Horror verstehen - Tammo Hobein - E-Book

Horror verstehen E-Book

Tammo Hobein

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Beschreibung

Horror fasziniert bereits seit unzähligen Jahren – doch warum? Verbirgt sich mehr hinter den Monstern, Geistern, Dämonen und blutrünstigen Serienkillern? Leben wir in einer Welt des Schreckens? Vielleicht. In jedem Fall ist unsere Sicht auf die Welt von Horror durchzogen, was sich hier und da auf eine besondere Art und Weise zeigt. In seiner Promotionsarbeit analysiert der Theaterwissenschaftler Tammo Hobein die Verbindungen von Horror, Kultur und Philosophie. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf Autoren wie H. P. Lovecraft, Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer, aber auch auf popkulturellen Phänomenen wie THE WALKING DEAD oder dem Slenderman. Genau in der Schnittmenge aus Kosmischem Grauen, einer pessimistischen Weltsicht und immersiven Stilmitteln findet sich eine neue Perspektive, die das Horrorgenre seinen Rezipienten vermittelt.

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Seitenzahl: 604

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Tammo Hobein

HORROR VERSTEHEN

Über die Faszination am Schrecken

Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil.

an der Ludwig-­Maximilians-­Universität München

vorgelegt von Tammo Hobein, M.A. unter dem Titel

Begegnungen mit dem Unbekannten – Varianten des Horrorgenres im Spannungsfeld von Philosophie, Performanz und interdisziplinärem Kulturgut

Erstgutachter: PD Dr. Jörg von Brincken

Zweitgutachter: Prof. Dr. Michael Gissenwehrer

Impressum

Tammo Hobein

Horror verstehen – Über die Faszination am Schrecken

© 2022 by Tammo Hobein (Text)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2022 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hardy Kettlitz

Korrektur: Ralf Neukirchen

Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.com]

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-72-4 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-73-1 (E-Book)

Danksagung

Ich möchte gern folgenden Menschen für ihre Geduld, ihre Leidenschaft, ihren Rat und ihre Liebe danken, ohne die es dieses Buch nicht geben würde:

Jörg, mit dem ich liebend gerne die großen Alten beschwören möchte, Michael, der uns dabei assistieren darf, Marcus, der mich an den obersten Kultisten verwiesen hat, Ronja, die all meinen Wahnsinn ertragen hat und mich immer wieder bestärkte, mein Vater, dessen Stephen-­King-­Bibliothek der Grundstein war und meine Mutter, die mir erlaubte, Der Exorzist zu schauen.

Inhalt

Impressum

Danksagung

Inhalt

Vorwort

1 Einführung

1.1 Die Geschichte vom Candyman

1.2 Forschungsfrage, Konfliktpositionen und Erwartungshaltung

1.3 Versuch einer Definition des Horrorgenres

2 Kulturphilosophische und weltanschauliche Grundlagen von Horror

2.1 Mythos – Bedeutung – Horror: Spuren des Schrecklichen

2.2 Philosophie – Mensch – Horror

2.3 Ästhetik, Kunst und die Begriffe des Erhabenen und des Numinosen nach Edmund Burke und Rudolf Otto

2.4 Das Unbehagen und das Unheimliche – Sigmund Freud und Horror

2.5 Philosophie des Grauens und der Horror des Bewusstseins – Thomas Ligotti und Eugene Thacker

2.6 Survival-Horror/Horror-Survival

3 Horror im Videospiel – Über das Spielen und Zuschauen

3.1 Evolution des Horrorgenres in Videospielen

3.2 Horrorspiele und das Konzept des »Let’s Play«

3.2.1 Horrorspielwelten und deren Konzeption

3.2.2 Slender – The Eight Pages

3.2.3 Layers of Fear (»Ich kann mich nicht wehren«)

3.2.4 Resident Evil und Silent Hill (»Ich kann mich wehren«)

3.3 Virtual Reality Horror?

4 Performanz – Horror – Theatralität

4.1 Das Phänomen Horror aus dem Blickwinkel von Theater und performativer Praxis

4.2 Scare Pranks und »Gruselclowns« – Ein Phänomen

4.3 Slenderman, Creepypasta, SCP – Neue Formen des Volks- und Aberglaubens?

5 Horror und Film

5.1 Grundlegende Gedanken zum Horrorfilm

5.1.1 Das Schauen und Rezipieren

5.1.2 Geisterhaftes Medium Film: Medien – Theorien – Überlegungen

5.2 Serialität und Repetition im Horrorfilm und in Horrorserien

5.2.1 Prequel, Sequel, Spin-Off, Meta-Verse – Horrorfilme und die Wiederholung in Serienform – PENNY DREADFUL

5.2.2 AMERICAN HORROR STORY und CHANNEL ZERO

5.2.3 THE X-FILES und SUPERNATURAL

5.2.4 THE WALKING DEAD – Der wandelnde Tod in Serienform

5.3 The Midnight Meat Train into the Void – Cosmic Lovecraftian Horror Movies

5.4 The Conjuring vs. Ju-On – Mythologisierung des Horrors

5.4.1 The Conjuring – Old Modern Ghost Movie

5.4.2 Yūrei – Urami – Onryō – Uzumaki: Japanischer Horror zwischen Kultur, Glaube und devianter Erfahrung

5.5 Innovative Motive kontra Repetition im Horrorfilm

6 Schlussbetrachtungen

6.1 Candyman Reprise

6.2 Schlussbetrachtungen und Ausblick

7 Quellennachweise

Bücher bei MEMORANDA

Vorwort

Es gibt eine Frage, die mir so oft in meinem Leben gestellt wurde wie bisher keine andere: Warum schreibst du eine Doktorarbeit?

Nun, diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn die eigentliche Antwort verbirgt sich hinter vielschichtigen Facetten und Verwirrungen meines eigenen Lebens.

Idealistisch, wie man Anfang 20 vielleicht ist, wollte ich gern Lehrer werden. Latein und Religion – exzentrischer ging es wohl kaum mit meinen intellektuellen Vorlieben und Voraussetzungen. Doch das Studium einer Sprache, die kaum jemand mehr kennt und die gerade in ihrer eigenen Exzentrik so großartig ist, gepaart mit der Theologie, die sich, Unterrichtsstunde für Unterrichtsstunde, weiter von einem entfernt, ergab ab einem gewissen Punkt keinerlei Sinn mehr. Etwas Neues musste her, geistig und kreativ herausfordernd. Da mir meine Universität sehr wichtig geworden war, schaute ich mich um, welche Alternativen in Betracht kamen. Schnell war klar: Theaterwissenschaft ist der Weg. Mit dem Wechsel des Studienfachs wurde allerdings nicht alles einfacher. Es folgte eine schier endlose Zeit, in der man sich selbst erklären musste. Theaterwissenschaft, was ist denn das? Warum studierst du nicht etwas Ordentliches? Was möchtest du denn später damit anfangen?

Die Frage, die sich mir Semester für Semester stellte, war allerdings: Warum lernen nicht viel mehr Menschen etwas über das Theater und seine Formen, die Schauspielerei, die Kunst des Körpers und all die anderen Felder, die von dieser herrlichen Wissenschaft erforscht werden?

Bereits meine Masterarbeit war thematisch mit dem Horrorgenre verknüpft. Damals hatte mir eine gute Bekannte, die ich regelmäßig in einem Theater in Leipzig traf, ein Buch geschenkt, in dem junge Kulturwissenschaftler das Horrorgenre in seinen vielen Facetten analysierten. Akademischer Splatter, dachte ich damals, und tatsächlich eröffnete mir dieser Essayband die Augen: Das, was ich leidenschaftlich liebte und was ich immer versuchte zu verteidigen – Gruselliteratur, Horrorfilme, absolut erschreckende Videospiele –, all das ließ sich erklären, deuten, interpretieren, und es gab tatsächlich Akademiker, die mehr darin sahen als kurzweiliges Entertainment.

Mir war sofort klar: das und nichts anderes. Ich träumte umgehend von einem Doktor, den ich aufgrund meiner Leidenschaft zum Horror erlangen würde. »Doktor Horror«, der akademische Underdog, der blitzgescheit die vertrocknete Welt der Universitäten revolutionieren sollte – aber das waren hauptsächlich die queren Träume eines Dilettanten.

Trotzdem setzte ich meinen Plan in die Tat um, und das mit einem recht simplen Pragmatismus: Meine Masterarbeit schrieb ich damals über den kanadischen Filmregisseur David Cronenberg und in der gängigen Literatur gab es eine Art »Standardwerk«, verfasst von Prof. Dr. Marcus Stiglegger. Mit ihm nahm ich Kontakt auf, erst per E-Mail, dann telefonisch. Ich unterbreitete ihm (ich hatte viel von ihm gelesen und er war damals wie heute mein akademischer Superheld par excellence) mein Vorhaben und er schien angetan davon. Leider war es zu dieser Zeit nicht möglich, bei ihm zu promovieren – die Arbeit an der Hochschule in Berlin verhinderte dies. Noch bevor ich meinen Kopf hängen lassen konnte, sagte er, frei aus meiner Erinnerung transkribiert: »Bei mir wird das nicht gehen, aber bei meinem Freund, dem Jörg. Der arbeitet an der Uni München und nimmt dich bestimmt.«

Ich bekam ein paar Eckdaten. Name. Telefonnummer. Universität München. Mit ihm und seiner Hilfe und Unterstützung wurde mein Plan zu dem, was nun in gedruckter Form in Ihren Händen liegt. Meine Dissertation. Meine Doktorarbeit.

Theaterwissenschaft hat viele Gesichter und Facetten. Horror ist nicht gerade das Erste, das einem zu dem Begriff »Theater« einfällt, aber dennoch empfand ich es jederzeit kongruent. Während meines Studiums lernte ich viel über kosmologische Konzepte, Feste, Bräuche und auch philosophische Lebenskonzepte, die seit der Antike immer wieder im Wandel waren. Dennoch gab es auch hier Konstanten – wie etwa Festivitäten, die heutzutage leider vollkommen vergessen sind, aber die sich noch unterschwellig hier und dort finden lassen. Und das Horrorgenre ist eines der wenigen Refugien, in denen sich das Wissen der Menschheit noch in kleinen Dosen finden lässt. Horror bedeutet so viel mehr, als ins Kino zu gehen und sich einen x-beliebigen Schocker anzusehen. Wie Sie im Lauf dieser Publikation sehen werden, ist Horror, so viel möchte ich einmal vorwegnehmen, gleichbedeutend mit einem Lebensgefühl – und das bedeutet absolut nicht, am 31. Oktober eine Festivität auszurichten, bei der sich alle als ihr Lieblingsmonster verkleiden und es Würstchen mit Mandelsplittern zum Essen gibt, die abgeschlagene Finger simulieren sollen. Horror ist weitaus durchdringender, als viele Laien es sich auch nur in ihren Albträumen vorstellen können. Es geht um eine Haltung, eine Erfahrung, die über die Literatur oder den Film oder ein anderes Medium hinaus geht. Früher war ich der Auffassung, dass Stephen King und Clive Barker für mich die absoluten Götter der Horrorliteratur sind – heute bin ich anderer Meinung. Tausende Seiten philosophische Traktate später glaube ich, dass Horror als solches woanders zu finden ist und vor allem bin ich der festen Überzeugung, dass Horror erfahrbar ist – und das ist absolut nichts Schlimmes oder etwas, vor dem man sich fürchten sollte. Der eigene Körper, der Körper von Fremden, von fiktiven wie auch realen Figuren, wird erforscht. Wo sind die eigenen Grenzen? Ich kann Ihnen eindeutig mitteilen, wo meine Grenze lag: Vor vielen Jahren habe ich in einem cineastischen Rausch den Film Inside von Julien Maury und Alexandre Bustillo (2007) angesehen und das erste Mal (ja, das impliziert, dass ich ihn bereits mehrfach angesehen habe) hat mir saure Gallenflüssigkeit in die Mundwinkel katapultiert. Es gab in meiner Sehgewohnheit zuvor nichts, was sich damit vergleichen ließ. Selbst Filme wie Salò oder Die 120 Tage von Sodom von Pasolini (1975) vermochten dies nicht. Es lag an der einzigartigen, realistischen Art und Weise, wie Maury und Bustillo ihren Horrorfilm inszenierten. Und auch sie überschritten Grenzen, damit der Zuschauer seine eigenen Grenzen erfuhr. Das Werk wurde mir sogar zu realistisch, weshalb mein Fokus sich mehr auf die übernatürlichen Varianten des Horror konzentrierte, aber dennoch lernte ich durch diesen Film, was Transgression bedeutet: Überschreiten. Dort stehen zu bleiben, wo man bereits ist, kommt mir persönlich recht langweilig vor, und das Leben als solches zwingt einen sowieso irgendwann dazu, den persönlichen Komfort zu überschreiten – warum also nicht bereits selbst mehr wagen? Für einen kurzen Augenblick, für die Zeitspanne, in der ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, jede bekannte Grenze von Körperlichkeit, Ethik, Moral, gesellschaftlicher Norm und vor allem auch Geist überschreiten zu können – das ist Horror. Dass man sieht, wie in einem vollkommen brutalen Horrorfilm den armen Opfern, die zuvor möglicherweise auch noch sexuell degradiert wurden, buchstäblich der Schädel eingeschlagen wird und man dies auch noch genießen DARF – das ist keineswegs krankhaft oder verwerflich, sondern ein Luxus, der in der Realität nicht funktioniert. Das Horrorgenre erlaubt es den Lesern, Zuschauern, Spielern, Rezipienten, genau das zu tun, eine Erfahrbarkeit von einzigartiger Natur.

Ich möchte hiermit gern die Leserschaft einladen. Eine Einladung, sich auf etwas Neues einzulassen – oder zumindest eine neue Betrachtungsweise an den Tag zu legen. Ich kann Ihnen versprechen, dass ich auch im Laufe meiner Arbeit Neues kennenlernen musste. Um ehrlich zu sein, bin ich absolut niemand, der aus purer Freude Horror-Videospiele spielt. Ich schaue gern dabei zu, lese gern Sekundärliteratur – aber selbst spielen? Nein. Und genau da musste ich durch. Wie soll man ansonsten über etwas schreiben, was man nicht selbst erfahren hat? Ich muss an dieser Stelle unverblümt beichten, dass mich Resident Evil: Biohazard an den Rande eines akuten Herzleidens geführt hat – zumindest empfand ich es so. Trotzdem bin ich froh, denn sonst hätte ich kaum das nachempfinden können, was andere Menschen über bspw. dieses Spiel geschrieben haben. Horror bedeutet vieles – aber am allerwenigsten Schrecken, der einen traumatisiert. Es ist eine Empfindung, die bereichert und von der man etwas lernen kann – in allererster Linie etwas über das eigene Selbst.

Viele Horrorautoren, wie etwa der bereits erwähnte Stephen King, schaffen es, in ihren Vorworten etwas Kluges oder zumindest Witziges einfließen zu lassen. Er verwendet auch immer verteufelt gut passende Zitate von irgendwelchen Blues- oder Rocksongs, die seinen Roman herrlich adäquat einleiten, aber von mir soll an dieser Stelle lediglich folgendes stehen: Lassen Sie alle voreingenommen Sichtweisen und Vorurteile das Horrorgenre betreffend außen vor. Stellen Sie sich vor, es ginge hier um das Backrezept ihrer Lieblingskekse. All die Zutaten, die im Verlauf der nächsten Seiten auftauchen, werden eine Speise zubereiten, die nicht nur sättigt, sondern auch zufrieden macht – und einem guten Keks kann doch kaum jemand widerstehen, oder?

Tammo Hobein, Leipzig, 2022

Ein Zitat gibt es doch noch:

»The House is forever haunted, nothing you can do.«

– King Diamond

1 Einführung

1.1 Die Geschichte vom Candyman

»Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.«[1]

Basierend auf dieser These des amerikanischen Autors Howard Philips Lovecraft, die er an den Anfang seines literaturhistorischen Aufsatz über die Ursprünge der Horrorliteratur stellt, soll sich diese Arbeit in jene Bereiche vorwagen, die in vielerlei Hinsicht als »Unbekannt« gelten könnten.

Bevor jedoch die eigentliche Einleitung in den behandelten Themenkomplex beginnt, so soll zuvor in einem kleinen, essayistischen Ausflug auf die Kurzgeschichte »Das Verbotene« (original »The Forbidden«) des britischen Autoren Clive Barker eingegangen werden, da sie für jeden, der sich bisher wenig bis gar nicht mit dem Horrorgenre auseinandergesetzt hat, der perfekte Einstieg ist, dies zu tun. Barkers Geschichte ist beispielhaft für eine Fülle an Geschichten aus dem Horrorgenre, die den Leser und Rezipienten mit mehr zurücklassen als plumper Unterhaltung – eine Gemeinsamkeit, die Barker mit Lovecraft oftmals teilt. Die Geschichte handelt von der Promotionsstudentin Helen, die in einem eher verlassenen und heruntergekommenen Stadtteil Feldforschung für ihre Doktorarbeit betreibt. Das genaue Fach oder die wissenschaftliche Disziplin, in der sie promoviert, wird nicht genau benannt, allerdings wird inhaltlich auf ihr Promotionsthema eingegangen. Die Doktorarbeit trägt den Titel »Graffiti: zur Semiotik urbaner Hoffnungslosigkeit«[2] und Helen begegnet auf ihren Exkursionen in verlassenen Wohnanlagen einigen Bewohnern, denen sie ihre Arbeit zunächst erläutern muss. Missverständnis und Ablehnung sind hierbei die häufigsten Reaktionen. »Schweinkram«[3], »obszön«[4] und »ekelig«[5] sind die Beschreibungen einer Anwohnerin für die Graffitis, die Helen untersuchen möchte. Der Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen ist, so hat es den Anschein, nicht hoch angesehen bei der dort wohnhaften Bevölkerungsschicht. Ebenso in ihrem Bekanntenkreis, bei dem der Schrecken, den die Protagonistin der Kurzgeschichte erlebt, immens trivialisiert wird – ebenso wie ihr Forschungsthema an sich, denn fast niemand sieht die Bedeutung von Graffiti so wie Helen oder kann sich ebenso sehr wie sie dafür begeistern. Helen entdeckt in den Details ihres Forschungsgegenstands, dem Wohnkomplex, eine große Bandbreite an Gewalt und Schrecken, mit der sie so nicht gerechnet hätte. Ihr werden Geschichten von unheimlichen und brutalen Morden erzählt, einige Graffitis sind erschreckend und aufgeladen mit düsteren Legenden und Geschichten und zu guter Letzt wird das Kind einer der Bewohnerinnen bestialisch ermordet. Die Nachforschungen zeigen, dass für den Mord nur der Geist eines jungen Mannes verantwortlich sein kann, der mit seiner schlimm anzusehenden Hakenhand sein Unwesen in dem Wohnkomplex treibt. Als Helen ihre Erlebnisse mitteilen möchte, entsteht eine völlig abgestumpfte Unterhaltung unter ihren Freunden, die bereits einen interessanten Sachverhalt eröffnet, nämlich das Anerkennen der Realität als eine Variante des Horrors, jenseits des Phantastischen:

»Wir sind ganz belämmert vor lauter Gewalt. Wir nehmen sie nicht mehr wahr, selbst wenn sie sich direkt vor unserer Nase abspielt.«

»Jeden Abend auf dem Bildschirm«, warf Archie ein, »Tod und Unheil voll in Farbe.«

»Da ist nichts besonders Modernes dran«, sagte Trevor.

»Ein Elisabethaner war andauernd mit dem Tod konfrontiert. Öffentliche Hinrichtungen waren als Unterhaltung sehr beliebt.«[6]

Das Gespräch über die Nähe von Gewalt und Tod in der Gesellschaft wird noch weiter geführt, nachdem auf eine gewisse Tabuisierung dieser Themen hingewiesen wurde:

»Was soll denn am Tod so tabu sein?«, sagte Trevor. »Bernadette hat schon darauf hingewiesen: Wir haben ihn ständig vor Augen. Das Fernsehen, die Zeitungen.«

»Vielleicht ist das nicht nah genug«, gab Bernadette zu bedenken.[7]

Sofern die, von Bernadette angesprochene, Nähe gewünscht ist, so bemüht sich das Horrorgenre um diese. Es bringt den Tod in einen unmittelbaren Umkreis des Rezipienten, obwohl der Tod eigentlich stets der Begleiter des Menschen ist, allerdings von diesem verdrängt wird. Dass Bernadette hier zwar die vermeintliche Realität als den wahren Schrecken proklamiert, ist eine der Interpretationsmöglichkeiten von Barkers Kurzgeschichte. Das Phantastische, das all der Gewalt und Grausamkeit in der Kurzgeschichte zugrunde liegt, wird durch die handelnden Personen bis zum Ende ausgeblendet. Die Realität ist viel schrecklicher, als sich alle Horrorautoren ausdenken könnten und das Phantastische schafft es nicht einmal annähernd, das Maß an Schrecken zu erreichen, wie es die Realität bereitet. Aber vielleicht ist dies auch gar nicht die Aufgabe des Phantastischen oder des Horrorgenres im Speziellen.

Einen ähnlichen Status wie die Graffiti in der Kurzgeschichte besitzt auch das Horrorgenre. Es wird als ekelhaft, pervers, widernatürlich und abartig verschrien. Es ist immer noch ein Nischengenre, obwohl seine Motive so alt wie die Menschheit selbst sind. Einen gewissen Kunstgehalt im Horrorgenre auszumachen ist nicht für Jedermann eine Selbstverständlichkeit und auch innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften stößt das Genre immer wieder auf eine gewisse Ablehnung. Dem Genre im Allgemeinen eine kulturelle Relevanz zuzugestehen, ist ebenfalls nicht allgemeingültig, da die verwendeten Motive und vor allem die erzeugten Bilder – seien diese visueller oder imaginärer Natur – oft gegen den »guten Geschmack« verstoßen. Sie zeigen all das, was der Mensch gemeinhin nicht sehen möchte: Blut und andere Körperflüssigkeiten, das Innere des menschlichen Körpers, Manifestationen aus Aberglaube und Religion wie Dämonen, Teufel und Geister und dabei sehr oft den Kontrollverlust des Individuums. Der letzte der aufgeführten Aspekte ist sehr wichtig für eine Beschreibung des Genres: Horror sorgt immer für eine gewisse Art von Kontrollverlust. Besessenheit oder aber auch das Eindringen fremder Präsenzen in die gewohnte Lebensumgebung – die Protagonisten dieser Szenarien haben selten einen Einfluss auf das Geschehen und müssen darauf reagieren – ob sie wollen oder nicht. Ob es der Verlust von Macht ist oder der Verlust von bestimmten Fähigkeiten, Einflüssen und Funktionen – Horror lässt sich mit einer Art Kontrollverlust beschreiben und gibt dennoch auf eine spezielle Art und Weise eine andere Möglichkeit der Kontrolle an die Rezipienten weiter, der einen Nutzen und Mehrwert für den Menschen hat – oder zumindest haben könnte. Dem Kontrollverlust folgt allerdings für den Rezipienten eine Art Katharsis – die Wiederentdeckung der Wirklichkeit und die Gewissheit, dass (eventuell) alles nur ein Albtraum ist. Dazu im Lauf dieser Arbeit mehr.

Wie ergeht es Helen in Clive Barkers Geschichte weiter? Sie ist auf der Suche, denn die Geschichten um die Morde haben sie neugierig gemacht. Wer ist der Mörder? Was hat es mit den mysteriösen Erzählungen über den Mann mit der Hakenhand auf sich? Helen begegnet schließlich dem Candyman. Die Legenden, die sie in der Wohnanlage hörte, bezogen sich alle auf diesen ehemaligen Bonbonverkäufer, der nun als Dämon, als Rachegeist, die Anlage heimsucht und mordet. Sie tat diese Legenden auch als solche ab und suchte stattdessen nach der Wahrheit. Diese offenbarte sich ihr letztendlich als ein zweischneidiges Schwert, da der Bonbonverkäufer, der Candyman, nur erschienen ist und die ganzen Morde der jüngsten Vergangenheit begangen hat, um Helen die Zweifel an seiner Existenz zu nehmen. Die Suche nach Wahrheit wird mit Mythologie und Legende ersetzt und schließlich ist es das Phantastische, was zur Realität wird. Am Ende der Geschichte steht das unausweichliche Angebot des Candymans im Raum:

»Wenn du nur ein wenig von mir lernen wolltest …«, sagte der Dämon, »… würdest du nicht um dein Leben betteln.« Seine Stimme war zu einem Flüstern abgesunken. »Ich bin ein Gerücht«, summte er ihr ins Ohr. »Es ist ein seliger Zustand, glaub mir. In den Träumen von Menschen zu leben; an Straßenecken geflüstert zu werden; aber nicht sein zu müssen. Begreifst du?«[8]

Der Tod wird offeriert. Eine Art Angebot zur jenseitigen Existenz, das in der Logik des Dämons die Unsterblichkeit verheißt. Helen nimmt das Angebot später an. Von einem Feuer verzehrt, wird sie selbst zu einem Teil der Geschichte um den mordenden Bonbonverkäufer, den Candyman, der seine Opfer mit einer Hakenhand aufschlitzt und dessen Brustkorb verwest und mit lebenden Bienen gefüllt ist. Helen wird, wie der Dämon ihr versprach, eine Geschichte zum Weitersagen.[9] Urbane Legenden, Großstadtmythen oder die heutzutage populären Creepypasta sind Ausdruck eines gewissen Verlangens, das im Horrorgenre steckt. Viele Menschen möchten davon hören und eine solche Legende erregt sofort Aufmerksamkeit. Jeder kennt Geschichten, die am Lagerfeuer erzählt wurden, die mit »Habt ihr mal davon gehört, dass…« beginnen und die immer in der unmittelbaren Nähe spielen. Die Geschichten von Geistern, dem Nachbarhaus, in dem immer Menschen zu Tode kommen, dem Friedhof, auf dem es spukt oder auch geografische Grenzen überschreitende Geschichten wie die berühmte Bloody Mary, die im Spiegel erscheint, sobald man drei Mal ihren Namen ausspricht. Von all dem erzählt die Geschichte des Candyman, die vielleicht nicht so verboten erscheint, wie der Titel besagt, sondern eher vertraut und bekannt. Nicht so unbekannt, wie das eingangs von Lovecraft angeführte Zitat. Der Mensch fürchtet sich vor dem Unbekannten und dennoch ist ihm genau dieses Unbekannte so vertraut. Das Unbekannte ist es, das erforscht und entdeckt werden muss, ein letzter Schleier, der gelüftet werden muss. Der Mensch tritt bei der Beschäftigung mit dem Horror immer wieder an eine Grenze, die er sich nur stückchenweise zu überschreiten traut.

Das, worum der Candyman Helen bittet, wird in dieser Arbeit thematisiert. Hier soll von ihm gelernt werden. Nicht nur vom Candyman, sondern auch von allen anderen Gestalten und Elementen des Horrorgenres, denn dies ist vielleicht eine Botschaft, die den Rezipienten mitgeteilt wird: Lerne von uns. Der Candyman ist nur eine Facette des Horrorgenres, in dem doch so viel bereits vereint ist: Er ist eine mythologische Figur, eine Großstadtlegende, die sich durch das bloße Erzählen von Mensch zu Mensch am Leben erhält. Er selbst ist ein grausamer Mörder, ein Verbündeter des Todes und des Leids, ein Dämon, der keinerlei Unterscheidung zwischen den Menschen vornimmt. Er betrifft alle und sein Schicksal und Wirken ist mit dem Schicksal und Wirken eines jeden Menschen verbunden. Er ist die Facette des Todes, ein kurzes Aufblinken des Jenseitigen, das unweigerlich auf einen jeden Menschen wartet. Seine einzige Bitte ist: Lerne von mir. Genau das soll in dieser Arbeit bewerkstelligt werden. Wie kann man vom Horrorgenre lernen, wo es doch so undurchsichtig, ungeliebt und trivial auftritt? So obskur die einzelnen Schichten und Phänomene des Horrorgenres auch sind, so kann man doch feststellen, dass es uns als Menschen schon sehr lange begleitet und die Geschichten von Dämonen und anderen gruseligen Wesenheiten sich wie eine Konstante durch die Menschheitsgeschichte frisst, parallel zu anderen kulturellen Entwicklungen. Mal ist der Horror mehr präsent, mal weniger, aber immer irgendwie da. Er gehört dazu, obwohl es scheint, als sollte er nicht dazu gehören. Um dies alles zu verstehen, müssen wir von den Elementen des Horrors lernen.

[1]Lovecraft 1995, S. 7.

[2]Vgl. Barker 1991, S. 13.

[3]Barker 1991, S. 14.

[4]Barker 1991, S. 15.

[5]Barker 1991, S. 15.

[6]Barker 1991, S. 39.

[7]Barker 1991, S. 42.

[8]Barker 1991, S. 65.

[9]Vgl. Barker 1991, S. 73.

1.2 Forschungsfrage, Konfliktpositionen und Erwartungshaltung

Das Horrorgenre als solches hat eine bedeutende Funktion: Es zwingt den Rezipienten, sich mit elementaren Fragestellungen der eigenen Existenz auseinanderzusetzen. Diese sind, unter anderem, existenzieller, religiöser wie auch allgemein spiritueller Natur und das rezipierende Individuum hat keinerlei Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Das Genre schafft gerade durch die eindringliche Bildhaftigkeit eine Art intimen Raum, in dem diese Fragen, teils offen, teils lediglich akzentuiert, gestellt und in dem auch mögliche Antworten formuliert werden. Dabei werden zumeist drastische Abbildungen gewählt, die oft eine Beziehungsebene zum Tod aufweisen. Geister, Dämonen und Untote und deren Handlungen sind nur einige Beispiele dieser Abbildungen, die der Rezipient für sich deuten muss. Dabei spielt für das Horrorgenre auch die Tabuisierung des Todes in der Moderne eine nicht unerhebliche Rolle, denn der Tod ist der stetige Opponent der menschlichen Protagonisten und wird in vielen Formen thematisiert.

Ein zentraler Themenkomplex des Horrorgenres ist die Sterblichkeit und der Tod des Individuums und auch die Möglichkeit eines Lebens über den Tod hinaus. Viele wissenschaftliche wie auch spirituelle Disziplinen nehmen sich dieser Fragestellung schon seit dem Beginn der Menschheit an, seien es Medizin, Philosophie oder Theologie und die Geistlichen der verschiedenen Religionen. Die Frage nach dem Leben nach dem Tod kann nicht endgültig beantwortet werden und doch leistet das Horrorgenre seinen Beitrag, indem es mit Vorstellungen und Möglichkeiten aufwartet, die zwar nicht unbedingt eine positivistische Deutungsmöglichkeit bieten, aber dennoch den gedanklichen Kanon prägen. Zudem zeigt das Genre nicht nur Alternativen zum Leben nach dem Tod, sondern betont auch die Sterblichkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens und zeigt seine Funktionalität, wie Jean Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod aufzeigt:

»Alle gebundenen Energien zielen auf ihren eigenen Tod. Darum ist die einzigmögliche Strategie katastrophisch, nicht dialektisch. Man muß die Dinge bis zum Äußersten treiben, bis zu jenem Punkt, an dem sie sich von selbst ins Gegenteil verkehren und in sich zusammenstürzen. […] Man muß den Tod gegen den Tod ausspielen – die radikale Tautologie.«[10]

Den unzähligen Killern und menschlichen Raubtieren des Horrorgenres liegt weitaus mehr zugrunde als stumpfes Amüsement und Schaulust an Gewalt, denn die Korporalität des Menschen, das Spiel mit dem Interesse an anatomischen Details und die damit auch verbundene Öffnung des Körpers verbindet das Horrorgenre mit der kulturellen Entwicklung des Menschen mehr als vielleicht auf den ersten Blick ersichtlich: Es ist, unter Anderem, eine Extremisierung des Menschlichen, eine extreme Schaustellerei des Lebens und des Todes, die im Horrorgenre oft über das Erträgliche hinaus behandelt werden, was wiederum zu Abscheu, Ekel und Angst führt. Der Tod ist hier aber keineswegs einer Grenze unterworfen, denn er wird regelmäßig überwunden und in seiner eigentlichen Natur verkehrt – was wiederum auch Abscheu und Ängste hervorruft. Eugene Thacker vertritt die Position:

»Horror bedeutet Angst, ja, aber Angst wovor? Angst vor dem Verlust der Individualität, Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung, Angst vor dem Verlust der Kontrolle, Angst vor dem Schicksal, dem Zufall oder dem Aberglauben und vor allem Angst vor dem Tod – insbesondere vor dem eigenen Tod. Wie die Geschichte schon sagt, geht es beim Horror nicht nur um Angst, sondern letztlich um die Angst vor dem Tod.«[11]

Diese Passage aus Thackers Tentacles Longer Than Night zeigt jedoch, dass auch hier Manches ausgelassen wird, wie etwa das von Baudrillard angeführte Ausspielen des Todes durch den Tod, die Transgression und die Lust, die dabei empfunden werden kann. Dem Horrorgenre einen kulturellen Wert zuzuschreiben ist ein durchaus ambivalenter Sachverhalt, den es im Vorfeld zu lösen gilt. Der Ruf ist durch die behandelte Thematik bereits geschädigt und viel zu oft berichten Presse und Behörden von gewaltverherrlichenden oder sogar gewaltfördernden Medien; Filme und Videospiele sind regelmäßig Anstoß für Diskussionen und auch andere Horrorphänomene wie Scare Pranks oder der Slenderman geraten häufig in den Fokus der Medien und Boulevardpresse, rücken so in die Öffentlichkeit und hinterlassen einen faden Beigeschmack – wie etwa im Fall des versuchten Mordes, begangen von zwei Kindern, die ihre Klassenkameradin dem Slenderman opfern wollten.[12] Ein solcher Einfluss einer fiktiven Horrorgestalt auf die Realität verursacht Diskussionen, und oft wird das Horrorgenre als solches als gefährlich verschrien. So schreibt beispielsweise Mathias von Gersdorff, Volkswirt und Leiter der Aktion Kinder in Gefahr, eine Initiative, die von der Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur (DVCK) e. V. gegründet wurde, in seiner bereits 1997 publizierten Schrift Satanismus, Horror und Gewaltverherrlichung in den Medien über den schädlichen Einfluss von Horror auf unsere Kultur, der angeblich auch mit Bezügen zu religiösen Motiven in Verbindung stehe und eine absolute Gefahr für die Entwicklung von Menschen darstelle:

»Die Werte, die unsere westlich-abendländische Kultur und Lebensweise durch Jahrhunderte geprägt haben, werden alltäglich aufs neue angegriffen.«[13]

Weiterhin führt er über den Einfluss von Horror auf den Rezipienten aus:

»Es wird aber beim Zuschauer nicht allein beim moralischen Schaden bleiben. Er wird, wenn er das Gesehene nicht verabscheut, einen persönlichen Schaden nehmen. Seine Persönlichkeit und sein Geschmack, sein Verhalten zu seinen Mitmenschen und seine Wertvorstellungen, seine Ideale und Lebensziele werden sich verändern. Wenn sich jemand mit dem Monströsen, Abscheulichen vergnügt, Lust empfindet, Horror zu sehen und zu verspüren, läßt er in sein Inneres etwas eindringen, das sein Empfinden, seine Sensibilität, seine Urteile beeinflusst.«[14]

Auch wenn von Gersdorff in dieser Publikation eine sehr subjektive, unreflektierte und stellenweise recht naive Position vertritt – die Verunglimpfung der Rockmusik als Musik des Teufels ist ebenfalls ein tragendes Element seiner Argumentation[15] – so zeigt diese Analyse des Horrorgenres doch auf, dass es einen Einfluss hat, der nicht immer positiv aufgenommen wird und es auch in abseitigen Bereichen des Kultursektors zu Diskussionen bezüglich des Horrorgenres kommt – auch wenn es sich hier vielmehr um eine Meinung als um eine belegte Analyse handelt. Dass die Position des Autors lediglich subjektiver Natur ist und in seiner Schrift keinerlei objektive Auseinandersetzung mit dem Genre stattgefunden hat, soll an dieser Stelle noch einmal betont werden. Doch eine solche Ablehnung erfährt Horror auch an anderen Stellen, und das zu Unrecht, denn Horror ist ein kultureller Gegenstand, der einen Nutzen für den Menschen hat und dessen Konnotationen durchaus positiver sind, als sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Hierfür ist es ebenfalls notwendig, dass man, um die Wirkungsmechanismen des Horrorgenres verstehen zu können, nicht nur die Psychologie hinzuzieht – beispielsweise durch die Schriften von Sigmund Freud – sondern den wissenschaftlichen Horizont erweitert. Die Theaterwissenschaft ist bestens geeignet, sich des Horrorgenres anzunehmen, das durch seinen ostentativen Charakter gleichermaßen auch eine Schau-Lust beim Rezipienten auslöst und dabei Horror als auch Rezipient eine ungewöhnliche Symbiose eingehen, wo doch das Horrorgenre jederzeit nur Schrecken verbreiten möchte, den der Rezipient in dieser Beziehung anscheinend freiwillig aufsucht. Dass diese Beziehung nicht nur, wie bereits angesprochen, psychologischer Natur ist, sondern kulturell tiefer verwurzelt, wird hier behandelt. Horror arbeitet oft mit theatralen Mitteln und findet sich manchmal in seiner einfachsten ostentativen Form noch in den Überbleibseln der Jahrmärkte als verstaubte Geisterbahnen wieder, die niemanden mehr erschrecken und dennoch existieren und vielleicht auch immer noch Anfänge von kindlichem Interesse an dem Gruseligen, Unheimlichen und vielleicht auch am Brechen von Tabus sind. Doch Geisterbahnen sind nur ein kleiner Teil des Horrorgenres, der auch heutzutage antiquiert erscheint. Aktuell erscheint das Horrorgenre in immer immersiveren Formen, die die Wahrnehmung und Realität von Beteiligten einnehmen, wie etwa das Phänomen der Clowns und Scarepranks, der Creepypasta und SCP, auf die im späteren Verlauf eingegangen wird.

Trotz der nicht immer positiv besetzten Geschichte des Horrorgenres und der vielen Gegner gibt es dennoch Bestrebungen, diesem Genre mehr kulturellen und philosophischen Wert zuzuschreiben als bisher. Eugene Thacker untersucht in seiner dreiteiligen Reihe HORROR OF PHILOSOPHY die Bindeglieder von Horror und Philosophie beziehungsweise die Bereiche der Philosophie, die sich mit dem Begriff Horror erklären lassen – basierend auf philosophischen Überlegungen von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Howard Phillips Lovecraft. Thacker versteht Horror als eine legitime Spielart der Philosophie, geht sogar soweit zu sagen, dass »[…] Wo die ethische Philosophie aufhört, beginnt der übernatürliche Horror.«[16]. Thomas Ligotti stellt in seinem Buch The Cospiracy Against the Human Race ein philosophisch-theoretisches Konzept einer lebensfeindlichen, von Horror durchtränkten Welt vor, wobei er, beeinflusst von Schopenhauer und auch Nietzsche, ein deutlich pessimistisches Modell vorstellt – vielleicht sogar noch einen Schritt weiter geht und wie Lovecraft eine »gleichgültige Person« wird.[17] Ligotti über Lovecraft:

»Lovecraft war begeistert von der Vorstellung, dass etwas Verderbliches unsere Welt in einen Albtraum verwandelt, unabhängig davon, ob es uns gleichgültig ist oder sich an unserer Verwüstung erfreut.«[18]

Auch in den Schriften Lovecrafts selbst lassen sich Ansätze einer theoretischen Vorüberlegung zur Definition eines von Horror durchzogenen Weltbildes ausmachen – eine Welt, die er in seinen phantastischen Geschichten beschreibt und die dennoch mit der Realität eng verwachsen ist. Es ist gerade wichtig, Lovecraft nicht nur als Schriftsteller von Pulp-Literatur anzusehen, sondern seine Schriften mit einer anderen Lesart zu bewerten. Lovecraft war mehr Philosoph als Trivialautor und hat mit seinem Wirken nicht nur einen immensen Einfluss auf die Phantastik seit dem 20. Jahrhundert, sondern dringt mit seinen theoretischen Überlegungen weiter in die Lebensrealität unserer Zeit vor als bisher angenommen. Die Position, Lovecraft als Philosophen zu lesen, wurde unter Anderem von Thacker und Ligotti begonnen und wird in dieser Arbeit auch fortgesetzt, wohl möglich sogar vertieft, denn eine Aufwertung zum Philosophen scheint im Fall Lovecrafts längst überfällig, da er in seinen Geschichten und Erzählungen sich mehr einer Erkenntnistheorie und einem Streben nach Weisheit widmet als andere vergleichbare Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts. Neben seinen Kurzgeschichten und Erzählungen widmete er sich in zahlreichen Essays Themengebieten wie Idealismus, Religionskritik, Pessimismus sowie Zeit und Raum, wobei diese Aufsätze nahezu wie eine theoretische Grundlage für seinen erschaffenen Mythos und Geschichtenkanon fungieren.

Das hauptsächliche Untersuchungsfeld dieser Arbeit ist die Beziehung des Menschen zum Phänomen Horror und wie der Mensch sich in dem Spannungsfeld des Genres bewegt. Horror ist nicht allein Genre der Unterhaltungskultur, sondern ein Denkmodell, eine philosophische Position und eine kulturelle Alternative, die sich durch eigene Zeichen, Haltungen und Formen abgrenzt. Horror unterhält nicht nur, sondern lehrt. Unabhängig von religiösen, geografischen und volkskulturellen Grenzen existiert der Schrecken, von dem es zu Lernen gilt. Horror kann, abhängig von seiner Definition, auch, wie Thacker es formuliert,

»… als Verhandlung mit der Furcht des Menschen in einer menschlichen Welt verstanden werden (die Welt-für-uns), aber jener Horror muss folgendermaßen verstanden werden: Als Grenze des Menschen und als die Grenze der Welt, die nicht nur die Umwelt, sondern die Erde, der Planet ist (die Welt-ohne-uns).«[19]

Bei Horror geht es nicht nur um Mord und Totschlag, Monster und Geister, sondern um die Vermittlung von Wissen und Wahrheit, teils auf individueller, teils auf universeller Ebene, wobei auch ein beachtlicher Anteil daraus besteht, mit dem Verhältnis von Tod und Leben, Realität und Phantastik zu spielen und einen Gegenentwurf zur kalten Wahrheit anzubieten. Mit Lovecraft als Begründer des Horrors der Moderne, der die Romantik und deren Motivik ablöst, halten auch philosophische Strömungen und Einflüsse Einzug in das Genre, das lange Zeit unter dem Staubmantel des Gothic lag, und die behandelten Themen reichen von einem Leben nach dem Tod nun endlich auch bis zu einem kompletten Hinterfragen der menschlichen Existenz und das mit neuen Motiven und Möglichkeiten der Fragestellung. Das Horrorgenre versucht sich in Antworten auf die Fragen an das Unbekannte und muss dabei neu verortet werden, wobei es hier, wie eben erwähnt, die Fragestellungen neu formuliert. Es entstehen neue Motive, Bilder und Mythen, die bereits vorhandene Traditionen aufwerten oder ergänzen. Die Traditionen werden dabei in keinerlei Weise ignoriert – so wie Lovecraft in seiner Tätigkeit als Schriftsteller auch klassische Elemente der Horrorgeschichte, wie sie etwa Edgar Allan Poe nutzte, verwendet. Eine erste Richtung wird schon beispielsweise durch Eugene Thacker vorgegeben, der Horror in einer Mitte verortet, »im Schwanken zwischen diesen beiden Polen – einer vertrauten Realität, die unhaltbar ist, und einer anerkannten Realität, die unmöglich ist«[20]. Dem Menschen ist eine Beziehung zum Schrecken eigen und selbst die Verleugnung der Angstgefühle und die Ablehnung einer Rezeption von Horror ist eine Beziehung. Welchen Nutzen hat das Horrorgenre für den Menschen? Dies ist natürlich nicht unkritisch zu beantworten, dennoch ist es eine Fragestellung, die bei der Fülle an Material, das das Horrorgenre bereits seit Jahrzehnten bietet, berechtigt erscheint. Kann die vermeintliche Schadhaftigkeit vielleicht widerlegt werden oder ist das Horrorgenre gerade durch seine Feindseligkeit gegenüber dem Menschen, der im Horror stets der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Tod ausgesetzt ist, eine Kunstform, die sich gegen den Menschen richtet? Gerade hier greifen die Gedankenkonstrukte des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft, dessen Horror immer allgegenwärtig, kosmisch und unbesiegbar ist. Da dieser Horror nicht zu vermeiden, damit auch nicht zu ignorieren ist, bietet sich eine Chance für den Rezipienten, indem er sich mit diesem Horror auseinandersetzt, sich auf ihn einlässt und einen Nutzen aus seiner Wirkung zieht. Gerichtet »gegen die Welt, gegen das Leben«, wie auch der Titel eines Essays über Lovecraft von Michel Houellebecq lautet. Houellebecq verfasste das Essay, wie er selbst schreibt, im Zuge einer allgemeinen Faszination am Werk Lovecrafts, das eine unüberwindbare Anziehungskraft auf ihn ausübt.[21] Ferner deutete auch er schon an, dass sich in Lovecrafts Erschaffen von Welten kosmischen Ausmaßes ein Einfluss auf unsere eigene Wahrnehmung der Welt befindet.[22] Gleichermaßen ist das Essay über Lovecraft selbst Schlüssel zur Literatur Houellebecqs. Ob Houellebecq allerdings die in seinem Essay gestellte These, dass Lovecraft nur durch das Ablegen des eigenen Anspruchs an Realismus zu verstehen sei, richtig herleitet, ist infrage zu stellen, da gerade Lovecraft sich selbst als Realisten betrachtet – was im weiteren Verlauf der Arbeit erörtert wird und für das Verständnis von Horror eine große Rolle spielt, denn Horror ist etwas sehr Reales und nicht zuletzt auch etwas sehr Intimes, auch wenn die Mittel zur Verbreitung oftmals aus dem Bereich der Fiktion stammen und dabei vielleicht auch unpersönlich scheinen. Dass Horror – und damit auch verschiedene Formen von Ängsten – etwas sehr Persönliches ist und auch mit einer intimen Wahrheitsfindung einhergeht, wird im weiteren Verlauf erörtert. Es ist eingängig zu betonen, dass die Bedeutung Lovecrafts für das Horrorgenre nicht größer sein könnte. Er revolutionierte das Genre und erneuerte es gleichermaßen, brach mit den »gothischen« Traditionen und entwickelte Konzepte, die auch heute noch ihre Gültigkeit besitzen, wenn es um die Ausformung und Gestaltung von Schrecken geht – nicht ohne diesen dabei auch zu hinterfragen. Einige Theoretiker, wie Thomas Ligotti, vertreten die Ansicht, dass sich die Vielzahl der Ängste und die verschiedenen Formen der Furcht auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren lassen: den Tod. Doch ist es »nur« der Tod? Eine These, die es zu differenzieren gilt, da sich der Tod auf verschiedene Arten und Weisen zeigt und dabei nicht immer nur ein Schmerz oder eine Angst im Vordergrund steht. Welche Voraussetzungen hat der Mensch, um ein Weltbild des Horrors zu entwickeln? Entsteht der Horror durch eine Mythologisierung von bereits bestehendem Pessimismus bzw. Nihilismus? Auf diese theoretischen Konstrukte, besonders ausgeprägt bei den Philosophen Schopenhauer, Nietzsche und auch Lovecraft, wie auch die bereits bestehenden kulturellen Ausprägungen des Horrorgenres soll in den folgenden Kapiteln dieser Forschungsarbeit eingegangen werden. Unterstützend hierzu werden einige Beispiele aus dem Horrorgenre hinzugezogen, die veranschaulichen sollen, wie diese Weltbilder und Theorien heute rezipiert werden oder gar eine gewisse Gültigkeit erfahren. In einem muss allerdings ein radikaler Strich gezogen werden, denn Horror ist nicht, wie Thomas Ligotti ausführt, das Anerkennen der menschlichen Existenz als eine bösartig-nutzlose Erscheinung.[23] Ligotti geht in seinem Nihilismus vielleicht zu weit, indem er das Horrorgenre bzw. den Horrorbegriff für seine Definitionen nutzt, denn Horror ist nicht nur destruktiv, sondern bietet, wie bereits erwähnt, auch Möglichkeiten des Andersdenkens an, Positivierungen, gemessen am Nihilismus, wie Ligotti ihn beschreibt. Das Andersdenken und die dahinter stehenden Ansichten auf das Leben und den Schrecken werden anhand verschiedener Beispiele im Folgenden erläutert. Ligotti missbraucht den Begriff, um eine Art depressive Lebenseinstellung zu beschreiben, was allerdings in dieser Arbeit revidiert wird. Auch wenn Ligotti in einigen seiner Thesen eine Richtung einschlägt, die das Verständnis um das Horrorgenre neu definieren könnten, so sind doch andere Bereiche seiner philosophischen Ansichten mit dem Genrebegriff Horror inkongruent. Gerade Lovecraft wird im Bezug auf Konzeptionen von Horror von Ligotti missverstanden. Ligotti definiert die menschliche Existenz und das Drama des Bewusst-Seins als Horror – für Ligotti ist das Nicht-Sein von großer Bedeutung, das Aufgeben des Bewusstseins und des Existenzgefühls. Für Lovecraft hingegen ist das Bewusst-Sein von großer Bedeutung, denn nur das Bewusstsein, wie der Einbruch der Realität in die Welt des Phantastischen, löst bei Lovecraft das Gefühl des Horrors aus. Die unheimliche Existenz des Gottes Cthulhu wird nur dadurch zum Schrecken, dass der Protagonist der Erzählung (»Cthulhus Ruf«. Original: »The Call of Cthulhu«, 1928) ihrer Wirklichkeit gewahr wird. Er bejammert nicht, dass er selbst ein Bewusstsein hat, das ihn quält, sondern wird sich der schrecklichen Macht des einst schlafenden, toten Gottes bewusst. Hier sind es mehr die cthulhuiden, »fragilen und göttlichen Tentakeln, länger als die Nacht«[24] von Eugene Thacker, die mehr auf Lovecrafts Bezüge zum Realismus eingehen und die Horror als ein Konzept der Realität beschreiben, nicht als einen Bestandteil einer depressiven Weltanschauung.

In der aktuellen geisteswissenschaftlichen Forschung finden sich immer wieder Beiträge, die Elemente des Horrorgenres untersuchen. Hervorzuheben sind hier Beiträge zum modernen Horrorfilm von Julia Köhne, Elisabeth Bronfen, Arno Meteling[25], die Forschungsarbeiten von Marcus Stiglegger zu Terrorkino und anderen Bereichen des Horrorkinos[26], dazu historische Untersuchungen wie die dreiteilige Reihe zur Geschichte des Horrorkinos von Jonathan Rigby.[27] Hinzu kommen auch Arbeiten von Elisabeth Scherer[28] und Anderen, die versuchen, den Horrorfilm bzw. das Horrorgenre in Verbindung mit Feminismus zu untersuchen. Zwischen all den Genannten stehen die unzähligen Filmratgeber, die einen vermeintlichen Einblick in das Horrorgenre bieten wollen: Bücher, die eine ultimative Auflistung der 100 besten Horrorfilme aller Zeiten versprechen und das Genre immer und immer wieder, Wiederholung auf Wiederholung, versuchen, neu zu vermessen und immer wieder beim gleichen Ergebnis ankommen, ohne dabei tatsächlich neue Einblicke zu liefern; denn diese oberflächliche Repetition kann auch keine neuen Sichtweisen erbringen, außer die bereits bekannten zu wiederholen. Das Genre wird unterteilt in Subgenres: Vampirhorror, Bodyhorror, Geisterhorror, Slasher, Kannibalenfilme, Torture Porn, Zombiehorror, Science-Fiction-Horror und so weiter und so fort, mit dem Ergebnis, dass The Shining (1980) und Psycho (1960) sehr gute Filme sind.[29] Diese Aussagen haben allerdings keinen qualitativen Anspruch bei der Untersuchung des Horrorgenres, da dies in unendlich vielen anderen Filmratgebern ebenfalls steht, ohne dabei die Bedeutungsebenen des Horrorgenres in dem besonderen Fall zu berücksichtigen.

Eines ist noch unbedingt zu erwähnen: Es ist unverzichtbar, die Relevanz des Horrorgenres neu zu bewerten und seine Bedeutung für Kunst und Kultur festzumachen. Das nach wie vor bestehende Vorurteil, dass Horror lediglich ein verruchtes Genre sei, bei dem es allein um blutige Morde, bestialische Monster und sinnloses Geschlachte ginge, muss abgelegt werden und Horror als vollwertiges Genre der Kunst und vor allem als Gegenstand der Kultur anerkannt werden. Selbst innerhalb eines akademischen Diskurses ist dieser Umstand schwierig und es wird stellenweise mit zweierlei Maß gemessen. So werden auf der einen Seite kunstwissenschaftliche Analysen, beispielsweise zu Francisco José de Goyas Saturn verschlingt eines seiner Kinder geschrieben, ein Gemälde, in dem Blut und ein verstümmelter Torso zu sehen sind – gängige Motive des Horrorgenres – und auf der anderen Seite werden wiederum filmische Werke wie The Texas Chainsaw Massacre (1974) erst verhältnismäßig spät aus der zensurbehördlichen Verbannung geholt und ansatzweise gewürdigt. Trotz aller scheinbarer Lebensfeindlichkeit hat Horror seinen Reiz, denn Horrorfilmproduktionen, Videospiele, Romane, Eventveranstaltungen oder andere Inszenierungen von Horror gibt es heute mehr denn je und die Popularität steigt weiter. Horror entwickelt eine Attraktion am Schrecken, eine verhältnismäßig paradoxe Anziehung des Abstoßenden. Horror ist an sich ein repetitives Genre, bei dem Geschichten und Motive ständig wiederholt werden und damit ist es auch schon immer eine Serienproduktion gewesen: Fortsetzungen, Serien, Mehrteiler, Parallelerzählungen, Prequel sind mitunter standardisierte Formate des Schreckens. Der Vampir Dracula wird nahezu seit der Erfindung des Kinos immer wieder belebt, getötet und wieder erweckt. Jugendliche, attraktive Formen des Vampirs, monströs-groteske Verformungen des bestialischen Blutsaugers oder andere Interpretationen erstehen auf und sterben wieder auf den Leinwänden des Kinos. Gerade im Horrorgenre finden sich immens viele Fortsetzungsgeschichten und Remakes, Wiederholungen der gleichen Geschichte, meist mit einer gewissen Aktualisierung. Wiederholung und Differenz werden gleichermaßen im Horrorgenre ausgeprägt und sind auch elementar für die Beschreibung und Analyse des Horrorgenres. Ein(e) Kult(ur) entsteht, mit der sich Menschen identifizieren und die es zu entschlüsseln gilt. Es ist nicht die Intention dieser Arbeit, eine Geschichte des Horrors zu konstruieren. Vielmehr soll, wie bereits angesprochen, die Position des Menschen im Horrorgenre untersucht werden. Hierbei ist der Mensch oftmals in einer zweifachen Form gemeint: Der Rezipient, der sich dem Horror »hingibt« und die Figur Mensch, die in Filmen, Spielen, Stücken etc. behandelt wird. Es existiert eine Welt des Schreckens, des Grauens und des Todes, die tausendfach in Filmen, Romanen, Lagerfeuergeschichten, Videospielen, Theaterproduktionen, Performances usw. abgebildet wird, eine vermeintliche Kehrseite der Lebensbejahung, für die es einen Leitfaden benötigt.

[10]Baudrillard S. 12 f.

[11]Thacker 2015, S. 121. »Horror is fear, yes, but fear of what? Fear of the loss of individuality, fear of the loss of individuation, fear of the loss of control, fear of fate, accident, or superstition, and above all, fear of death – especially one’s own death. Again, as the story goes, horror is not just about fear, but is ultimately about the fear of death.«

[12]Siehehttp://www.spiegel.de/panorama/justiz/slenderman-mordversuch-us-teenager-gehen-mit-messer-auf-freundin-los-a-973515.html. Letzter Zugriff: 05.10.2020, 14:15 Uhr.

[13]Von Gersdorff 1997, S. 23.

[14]Von Gersdorff 1997, S. 28.

[15]Vgl. Von Gersdorff 1997, S. 103.

[16]Thacker 2015, S. 173. »Where ethical philosophy leaves off, supernatural horror begins.«

[17]Vgl. Ligotti 2010, S. 61. »Indifferentist«

[18]Ligotti 2010, S. 61. »Lovecraft was exhilarated by the idea of something pernicious that made a nightmare of our world, whether it was indifferent to us or quite partial to our devastation.«

[19]Vgl. Thacker 2011, S. 8 f. »be understood not as dealing with human fear in a human world (the world-for-us), but that horror be understood as being about the limits of the human as it confronts a world that is not just a World, and not just the Earth, but also a Planet (the world-without-us).«

[20]Thacker 2015, S. 5 f. in the wavering between these two poles – a familiar reality that is untenable, and an acknowledged reality that is impossible.

[21]Vgl. Houellebecq 2016, S. 7.

[22]Vgl. Houellebecq 2016, S. 8 f.

[23]Vgl. Ligotti 2011, S. 119 f.

[24]Vgl. Thacker 2015, S. 185.

[25]Köhne, Kuschke, Meteling (Hg.) 2012.

[26]Vgl. Stiglegger 2010.

[27]Rigby 2015 und 2017

[28]Scherer 2011.

[29]Duncan, Müller (Hg.) 2017.

1.3 Versuch einer Definition des Horrorgenres

Das Thema Horror in einer theaterwissenschaftlichen Arbeit zu behandeln, ist nicht einfach, da es sich hier um einen Themenkomplex handelt, der nicht hinlänglich und abschließend untersucht werden kann. Klare Grenzen des Untersuchungsgegenstands können nicht ohne Weiteres abgesteckt werden, da das Genre Horror immer wieder, wie auch im Laufe der Arbeit beschrieben, im Wandel begriffen und somit eine exakte Definition nicht möglich ist. Was genau ist Horror? Welche Bereiche werden durch das Genre abgedeckt? Eine genaue Bestimmung des Ganzen ist schwierig. Man kann nicht einfach sagen, dass dieses oder jenes Horror ist und andere Elemente aussparen. Das Genre ist, gerade an seinen Ausläufern und Grenzen zu anderen Genres, sehr verschwommen und teilt sich verschiedene Elemente mit anderen Bereichen der Phantastik. Trotzdem haben Autoren, Wissenschaftler, Psychologen, Regisseure und viele andere Mitwirkende versucht, das Genre zu beschreiben und zu definieren. Auch die Herkunft der Faszination für das Unheimliche, das Mysteriöse und den Horror zu ergründen, ist ein schwieriges Unterfangen, obwohl eine strukturierte Herangehensweise zur Analyse des Genres auf den ersten Blick hilfreich scheint. Die genaue Herkunft des Genres zu beschreiben, ist von komplexer Natur, da viele vermeintliche Vorläufer nicht richtig belegt sind oder in einem gänzlich anderen Kontext entstanden sind und mit Horror – einem Genre, das bewusst das Gefühl der Angst in seinen Rezipienten hervorrufen möchte – erst einmal per se nichts zu tun hat. Es ist stets wichtig, die Werke zu kontextualisieren, um Bedeutung und Intention für das Horrorgenre zu erfassen. Beispielhaft an dieser Stelle wäre Shakespeares Hamlet, in dem der Geist eines Ermordeten auftritt und Kontakt mit dem Diesseits herstellt. Dieser Geist sollte aber wohl kaum Schrecken und Angst auslösen, sondern hat vielmehr einen moralisierenden Hintergrund. Selbstverständlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei den Aufführungen von Hamlet niemand Angst verspürte, als der Geist des Königs über die Bühnenbretter ging, allerdings ist seine Position innerhalb des Stücks nicht in erster Linie auf Schrecken und Horror ausgelegt. Das Empfinden von Horror ist ein rein subjektiver Sachverhalt. Wovor sich ein Mensch fürchtet, unterscheidet sich von Person zu Person stark, wodurch eine allgemeingültige Definition noch weiter in die Ferne rückt. Dennoch wurde in der Vergangenheit bereits mehrfach versucht, sich dem Themenkomplex anzunähern. Gerade innerhalb der Literatur brauchte es vergleichsweise lange, bis das Genre zu der Position gekommen ist, auf der es heute steht, auch wenn das Genre trotz aller Bemühungen der Wissenschaft und der akademischen Diskurse dennoch oft in die Ecke der Trivialität gedrängt wird. Horror haftet auch heute immer noch etwas Lasterhaftes, Negatives an, obwohl es Massen an Filmproduktionen gibt und auch einen entsprechenden Markt bzw. eine Fangemeinde, die stets nach den neusten Veröffentlichungen im Horrorgenre giert – und das ist nicht nur auf die Filmindustrie bezogen. Trotzdem hat das Horrorgenre, gerade der Horrorfilm, einen bestimmten Ruf. Er hat etwas Verbotenes an sich, viele Filme sind laut der deutschen Jugendschutzbehörde auch erst ab einem bestimmten Alter geeignet oder werden gar indiziert, also sprichwörtlich aus dem Verkehr gezogen, was natürlich den Reiz durchaus nicht schmälert. Obwohl der Horrorfilm so einen ambivalenten Status inne hat, muss man an dieser Stelle auch bedenken, dass unter den ersten Filmen, die in der Frühzeit des Films entstanden sind, bereits Filme mit Horrorthematik waren, wie etwa Le Manoir du diable von Georges Méliès (1896), bei dem vor allem durch die damals innovative Tricktechnik Méliès’ allerhand Geisterhaftes und Übersinnliches auf der Leinwand zu sehen war. Méliès selbst war ein Pionier in der Filmkunst und Tricktechnik und legte mit seiner Arbeit wichtige Grundsteine für spätere Generationen von Regisseuren und Filmschaffenden, und es ist bemerkenswert und hervorzuheben, dass ein solcher Pionier der Filmkunst in seiner Schaffensphase sich auch mit Horror auseinander setzte – auch wenn es ihm vorrangig darum ging, möglichst spektakuläre filmische Tricks zu erfinden und zu präsentieren, so sind seine Werke dennoch auch für die Grundfeste des Horrorgenres im Medium Film von größter Bedeutung.

Eine erste theoretische Auseinandersetzung mit dem Genre ist allerdings eher innerhalb der Literatur zu finden. Einer der Revolutionäre des Genres, der amerikanische Schriftsteller Howard Philips Lovecraft (1890–1937), setzte sich neben seiner verfassenden Tätigkeit auch als Analyst und Theoretiker mit dem Genre auseinander, wie seine 1927 erschienene Studie Supernatural Horror in Literature zeigt. Howard Phillips Lovecraft schreibt darin:

»Die ersten Instinkte und Gefühlsregungen des Menschen formten seine Reaktion auf die Umwelt, in der er sich befand. Gegenüber den Erscheinungen, deren Ursachen und Wirkungen er verstand, entwickelte er festumrissene, auf Lust und Schmerz basierende Gefühle, während um Erscheinungen, die er nicht verstand – und von solchen wimmelte das Universum in der Frühzeit –, naturgemäß ein Gespinst von Personifikationen, wundersamen Deutungen und Empfindungen der Ehrfurcht und Angst gewoben wurde, das so beschaffen war, wie man es von einer Rasse, die über nur wenige und simple Vorstellungen und beschränkte Erfahrungen verfügte, erwarten würde.«[30]

Lovecraft selbst war weder ein studierter Anthropologe noch ein Psychologe oder anderweitig akademisch profilierter Wissenschaftler. Dennoch wird er heute als einer der wichtigsten Horrorautoren der Welt rezipiert und seine Schriften werden sowohl von der Literaturwissenschaft als auch von der Philosophie untersucht, und seine Bedeutung für die Formung und Definition des Genres ist immens. Lovecraft, als Autor von Dutzenden Kurzgeschichten, Novellen und Gedichten sieht sich selbst innerhalb einer Tradition des Unheimlichen und Makabren, dessen erste Vorläufer er bereits in antik-orientalischen Werken wie dem Buch Henoch oder der Claviculae Salomons ausmacht[31], die dann über die paganen Erzählungen und Lehren des Mittelalters[32] bis hin zu den ersten Begründern der sogenannten »gothic novels« fortgesetzt werden.[33] Höhepunkte dieser literarischen Gattung sind, unter anderen, Der Mönch (1796) von Matthew Gregory Lewis oder auch Melmoth der Wanderer (1820) von Charles Robert Maturin. Neben diesen Werken kommen weitere, heutzutage durchaus als Klassiker des Genres zu betrachtende Romane und Erzählungen in die Aufzählung und Auswertung Lovecrafts hinzu. Autoren wie Mary Shelley, Thomas Moore, Robert Louis Stevenson, E. T. A. Hoffmann und Hanns Heinz Ewers formen für Lovecraft einen stringenten Weg in der Entwicklung der Horrorliteratur, die sich mit ebenfalls bedeutenden Autoren wie Edgar Allan Poe oder Nathaniel Hawthorne weiter bis zu ihm selbst verdichtet. Bewunderung bringt er auch für seine Zeitgenossen Algernon Blackwood, Arthur Machen oder Montague Rhodes James auf, die, seiner Meinung nach, die modernen Meister des Genres sind.[34] Auch heute noch sind die Einflüsse Lovecrafts, seiner Zeitgenossen wie auch ihrer Vorläufer im Genre sichtbar. Selbst einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart, Stephen King, ist eindeutig durch Lovecraft beeinflusst und inspiriert. Auch Stephen King hat seine eigene Studie, wenn man es so nennen möchte, zum Horrorgenre verfasst und brachte 1981 die erste Auflage von Danse Macabre heraus – ein ausführliches Essay zum Horrorgenre. In diesem sucht auch er eine Art Erklärung für das Genre, seine Wirkungsmechanismen, seine Ursprünge und seinen Nutzen – was ihn deutlich von Lovecraft unterscheidet, da dieser den Aspekt der Nützlichkeit nur sehr vage und vorsichtig tangiert. King schreibt:

»Wir nehmen Zuflucht in Fantasieschrecken, damit die echten Schrecken uns nicht überwältigen, indem sie uns auf der Stelle gefrieren lassen und es uns unmöglich machen, im Alltag zu funktionieren. Wir begeben uns in die Dunkelheit eines Kinos, und hoffen darauf, schlecht zu träumen – weil die Welt in unserem normalen Leben stets so viel besser aussieht, wenn der schlechte Traum endet.«[35]

Man könnte schon fast eine Spur Masochismus in den Horrorfilmliebhabern vermuten, so wie King es hier andeutet. Doch zur Genredefinition sollte man eher die Quintessenzen von Lovecraft und King einbeziehen – wobei andere Äußerungen von Stephen King mit dieser Arbeit durchaus widerlegt werden sollen, wie etwa die Behauptung, Horror hätte nichts Feinfühliges oder Kultiviertes an sich.[36] Fundierte Belege für Kings Thesen gibt es wenig, da auch seine Position sehr subjektiv formuliert ist – wie auch schon bei Lovecraft, was zum ersten, wichtigen Punkt in der Formulierung einer Definition führt: Das Horrorgenre zeichnet sich, auch bei Fachleuten, in erster Linie durch eine sehr subjektive Wahrnehmung aus. Was den einen das Fürchten lehrt, mag für einen anderen lächerlich und kindisch wirken. Das Genre an sich ist durch seine enorme Varianz auffällig und vielerlei Bedrohungsfaktoren wie Geister, Dämonen, Untote oder Serienmörder ersuchen darum, ja, flehen schon auf fast gespenstische und dabei verdrehte Art und Weise darum, dem Rezipienten einen Schauer über den Rücken laufen lassen zu dürfen. Bei Lovecraft sind es zumeist das Wirken und die Machenschaften uralter Gottheiten, die durch ihre Anhängerschaft und deren Riten für Schrecken sorgen, bei King hingegen sind es andere Gestalten, wie etwa der berühmte Clown Pennywise aus dem Roman ES (1986) (Wobei hier anzumerken ist, dass auch der Clown Pennywise bzw. die Entität ES eine Art primitive Gottheit ist, deren Handlungen kosmischen Ursprungs sind). Diese subjektive Wahrnehmung sollte zusammen mit der bereits in der Einführung angebrachten Erklärung Lovecrafts zusammengebracht werden, in der er die Angst vor dem Unbekannten als älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung festlegt.[37] Stephen King macht weiterhin in seinem Essay auf eine Differenzierung aufmerksam, die es an dieser Stelle für die Definition von Horror näher zu beleuchten gilt. Er teilt das Genre in zwei Ebenen auf: Eine Ebene des Horrors, die anwidert, eine andere Ebene, die das Gefühl des Gruselns hervorruft.[38] Mit beidem hat King natürlich auf eine gewisse Art und Weise recht, denn Horror versucht natürlich zu erschrecken und Angst einzujagen und nutzt dabei auch Mittel des Ekels, dennoch fällt es schwer, eine so simplifizierte Einteilung des Genres zu akzeptieren. Kings Einteilung sollte eher differenzierter betrachtet und damit die Ursache für Ekel, Grusel und Angst benannt werden – ohne dabei auf Ausformungen eines Subgenres zu achten. Wenn der Rezipient der Empfänger eines subjektiven Gefühls ist, so ist der Sender dieses Gefühls, also der Verursacher, gleich einem Objekt. Dieses Objekt kann natürlich vieles sein: Ein Geist, ein Vampir, eine dämonische Macht oder Ähnliches. Gestalt, Herkunft, Handlungsspektrum und Aktionsradius sind vollkommen unterschiedlich, doch die Beziehung zum Subjekt ist gleichbleibend. Sie löst Angst, Ekel, Schrecken, Abscheu, Gruseln aus – wobei die Wirkungsmechanismen genauer einzuteilen sind.

Was wäre, wenn man die von King angeführte Aufteilung des Genres in »Das Gruseln« und »Der Ekel« etwas differenzierter vornimmt? Horror lässt nämlich auch eine etwas andere Lesart zu: Auf der einen Seite findet man die psychologischen Komponenten des Horrors – so wie King schreibt, die Ekel hervorrufenden, was sich letztendlich in einem körperbezogenen Gefühl äußert. Das Gruseln und der Schauer, der auf der anderen Seite erzeugt wird, hat nicht unbedingt mit Ekel oder Abwehr zu tun, sondern arbeitet stellenweise vielmehr mit Mechanismen wie Ehrfurcht oder einem (mystischen) Erschauern in Anbetracht etwas Überweltlichem oder Jenseitigem, das der Mensch nicht innerhalb seiner Denkmuster erfassen kann. Hinzu kommt noch ein gewisses Maß an Lust und Verlangen, das dem Horrorgenre inne liegt, denn ohne diese Koexistenz und das gleichzeitige Existieren von Lust und Schrecken wäre das Horrorgenre und vor allem die Rezeption dessen in dem heutigen Ausmaß kaum möglich oder gar denkbar. Der Schrecken wird gepaart mit dem Schauer, einer Art heiligen Erregung von Gefühlsregionen. Edmund Burke spricht hier auch vom Erhabenen:

»Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist.«[39]

Warum sich der Mensch diesem widmet und warum er sich dem Schrecken aussetzt, begründet er indirekt damit, dass Schrecken und Schmerzen – von der Ferne betrachtet – positive Gefühlsregungen im Menschen hervorrufen können.[40] Auf die hier behandelte Fragestellung lässt sich Burkes Formulierung so übertragen, dass Menschen sich mit dem Horrorgenre auseinandersetzen, weil die Distanz, die zwischen dem Geschehen des Schrecklichen und dem Rezipienten herrscht, einen dennoch positiven Eindruck hinterlässt.[41] Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit dem Horror auch eine Annäherung an eine primitive Dimension des Göttlichen, was durchaus im Bereich des Möglichen liegt, da im Horrorgenre oft verschiedene Figuren oder Entitäten porträtiert werden, die ihren Ursprung in einer paganen Vergangenheit und Kultur haben – Dämonen, Teufel, Geister, verschiedene Monstrositäten und andere Wesen. Natürlich tritt diese Annäherung nur innerhalb des Horrorgenres auf, sobald etwas Übernatürliches mitwirkt. Hier ist auch die Abgrenzung zu anderen Genres zu suchen, da zum Beispiel auch der Thriller (im Bereich von Film und Literatur) zeitweise mit den gleichen oder zumindest ähnlichen Elementen wie das Horrorgenre arbeitet – allerdings ohne eine übernatürliche Komponente. Beispiele hierfür wären etwa die Reihe, die nach dem Film Saw (2004) entstand, in der zwar mit Horrorelementen wie Splatter oder Jump-Scares gearbeitet wird, es aber keinerlei übernatürliche Elemente gibt. Der Film wäre nach der hier genutzten Definition dem Thrillergenre zuzuordnen statt dem Horrorgenre. Die Grenzen sind, gerade im Bereich des Films, sehr fließend und mal mehr, mal weniger stark definiert. Für diese Arbeit ist der Begriff des Horrors allerdings unweigerlich mit der Phantastik verbunden, und der in anderen Bereichen genutzte Begriff des Supernatural Horror wird hier allgemeingültig für Horror genutzt, eine Verbindung mit dem Übernatürlichen wird vorausgesetzt. Hier ist es durchaus nötig eine Abgrenzung vorzunehmen, und tatsächlich ist die Abgrenzung bereits semantisch erfasst, wenn man sich nur einmal die Übersetzungsmöglichkeiten des lateinischen Wortes »Horror« anschaut: Rauheit, Schauer, Schrecken, Schauder, Grausen, Entsetzen, Frostschauer, Fieberschauer aber auch, und das ist an dieser Stelle überaus bedeutsam, heilige Scheu, Ehrfurcht und Wonneschauer. Dem entgegen steht »Terror«, was ebenfalls mit Schrecken oder Angst zu übersetzen ist, allerdings komplett die im Wort »Horror« enthaltene heilige, göttliche Komponente ausblendet. »Terror« ist der Wortbedeutung nach eher ein profaner Schrecken, »Horror« eine heilige Variante. Das Horrorgenre sollte sich demnach ebenfalls vom Terrorgenre abgrenzen. Der bereits als Beispiel angeführte Film Saw ist, da eine übernatürliche, heilige Komponente fehlt, mehr dem Terrorgenre zuzuordnen anstatt dem Horrorgenre. Gerade im Bereich des Kinos vollzog sich eine beinahe parallele Entwicklung von beiden Typen – wobei auch hier wieder festzuhalten ist, dass eine klare Abgrenzung kaum möglich ist, da sich beide Genres gewisse Schnittmengen teilen. Marcus Stiglegger beschreibt in seiner Schrift Terrorkino (2010) einen Anstieg von Filmen innerhalb des Terrorgenres nach den Anschlägen des 11. September 2001.[42] Der Horrorfilm wandelte sich immer mehr zum Terrorfilm, da gerade in Amerika das Übernatürliche durch den Menschen als Bedrohungsfaktor abgelöst wurde – es bedarf keiner Geister und Dämonen mehr, denn das ultimativ Böse hat sich, gerade was die amerikanische Perspektive angeht, als menschlich erwiesen. Der von Stiglegger beschriebene Trend und Aufwind des Terrorfilms hielt aber – verglichen mit anderen Zeitspannen innerhalb der Kulturgeschichte – nicht allzu lange an, denn bereits einige Jahre später zog es die Geister und das Übernatürliche wieder auf die Leinwände des Kinos. Paranormal Activity (2007), Insidious (2010) und The Conjuring (2013) sind nur drei Filme, die jeweils eine überaus erfolgreiche Serie von Fortsetzungen und Ablegern generierten, welche allesamt in einer älteren Welt des Kinos vor 2001 zu spielen scheinen, in der Geister und Dämonen weiterhin das Horrorkino dominieren und die Menschen lediglich das sind, was sie sind: Menschen.

Allein die etymologische Entschlüsselung des »Schreckens« legt nahe, Horror von Terror zu differenzieren, weshalb Horror hier, wie bereits mehrfach geschrieben und betont, all das Schreckliche inkludiert, was einen Bezug zum Übernatürlichen aufweist. Filme wie etwa Saw oder auch Hostel (2005), welche einen qualitativ überaus positiven Beitrag zum Terrorgenre lieferten, werden im Rahmen dieser Arbeit demnach ausgelassen und auch andere artverwandte Themenbereiche, die auf Motiven des Terrorgenres beruhen. Hierbei ist anzumerken, dass zum Beispiel Filmreihen wie SAW laut dieser Definition nicht zum Horrorgenre zählen, aber andererseits Filmreihen wie etwa NIGHTMARE ON ELM STREET (1984–2010), die sich auch drastischer Elemente bedient und auch einen gewissen Fokus auf Gore, also vor allem Blut und Verletzungen legt, durchaus dem Horrorgenre zuzuordnen ist, da der Hauptantagonist der Filmreihe selbst übernatürlichen Ursprungs ist. Auch wenn sich gewisse Elemente der Filmreihen miteinander vergleichen lassen, so ist doch der Faktor des Übernatürlichen bei Filmen wie Saw