Hot Mixed Girl - Nat Isabel - E-Book

Hot Mixed Girl E-Book

Nat Isabel

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Beschreibung

Schön – exotisch – der Anfang vom Ende: in jedem Fall eine Provokation. Klar ist, dass ein ›Hot Mixed Girl‹ die Gemüter erhitzt. Aber wer ist dieses Hot Mixed Girl eigentlich? Und woraus ist diese zeitgenössisch anmutende Projektionsfläche für jahrhundertealtes rassistisches Gedankengut und koloniale Denkmuster gerade in Deutschland historisch und politisch erwachsen? In einer systematischen Dekonstruktion komplexer Mechanismen untersucht Nat Isabel, welche Bedeutungen dem weiblichen afro-diasporischen Körper beigemessen werden, und reflektiert ihre Auswirkungen auf dessen Seele. Mit Tiefgang und Schonungslosigkeit leitet sie zu radikalen Perspektivwechseln an und deckt Wege des Widerstands auf. Dabei zeigt sie – auch anhand ihrer eigenen Geschichte –, wie eine Identitätsfindung in einem Drahtseilakt zwischen prekären Privilegien und gegensätzlichen und desorientierenden Fremdzuschreibungen dennoch gelingen kann.

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Als gebürtige Kölnerin – mit deutschen, omani und kongolesischen Wurzeln – hat Nat Isabel in Großbritannien im Bereich der Systhemtheorie promoviert und veröffentlichte Arbeiten zu Cultural Policy und Marktmechanismen im Kunsthandel.

Nat Isabel

Hot Mixed Girl

Eine Dekonstruktion

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Nat Isabel:

Hot Mixed Girl

1. Auflage, April 2023

eBook UNRAST Verlag, September 2023

ISBN 978-3-95405-161-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Mariana Carvalho

Satz: Andreas Hollender, Köln

Bold Move

Für Regine und Mudiabuima Nzala

Dieses Buch enthält explizite Schilderungen von rassifizierter und sexualisierter Gewalt.

Aus dem Englischen übersetzt

Inhalt

Teil I – Die Dekonstruktion

1 Eine Dekonstruktion und auch ein Exorzismus

1.1 Fangen wir an

1.2 Verstehen

1.3 Neu ausrichten

1.4 Ein systemtheoretischer Ansatz

2 Ein Rückblick

2.1 Deutsche Kolonialgeschichte

2.2 Schwarze und Mixed Deutsche – nichts als Liebe

2.3 Why are you so obsessed with me?

3 Die Konstruktion von Zugehörigkeit

3.1 Umkehrfunktion

3.2 Das Monovolk

3.3 Rassekunde, Blut und Boden

3.4 Cultural Dislocation

4 Dominanz, Anspruchsdenken, Grausamkeit – Menschen sind gruselig

4.1 You will not replace us

4.2 Silencing Discourse & Deutungshoheit

4.3 Ohne Daten keine Probleme

4.4 Rassenabstufungswahn

4.5 Berichterstattung

5 Sprache und Tabu

5.1 Zeigen, wer der Herr im Haus ist

5.2 Sprachversteck Kultur

5.3 Das N-Wort

5.4 Migrationshintergrund

5.5 Politische Korrektheit oder: Einfach kein Monster sein

6 Das Konstrukt Mixed

6.1 Organisiertes Chaos

6.2 Wenn eine flexible Interpretation der Fakten zu Belletristik wird

7 Schnittstelle

7.1 Die Kunst imitiert das Leben und das Leben imitiert die Kunst, wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt

7.2 Outsourcing Sex

7.3 Wie Jezebel sich plötzlich im Zentrum eines massiven Heilige/Hure-Komplexes wiederfand

7.4 Ein nüchterner Blick auf die Konsequenzen

Teil II – Der Exorzismus

8 Same same, but different: Eine kollektive Wahnvorstellung oder telepathische Absprache?

8.1 Haben Schwarze Menschen und Schalentiere ein Schmerzempfinden?

8.2 Exzellent und dazu noch wütend

8.3 Einlasskontrolle

8.4 Individualitätsverlust

8.5 Racial Profiling

8.6 Familienangelegenheiten

8.7 Offene Anfeindungen

9 Das Beste von beidem

9.1 Schönheit und Privilegien

9.2 Hair (is everything)

9.3 Fetischisiert werden

9.4 Ein letztes Aufbäumen der weißen Frau: Die Maßregelung nicht-weißer Körper

9.5 Fluch und Segen, Währung und Untergang

9.6 Nicht hier und nicht dort

10 Widerstand

10.1 Was ist Identität?

10.2 Hypervisibilität und Selbstobjektifizierung

10.3 Grenzüberschreitungen

10.4 Fehlanzeige: White Fragility

10.5 Verantwortlichkeiten

10.6 Abstand

10.7 Losgelöst

Bibliografie

Glossar

Teil IDie Dekonstruktion

1. Eine Dekonstruktion und auch ein Exorzismus

»This rock scarred the hand, and all tools broke against it. Yet, there was a me, somewhere: I could feel it, stirring within and against captivity. The hope of salvation – identity – depends on whether one would be able to decipher and describe the rock. In order to claim my birthright, of which my inheritance was but a shadow, it was necessary to challenge and claim the rock. Otherwise, the rock claimed me.« – James Baldwin, Notes of a Native Son

1.1 Fangen wir an

Was ist Identität? Welche Bedeutungen werden einer bestimmten Identität beigemessen? Wie beeinflusst dies wiederum eine Lebensrealität? In diesem Buch untersuche ich die systematische Bildung und den Ausdruck weiblicher1 Mixed2 (afrodiasporischer)3 Identität und die dazugehörigen Konstrukte, Bedeutungen und Realitäten in einem zeitgenössischen deutschen Kontext. Wobei am Ende dieser Untersuchung die Frage danach steht, wo in dem Raum zwischen von außen auferlegter Bedeutung einerseits und gelebten Erfahrungen andererseits Identität und eine gewisse Wahrheit liegen könnten. Und während ich es als zentral erachte, alle Argumente, die ich mache, wissenschaftlich zu verankern und entsprechende, relevante Diskurse mitzuliefern, verstehe ich zugleich, dass wir in uns selbst vielfältig sind und es keine monolithische Erfahrung gibt, auf die ich mich beziehen kann. Ein systemtheoretischer Ansatz unterstützt dabei, Diskurse und auch die Erzählungen unterschiedlicher Menschen sowie meine eigenen Erfahrungen auszuwerten und einzuordnen, um zu dekonstruieren, wie Systeminteraktionen die resultierenden Konfigurationen der Realität formen. Dieses Buch ist deshalb auch gleichzeitig ein äußerst persönlicher Kommentar, eine Aufarbeitung und eine Art Exorzismus, eine therapeutische Maßnahme – nach vielen Jahren der passiven und sehr privaten Grübelei –, in der das, was inzwischen auch im Kontext der Wissenschaft eingeordnet werden kann, einmal gut sortiert heruntergebrochen wird.

Dieses Buch ist in zwei Abschnitte unterteilt; der erste Teil liefert die theoretische Basis, vor deren Hintergrund die Mechanismen, welche der Konstruktion von Identitäten dienen, und die Entstehung der damit verbundenen Bedeutungen betrachtet werden. Hierbei arbeite ich mich durch eine Reihe verschiedener Themen, die sich alle, gemeinsam betrachtet, zu dem Rahmen oder dem Kontext zusammenfügen, in dem die Auseinandersetzung stattfindet. Das Bühnenbild sozusagen. Der erste Teil besteht unter anderem aus einer umfangreichen Literature Review, in der ich die Arbeit, Artikulationen und ausgeführten Diskurse anderer, die sich vor mir Gedanken gemacht haben, so organisiere und in Zusammenhang bringe, wie ich es bisher vermisst habe. Ich hatte den Eindruck, dass viele dieser Gedanken, Analysen und Schlussfolgerungen aus den unterschiedlichsten Kontexten voneinander unabhängig in der Wissenschaft und in Medien, Buchpublikationen, Onlineblogs und an anderen Orten herumschwirrten, ohne einander zu begegnen, wodurch sie sich nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Deshalb habe ich es unternommen, sie zusammenzutragen und um eine gemeinsame Achse herum zu sortieren. Und genau zwischen all den hier zusammengetragenen Stimmen zeichne ich ein sich wiederholendes Muster nach, trotz aller kontextbedingter Unterschiede, welches nicht nur Realität, sondern auch Identität formt. Teil zwei geht durch persönliche Geschichten von mir und anderen Menschen über diese Basis der Analyse von systemischen Interaktionen hinaus darauf ein, wie die besagten Identitäten und damit verbundenen Bedeutungen Lebensrealitäten prägen.

Kurzum: Teil eins liefert den nötigen Kontext für das Verständnis (Dekonstruktion), Teil zwei liefert den Kommentar und psychologischen Deep Dive dazu (Exorzismus).

Es ist ein Exorzismus, weil ich mich an Orte wage, an die ich normalerweise nicht gehe. Die meiste Zeit mache ich mir lieber Gedanken über ziemlich banale Dinge, trivialen Kram. Ich verbringe nicht gerne Zeit in den dunklen Ecken der Menschheitsgeschichte und muss auch nicht ständig in die eigenen seelischen Abgründe hinabklettern. Das ist einfach nicht alltagstauglich. Aber dieser Exorzismus hat mich dazu gebracht und dazu gezwungen, wenn man so will, Gedanken und Gefühle zu ordnen, sie von den Dingen, die geschehen sind, zu lösen, zu verstehen, was zu mir gehört und was nicht wirklich zu mir gehört, was davon meins geworden ist. Denn es ist auch noch ein bisschen so etwas wie meine Supervillain Origin Story, die Geschichte davon, wie ich zu der geworden bin, die ich heute bin, ein echter Blutdiamant eben – forged under pressure and mined with questionable ethics.

Aber bevor es losgeht, gibt es noch ein paar Dinge, die vorab geklärt werden sollten. An erster Stelle ein Hinweis zur Terminologie: Ich verwende in diesem Buch teilweise Vokabeln, die aus dem Englischen stammen, da sie im Deutschen entweder fehlen oder im Englischen anders konnotiert sind, sodass eine Verwendung der englischen Begriffe im Kontext der Diskurse, in die dieses Buch eintaucht, mehr Sinn ergibt. Beispielsweise verwende ich zwar den Begriff ›das Andere‹4, wenn im Englischen das Wort Other verwendet wird (da das Andere auch im Deutschen angekommen ist); die Begriffe Othering und Otherness bleiben jedoch auf Englisch stehen. Die Begriffe Ethnic5, BrownPeople6, Middle Eastern7 sowie die Bezeichnung Mixed (in Anlehnung an das im britischen Sprachgebrauch häufig vorkommende Mixed-Race) und zu guter Letzt Race8. Dieses Buch wurde aus dem Englischen übersetzt und es war weiß Gott nicht einfach, das Ganze auf Deutsch umzustricken, denn vieles klingt hochtrabend, verschachtelt oder, wenn das Vokabular fehlt, einfach unnatürlich, und manchmal macht es mehr Sinn, die Worte von Autoren wie etwa James Baldwin unangetastet stehenzulassen, auch in einer deutschen Auseinandersetzung, da sonst zu viel verloren geht. Es wird außerdem öfters Literatur aus dem US-amerikanischen oder britischen Raum zitiert, auch wenn sich die dortigen Mechanismen der Identitätsbildung natürlich stark von denen in Deutschland unterscheiden. Aber die in einem Großteil dieser Literatur diskutierten Grundlagen sind auch hier relevant, und es fehlt einfach an gleichwertiger Forschung speziell im deutschen Kontext.

Dann gibt es da noch ein Dilemma, welches der Analyse vom Mixedsein zugrunde liegt, da der Begriff Mixed selbst impliziert, dass Race als biologisches Konstrukt valide sei. Wenn ich allerdings von Mixed spreche, dann beziehe ich mich im Rahmen dieser Abhandlung damit auf ein soziales Konstrukt und auf eine Lebensrealität. Ich beziehe mich in erster Linie auf einen wissenschaftlichen Diskurs sowie auf die Erfahrungen und Geschichten von Schwarzen Frauen und von Mixed Frauen mit afrikanischen Vorfahr*innen, weniger auf die von Frauen mit einem anderen nicht-weißen Hintergrund. Ich verwende ansonsten den Begriff Women of Color (WoC)9, wann immer es angemessen erscheint, und habe dabei einen speziellen Fokus auf Frauen der afrikanischen Diaspora. Ich spreche manchmal gemeinsam von Schwarzen und Mixed Menschen und manchmal unterscheide ich trennscharf zwischen den beiden, wenn das mehr Sinn ergibt.

Ich spreche außerdem von weißen Menschen, weißen Frauen und weißen Männern und damit verallgemeinere ich und beziehe mich auf eine weiter gefasste Identität, ein Konstrukt, eine soziale Kategorie. Ich spreche nicht – außer ich weise explizit darauf hin – von Individuen. »Not all white people«, I know. Aber die müssen jetzt ganz stark sein. Dieses Buch ist nicht für weiße Menschen geschrieben. Ausnahmsweise mal. Es ist super, wenn sie es lesen und die ein oder andere Sache lernen. Vielleicht lesen sie es auch nur, weil sie sich aufregen und darüber ärgern wollen, dass so undifferenziert über sie gesprochen wird. Von mir aus. Das ist auch in Ordnung. Aber ausnahmsweise ist etwas (in diesem Fall dieses Buch) nicht für sie, sondern für alle anderen. Ich verstehe, dass das gewöhnungsbedürftig ist.

Als nächstes muss ich noch gesondert darauf hinweisen – damit mich auch wirklich alle richtig verstehen –, dass ich auch viel von meiner eigenen Geschichte als Frau mit deutscher, kongolesischer und omanischer Herkunft einbringe und aus diesem Grund auch nicht für alle Schwarzen10 und Mixed Frauen als monolithische Einheit spreche, ich mache sie aber zu einem Dreh- und Angelpunkt meiner Analyse. In meiner Herangehensweise gleiche ich meine persönliche Sichtweise mit dem soziologischen Diskurs ab. Umgekehrt achte ich auch darauf, alle Theorie vor dem Hintergrund und Kontext meiner Lebensumstände zu reflektieren. Ich für meinen Teil denke nicht, dass es einen festgelegten Anteil an Schwarzsein gibt, den man mindestens nachweisen können muss, um zum Diskurs beitragen zu können, ob als Wissenschaftlerin oder einfach als Schwarze, Mixed Frau. Für mich ist es kein Widerspruch, gleichzeitig Schwarz und Mixed zu sein, und dennoch achte ich darauf, Privilegien anzuerkennen, die ich aufgrund meiner Hautfarbe und meines Aussehens genieße und die nicht die Erfahrungen vieler Schwarzer Frauen widerspiegeln, die beispielsweise sehr dunkle Haut haben. Bedauerlicherweise habe ich den Eindruck, dass eine solche Anmoderation dieser Dekonstruktion notwendig ist, um denen, die ganz heiß darauf sind, mich in der Luft zu zerreißen, dafür, dass ich nicht »Schwarz genug« oder mehr »weiß als Schwarz« bin, nicht noch Zündstoff zu liefern – ich finde das weder konstruktiv noch hilfreich.

Kurzfassung: Let a girl live and write about life, love, racism and art, ok?

1.2 Verstehen

»While the cruelties of the white man toward the black man are among the heaviest counts in the indictment against humanity, colour and prejudice is not our original fault, but only one aspect of the atrophy of the imagination that prevents us from seeing ourselves in every creature that breathes under the sun.« – Doris Lessing

Meine Absicht – neben dem psychologischen Abführeffekt, der Katharsis durch eine tiefgreifende Erforschung der Materie – ist es nicht, einer implizierten weißen Leser*innenschaft die Hand zu halten und ihr behutsam beizubringen, was über die letzten Jahrhunderte schiefgelaufen ist, während ich gleichzeitig versichere, dass sie daran ja alle nicht persönlich schuld sind und sich entspannen können. Auch ist dies kein Versuch, meinerseits eine Reihe von komplexen, ineinandergreifenden Themen, die so viel menschliches Leid verursacht haben, unnötig stark zu vereinfachen und ein paar pauschale Feel-Good-Schlussfolgerungen dranzutackern. Um es noch deutlicher auszudrücken: Hierbei handelt es sich nicht um eine weitere Einführung in Rassismus, wovon genügend in den letzten Jahren erschienen sind. Ich verkenne nicht die Wichtigkeit dieser Arbeiten, denn sie sind essenziell, um uns als Menschheit einen Schritt weiter dahin zu bringen, weniger schrecklich zu sein, indem sie allen Menschen eine Basis bieten, von der aus sich selbst die ignorantesten unter uns weiterbilden können. Allerdings bin ich vielmehr daran interessiert, all das zu dekonstruieren, was für viele der gelebten Erfahrungen von Mixed Frauen im deutschen Kontext verantwortlich ist, und zwar in einer Weise, die die zugrundeliegende Logik delegitimiert und ihr damit letztlich ihre relative Macht entzieht, indem genau aufgezeigt wird, an welcher Stelle die menschlichen Fehltritte begangen wurden, wie diese die Welt geschaffen haben, in der wir heute leben, und wie wir uns in dieser Kernschmelze dennoch zurechtfinden können, indem jede einzelne sich darin zu kontextualisieren lernt.

»The juxtaposition of the black and white races has resulted in a massive psycho-existential complex. By analyzing it we aim to destroy it.« – Frantz Fanon

Ziel dieses Buches ist es, genau das zu tun – im kleineren Rahmen. Ich glaube fest daran, dass es empowernd sein kann, zu verstehen, Dinge in Gänze und Tiefe zu begreifen. Die Argumentation, der ich dabei folge, lautet, dass ein großer Teil der Realität, mit der wir konfrontiert sind, auf einer grundlegenden Ebene in unserer Conditio humana verankert ist und dass die Elemente, die die Konstruktion von Identität und Verhalten bestimmen (und auf denen alle nachfolgenden systemischen Interaktionen im historischen, kulturellen und sozialen Bereich beruhen), von dieser geprägt sind. Das ist eigentlich gar kein besonders wildes Konzept, aber wir vergessen es scheinbar oft.

Indem ich skizziere, wie wir eigentlich dort gelandet sind, wo wir heute stehen, können wir uns vielleicht ein paar Schritte näher an den Kern unserer Menschlichkeit begeben, vergraben unter ganz, ganz vielen Schichten Giftmüll. Für alle, die das Drama, in dem wir uns befinden, satthaben, kann es durchaus hilfreich sein, zu wissen, wer es eigentlich geschrieben hat, und zu lernen, dass man nichts davon allzu persönlich nehmen sollte. Denn wenn man erstmal begriffen hat, dass das, womit wir es zu tun haben, eine Kulmination von Systemen ist, welche so viel älter, größer und mächtiger sind, als jede einzelne von uns, begreift man auch, dass zwar kleine, schrittweise Veränderungen immer vorangetrieben werden können, diese Systeme aber so bombenfest in der Conditio humana verankert sind, dass sie nur schwer bezwungen werden können. Es ist jedoch ein Stück weit erleichternd, zu wissen, dass man deren Auswirkungen in weiten Teilen überwinden kann, dass man sich nicht durch sie definieren lassen muss, dass die eigene Identität, der Selbstwert, die Menschenwürde nicht davon bestimmt werden müssen. Dass man die Möglichkeit hat, einen Schritt zurückzutreten von dieser Massenkarambolage, um einfach zu sein.

Ich untersuche ein System von Verhaltensweisen und den damit verbundenen Komplex dynamischer Prozesse, die kumulative und dauerhafte Ungleichheiten und Realitäten schaffen. Das heißt, ich untersuche den Wert, die Definitionen, die Vorstellungen und die Bedeutungen, die Mixed Identitäten zugewiesen werden, und wie diese sich konkret auf das Leben der Menschen auswirken. Ich verdeutliche aber auch, wie diese mit den etablierten Dichotomien über Race unvereinbar sind und damit die Schwächen einer solchen Ideologie aufzeigen. Durch eine Dekonstruktion afrodeutscher Geschichte, deutscher Kolonialgeschichte und der nachfolgenden Entwicklung der Konstrukte von nationaler Identität und Race ist es möglich nachzuvollziehen, wie die (weiße) deutsche Identität auf dem Konstrukt der Schwarzen und Mixed afrodiasporischen deutschen Lebenswelt als dem davon ausgeschlossenen, imaginierten Gegenüber aufbaut.

Dazugehören und Otherness, die Definition von Schwarz als extern zu oder als Abweichung von (weißem) Deutschsein, Sprache und Tabu, ein Mangel an zutreffendem Vokabular, die Schreckensherrschaft der Euphemismen, das prophylaktische Plattmachen von Diskursen: all das wird verwendet, um Dominanz auszuüben und andere einzuordnen und herabzusetzen, und ist entstanden aus jenem kollektiven Kater, den wir noch immer haben, nach der Folie à deux der vergangenen Jahrhunderte, in der wir versucht haben, die ganze Welt zu taxonomieren, Menschen miteingeschlossen. Und genau das ist auch der Punkt, an dem unterschiedliche Vorstellungen der Mixed Identität oder vielmehr die Unfähigkeit, ihre Konfiguration genau zu definieren – und ihre sich je nach Kontext verändernde Bedeutung –, die Menschen verunsichern. Die daraus resultierende allgemeine Verwirrung wird dazu genutzt, eine besonders bizarre Kombination hervorzuheben: jene aus einer verborgenen Obsession für das Konstrukt Race als biologische Wahrheit und dem gleichzeitigen vordergründigen Widerwillen, Race als soziale Realität anzuerkennen.

Insbesondere Vorstellungen der Mixed Identität sind durchdrungen von einer beeindruckenden Mischung aus pseudo-biologischen Unwahrheiten, die durch Konstrukte wie Hypodeszenz (in Kapitel 6 in aller Ausführlichkeit erklärt) ergänzt werden, was zu einer misslichen Lage führt, wenn man den bequemen und doch prekären Raum bewohnt, den der (weibliche) Mixed Körper bietet. Dieser Raum befindet sich an der Schnittstelle von Abwertung, Privilegien, Fetischisierung und Übersexualisierung – was die ganze Sache vielleicht sogar noch ein wenig heimtückischer macht, wenn man bedenkt, wie sie das eigene Leben und die Interaktionen prägt, verglichen mit den offeneren Formen des Rassismus der Sorte »mit Fackeln und Mistgabeln«. Die Untersuchung dieses Raumes an der Schnittstelle bildet den geeignetsten Ausgangspunkt für die Erforschung aller anderen systemischen Interaktionen und damit auch den Startpunkt dieser Auseinandersetzung.

Ganz nebenbei ist noch etwas passiert, das ich nicht erwartet hatte, als ich damit angefangen habe, dieses Buch zu schreiben: Ich war gezwungenermaßen damit konfrontiert, wie ebendiese Lebensrealitäten, von denen ich so viel schreibe, und die damit einhergehenden Interaktionen und Bedeutungen mein eigenes Selbstbild nicht nur beeinflusst, sondern von Grund auf geschaffen haben. Und auch damit, was das für einen Effekt auf meinen mentalen und emotionalen Gemütszustand hatte. Ich musste darüber nachdenken, inwieweit mein Leben heute von diesen Einflüssen abhängig ist, ein Prozess, in dem ich in gewisser Weise auch vor diesen besagten Systemen, die so viel älter, größer und mächtiger sind als ich, kapitulieren musste, beziehungsweise bei dem ich, wenn es darum geht, irgendeine Art von Widerstand auszuüben, mir überlegen muss: »Which proverbial hill do I ultimately choose to die on?«

1.3 Neu ausrichten

So unorthodox es auch erscheinen mag, Selbstfürsorge durch Externalisierung ist in Wirklichkeit ein Akt des Widerstands. Diese Dekonstruktion soll die Leserin dabei unterstützen, den Zirkus, in dem sie sich befindet, von außen zu beobachten. Dazu gehört auch, die Last der Emotional Labour abzulehnen, indem man nicht ständig die Fehler anderer auf sich nimmt. Und dazu gehört auch die Entwicklung eines Selbstbewusstseins, das einen nicht mehr dazu zwingt, im Rahmen des Paradigmas der weißen Zentralität nach Anerkennung zu suchen. Die Umgestaltung des eigenen Verhältnisses zur Welt birgt Macht. Dieser Ansatz ist nicht revolutionär, aber er wird nur selten bedacht. Der wichtigste Schritt besteht darin, zu erkennen, dass es manchmal würdevoller ist, sich selbst aus der Gleichung zu entfernen, indem man kaputte Systeme so gut wie möglich externalisiert. Daher zielt diese Untersuchung darauf ab, das, was ansonsten nur als anekdotisch wahrgenommen wird, in einen größeren Forschungszusammenhang zu stellen und damit zu festigen.

In Farbe bekennen erklären die Herausgeberinnen in dem Bestreben, Rassismus mittels persönlicher Erfahrungen besser zu begreifen:

»Unser unbekannter Lebenshintergrund und unsere Nichtbeachtung als Afro-Deutsche sind ein Zeichen für die Verdrängung deutscher Geschichte und ihrer Folgen.

Unser Leben wird leichter sein, wenn wir nicht mehr immer von neuem unsere Existenz erklären müssen. Indem wir unsere Spuren in der Geschichte Afrikas und Deutschlands entziffern und mit unseren subjektiven Erfahrungen verbinden, werden wir uns unserer Identität sicherer und können sie nach außen offensiver vertreten.«11

Audre Lorde beschreibt im Gespräch mit afrodeutschen Frauen:

»Alle Frauen, die in diesem Buch mit ihren persönlichen Erfahrungen zu Wort kommen, haben eine unsichtbar-blutige Kindheit hinter sich. Sie galten als befleckte oder unvollkommene Deutsche. Jede dieser afrodeutschen Frauen musste sich ihren Weg zur Selbstbestimmung und Erhebung suchen, indem sie das zweifache Bewusstsein ihres doppelten Erbes als Afrikanerin und als Deutsche genau erforscht. Und weil dieser Weg durch Rassen-, kulturelle und nationale Zugehörigkeit führt, ist er mit emotionalen Fragen wie Loyalität und Ablehnung, Patriotismus und Rassismus vermint. (…) Eine wachsende Macht zur Herbeiführung einer internationalen Veränderung im Verein mit anderen Afro-Europäern, Afro-Asiaten, Afro-Amerikanern, allen ›Bindestrich-Menschen‹, die ihre Identität bestimmt haben, ist kein schamhaftes Geheimnis mehr, sondern die Machterklärung einer wachsenden vereinigten Front, von der die Welt noch nichts gehört hat.«12

»Es bedeutet das allmähliche Schwinden ihrer stummen Zurückhaltung, als sie neue Ebenen ihres Selbstbewusstseins zu entdecken, als sie Fragen und Werte ihres Schwarzseins als greifbaren, nutzbaren Bestand ihrer Identität zu formulieren begann.«13

Aus einer moralischen Verpflichtung diesem Buch gegenüber, das vor dem nun vorliegenden geschrieben wurde, ist diese Dekonstruktion nicht etwa nur eine Anleitung dazu, wie einem die Dinge geschmeidiger am Arsch vorbeigehen können oder man das eigene Selbstbild positiv stärken kann. Sie soll vielmehr einen Beitrag leisten zu einem Diskurs, der Schwarze und Mixed Frauen in der deutschen Gesellschaft noch sichtbarer macht.

Indem wir also in die Tiefe gehen und von außen sowie von innen heraus verstehen, ist es möglich, die Feinheiten der Mixed Zwischenidentität als zusätzliche Schicht der Schwarzen Existenz besser zu beschreiben und zu begreifen.

1.4 Ein systemtheoretischer Ansatz

Rassismus nimmt auf ganz unterschiedlichen Ebenen des Lebens Gestalt an: internalisiert, zwischenmenschlich, institutionell und strukturell. Oft sind Menschen in dem Glauben, dass Rassismus ein Problem zwischen zwei oder mehreren Einzelnen und Identität etwas ausnahmslos Individuelles und Persönliches sei. Aus systemtheoretischer Sicht jedoch wirken die verschiedenen Facetten des Rassismus und der Identität eng zusammen und befeuern so ein System, welches Lebensrealitäten rassifiziert. Mit anderen Worten: Interaktionen zwischen Individuen sind oft von zugrundeliegenden und versteckten Strukturen beeinflusst, die Vorurteile entstehen lassen und dementsprechend auch Lebensrealitäten bestimmen, ganz ohne dass eine böse Absicht Teil der Gleichung ist.14 Diese Strukturen formen dabei gleichzeitig Identitäten unabhängig von der Familiengeschichte oder dem Kästchen bei einem Zensus, welches man ankreuzt. Die Systemtheorie basiert, auf ihrer grundlegendsten Ebene, auf einer Reihe von Prinzipien, die uns helfen, ein System von Verhaltensweisen und den damit verbundenen Komplex von Ergebnissen zu verstehen. Beispielsweise kann so nachvollzogen werden, inwiefern die Lebenssituation einer Personengruppe nicht nur das Resultat einzelner, persönlicher Entscheidungen ist, sondern auch eine Konsequenz von Chancen und Zugängen zu Ressourcen und Räumen. Ebenso ermöglicht sie auch, zu verstehen, dass Identität nicht einfach so vom Himmel fällt, sondern stattdessen die Konsequenz einer ganzen Anhäufung sozialer, historischer und politischer Bewegungskurven (und Tragödien) ist. Der Systemtheorie geht es weniger um das Individuum, dessen Identität untersucht wird, als vielmehr um die Systeme, zwischen denen sich dieses Individuum bewegt, sowie um die Betrachtung von Lebensrealitäten unter Berücksichtigung der kumulativen Auswirkungen scheinbar voneinander unabhängiger Faktoren.

In Becoming Black untersucht Michelle M. Wright die Theoretisierung von Subjektivität in der afrikanischen Diaspora. In dieser einzigartigen Vergleichsstudie gibt sie einen Überblick darüber, wie Schwarze Schriftsteller*innen und Denker*innen aus verschiedenen nationalen und kulturellen Kontexten auf weiße europäische und amerikanische Behauptungen über Schwarze Subjektbildung und Schwarzes Bewusstsein reagieren, und liefert uns damit auch einen feministischen Beitrag zu Theorien über Schwarze Identität in der Diaspora. Wright zeigt, dass die Integration dieser Geschichten eine notwendige Grundlage für Wissenschaftler*innen der Schwarzen Diaspora ist. Indem sie die logischen Irrtümer in der Subjektkonstruktion im Westen untersucht, zeigt Wright, dass rassistische Diskurse nicht kohärent sind und die Gegendiskurse, die als Reaktion auf diese Philosophien entstehen, vielfältig sind. Die wichtigsten Errungenschaften des Textes sind Wrights brillante Ausführungen darüber, wie dialektische Modelle die Diskussionen über Schwarze Subjektivität prägen, sowie ihre eleganten Lesarten der Auseinandersetzung Schwarzer Feminist*innen mit der westlichen philosophischen Tradition.15

Während man es bestenfalls als »ambitioniert« und realistischerweise als vollkommen verrückt bezeichnen könnte, ein vergleichbares Niveau an enzyklopädischer und allumfassender Analyse, wie sie bei Wright stattfindet, zu erreichen, kann der Ansatz dieses Buches fest in der Systemtheorie verortet werden, basierend auf einer ähnlich investigativen Herangehensweise wie bei Wright, jedoch mit einem speziellen Fokus auf Deutschland, in dem nicht nur die Symptome sondern auch Entstehungsketten und übergreifende Zusammenhänge ausreichend Beachtung finden und auf einer Meta-Ebene miteinander verknüpft und nachvollzogen werden. Alle Kapitel bauen aufeinander auf, indem sie jeweils die vorangegangene Dekonstruktion als Basis zur weiteren Vertiefung nutzen. Auf diesem Wege ist es möglich, Kausalschleifen zu etablieren, um zu begreifen, wie ein Phänomen aus einem jeweils anderen resultiert, während gleichzeitig Mängel in der Logik der anderen Phänomene aufgezeigt werden.

Ähnlich wie in Wozu Rassismus?, in dem Aladin El-Mafaalani untersucht, wie Rassismus strukturell aufgebaut ist, und dabei sowohl einen Überblick wie auch Interpretationen bietet16, liegt das Hauptaugenmerk dieser Dekonstruktion darauf, zu zeigen, dass diese Allgegenwärtigkeit von Rassismus das Resultat systemischer Interaktionen ist. Im Zentrum von El-Mafaalanis Argumentation stehen der Grundsatz, dass Rassismus (ungerechterweise) der Klebstoff ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält, und die These, dass beinahe alles, was unsere moderne Welt ausmacht, in der Hochphase des Rassismus entstanden ist: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus, Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften. Diese »kulturellen Selbstverständlichkeiten – Pierre Bourdieu nannte sie Doxa – entziehen sich weitgehend öffentlichen Diskursen« und können so kaum kritisch hinterfragt werden.17 Rassismus legitimiert laut El-Mafaalani eine herrschende Schicht und rechtfertigt Ideologien, welche wiederum eine herrschende Schicht legitimieren. Dieser Kreislauf lege nahe, dass das, was ist, eine natürliche Grundordnung darstelle. El-Mafaalani zeigt zudem auf, wie Rassismus Selbstwert für weiße Menschen schafft, indem er nicht-weiße Menschen abwertet und die Zusammengehörigkeit der Unterdrückenden stärkt. Dieser psychologische Effekt trage ebenfalls zu seiner Stabilisierung und Persistenz bei. Als durch Rassismus privilegierte Person profitiere man in allen Dimensionen, ob man es wolle oder nicht, und eine von Rassismus negativ betroffene Person sei Risiken ausgesetzt. Es handele sich um ein komplexes Herrschaftsverhältnis und ein soziales Strukturierungsprinzip, das alle Menschen (auf unterschiedliche Weise) betreffe.18

In Anlehnung an diese von El-Mafaalani präsentierten Ergebnisse, die eine Untersuchung der strukturellen Komponenten des Rassismus darstellen, unternehme ich dasselbe für die Identität, indem ich frage, was sie ist, welche Regeln sie bestimmen, was es bedeutet, sich innerhalb dieser Regeln zu bewegen und zu leben, wie sie die Realität formen, wie dies eine Charakterisierung des Selbst von außen schafft und wie das wiederum die Art und Weise beeinflusst, wie das Individuum sich selbst mit seinen eigenen Augen sieht – wobei ich nicht für ein implizit weißes Publikum schreibe. Die Diskussion macht die inneren Zusammenhänge dieser identitätsstiftenden Systeme sichtbar, welche derart verborgen liegen, dass es schwer wird, sie von dem Material zu unterscheiden, aus dem unsere Welt geformt ist, und noch schwerer, sie zu hinterfragen. Im Laufe des Buches wird deutlich, dass diese inneren Zusammenhänge in Wirklichkeit nicht das Ergebnis einer natürlichen Ordnung sind, sondern die Folge einer Systeminteraktion, auf der die Identität und damit das Überleben einer Gruppe beruht.

Ausgehend von den historischen und philosophischen Grundlagen des Konstrukts der deutschen Identität und der Konstruktion des Anderen innerhalb dieser Identität oder vielmehr als deren Gegenteil, gepaart mit der Erforschung eines zwanghaften Dominanzbedürfnisses, eines Anspruchsdenkens und von Grausamkeiten, werden die gemeinsamen Erfahrungen vieler Mixed Deutscher neu untersucht. Darauf aufbauend erfolgt eine Dekonstruktion der vermeintlichen biologischen ›Tatsachen‹ und der Fiktion, die das Konstrukt Mixed umgeben, sowie eine Analyse des Zusammentreffens von Rassismus und Sexismus. Durch die Konstruktion eines anderen, alternativen Systems der Verarbeitung der externen Faktoren, die die Erfahrungen prägen, entsteht ein kleiner Raum, der Widerstand an der Schnittstelle von Identität und identitätsbestimmenden Faktoren zulässt. Hierin besteht die zentrale Mission dieses Buches und ich hoffe, dass die Leserin – mindestens – daraus mitnimmt, dass es doch noch eine Alternative zum eher trostlosen Nihilismus und einer vermeintlichen Hoffnungslosigkeit gibt, indem sie die weitreichenden und sich überschneidenden Faktoren, die unser Leben bestimmen, besser versteht. Vielleicht findet sie aber auch, dass die ganze Aufregung total überflüssig ist. Ich musste mir diese Dinge mal sortiert von der Seele schreiben, um mich danach wieder anderen Themen zu widmen. Das steckt wohl auch dahinter.

Anmerkungen zu Kapitel 1

1      Siehe Glossar unter Weiblich.

2      Siehe Glossar unter Mixed.

3      Siehe Glossar unter Afrodiasporisch.

4      Siehe Glossar unter Andere.

5      Siehe Glossar unter Ethnic.

6      Siehe Glossar unter Brown People.

7      Siehe Glossar unter Middle Eastern.

8      Siehe Glossar unter Race.

9      Siehe Glossar unter Women of Color (WoC).

10    Siehe Glossar unter Schwarz.

11    May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 20.

12    Ebd.

13    Ebd., S. 23.

14    Vgl. John Powell et al. (2011), Systems Thinking and Race Workshop Summary.

15    Vgl. Michelle M. Wright (2004), Becoming Black.

16    Vgl. Aladin El-Mafaalani (2021), Wozu Rassismus?, S. 12.

17    Ebd., S. 8.

18    Ebd., S. 14.

2. Ein Rückblick

Als Ausgangspunkt für diese Dekonstruktion ist es sinnvoll, etwas tiefer in die Materie einzutauchen, genauer gesagt in die historischen Verbandelungen zwischen Deutschland und dem afrikanischen Kontinent und auch der Menschen dieses Kontinents sowie in die Geschichte von Schwarzen und Mixed Deutschen. Denn was ein solcher Rückblick letztendlich deutlich macht, ist, dass – entgegen gängiger (weißer deutscher) Annahmen – Schwarze und Mixed Menschen in Deutschland a) keine Erfindung der achtziger Jahre sind und b) das Verhältnis, welches Deutschland historisch zu ihnen und zum Kontinent Afrika pflegt, eines ist, welches von Lügen, Gewalt, Unbeholfenheit und schwerfälligen Vermeidungsstrategien geprägt ist. Dinge, die bis heute kaum thematisiert wurden und entsprechend weiter metastasieren. Auch wenn es wohl kaum überrascht, dass der Alltag im 21. Jahrhundert noch immer von einer derart durchwachsenen Vergangenheit bestimmt wird, wurde doch der Großteil dieser Geschichte unter den Teppich gekehrt, um das Ausmaß zu verschleiern, in dem sie die Identitäten und Lebensrealitäten von Schwarzen und Mixed Deutschen auf einschneidende Weisen bis heute formt.

Es irritiert mich bis heute, dass immer, wenn das Thema rassistische Alltagsrealitäten von Schwarzen Menschen in Deutschland aufkommt, umgehend mantraartig wiederholt wird, dass jegliche Animosität und jegliches Misstrauen seitens weißer deutscher Menschen sowie daraus resultierende Diskriminierung eine Folge von mangelnder Vertrautheit seien. Es wird dann noch gerne hinzugefügt, dass ehemalige Kolonialmächte wie England und Frankreich ja selbstverständlich eine erwachsenere Handhabe mit derartigen Themen entwickeln mussten, aufgrund ihrer engen Verbindung zu den Menschen des afrikanischen Kontinents und der Karibik (– als ob dies Deutschland von seiner Pflicht entbinden würde). Weiter heißt es, dass die deutsche Wahrnehmung von Schwarzen Menschen in erster Linie auf einem Mythos, auf Fantasie und Propaganda fuße und ohne tatsächlichen zwischenmenschlichen Kontakt entstanden sei. Und auch wenn der Verweis auf Mythos und Fantasie, die der Repräsentation und Charakterisierung von Schwarzen Menschen anhaften, durchaus berechtigt ist, insbesondere im Bereich der Kunst und Popkultur,1 ist es trotzdem so, dass Deutschland in Wahrheit eine lange, verworrene und auch blutige Kolonialgeschichte und eine genauso enge Verbindung zum afrikanischen Kontinent hat – allerdings ohne vergleichbare massive Einwanderungsströme aus den (ehemaligen) Kolonien, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern zu beobachten waren. Das scheint für Deutschland erstmal ausreichend Anlass zu bieten, um sich stetig zu weigern, die eigene Kolonialgeschichte sowie die Existenz ethnischer Minderheiten innerhalb der eigenen Landesgrenzen anzuerkennen. Damit nicht genug: Großteile der Rassentheorie, die bis heute als Großmutter des moderneren Rassismus fungiert, sind von deutschen Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen hinaus in die Welt exportiert worden, wo sie heute noch immer munter herumspuken. Das Land der Dichter und Denker hat hier wirklich Großartiges geleistet.

Darüber hinaus macht ein tieferes Eintauchen in diesen Aspekt der deutschen Geschichte im Speziellen deutlich, dass die Konstruktion des Deutschseins als etwas gänzlich vom Schwarzsein Verschiedenes kein Zufall, sondern eine kalkulierte Maßnahme ist, die klar umrissene Privilegien und Selbstbilder vor etwas schützen sollte, das bereits vorhanden war und als Bedrohung der nationalen Identität aufgefasst wurde. Ein kurzer Rückblick lohnt sich, um zu begreifen, wieso die Lage auch heute noch dezent angespannt ist. Außerdem zeigt sich: Durch Verleugnung hat sich noch nie etwas in Luft aufgelöst, wie unangenehm und peinlich es auch sein mag.

2.1 Deutsche Kolonialgeschichte

Die Literatur, welche die Verbindungen zwischen Deutschland und seinen afrikanischen Kolonien nachzeichnet, macht deutlich, mit welchem Eifer Deutschland in das Rennen um Afrika mit anderen europäischen Nationen einstieg – aber auch, wie sehr es sich seitdem hartnäckig dagegen sträubt, mit der eigenen Geschichte und der Durchsetzung rassistisch-ideologischer Beschränkungen in Verbindung gebracht zu werden. Katharina Oguntoye schreibt, dass Deutschland genau deswegen so gut darin sei, die Menschen des Kontinents so zu missachten, weil eine Vertrautheit mit dem Schwarzsein bestehe. Die eigene Unschuld zu betonen, mit Verweis auf ›die Angst vor dem Fremden‹, sei nichts weiter als eine Ausrede, die von der Wahrheit nicht weiter entfernt sein könne.2

Nun also, was bisher geschah, ein kurzer Abriss der letzten Staffeln:

Im Jahr 1904 verübten deutsche Kolonialtruppen einen brutalen Genozid am Volk der Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, im heutigen Namibia. Sie löschten die Herero und Nama regelrecht aus.3 Insgesamt kamen 65.000 von 80.000 Herero und mindestens 10.000 von 20.000 Nama ums Leben. Um die vier Jahre später schrieb ein deutscher Journalist in einer liberalen Veröffentlichung: »Der Neger4 ist ein halbes Kind und die andere Hälfte Bestie.«5 Es wurden natürlich noch viele weitere, mindestens genauso nette Dinge geschrieben, aber dieser Satz fasst eigentlich alles zusammen, was wir wissen müssen.

Hier lässt sich ein typisches Schema erkennen: Imperialistische und kolonialistische Machthaber unterwerfen die eroberte Bevölkerung und rechtfertigen danach diese Unterwerfung, indem sie den Unterworfenen ihre Menschlichkeit aberkennen. Später mehr dazu. Deutschland hat bis zum Jahr 2021 gebraucht, um nicht nur großzügig Bedauern über die brutale Unterjochung der Herero und Nama zu äußern, sondern zudem anzuerkennen, dass es sich hierbei um einen Völkermord handelt, und Verantwortung für die Gräueltaten zu übernehmen. Reparationszahlungen werden deswegen allerdings nicht geleistet, Deutschland zieht es vor, die Gelder als ›Entwicklungshilfe‹6 zu betiteln, was sich wohl besser mit dem gängigen Afrikabild verträgt und auch wiederum die Schwere der Taten, um die es geht, abmildert. Dieser Umstand, abgesehen davon, dass er Deutschlands Verdrängung seiner blutigen Geschichte noch mal unmissverständlich vor Augen führt, spricht Bände über den Respekt – oder eher den Mangel daran –, den Deutschland bereit ist, Schwarzen Opfern entgegenzubringen.

Im Sommer 2021 habe ich die Ausstellung »RESIST« im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln besucht. Ein Teil der Ausstellung befasste sich mit dem langen Herumgeeiere, welches Deutschland veranstaltet hat, bevor es sich zu seiner Terrorherrschaft in den Kolonien bekennen mochte, und auch damit, wie schwer sich Politiker*innen damit taten, eine richtige Entschuldigung zu formulieren, Reue zu zeigen und der Toten zu gedenken. Eines der Exponate beinhaltete (neben Dokumentationen der zerstückelten Leichen der Opfer des Genozids) einen Text, der auf den berühmten Kniefall von Willy Brandt verwies, mit dem er, als eine Geste der Reue, um Vergebung bat für die Verbrechen und Schrecken des Holocaust. Der Text fragte daraufhin sinngemäß auf Englisch: »Warum kann Deutschland nicht dasselbe für Namibia tun? Es weiß, wie es richtig geht, warum also nicht?«7

Zum einen fasst dies den absoluten Mindfuck zusammen, den es mit sich bringt, als Schwarzer Mensch in einem Land zu leben, in dem der massenhafte Mord an (weißen) jüdischen Menschen als die Grausamkeit anerkannt wird, die er ist, der massenhafte Mord an Schwarzen Menschen – also der eigenen Bevölkerungsgruppe – jedoch keine große Sache ist. Zum anderen verdeutlicht diese Frage die Vorliebe Deutschlands dafür, seine Mittäterschaft an kolonialen Verbrechen kleinzureden. Er scheint fast so, als laute die dahinterstehende Logik, dass man eine Verschnaufpause verdient habe, weil man sich ja bereits mit ›der ganzen Holocaust-Schuld auseinandersetzen muss und deshalb wirklich gerade gar keinen Kopf hat für andere von Deutschland verschuldete menschliche Tragödien‹. Dieses Argumentationsmuster wird in späteren Abschnitten dieser Dekonstruktion noch mal aufgegriffen.

Und während dieses Kapitel der deutschen Geschichte nur am äußersten Rand politischer und akademischer Diskurse einen Platz einnimmt, ist es auch in den meisten Schullehrplänen eher eine Randnotitz und in der breiteren öffentlichen Wahrnehmung definitiv nicht präsent. Stattdessen wird gerne die Story aufgetischt, dass Deutschland »halt einfach keine richtige Kolonialmacht war, also nicht so wie die europäischen Nachbarn«.8

Es ist nicht meine Absicht, die Geschichte jüdischer Menschen und den Horror des Holocaust (sowie den Mord an Sinti und Roma und an Menschen mit Behinderungen) mit anderen Akten der Barbarei im Laufe der Geschichte zu vermengen, das ergibt auch wenig Sinn. Aber wenn man verstehen will, warum insbesondere Deutschland – in der politischen und erst recht in der öffentlichen Debatte – heutigen Rassismus als etwas betrachtet, das plötzlich vom Himmel gefallen ist, kommt man unweigerlich – so Ella Achola – an den Punkt, sich zu fragen, warum historische Aufarbeitung und das Erkennen von (antisemitischen/rassistischen) Denkmustern in dem einen Fall funktioniert und in einem anderen nicht.9 Doch damit nicht genug: Kommen wir zur Geschichte Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus, dem nächsten kaum nennenswerten Fettnäpfchen, in das Deutschland getreten ist, zur Verfolgung und Ermordung Schwarzer Menschen – wieder eine Randnotiz, die aus den Archiven, der öffentlichen Wahrnehmung und den Lehrplänen gestrichen wurde. Wie heißt es so schön? ›Never forget (unless of course, it’s Black people).‹

2.2 Schwarze und Mixed Deutsche – nichts als Liebe

Nicht nur hat in Deutschland Gaslighting Hochkonjunktur, wenn es darum geht, das deutsche koloniale Engagement und die Verbindungen zu den Menschen des afrikanischen Kontinents herunterzuspielen, sondern zudem herrscht der Irrglaube, dass Deutschland historisch gesehen ein ethnisch homogenes (weißes) Land sei. Wir hatten es bereits: Viele tragen eilig – als Rechtfertigung für die Diskriminierung von Schwarzen Menschen und anderen ethnischen Minderheiten – das Argument vor, dass diese ja schließlich Neuankömmlinge in Deutschland seien, um sich so von jeglicher Schuld freizusprechen und Feindseligkeit als ›ganz natürliche, zutiefst menschliche Reaktion‹ wegzuerklären.

Während Schwarzes Leben in Deutschland bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden kann, gab es eine merkliche, unmöglich zu übersehende Zunahme jeweils nach den Weltkriegen. Auch die Rassentheorie hat in Deutschland nicht nur eine lange Tradition, sondern war zudem eine beliebte Freizeitbeschäftigung für so manche Philosophen und Gelehrte, die damit die Grundsteine für die Diskriminierung und Misshandlung Schwarzer und Mixed Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt gelegt haben. Die Konstruktion von Race, Nation sowie Schwarzen und Mixed Menschen als Bedrohung für eben diese Nation sowie die dazugehörige politische Praxis führten zu der heute noch immer sehr präsenten Annahme, dass Schwarzsein mit dem Deutschsein inkompatibel sei – der rote Faden, welcher sich zuverlässig durch alle darauf aufbauenden Diskurse zieht.

Im Gegensatz zu anderen, ›erfolgreicheren‹ Kolonialmächten wie Frankreich, den Niederlanden oder England (wo Schwarze und Mixed Menschen in gewisser Weise eine sehr sichtbare Erinnerung an den Glanz und vor allem die Macht vergangener Tage darstellen), gab es in Deutschland keine Einwanderungsströme aus den (ehemaligen) Kolonien, unter anderem, da Deutschland diese an andere Länder verloren hatte, was zu einer sehr abweichenden demografischen Entwicklung führte. Stattdessen, erklärt Marion Kraft, waren die Kinder von weißen deutschen Frauen und Schwarzen Besatzungssoldaten ein bleibendes Symbol der Schande und Demütigung nach den verlorenen Weltkriegen.10 Die Begegnungen, die weiße deutsche Soldaten bereits im Ersten Weltkrieg mit den Schwarzen Soldaten der feindlichen Truppen hatten, brachten nicht nur tief-verwurzelte Unsicherheiten zutage (sehr sichtbar in den zahlreichen pseudowissenschaftlichen Theorien zum Thema Rasse und natürlicher Überlegenheit, die in der Folge entstanden), sondern die Dämonisierung des Schwarzen Feindes diente zudem der rassistischen Kriegspropaganda.11 Schwarze Soldaten wurden – anders als weiße Feinde – in besonderem Maße dämonisiert, auf eine Art, die weit über die sonstige Kriegspropaganda hinausging; sie wurden als wilde Bestien dargestellt,12 als hyperpotent und auf der Jagd nach weißen Frauen13 – eine Manifestierung der Angst weißer Männer vor insbesondere Schwarzer Männlichkeit. Diese Angst fand ein geeignetes Ventil in den Kampagnen der Regierung, die nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung gegen Schwarze Soldaten und ihre Mixed Kinder aufhetzte. Die sogenannte ›Schwarze Schmach‹14, eine Hasskampagne der Regierung, die zwischen 1920 und 1923 ihren Höhepunkt erreichte, setzte sich im Wesentlichen aus drei demagogischen Säulen zusammen: der Betonung der Erniedrigung des deutschen Volkes durch die Besatzer nach dem Ersten Weltkrieg, der implizierten Gefahr der Vergewaltigung weißer Frauen durch Schwarze Männer und der herbeigeredeten ›Gefahr der Mulattisierung‹15 des vormals weißen Vaterlandes.

Die ›Monovolkideen‹16 der Weimarer Republik verschärften die Wahrnehmung von Schwarzen und Mixed Deutschen als Angriff auf den Zusammenhalt der Nation noch weiter und ›Halb-Deutsche, Halb-Neger‹ wurden als der potenzielle Untergang des deutschen Volkes stilisiert, indem sie ›reines Blut verderben‹. Der ›Mischling‹17 war der ›innere Feind des Volkskörpers‹18. Das Buch Zwischen Charleston und Stechschritt, herausgegeben im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln ist eine seltene und sehr wertvolle Dokumentation der unterschiedlichen, staatlich verordneten Angriffe auf die Leben von Schwarzen und Mixed Menschen im Laufe der deutschen Geschichte. Entgegen gängiger Annahmen war Hitler die Anwesenheit Schwarzer und Mixed Menschen in Deutschland durchaus bewusst.19 Er schien wildentschlossen, ›fremdes‹ Genmaterial aus dem deutschen Genpool zu beseitigen, und Schwarze Menschen waren hierbei von besonderem Interesse (aka ein Dorn im Auge) – ihre Auslöschung war daher essenziell für die Erreichung seiner Ziele.20

Diese Ideologie, dass insbesondere die ›Vermischung‹ eine besonders ernstzunehmende Gefahr darstelle, wurde in Form von ›Rassenkunde‹21 schon den Jüngsten vermittelt. Hier lernten Kinder: »Alle Weißen und Schwarzen hat Gott gemacht, die Mischlinge stammen vom Teufel«, oder auch: »Die Mischlinge können nur die schlechten Eigenschaften von beiden Rassen erben.«22

In Farbe bekennen erinnert sich eine weiße Frau daran, wie ihr von einem Amt (als sie mit einem Mixed Kind schwanger war) mitgeteilt wurde: »Der Führer legt keinen Wert auf solche Kinder.«23 Und als ihre Tochter vier Jahre alt war, durfte diese nicht länger die Vorschule besuchen, da den anderen Kindern nicht zugemutet werden konnte, mit einem »Negerkind« zu spielen.24

Es gibt – wenn man sich nur dazu entscheidet, genau hinzusehen und -zuhören – unzählige Berichte darüber, wie Schwarze und Mixed Deutsche langsam aber sicher vollständig aus dem öffentlichen und später auch privaten Leben entfernt wurden, als sich das politische Klima der generellen Feindseligkeit im Zuge der Vorbereitungen für eine staatlich umgesetzte Hinrichtungsmaschinerie immer weiter verschärfte.25 Ein erster Schritt hierbei war, diesen Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen und ihnen einen ›Fremdenpass‹ auszustellen.26 Unter der NS-Herrschaft wurden Mixed Kinder als ›Rheinland-Bastarde‹27 benannt und waren extremer Diskriminierung ausgesetzt. Sie wurden Opfer von Folterung, Misshandlung und Deportierung,28 zwangssterilisiert und für medizinische Experimente missbraucht.29 Ihre physischen ›Unterschiede‹ wurden sorgfältig dokumentiert30 und als Lehrmaterial benutzt, um weißen Deutschen beizubringen, wie man sie erkennt.31 Behörden haben Mixed Kinder fotografiert und katalogisiert, es sind noch historische Dokumente vorhanden, in denen zu sehen ist, wie diese Bilder mit Details zu den ›Fehlbildungen‹ der Mixed Kinder – zu Lehrzwecken – beschriftet wurden.32

Aufgrund eines Mangels an Alternativen haben einige Schwarze und Mixed Menschen in Menschenschauen oder auch Propagandafilmen mitgespielt – die in erster Linie darauf ausgerichtet waren, das Selbstbewusstsein des weißen Publikums zu stärken und dabei Schwarze Menschen zu verspotten, zu erniedrigen und ihre Minderwertigkeit zu verdeutlichen. Ironischerweise waren es diese Engagements, die den daran Mitwirkenden in einigen Fällen ihr Überleben gesichert haben.33

Zudem gibt es zahlreiche Aufzeichnungen darüber, dass Mixed Menschen in Konzentrationslager überführt wurden. Diese Aufzeichnungen werden in Zwischen Charleston und Stechschritt umfänglich zusammengetragen. Bis heute haben Schwarze und Mixed Menschen im Gegensatz zu anderen Opfern des NS-Regimes weder eine Entschuldigung noch eine Entschädigung, nicht einmal die Anerkennung der an ihnen begangenen Verbrechen, das Eingeständnis, dass auch sie dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind, erhalten.34 Das Leid und der Tod von Schwarzen und Mixed Menschen ist schlicht und ergreifend einfach kein Teil der hegemonialen weißen deutschen Erinnerungskultur,35 was implizit darauf verweist, welcher Status und Wert als Menschen und insbesondere als Menschen in Deutschland ihnen bis heute zugesprochen wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die überlebenden Schwarzen und Mixed Kinder und Jugendlichen sowie jene, die als Kinder Schwarzer Besatzungssoldaten auf die Welt kamen, erneut zur Zielscheibe einer rassistischen Bevölkerungspolitik. Auch im Nachkriegsdeutschland wurde das Bemühen, diese Untergruppe der Bevölkerung zu beseitigen, fortgesetzt.36 Mixed Kinder galten als Schande und Ärzte rieten oft zu Schwangerschaftsabbrüchen.37 Die Kinder, die geboren wurden, wurden oftmals zur Adoption ins Ausland freigegeben. Ihre ›Fremdartigkeit‹ war 1952 auch Gegenstand einer parlamentarischen Ausschussdebatte, in der beschlossen wurde, dass aus Sorge über das Schicksal der Mixed Kinder – welche, basierend auf der Annahme, dass ihnen andere klimatische Verhältnisse besser zusagen würden (Deutschland sei für sie zu kalt; ja, richtig gelesen), nicht gut in Deutschland aufgehoben seien – zu prüfen sei, ob sie nicht in das Ursprungsland ihrer Väter geschickt werden könnten (woraufhin die Mütter umso stärker unter Druck gesetzt wurden, ihre Kinder wegzugeben).38

In Farbe bekennen wird das Leben der Kinder, die in Deutschland zurückblieben und zum Gegenstand einer Debatte wurden, welche sie als ›menschliches und rassisches Problem‹ und als grundsätzlich der deutschen Gesellschaft Äußerliches verstand, nachgezeichnet: Alle Schwierigkeiten, die ihnen mit ihren weißen Mitmenschen begegneten, wurden darauf zurückgeführt, dass ihre Existenz an sich natürlich ein Problem darstellen würde, und nicht darauf, dass ihnen vielleicht weiße Menschen mit Rassismus und Unmenschlichkeit begegneten – das eigentliche Problem.39 Es gab ein vorgetäuschtes Mitgefühl gegenüber Mixed Kindern, wenn ihr Dasein als ›Unglück‹ betitelt wurde. Sichtbar wird dies beispielsweise in Aussagen von Institutionen wie etwa dem Kultusministerium von Baden-Württemberg, welches die Anweisung gab, dass Lehrkräfte versuchen sollten, ein ›farbiges‹ Kind genauso zu unterrichten wie ein weißes Kind, da es nicht die Schuld des Kindes sei.40

Die Schuld für das ›schwere Schicksal‹ der afrodeutschen Kinder sei vielmehr bei ihren Müttern zu suchen. Eine Sonntagszeitung veröffentlichte 1950 einen Artikel mit dem Titel »Kinder unter einem Schweren Schicksal. Von 200.000 Besatzungskindern sind 3.000 Mulatten«.41 In dem Artikel ging es darum, dass eine große Anzahl der sogenannten Mulatten in ein feindseliges Umfeld geboren werde und die Schuld für diese Misere bei den Müttern zu suchen sei. Es sei ein moralisches Versagen, ein nicht-weißes Kind in die Welt zu setzen (dass sich diese Art der Argumentation bis heute hält, wird in Kapitel 8 dieses Buches beleuchtet). Mit diesem Diskurs einher ging eine regelrechte Besessenheit mit dem Bildungsgrad der weißen deutschen Mütter, wobei das weitverbreitete Vorurteil lautete, dass es sich bei diesen nur um ›asoziale‹ und wenig intelligente Frauen handeln konnte, wenn sie zu so etwas imstande waren. Falls eine betreffende Frau doch aus gutem Hause war oder eine höhere Bildung genossen hatte, wurde dies als besonders hervorgehoben.42

Das vorgetäuschte ›Mitgefühl‹ für Mixed Kinder, deren Abstammung als Krankheit und nicht als Identität angesehen wurde, findet sich in zahlreichen persönlichen Erzählungen, etwa in den Erinnerungen von Frieda in Farbe bekennen: »Ich erinnere mich, wie eine Kollegin mich in den 40er Jahren einmal fragte, ob ich sehr unglücklich sei, als Mulattin leben zu müssen.«43 Die Gesellschaft machte es für weiße Mütter von Mixed Kindern beinahe unmöglich, eine positive und liebevolle Bindung zu ihrem Kind aufzubauen, da Freund*innen, Familie und Nachbar*innen diese Frauen ächteten und auch eine Wiederheirat sehr unwahrscheinlich war. Diese Frauen wurden als ›Negerhuren‹44 bezeichnet und ihre Kinder als ›Bastarde‹.45 Tat sich doch ein heiratswilliger Kandidat auf, war es nicht unüblich, dass die Frau vor die Wahl zwischen ihrem Kind und dem neuen Mann gestellt wurde.46 Zusätzlich gab es fortwährend Regierungskampagnen, die Mütter von Mixed Kindern dazu drängten, ihre Kinder in Heime zu geben. In einigen Fällen, so schreibt Ika Hügel-Marshall, wurden diese Kinder dann von den anderen Heimkindern getrennt untergebracht, in abgelegenen und nicht-einsehbaren Bereichen des Heimgeländes.47 Auch Yara-Colette Lemke Muniz de Farias beschreibt in ihrem Buch Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung die systematischen Bestrebungen der Regierung im Nachkriegsdeutschland, Mixed Kinder von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu isolieren, sie zu verstoßen und unsichtbar zu machen.48

Diese Taten wurden nicht anerkannt und es wurde keine Entschuldigung ausgesprochen. Niemals. Bis heute nicht. Es gibt mehrere private Initiativen und Personen in der Wissenschaft, die der Opfer gedenken, aber eine offizielle Entschuldigung seitens der Regierung lässt auf sich warten. Der erste Stolperstein49 in Erinnerung an Schwarze Opfer des NS-Regimes wurde 2021 niedergelegt.50 Abgesehen davon ist es der deutschen öffentlichen Wahrnehmung mit wirklich beeindruckendem Erfolg gelungen, sich der Geschichte der Schwarzen Präsenz im Land weitestgehend zu entledigen.

Neben den institutionalisierten Grausamkeiten, die darauf ausgelegt waren, Mixed Menschen das Leben zur Hölle zu machen, gab es noch eine Reihe weniger direkter Maßnahmen, die ebenfalls in Farbe bekennen dargelegt werden, die dafür Sorge trugen, dass sich ihre Entmenschlichung und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen so effektiv wie möglich ausweiten konnte. Deutsche haben ja nicht umsonst den Ruf, besonders gründlich zu sein, sei es in der Fahrzeugproduktion oder eben auch, wenn es um Diskriminierung geht. Beispielsweise reichte es nicht, die weißen Mütter von Mixed Kindern als moralisch verdorben darzustellen; diese Zuschreibung wurde – neben anderen rassistischen Stereotypen – auch automatisch auf die Tochter übertragen, von der dann angenommen wurde, dass sie, ganz die Mutter, eher zu Verhaltensauffälligkeiten neigen würde.51 Das schlug sich dann beispielsweise darin nieder, dass Barbetreiber gerne junge Mixed Frauen einstellten, in der Hoffnung, dass die Annahmen über ihre nachlässige Sexualmoral (basierend auf den Fantasien darüber, in welch wilden Verhältnissen sie wohl mit ihren schlampigen Müttern aufgewachsen sind) eine geschäftsfördernde Wirkung auf männliche Gäste haben könnte. Frieda P. und Anna G. (65 und 70 Jahre alt und Töchter eines kamerunischen Vaters und einer deutschen Mutter), erinnern sich in Farbe bekennen, wie weiße junge Männer hinter Mixed Frauen herjagten, um sie »auszuprobieren« (mehr dazu, wie sich eigentlich nichts verändert hat, in Kapitel 9), und dass ihre Mutter sie gewarnt hatte, sie sollten sich nichts darauf einbilden, sie seien genau wie weiße Mädchen und wenn diese Männer sie einmal gehabt hätten, würden sie sie sitzen lassen.52

Mixed Deutschen wurde zunächst auch der Zugang zur Sekundarschule verwehrt und Lehrkräfte drängten Mixed Schüler*innen dazu, bestimmte Berufszweige zu wählen, die ihrer ›Situation‹ angemessen seien – soll heißen: schlecht bezahlt, weniger hoch angesehen und nicht akademisch. Diese Praxis und der entsprechende Glaubenssatz waren institutionell so fest verankert, dass einige Einrichtungen sich proaktiv dafür aussprachen, Mixed Menschen bestmöglich aus der Gesellschaft fernzuhalten, ganz gleich, wie gut sie sich einfügten, um dadurch den Status quo aufrecht erhalten zu können. So heißt es etwa in der Zeitschrift des Hessischen Jugendrings Wiesbadens:

»In diesem Punkt macht man sich im Arbeitsamt nichts vor. Man ist realistisch genug zu sehen, dass das relativ gute Hineinwachsen der farbigen Kinder in das öffentliche Leben später nicht unbedingt sein muss. Auch in dieser Stadt, wo die farbigen Kinder genauso gekleidet sind wie die anderen, wo sie den gleichen Dialekt sprechen, wo man sich längst an sie gewöhnt hat, auch in dieser Stadt würde es Proteste hageln, wollte der Sohn des Stadtobersekretärs ein kraushaariges dunkles Mädchen heiraten.«53

In der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts kamen erneut zahlreiche afrikanische Menschen (größtenteils Männer) nach Ost- und Westdeutschland, nachdem sie entweder als Student*innen oder Vertragsarbeiter*innen angeworben worden waren. Während die DDR die Rekrutierung afrikanischer Arbeiter*innen als Geste internationaler Solidarität verkaufte, zog Westdeutschland es vor, von ›Entwicklungshilfe‹ zu sprechen. Durch marginalisierte Unterbringungen und Kontaktsperren54 wurde es den Neuankömmlingen schwer gemacht, sich in die lokale Bevölkerung einzugliedern55 und viele erlebten Ausgrenzung und Rassismus.56

Auch wenn zunächst davon ausgegangen wurde, dass die afrikanischen ›Gäste‹ wohl hoffentlich bald wieder in ihre Heimat zurückkehren würden, blieben viele und es wurde eine neue Generation von Mixed Kindern geboren, in deren Leben sich die Muster der Diskriminierung und Ausgrenzung wiederholten.57

2.3 Why are you so obsessed with me?

Ein bizarres Spektrum an Narrativen, die Mixed Menschen wie Mythen umranken, kämpfen im historischen Rückblick um die Poleposition: Auf der einen Seite stellen Mixed Menschen angeblich ein nationales Problem dar und sie werden als Bedrohung konzipiert. Auf der anderen Seite gibt es eine beeindruckende Fülle an Studien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, mit der Absicht, eine Minderwertigkeit von Mixed Kindern wissenschaftlich zu belegen. Allem Anschein nach sollen diese Studien darüber hinaus ein grenzenloses Verlangen stillen, das aus einer Faszination und Obsession herrührt, die mit dem Konstrukt Mixed einhergehen. Dementsprechend – um Regina George aus Mean Girls zu zitieren – scheint es angemessen, zu fragen: »Why are you so obsessed with me?«

Die erste und frühe Untersuchung, die ich hier stichprobenartig als illustratives Beispiel dafür präsentieren möchte, wie solche Studien Schwarze Menschen auf der niedrigsten Stufe der menschlichen Evolution einordneten, sind die Grübeleien von Eugen Fischer um 1908. Sein Hauptinteresse galt der Fruchtbarkeit von Mixed Menschen, unter Berücksichtigung der Mendelschen Regeln.58 Laut Hugues Blaise kam Fischer zu dem Ergebnis, dass sich auf Grundlage der psychologischen Attribute von Mixed Menschen Empfehlungen für die Kolonialpolitik formulieren ließen.59 Demnach waren Mixed Menschen dem minderwertigen Teil ihrer Vorfahr*innen (den Nama) in Sachen Intellekt und Wendigkeit überlegen.60 Fischer merkt zudem an, dass es unvermeidlich sei, dass das Blut der »Bastarde« die weiße Rasse infiltriert, wenn sie auf eine Stufe mit Weißen gestellt werden. Er beschreibt einen daraus folgenden, vermeintlich natürlichen Abwehrmechanismus, einen biologischen Selbsterhaltungstrieb, der verhindern wolle, dass »Bastard-Blut« die »Rasse« verunreinigt. Fischer behauptet, dass Bastarde aufgrund ihrer Überlegenheit gegenüber ihrem Schwarzen Elternteil, also im Vergleich zu den »minderwertigen Rassen«, besonderen Schutz genießen sollten. Aber eben nur insoweit, als dies weißen Menschen dienlich wäre. Andernfalls könnten sie schnell zu einer Konkurrenz werden.61 Seine Studien legten die Grundlage für Jahrzehnte, in denen weitere Studien folgten – welche Tine Campt und Pascal Grosse zusammentrugen –, die allesamt darum bemüht waren, Mixed Menschen zu entmenschlichen und zu pathologisieren.62

In den 1930er Jahren wurde eine Studie durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass Mixed Kinder nur dazu in der Lage waren, 86,9 Prozent der Durchschnittsnote zu erzielen. Die Forscher führten dies nicht etwa auf das feindselige Umfeld der Kinder zurück, sondern auf ein »minderwertiges Erbmaterial und die Rassenvermischung«.63 Es existieren zahlreiche weitere Studien dieser Art, die versuchen, sowohl eine genetische, als auch generell eine Minderwertigkeit von Mixed Menschen zu belegen.64 Die 1952 erschienene Dissertation von Walter Kirchner mit dem Titel Eine anthropologische Studie an Mulattenkindern in Berlin unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse sowie das Paper von Rudolf Sieg aus dem Jahr 1956 namens »Mischlingskinder in Westdeutschland. Eine anthropologische Studie an farbigen Kindern« sind Beispiele für die weitverbreitete Tendenz, Mixed Kinder zu pathologisieren – nicht nur, aber auch durch die Verwendung der Begriffe ›Neger‹, ›Mischling‹ und ›Mulatte‹65, ohne dabei die problematischen Konnotationen dieser Begrifflichkeiten zu thematisieren.

Mit dem Argument, dass alle Rassen gleichwertig sind, erklärt Kirchner, dass Joseph Arthur de Gobineaus Theorie von der Ungleichheit der Rassen insofern falsch sei, als dass es keine überlegenen und unterlegenen Rassen gebe. Jedoch behauptet Kirchner, dass manche Rassen für bestimmte Tätigkeiten geeigneter seien als andere. Nur sollte ihm zufolge die Annahme, dass eine bestimmte Rasse aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung auf sowohl körperlicher wie auch intellektueller Ebene weniger gut für ein bestimmtes Vorhaben geeignet sei, nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass sie deshalb minderwertig sei. Auch schön.

»Es geht natürlich nicht an, dass eine Gruppe von Menschen als minderwertig angesehen wird, weil sie auf Grund ihrer rassischen Veranlagung bestimmten körperlichen oder geistigen Anforderungen nicht gewachsen ist. Dennoch hat es seinen guten Sinn, auf die Verschiedenartigkeit der Rassen und die dadurch entstehenden Folgen bei Rassenmischung, an denen der Mischling selbst am schwersten zu tragen hat, hinzuweisen.«66

Kirchner spricht von dem berechtigten Bestreben, »das Eigenartige eines Volkes nicht dadurch zu verformen, dass man völlig andersartige Rassengemische dem Volk einfügt« und unterstellt den daraus resultierenden Nachkommen eine angeborene »Unbändigkeit«, die der Erziehung im Weg stünde, bevor er dann geradeheraus schreibt, dass Mixed Menschen schlichtweg über eine begrenzte intellektuelle Kapazität verfügten.67 Er schreibt außerdem: »Dagegen ist anzunehmen, dass die starke Triebhaftigkeit, die sich bei den Mulattenkindern zeigte, als negrides Rassenmerkmal bestehen bleiben wird.«68

In den 1950er und 1960er Jahren erschienen weitere soziologische (und anthropologische) Studien, welche die Lebenssituation von Mixed Kindern in Deutschland untersuchen, mit dem vorgeblichen Ziel, die Integration dieser Kinder und die Bekämpfung von Vorurteilen fördern zu wollen. Yara-Colette Lemke Muniz de Farias Studie zu Besatzungskindern verweist allerdings darauf, dass zahlreiche sozialwissenschaftliche und anthropologische Studien im Nachkriegsdeutschland sehr stark innerhalb der Traditionen der Rassenanthropologie und Rassenhygiene69 verblieben.70

Hierin zeigt sich, dass das Leben und die Körper von Mixed Personen nicht nur pathologisiert, sondern auch als etwas definiert wurden, das es zu bekämpfen galt. Gleichzeitig übten sie auch eine starke Faszination auf viele aus, die an Perversion grenzte. Diffuse Ängste davor, dass ihr Blut ›unweigerlich das der weißen Rasse infiltrieren‹ würde, wenn keine strengen Maßnahmen ergriffen würden, verweisen auf eine gewisse sexuelle Obsession, Anziehung und einen Wettbewerbsdruck bei einer gleichzeitigen Ablehnung ebendieser Gefühle. Hierin wird aber auch und vor allem deutlich, dass Mixed Menschen geschichtlich gesehen nicht nur eine Randnotiz im deutschen Bewusstsein waren, sondern – und das schon vor über knapp einem Jahrhundert – eine nationale Obsession. Das unterstreicht deutlich, dass der Rassismus und die Diskriminierung, denen Mixed Menschen in Deutschland heute ausgesetzt sind (und welche in den nachfolgenden Kapiteln untersucht werden), eben nicht aus einem Mangel an Vertrautheit resultieren, sondern direkte Folge einer Ideologie sind, welche für die Systeme zur Identitätsstiftung grundlegend ist.

Zudem sollte dieser Rückblick verdeutlicht haben, dass Deutschland wiederholt auf direkte oder indirekte Weise eindeutig Stellung dazu bezogen hat, welche Wertigkeit dem Leben von weißen Menschen beigemessen wird – dessen Verlust eine Tragödie ist –, während der Tod von Schwarzen und Mixed Menschen (wenn überhaupt) nur in den Fußnoten Erwähnung findet. Und während das Grundgesetz zwar festhält, dass vor ihm alle gleich sind, ist das mit der Umsetzung dieser Gleichheit im Alltag nicht ganz so einfach. Ebenso zeigt der Blick in die Geschichte Deutschlands, dass die lange bestehende Obsession der weißen deutschen Wahrnehmung mit dem Schwarzen Anderen der ›Nationenbildung‹71 dient. Schwarze und Mixed Deutsche sind dafür instrumentalisiert worden, eine nationale Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, einen Nationalstolz zu schaffen: Nach jeder Kriegsniederlage haben sie als Sündenböcke gedient, um Gefühle der Scham und Minderwertigkeitskomplexe abzufedern. Diese Verfasstheit des weißen deutschen Bewusstseins, das nur existiert, indem es sich von einem Schwarzen Anderen abgrenzt, wird im folgenden Kapitel untersucht, in dem die Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit innerhalb des deutschen Diskurses betrachtet wird.

Anmerkungen zu Kapitel 2

1      Vgl. Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner, Erträumte Reisen, Bundeskunsthalle Bonn (2018).

2      Katharina Oguntoye (2020), Schwarze Wurzeln.

3      Vgl. Habermalz, Christiane (2021b): Deutschland erkennt Kolonialverbrechen als Genozid an.

4      Siehe Glossar unter Neger.

5      Martha Mamozai (1989): Schwarze Frau, weiße Herrin, S. 57. Zitiert nach: Marion Kraft (2014), Wege aus der Kälte, S. 3.

6      Vgl. Nobantu Shabangu (2021), Germany finally recognises Namibian Genocide.

7      Text auf einem der Tableaus: »In conclusion, I want to borrow from Konrad Hermann Joseph Adenauer (…) unspeakable crimes have been committed in the name of the German people, calling for moral and material indemnity … The Federal Government is prepared, jointly, with representatives of Jewry and the State of Israel (…) to bring about a solution of the material indemnity problem, thus easing the way to the spiritual settlement of infinite suffering (…). In 1970 while on his knees, Chancellor Willy Brandt showed the world what forgiveness and facing the past could look like. In his own words he said ›Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen. So gedachte ich Millionen Ermordeten.‹ Hence, we cannot teach Germany how to apologise, the current Chancellor should model what her predecessors did. Okuhepa, vielen Dank, thank you.«

8      Marion Kraft (2014), Wege aus der Kälte, S. 3.

9      Vgl. Ella Achola (2014), ›No, I meant where are you really from?‹.

10    Vgl. Marion Kraft (2014), Wege aus der Kälte, S. 3.

11    Vgl. Peter Martin et al. (2004), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 106.

12    Vgl. ebd., S. 112.

13    Vgl. ebd., S. 145.

14    Siehe Glossar unter Schwarze Schmach.

15    Siehe Glossar unter Mulattisierung.

16    Siehe Glossar unter Monovolk.

17    Siehe Glossar unter Mischling

18    Siehe Glossar unter Volkskörper.

19    Vgl. Peter Martin et al. (2004), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 11.

20    Vgl. ebd., S. 13.

21    Siehe Glossar unter Rassenkunde

22    May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 98.

23    Ebd., S. 102.

24    Vgl. Ebd.

25    Vgl. Theodor Michael (2013), Deutsch sein und schwarz dazu; vgl. Hans Jürgen Massaquoi (2001), Neger, Neger, Schornsteinfeger: Meine Kindheit in Deutschland.

26    Vgl. Rosa Fava (2012): Leben und Überleben von Schwarzen im Nationalsozialismus.

27    Siehe Glossar unter Rheinland-Bastarde.

28    Vgl. May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 76.

29    Vgl. Harrison Mwilima (2021), Die vergessenen schwarzen Opfer der Nationalsozialisten; vgl. Chika Odua (2016), The Afro-German experience under Hitler.

30    Vgl. Peter Martin et al. (2004), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 417.

31    Vgl. ebd., S. 510.

32    Vgl. ebd., S. 526–531.

33    Vgl. Theodor Michael (2013), Deutsch sein und schwarz dazu; vgl. Marion Kraft, Wege aus der Kälte (2014); vgl. Peter Martin et al. (2004), Zwischen Charleston und Stechschritt, S. 82.

34    Vgl. ebd., S. 508.

35    Vgl. ebd., S. 624–673.

36    Vgl. ebd, S. 706.

37    Vgl. ebd., S. 705.

38    Vgl. May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 123.

39    Vgl. ebd., S. 118.

40    Vgl. ebd., S. 131.

41    Sonntagsblatt Nr. 47 vom 19. November 1950. Zitiert nach: May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 133.

42    Vgl. ebd.

43    May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 115.

44    Siehe Glossar unter Negerhure.

45    Siehe Glossar unter Bastard.

46    Vgl. May Ayim et al. (2018), Farbe bekennen, S. 134.

47    Vgl. ebd., S. 123.

48    Vgl. Yara-Colette Lemke Muniz de Faria (2002), Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung.

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