Honigmonde - Clarissa Sander - E-Book

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Clarissa Sander

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Beschreibung

New Orleans – "The Big Easy". Eine Stadt, die flirtet, tanzt und zu allem bereit ist. Hier hofft die junge, bezaubernde Michelle Kranz zu finden, was sie bislang vergeblich gesucht hat: ihr sinnliches Selbst. Von der mysteriösen Stella Duval hypnotisiert, wagt sich Michelle in bislang unbekannte erotische Labyrinthe. Dann trifft sie auf John du Bois - und taucht mit ihm ein in eine ungeahnte Welt der Ekstase, Leidenschaft und Magie...

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Seitenzahl: 204

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Clarissa Sander
Honigmonde
Roman
Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
Copyright der Originalausgabe © 1995 by Clarissa Sander
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Jouve
Inhaltsverzeichnis
Titel - Untertitel (/Genre)Impressum12345678
We must be strong and fearless Trust in the power of love
Aaron Neville
1
Der Sinn ist im Seienden, hatte der Meister gesagt. Doch wie vertrug sich der Sinn mit dem täglichen Einerlei?
Michelle versuchte sich zu entspannen. Sie wollte keine Unruhe ausstrahlen. Immer mit weichen Händen massieren, hatten sie ihr in der Berufsschule eingetrichtert. Sie atmete tief und sagte sich im stillen: Deine Hände sind geschmeidig und federleicht. Jetzt das »dritte Auge« lockern, die Stelle zwischen den Augen, die bei allen Städtern überanstrengt ist. Die Sorgenfalten auf der Stirn glätten. Die Wangenmuskulatur lösen. Sicher, einfühlsam, gelassen. Die Kundin soll sich entspannen und das Gefühl bekommen, schöner zu werden.
Michelle dehnte die Augenbrauen der Kundin. Mit fließenden Bewegungen massierte sie die Creme in die Fältchen unter den Augen. Sie strich übers Kinn und entkrampfte die feine Muskulatur um den Mund. Trotzdem hatte sie nicht den Eindruck, etwas zu bewirken. Es half nichts, die Frau hatte einen unsympathischen Zug um den Mund. Unfroh. Verkniffen. Der ließ sich nicht wegmassieren. Er kam von innen.
Jetzt war wieder das Band mit der säuselnden Musik zu Ende, und keiner kümmerte sich drum. Prompt müßte man das Gespräch aus der Nebenkabine mitanhören: Eine Kundin erzählte von ihrem Griechenlandurlaub. O nein. Nicht die schön wieder.
Michelle tupfte mit den Mittelfingern leicht an die Nasenwurzel, legte der Frau kurz die Hände über die Augen – Zeichen für das Ende der Massage. Dann die Creme abwischen, die wohltuend duftende Packung auftragen, Augentupfer drauf, leise aus der Kabine tippeln und die Vorhänge zuziehen. Zwanzig Minuten Pause.
»Michelle, kannst du bitte mal bedienen? Ich muß noch hinten die Pediküre machen«, sagte Anne, die Besitzerin des Studios, halb im Flüsterton, wie immer. Niemand von den Angestellten sprach laut; nur ab und an die Kundinnen. Und der eine Mann vom Theater; der war Schauspieler und konnte nicht leiser sprechen. Ihm war das gestattet; als Mann in einem New-Age-Kosmetik-Studio war er sowieso als Exot zu betrachten.
Keine Pause also. »Sie wünschen, bitte?« »Ja, sehen Sie, ich hab da diese trockenen Stellen, und ich habe mir überlegt, ob ich nicht...« »Da würde ich es mal mit dieser Serie hier probieren, die ist ganz mild, ohne Konservierungsstoffe.« »Und Tierversuche? « »Nein, selbstverständlich nicht. Auf der Basis von Sonnenhut ... Kundinnen mit problematischer Haut vertragen sie besonders gut...« »Ja, phantastisch...«
Es war ein ganz normaler Montag. Von Sinn keine Spur. Am Ende des Tages fühlte Michelle sich leer und müde. Sie kämmte ihre langen schwarzen Haare, die sie bei der Arbeit in einem Zopf trug, und nahm den Bus um Viertel vor sechs. Wie meistens. Wahrscheinlich würde Heiko anrufen. Es langweilte sie, mit ihm zu sprechen. Einziger Lichtblick des Abends war die neue Folge von »Fackeln im Sturm«. Sie würde sich auf ihr rosa Sofa kuscheln und fernsehen. Und die neue Ausgabe von »Andere Welten«, der Esoterik-Zeitschrift, lesen. Vielleicht waren wieder gute Partnerschaftsanzeigen drin. Sie hatte sich zwar noch nie auf eine gemeldet, aber sie dachte sich gerne Geschichten zu den Leuten aus. Wie mochte ein »männlicher Stier, 1,80, braune Haare, verträumt und reiselustig, mit einer Schwäche für indische Musik« wohl aussehen? Er suchte eine »zärtliche, eigenständige, grazile Waage-Frau, die Wert auf ein harmonisches Zusammensein, aber nicht auf Sexstreß legt«. Nun, sie war Widder, kam also nicht in Frage. Der Rest paßte wohl schon. Aber was meinte er mit Sexstreß?
Michelle fand Männer ziemlich unverständlich. Im Bus setzte sich wieder einer ihr gegenüber und starrte sie an. Reichte es denn nicht, daß sie sich die blonden Haare schwarz färbte? Es war furchtbar. Entweder sie stierten einen hemmungslos an, oder sie wollten einen bevormunden. Oder sie waren gräßlich langweilig. Wie Heiko eben. Vernünftige, attraktive Männer schien es nicht zu geben. Nur im Kino. Oder in »Fackeln im Sturm«.
Andererseits ... Michelle gab sich ihren Erinnerungen hin und starrte durch die Fensterscheibe, an der Regentropfen herunterrannen. Vor ein paar Monaten hatte sie ein einwöchiges Yoga-Seminar auf einem Bauernhof mitgemacht und einen jungen Mann kennengelernt, der anders gewesen war. Scheu und doch in sich ruhend, selbstsicher. Dunkelblond war er, groß, mit einer ausgeprägten Nase, ruhigen tiefblauen Augen, einem zurückhaltenden Lächeln. Seine langen Haare trug er in einem losen Zopf im Nacken. Laute Töne lagen ihm nicht, und zu dennoch wirkte er sehr männlich.
Manchmal hatte Michelle sich dabei ertappt, daß ihr Blick während der Übungen an seinem Geschlecht hängenblieb, das sich durch sein Trikot abzeichnete. Ihr wurde sehr heiß, wenn sie es bemerkte, und ihr Blut pochte aufgebracht durch ihren Körper, floß in ihre Venuslippen, lockte sie. Wie unpassend. Minutenlang war sie weit entfernt von Entspannung und innerer Konzentration kämpfte um Fassung, vermied, rot angelaufen, seinen Blick. Plötzlich glaubte sie seine Hände zu spüren, große, kräftige Hände mit glatter, straffer Haut, die über ihren Nacken strichen, zärtlich ihre Schulter umrundeten, ihr das Trikot abstreiften, einen Windhauch über ihre Brüste jagten, erregend, leicht behutsam. Er wußte alles über weibliche Gefühle, er ahnte ihre Wünsche, er erriet ihre Bedürftigkeit, das spürte sie instinktiv. In einem Wald würde er sie auf ein Moospolster betten und sie lieben, sie spürte seine geschmeidige Haut, seine festen Hüften, er wollte sie nicht besitzen, gab sich ihr hin und nahm sie doch...
Niklas. Er sah aus wie ein junger germanischer Gott, und dann trug er diesen blöden Ehering, deutlich sichtbar. Und erzählte ihr auch noch, daß er seine Frau liebe und sehr treu sei. Aber er war nicht immun gegen sie gewesen. Sie aßen immer abends zusammen, und die anderen aus der Gruppe mieden ihren Tisch, als wollten sie die Intimität nicht stören. Er erzählte von seiner Apotheke in Regensburg, in der er überwiegend Naturheilmittel verkaufte und den. Kunden die Vorzüge alternativer Heilmethoden pries. Allabendlich verabschiedeten sie sich freundlich und gingen auf ihre Zimmer, obwohl etwas in Michelles Eingeweiden riß und zerrte. Jeden Abend wollte sie sich in seine Arme werfen, ihn bei der Hand nehmen, sagen, komm, wir gehören doch zusammen, oder: Willst du nicht mitkommen?
Sie wagte es nicht. Lag in ihrem Bett, unruhig, aufgewühlt, sehnsüchtig. Seine Haut schien so warm zu sein und so verheißungsvoll. Schauer würde er durch ihren Körper jagen, und seine Kraft würde entspannender sein als alle Yoga-Übungen ... aber nein, er war seiner Frau treu. Sie haßte diese Frau.
Doch am letzten Abend rissen die Geduldsfäden. Sie hatten einen Spaziergang durch das Dorf gemacht. Die Nachtluft roch frisch, würzig, nach den weichen Mäulern von Kühen, Erde, blühenden Wiesen. Ein Hund bellte in der Ferne. Gelbes Licht strahlte hinter den kleinen Fenstern der Bauernhöfe. »Vorsicht, da ist eine große Pfütze«, sagte er und griff instinktiv nach ihrer Hand, um sie wegzuziehen. Er ließ sie nicht mehr los. Michelle fühlte sich wie eine Fünfzehnjährige. Zeltlager ... Landschulheim... die Mysterien der allerersten Berührungen. Ungeschickt waren sie gewesen und doch erregender, geheimnisvoller als alle späteren. Hand in Hand gingen sie durch das dunkle Dorf, sprachen nicht, hörten die Atemzüge des anderen, zitterten unter dem Fieber der Berührung. Küß mich, um Gottes willen, dachte Michelle. Sie sprach es nicht aus. »Michelle«, sagte er plötzlich. Seine Stimme war heiser. Er blieb stehen und schloß sie in die Arme. Er war viel größer als sie; ihr Kopf lag an seiner Schulter, sie spürte seinen Pullover, der ein wenig rauh war und nach Kräutern duftete. Sie sank in diese Umarmung, hob das Gesicht, ihre Lippen fanden sich, weich und verlangend.
In der Nähe wurde ein Wagen angelassen. »Wir stehen mitten auf der Straße«, murmelte Niklas, sah sich um. »Komm«, sagte er und deutete auf einen alten Schuppen zwischen zwei Häusern. Sie liefen hinüber, wie Kinder auf der Flucht. Der Schuppen war abgeschlossen.
Hinter dem Stall begann eine Wiese. Sie lehnten sich an die Wand, geschützt vor Blicken und Autos, und küßten sich, keuchend, schmelzend, mit aller Inbrunst, weil sie beide wußten, daß sie nichts anderes haben durften. Michelle spürte sein geschwollenes Glied, rieb sich leicht daran, gefangen in den Jeans, wie früher, die ersten Partys. Stehblues, alle wußten, was geschah, aber man ging nicht weiter. Doch Niklas streifte nicht ihren Pullover hoch wie die Jungs damals; er wußte, daß sie verloren waren, wenn sie nackte Haut berühren würden, sie würden übereinander herfallen, in die regenfeuchte Wiese sinken, und er würde seine Frau betrügen. Sie waren auf einem Ausflug in die Vergangenheit, die Sehnsucht der Jugend.
Er kostete sie, verschlang sie, sie umklammerten sich, als wollten sie sich ersticken, versanken ineinander, in die sanften, schwellenden Öffnungen saugten und leckten, bis sie Luft holen mußten und von neuem beginnen konnten.
Dann, irgendwann, gab er ihren Mund frei, zärtlich, vorsichtig, hauchte ein paar Küsse auf ihre Lippen. Sie fuhr durch seine Haare, versuchte in die Wirklichkeit zurückzufinden. Hier waren sie, irgendwo schnaubte Vieh im Stall, war das dumpfe Rasseln schwerer Eisenketten zu hören. Sie ließen einander los, ahnten das Lächeln des anderen im Dunkeln und gingen ohne weitere Worte in ihr Quartier zurück.
Am nächsten Morgen fand der Abschied statt. Er legte ihr die Hand auf den Arm und drückte leicht. »Tschüß«, sagte er und sah sie fest an. »Laß es dir gutgehen.« »Okay«, antwortete Michelle, städtisch herb, statt freundlich und sanft etwas wie “du dir auch« zu äußern. Sie wollte sich nicht von ihm trennen. Es war schrecklich, ihn nie wiederzusehen. »Tschüß«, sagte sie, drehte sich um und ging zielstrebig auf ihren Bus zu, ohne sich umzudrehen. Sie wußte nicht einmal seinen Nachnamen.
»Barbarossastraße«, nuschelte der Busfahrer ins Mikrofon. Michelle schreckte aus ihren Träumereien auf. Aussteigen. In den Supermarkt einkaufen. Schlange stehen. Dann im strömenden, kalten Regen nach Hause.
Irgendwie mußte sie etwas falsch machen. Sie konnte den Sinn im Seienden einfach nicht finden.
In den folgenden Wochen bemerkte Michelle unangenehme Züge an sich. Sie hatte Mühe, gegenüber den Kunden ihre gewohnte Liebenswürdigkeit an den Tag zu legen. Sie war unaufmerksam; in manchen Momenten ertappte sie sich dabei, daß sie die Kundinnen verabscheute, es genoß, daß sie ihnen weh tun mußte, wenn sie die Haut ausreinigte und ihnen die Augenbrauen und Kinnhaare zupfte. Daß sie bei der Arbeit nicht funktionierte, aus der sie ihr ganzes Selbstbewußtsein und ihre innere Ruhe bezogen hatte, verunsicherte sie; sie spürte, wie verkrampft sie war. Es war ein. Teufelskreis, aus dem sie abends in ihre Wohnung entfloh, wo sie sich stumpf vor den Fernseher setzte.
Manchmal nahm sie das Telefon nicht ab. Dann irgendwann erreichte Heiko sie trotzdem und erkundigte sich beunruhigt, wo sie gewesen sei. Die Gespräche verliefen immer gleich. »Was ist denn mit dir?« »Ach, ich weiß nicht. Ich fühl mich nicht gut.« “Bist du krank? Hast du Kopfschmerzen?« »Nee, eigentlich nicht.« »Was ist denn dann? Hast du einen anderen?« »Ach, nein.« »Dann laß uns doch ausgehen. Ich hol dich ab. Oder ich komme zu dir.« »Lieber nicht. Demnächst. Ich muß ein bißchen für mich allein sein.« »Na gut.« Er legte gekränkt auf.
Es war ihr egal. Sie war müde und lustlos. Nur die Besuche in ihrem Esoterik-Buchladen »Yin und Yang« rüttelten sie ein wenig auf. Immer hoffte sie, dort auf ein Buch zu stoßen, das ihr etwas Aufregendes enthüllen würde, irgendein Zeichen. Sinnend stand sie vor der Schmuckvitrine und überlegte, ob sie sich einen dieser Delphin-Anhänger aus Kristall kaufen sollte. Sie mochte Delphine sehr. Verspielte, intelligente, zärtliche Tiere, die unentwegt mit ihren Partnern schmusten. Wie herrlich mußte es sein, einen so geschmeidigen Körper zu besitzen und im Wasser zu leben, durch blaue Tiefen zu gleiten, auf den Wogen zu tanzen. Unbeschwert.
Doch sie fühlte sich nicht einmal wertvoll genug, um sich einen Kristalldelphin zu kaufen.
Als Anne, ihre Chefin, sie eines Tages zu einem Gespräch in ihr Büro bat und sie mit sanfter Stimme und eindringlichem Blick fragte, ob es ihr nicht gutginge in den letzten Wochen, war Michelle alarmiert. Sie schämte sich ihrer Disziplinlosigkeit und begann nachzudenken.
Ihr Geburtstag. Am 17. März wurde sie 25. Und was hatte sie bisher erreicht im Leben? War nicht alles falsch, was sie tat? Ihr Beruf machte ihr Spaß, normalerweise, und das Studio war ideal für sie. Aber wer war sie, Michelle Kranz? Was wollte sie? Wie stellte sie sich ihre Zukunft vor?
Heiko war im Grunde ein netter Kerl. Sie hatte ihn auf einer Party kennengelernt, wo er schlaksig, sein charmantes, jungenhaftes Grinsen auf dem Gesicht, in der Küche am Kühlschrank lehnte, mit jemandem plauderte und ihr schwungvoll ein Glas Sekt vor die Nase hielt, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Wohin des Wegs, schöne Frau?« hatte er gesagt wie ein kühner Wegelagerer.
Heiko konnte so etwas, ohne lächerlich zu wirken. Er war Berliner, hatte den Mutterwitz und die Schnelligkeit dieser Stadt an sich. Er hatte sie amüsiert; sie hatte viel gelacht an diesem Abend und gespürt, wie die Luft zwischen ihnen immer mehr zu vibrieren begann. Er hatte hübsche nußbraune Augen; der Mund war ein bißchen schief, aber das Grinsen machte alles wett. Sie fühlte sich leicht und lustig in seiner Nähe, und sein Blick forderte sie heraus. Er streifte ihre Hand, wenn er ihr ein Glas reichte. Sie flirtete.
Sie tranken beide zu viel und endeten knutschend auf einem Hocker neben eben jenem Kühlschrank. Im Taxi fiel die Entscheidung. Ihr war nicht danach, ihn mit zu sich zu nehmen – die Wohnung war nicht aufgeräumt, und es war ihr zu viel Intimität, aber er sah sie so treuherzig an, daß sie einfach nicht nein sagen konnte.
Sie zogen sich hastig aus, legten sich in das kalte Bett – Gott sei Dank hatte sie ihre hübscheste Blümchenbettwäsche aufgezogen – und nahmen sich eckig in die Arme. Michelle fühlte sich freundlich, aber sie begehrte nichts mehr außer Schlaf in dieser Nacht. Heiko war erregt, und es schmeichelte ihr, daß er sie so sehr wollte. Sie öffnete sich ein wenig, nahm ihn in sich, mütterlich beinahe, doch sie blieb weit entfernt, kühl und unberührt im Herz, im Kopf, im Innersten.
Das hatte sich seither nicht geändert.
Michelle wußte wenig über sich. In den Frauenzeitschriften stieß sie manchmal auf Artikel über sexuelle Phantasien, und da dämmerte etwas in ihr, drängte nach oben – Bilder, Ahnungen von Erlebnissen, die so heftig waren, daß man jede Faser seines Körper spürte und ihn doch verließ. Schwerelosigkeit, Wucht und Nähe zum Körper eines Mannes, Nähe, bei der man durch nichts mehr getrennt war, nicht einmal durch Haut. Sie kaufte sich »Playgirl« und blätterte darin herum. Die Männer langweilten sie. Sie hätten auch bis zum Hals angezogen statt nackt sein könnten. Sie ließen sie kalt. Lackaffen, dachte sie. Fassade. Einer gefiel ihr, nicht weil er besonders gut aussah, sondern weil er albern lachend an einem Ast über einem Bergbach hing. Der sah aus wie ein normaler Mensch. Lebendig.
Sie fand sich attraktiv, schämte sich ihres Körpers nicht. Doch wenn Heiko und sie sich liebten, fehlte etwas. Es war angenehm, sie mochte seinen Geruch und das Junge, Elastische seines Körpers, und doch... Ihr war immer zumute, als seien sie zwei Kinder, die über einen zugefrorenen See schlitterten. Hand in Hand, manchmal lachend und kichernd, wenn sie hinfielen, kurz dramatisch erregt, dann wieder unernst. Das Eis konnte brechen. Dann hätten sie sich nicht mehr zu helfen gewußt.
Es mußte noch etwas anderes geben zwischen Männern und Frauen. Leidenschaft. Kühnheit. Seligkeit. Oder las sie zu viele Romane?
Vielleicht war sie auch einfach zu unterkühlt, sagte sich Michelle. Zu beherrscht, um eine gute Liebhaberin zu sein. Verklemmt womöglich. Vielleicht müßte sie mehr Initiative zeigen. Doch das war ihr fremd. Oder war alles nur eine Frage von Techniken? Die Frauenzeitschriften brachten zahllose Artikel über gefälschte und echte Orgasmen. Ein Mysterium. Michelle spürte eine Art Spannungsentladung, aber einen Höhepunkt mochte sie das nicht nennen. Es war eher enttäuschend. Rauschhaft war nichts von alledem. Und sie blieb sich ihrer selbst dabei immer so bewußt. Dabei hätte sie sich gern vergessen. In ein Tier verwandelt. In eine Wolke. Einen Blitz. In irgend etwas, das nicht Michelle war, die immer die Aufsicht behielt. Im Namen von jemand anderem?
Du mußt dir etwas Gutes tun, sagte sie sich ein paar Abende später. Das stand überall in den Zeitschriften und Selbsthilfebüchern. Sie besorgte sich Sandelholzöl aus dem Yin und Yang, kochte sich Jasmintee und ließ sich ein heißes Bad ein. Den Telefonhörer legte sie neben das Gerät. Es lohnte sich nicht, einen Anrufbeantworter anzuschaffen. So viele Anrufe bekam sie nicht. Später wollte sie das Münzorakel des I Ging werfen.
Wie immer um diese Jahreszeit war es um halb acht stockdunkel draußen. Der Frühling hatte noch nicht viel von sich spüren lassen; an einem Tag war die Luft etwas milder gewesen, Sonnenstrahlen hatten zwischen den Wolken hervorgeblitzt. Doch in den letzten Tagen hatte es wieder Schneeregen gegeben; das war oft so um die Zeit ihres Geburtstages.
Sie genoß es, allein zu sein. Niemand würde sie stören, sie konnte sich ihren Gedanken und Träumereien hingeben.
Michelle streifte ihre Kleider ab und stellte sich vor den großen Spiegel. Fing ihr Körper schon an zu altern? Nun, vielleicht war ihr runder Hintern etwas weicher geworden... Unter die kleinen festen Brüste konnte man noch keinen Bleistift klemmen, sie hingen nicht. Michelle war immer stolz auf sie gewesen. Die großen kräftigen Frauen mußten Büstenhalter tragen; sie trug nur einen, wenn ihr nach zarter Wäsche zumute war. Sie war gerne klein und zierlich; sie glaubte, daß die anderen schwerer an ihrem Körper zu tragen hatten. Sie war gut im Sport gewesen in der Schule und ging auch jetzt regelmäßig zweimal die Woche zum Fitneß-Training. Die neidischen Blicke der Frauen, die sich mit ihrem Gewicht abplagten, kannte sie nur zu gut, und sie genoß sie.
Nein, ihre Taille war schlank wie immer, das Dekolleté glatt. Unter den Augen allerdings bildete sich eine kleine, haardünne Falte. Sie würde sich im Studio ab jetzt eine spezielle Augencreme aussuchen.
Und ihre Mundwinkel? Hingen die etwa? Ihr Mund war voll, aber gerade, nicht aufgeworfen. Sie hätte ruhig einen etwas üppigeren Mund haben können, fand sie. Die Nase: fein, gerade, dank ihrer Mutter. Wenn sie den Zinken ihres Vaters geerbt hätte ... ihre Augenlider ließen sich gut schminken, was ihr bei ihrem Job gelegen kam. Die Augen, hellblau, standen in seltsamem Kontrast zu den schwarzgefärbten Haaren, die ihr wellig über die Schultern fielen, aber das war ihr egal. Die Haarfarbe war ihr wichtiger. Das Schwarz gab ihr ein gewisses Gewicht, fand sie, etwas Vieldeutiges, auch Sprödes, das ihr eher entsprach als dieses Goldblond, ihre Naturfarbe. Ihr Gesicht wirkte immer noch süßlich genug. Mit den blonden Haaren wäre sie für immer verdammt, ein liebes Mädchen zu sein. Sanft, anschmiegsam, im Schatten ihrer selbst. Schwarzhaarige Frauen fand Michelle geheimnisvoller; sie glaubte, daß aus ihren Kehlen tiefere Töne aufstiegen, daß sie heftiger, ungebundener, ungezähmter waren. Daß sie eher Zugang zu den inneren Mysterien hatten als die lichten Wesen. Michelle hatte eine Affinität zum Dunklen. Sie hätte auch manchmal gerne schwarz getragen. Doch im Studio war Schwarz verpönt; eine Nichtfarbe, die verneinte und das Licht schluckte.
Sie steckte sich die Haare hoch und stieg in das duftende Wasser. Die Härchen auf ihren Armen sträubten sich. Langsam ließ sie sich in die Wärme sinken, seufzte wohlig, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ihr Körper nahm die Wärme begierig auf, öffnete sich. Michelle atmete tief in den Bauch, wie sie es auf dem Yoga-Seminar mit Meister Ramana gelernt hatte. Sie ignorierte das lockende Gefühl in ihren Venuslippen, die sich, animiert von der Wärme, genüßlich ausdehnten. Sich selbst zu berühren, war Michelle peinlich, es kam ihr ungenügend und kläglich vor. Und irgendwie auch unanständig.
Nach dem Bad zog sie ihren flauschigen Bademantel und dicke Wollsocken an und nahm ihr I-Ging-Buch aus dem Regal. Die alte chinesische Textsammlung war ein Orakel, das nie bedrückend wirkte, sondern immer wohltuend. Michelle befragte es, wenn sie nach Anregung suchte, sich mit ihren Stimmungen und Gedanken im Kreis drehte.
Sie wandte die einfachere, modernere Form mit den Münzen an, weil sie die Form mit den Schafgarbenstengeln zu kompliziert fand. Von ihrer Mutter, die Frankreich liebte, hatte sie einmal alte französische Münzen bekommen; drei von ihnen benutzte sie für das Orakel. Sie legte sich einen Block und einen Stift zurecht, hielt die Münzen lange in beiden Händen und fragte sich: Was will ich in nächster Zukunft?
Sie warf die Münzen. Zweimal Schrift, zweimal Kopf. Zweimal zwei plus drei, also zweimal Yin, einmal Yang. Eine ungerade Zahl. Sie malte die untere Linie des Zeichens auf den Block: durchgezogen, für das positive Element. Die nächste Zahl, die sie warf, war gerade. Als sie alle sechs Linien beisammen hatte, suchte sie hinten im Buch die Zahl für den Spruch heraus; sie hatte immer leichtes Herzklopfen dabei.
Das Bild 40. Die Befreiung. Gespannt las sie. »Das Urteil: die Befreiung. Fördernd ist der Südwesten. Wenn nichts mehr da ist, wohin man zu gehen hätte, ist das Wiederkommen von Heil. Wenn es noch etwas gibt, wohin man gehen muß, dann ist Raschheit von Heil.«
Sie atmete tief durch. Es würde Veränderungen geben. Sie sehnte sich nach Veränderungen. Nach Befreiung. Vielleicht eine Reise. Ein Abenteuer. Bald. Sie wußte zwar nicht, wonach sie suchte, aber sie war nicht mehr zufrieden mit sich. Sie kam sich schal und alt vor mit ihren knapp fünfundzwanzig Jahren. Und das, obwohl sie noch nicht einmal wirklich zur Frau geworden war, obwohl sie mädchenhaft und artig mit einem Mann befreundet war, der im Beruf kämpfen konnte, aber privat ein Junge blieb. Er liebte sie wahrscheinlich. Aber die Vorstellung, ein Leben an seiner Seite zu verbringen, jagte ihr Entsetzen ein. Als wäre sie umgeben von Mauern. Kein Entrinnen. Alles vorgegeben, keine Bewegung.
Michelle zog ihren Bademantel fester um die Schultern und trat ans Fenster. Nasse Schneeflocken taumelten auf die Straße und schmolzen dort. Autos schlichen durch die dunkelgraue Dämmerung.
Südwesten. Das konnte alles mögliche sein. Doch sie war ruhiger jetzt, zuversichtlicher. Sie spürte, daß sich etwas in ihr zu klären begann. Nichts mußte bleiben, wie es war. Es lag bei ihr. Sie gestaltete ihre Zukunft. Und sie würde sie lustvoll gestalten.
Plötzlich schien sie sich selbst wieder interessant, wertvoll. Sie konnte noch so vieles entdecken. In der Welt, an sich selbst. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. Es war nicht alles Vergeudung. Vielleicht hatte der Meister doch recht.
Sie war ein entzückendes Mädchen gewesen, erzählten ihre Omas ihr immer wieder. Sanft, munter, allerliebst anzusehen mit den goldenen Locken. Sie hatte keinen Radau gemacht, ihrer Mutter meist gehorcht, brav mit ihren Puppen gespielt. Die Erwachsenen mochten sie alle. Nur die Kinder nicht.
Sie hatte wenige Freunde gehabt. In der Schule war sie mittelmäßig, nicht einmal eine Streberin, aber sie schien etwas Grundlegendes falsch zu machen: Die anderen Mädchen hatten immer mehr Freundinnen, und sie schienen viel Spaß miteinander zu haben. Wenn Michelle jedoch dazutrat, verstummte das Lärmen und Lachen. Einmal sagte die dicke Susanna, ein lautes, freches Kind, das immer alle herumkommandierte: »Oh, nicht schon wieder Michelle, die ist so langweilig. Mamas Liebling. Geh zu Mama, sei ein liebes Mädchen.« Die anderen hatten gelacht. Michelle war schamrot geworden, hatte sich verkrochen und geweint. Dann war sie wütend geworden. Blöde Kuh, dir werd ich’s zeigen, hatte sie gedacht. Und sie war künftig weniger allein gewesen. Sie hatte sich mit den Outcasts in der Klasse angefreundet: den Schüchternen und Häßlichen. Die waren treue Freundinnen.
Ihre Mutter war entsetzt. »Warum um Himmels willen bringst du immer diese Amelie mit dem strohigen Bubikopf zum Spielen?« fragte sie mit schriller Stimme. »Schließ dich doch der Christine an, das ist so ein nettes Mädchen.« Ein nettes Mädchen und Bankierstochter. Michelle hatte schon damals erfaßt, daß ihre Mutter nicht gerecht war. »Ja«, hatte sie gesagt und war verstummt. Christine war mit der Arzttochter Miriam befreundet. Michelles Vater hatte nur ein Sportgeschäft. Irgendwo mußten da Unterschiede sein. Alle möglichen Unterschiede.