ein Zitat von HOFMANNSTHAL:
Präexistenz: glorreicher, aber gefährlicher Zustand ihre Qualitäten:
frühe Weisheit / Claudio, Andrea – ironisch: junge Witwer,
"Ballade des äußeren Lebens", "Erlebnis"
Auserlesenheit / Kaiser – Abenteurer –Zauberer –abgedankter Kaiser – Dichter, Kind – Wahnsinniger
Angehöriger einer höchsten Welt: millenarische Anklänge
Versuch, diesen erhöhten Zustand zu wahren durch Supposition des Quasi-Gestorbenseins
Geistige Souveränität: sieht die Welt von oben
Das Über-ich: und mein Teil ist mehr etc.
Das Ich als Universum
Schon dieser Beginn des insgesamt rätselhaften, zum großen Teil aus Stichpunkten bestehenden Werkes "Ad me ipsum" benötigt Erklärung und Vergleich. Diese möchte ich versuchen zu geben, auch wenn sie dadurch, dass ich VON HOFMANNSTHALs Text nicht wirklich und vollständig verstehe, nur ("nur") assoziativ sein können.
Ich möchte mit Vergleichen beginnen, wobei es sich um Verhältnisse handeln muss, die jeweils nur zwei Seiten enthalten, damit der Vergleich mit dem vorliegenden zweiseitigen Modell überhaupt möglich ist.
Als erste fallen mir da NEUMANN und WILBER11 ein. Sie gebrauchen für diesen noch weitgehend unbewussten Zustand das Bild des Ouroboros, präziser gesagt: bei NEUMANN des „Nahrungsouroboros“.
Die Schlange, die sich selbst frisst (bzw. gebiert), braucht keine weitere Nahrung. Alles ist immer da12. Es ist der Zustand des Eingeschlossenseins, des Aufgehobenseins in etwas Größerem.
Erichthonius ist innerhalb der Erde in einem solchen Zustand und wird von Gaia an Athene übergeben, womit für ihn dieser Zustand ein Ende findet (bis auf die Tatsache, dass er schlangenfüßig bleibt) und er zu dem gelangt, was wir von uns aus als Existenz bezeichnen würden (wobei VON HOFMANNSTHAL offenbar einen davon etwas verschiedenen Begriff hat).
"Vor" diesem Zustand (sofern der zeitliche Begriff "vor" dort überhaupt irgendeine Bedeutung hat) gibt es nur noch das Pleroma, von dem man eigentlich gar nicht sprechen kann, wie JUNG in seinen „Septem sermones ad mortuos ausführt:
Das Nichts oder die Fülle nennen wir das PLEROMA. Dort drin hört denken und sein auf, denn das ewige und unendliche hat keine eigenschaften. In ihm ist keiner, denn er wäre dann vom Pleroma unterschieden und hätte eigenschaften, die ihn als etwas vom Pleroma unterschieden. ...
Die CREATUR ist nicht im Pleroma, sondern in sich. Das Pleroma ist anfang und ende der Creatur.
...
Wir sind aber das Pleroma selber, denn wir sind ein theil des ewigen und unendlichen. Wir haben aber nicht theil daran, sondern sind vom Pleroma unendlich weit entfernt, nicht räumlich oder zeitlich, sondern wesentlich, indem wir uns vom wesen her vom Pleroma unterscheiden als Creatur, die in Zeit und Raum beschränkt ist.13
Für JUNG beginnt, wenn das Pleroma überwunden ist, der Zustand der Creatur. Es handelt sich dabei um nichts anderes als den Eintritt in die Welt der Polarität: Land und Wasser, Licht und Dunkelheit, Sonne und Mond, Licht und Schatten, Jäger und gejagtes Wild sind Metaphern für diese Polarität.
Und natürlich die Grenze, die Eischale, die zerspringt und die ganze Welt enthält und freigibt, oben und unten, Himmel und Hölle und die Welt der Menschen dazwischen14.