Hot Shot Doc - R.S. Grey - E-Book

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R. S. Grey

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Beschreibung

Dr. Russell ist ein grandioser Chirurg, als Mensch jedoch unausstehlich. Abweisend und angeberisch, aber verdammt sexy. Ich halte stets Abstand zu ihm, sodass ich nichts von seinem unangenehmen Charakter mitbekomme, auch wenn ich ihn heimlich anschmachte. Bald schon verbringe ich viel Zeit in seiner Nähe, da ich seine neue chirurgische Assistentin bin. Und dabei werde ich leider auch seinen Launen ungeschützt ausgeliefert sein. Hoffentlich merkt er nicht, wie sehr ich für ihn schwärme. Wird er meine Gefühle vielleicht sogar erwidern? Vermutlich nicht. Und was, wenn doch? 

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Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Dr. Russell ist ein grandioser Chirurg, als Mensch jedoch unausstehlich. Abweisend und angeberisch, aber verdammt sexy. Ich halte stets Abstand zu ihm, sodass ich nichts von seinem unangenehmen Charakter mitbekomme, auch wenn ich ihn heimlich anschmachte. Bald schon verbringe ich viel Zeit in seiner Nähe, da ich seine neue chirurgische Assistentin bin. Und dabei werde ich leider auch seinen Launen ungeschützt ausgeliefert sein. Hoffentlich merkt er nicht, wie sehr ich für ihn schwärme. Wird er meine Gefühle vielleicht sogar erwidern? Vermutlich nicht. Und was, wenn doch?

Über R.S. Grey

R.S. Grey ist eine US-amerikanische Schriftstellerin. Mit ihren erfolgreichen Romanen steht sie regelmäßig auf der USA Today Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren zwei Hunden in Texas.

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R.S. Grey

Hot Shot Doc

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Antje Althans

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Impressum

Kapitel 1

Bailey

Ich frage mich, was andere Leute in meinem Alter gerade tun.

Durch Tinder scrollen?

Mit ihrer Gang die Stadt unsicher machen?

Ich habe keine Gang.

Dafür aber eine kleine Schwester, die dicht neben mir auf der Couch sitzt, damit wir gemeinsam auf meinen Laptopbildschirm sehen können. Wiederholungen von Grey’s Anatomy in HD. Dr. McDreamys Haare sind dicht und glänzend. Am liebsten würde ich mit dem Finger über den Bildschirm streichen und versuchen, sie zu spüren.

Ich habe grüne Matsche im Gesicht. Das soll eine selbstgemachte Maske sein. Josie hat sie zusammengepantscht und mir geschworen, dass wir wie Filmstars aussehen, wenn wir sie uns wieder abwischen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich irrt. Noch schlimmer, wahrscheinlich hat sie unsere letzte Avocado vergeudet. Die wollte ich eigentlich in Stückchen geschnitten auf Reis servieren und das Ganze ein ausgewogenes Abendessen nennen. Jetzt werde ich mir wohl was einfallen lassen müssen.

Auf meinem Computerbildschirm reißen sich zwei Ärzte die OP-Kleidung vom Leib. Als es zur Sache geht, halte ich Josie die Augen zu.

»Dafür bist du zu jung.«

Das ist nur ein Scherz. Wir haben uns schon unzählige Episoden mit heißen Sexszenen angesehen.

Josie schlägt meine Hand weg und dreht die Lautstärke auf. In unserem Wohnzimmer ertönt Ächzen und Stöhnen. Womöglich bin ich als Vormund nicht geeignet.

»Dürfen deine Schulfreundinnen so was sehen?«, frage ich, auf einmal von Gewissensbissen geplagt. Wir sollten uns Naturdokumentationen auf PBS anschauen: Pinguine, die durch den Schnee watscheln, unterlegt von Morgan Freemans sonorer Stimme.

»Machst du Witze?«, fragt sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Meine Mitschüler machen so was.«

Die Vorstellung, dass Vierzehnjährige sich an irgendwelchen körperlichen Aktivitäten beteiligen, die übers Händchenhalten hinausgehen, entsetzt mich. »Versprich mir, dass du keinen Jungen anrührst, bevor du achtzehn bist.«

Sie verdreht die Augen und streckt mir ihren kleinen Finger hin. Ich hake mich mit meinem ein, und mir nichts, dir nichts haben wir eine Abmachung. Jetzt kann ich leichter atmen.

Als der Abspann läuft, stehe ich auf, um mir das Gesicht zu waschen, in der Hoffnung, dass ich von dieser seltsamen Mixtur zumindest keinen Hautausschlag bekomme. Ich muss morgen arbeiten und würde mich lieber nicht zum Gespött der gesamten Klinik machen.

Josie kommt nach und nimmt die Hälfte des Waschbeckens in Beschlag. »Ist es echt so? Dass alle Ärzte im Bereitschaftszimmer miteinander rummachen?«

»Wie ich schon sagte – so was passiert nie.«

Ich fange ihren Blick im Spiegel auf und reiche das Handtuch an sie weiter, nachdem ich mir damit das Gesicht trocken getupft habe. Keine fiesen Eiterpickel bisher. Das ist ein gutes Zeichen.

»Na schön, okay, vielleicht nicht die ganz verrückten Sachen, aber ich wette, du hast schon Leute beim Knutschen in der Abstellkammer erwischt.«

»Noch nie.«

»Beim Sex im Umkleideraum?«

»Nein.«

»Verstohlene Blicke im OP?«, fragt sie zunehmend verzweifelt.

»Josie, Grey’s Anatomy ist eine Serie – ein Fernsehdrama, gefakte Liebe. Deute nicht zu viel hinein.«

Sie seufzt ungehalten. »Was ist mit den Chirurgen?« Josie lässt das Handtuch fallen und dreht sich zu mir. Sie packt mich so fest am Arm, dass ich mich nicht aus ihrem Griff befreien kann. Für jemanden, der so dürr ist, ist sie erstaunlich stark. »Sind welche darunter, die auch nur halb so süß sind wie Dr. McDreamy?«

»Die meisten sind alte Männer. Graue Haare, Schnurrbärte, Bäuche wie der Weihnachtsmann. Meinen Chef kennst du ja.«

Ich befreie mich aus ihrem Klammergriff und verschwinde in die Küche. Wir haben so gut wie nichts mehr vorrätig, und mein Gehalt wird erst am Dienstag ausgezahlt. Dann gibt’s wohl Thunfischsandwiches … mal wieder.

»Igitt, ernsthaft? Keiner sieht im Entferntesten gut aus?!«

Durch meinen Kampf mit dem Dosenöffner bin ich so abgelenkt, dass ich ihr, ohne nachzudenken, antworte. »Einer schon …«

Sie hechtet durch die Küche, entreißt mir die Thunfischdose und sieht mit großen, erwartungsvollen Augen zu mir auf. »Wer?«

»Keine Ahnung, wie er heißt.« Das ist gelogen.

»Wie sieht er aus?«

»Groß. Braune Haare.« Ich zucke mit den Schultern.

»Umwerfend attraktiv« ist der entscheidende Zusatz, den ich weglasse. »Arroganter« und »Arsch« sind zwei weitere Worte, die ich lieber für mich behalte.

Ich weiche absichtlich aus, weil meine Schwester leicht frühreif und sehr furchteinflößend ist. In drei Sekunden sitzt sie auf der Couch vor meinem Laptop und scrollt durch das Mitarbeiter-Verzeichnis auf der Krankenhaus-Website. Von spätabendlichem Stalking weiß ich, dass es alphabetisch geordnet ist, weshalb sie jetzt von nebenan ruft: »Wie ist sein Nachname?«

Ich huste, um eine weitere Lüge zu überspielen. »Ich weiß nicht mehr.«

»Welcher Fachbereich?«

Ich stecke zwei Scheiben Brot in den Toaster und hole die Mayonnaise aus dem Schrank, während ich mich frage, wie lange sie brauchen wird, ihn ohne meine Hilfe zu finden.

»Bailey, welcher Fachbereich?«

Ich ignoriere sie weiter. Ihre Finger fliegen nur so über die Tasten, die sicher gleich von meinem Laptop abspringen.

Die Toastscheiben hopsen in dem Moment hoch, als Josie hörbar nach Luft schnappt.

»Ich hab ihn!«

Mir rutscht das Herz in die Hose.

»Dr. Matthew C. Russell!« Sie scrollt durch seinen Lebenslauf. »Medizinische Fakultät der UT Southwestern. Facharztausbildung an der UCLS. Spezialisierung auf komplexe Wirbelsäulenchirurgie und auf pädiatrische Skoliose, bla, bla. Wen juckt’s?! Ich versteh nicht mal die Hälfte der Begriffe. Gibt‘s abgesehen von dem Porträt noch mehr Fotos von ihm? Vielleicht von einem Strandurlaub?«

»Keine Ahnung. Der Name sagt mir nichts. Dr. Russell, sagst du? Das könnte er sein. Wen juckt’s?« Ich setze mein ganzes Schauspieltalent ein, um sie von der heißen Spur abzubringen. Dann versuche ich es mit einer zweiten Methode: Ablenkung. »Dein Sandwich ist fertig!«

Sie schleift den Laptop mit in die Küche und setzt sich schmunzelnd mir gegenüber an den Tisch. Ich esse allein und kaue schweigend, während Josies Sandwich unberührt bleibt. Mit zusammengekniffenen Augen blickt sie auf den Bildschirm, während sie scrollt und vor sich hin tippt. Sie ist eine Privatdetektivin, die dringend eine neue Spur benötigt. Halb rechne ich damit, dass sie gleich eine Lupe zückt und sich einen Oberlippenbart wachsen lässt.

»Er hat keine Social-Media-Accounts, was extrem ärgerlich ist. Ich hab auf der Alumni-Seite der UT Southwestern nachgesehen, aber die posten keine Fotos.«

»Warum ist das wichtig? Iss jetzt.«

Sie fixiert mich verärgert, hält den Blickkontakt, während sie ein gewaltiges Stück von ihrem Sandwich abbeißt, und begibt sich dann wieder auf ihre Mission, die Wangen aufgebläht wie ein Streifenhörnchen.

Mir ist klar, warum meine Schwester sich so an Dr. Russell hochzieht. In den sechs Jahren, seit ich ihre Vormundschaft übernommen habe, hatte ich nicht viele Dates. Ich war grundsätzlich nicht an Männern interessiert. Romantik spielt in meinem Leben eine untergeordnete Rolle – nein, noch schlimmer: Romantik ist für mich überflüssig wie ein Kropf. Meine Lippen haben so lange keinen menschlichen Kontakt mehr gespürt, dass ich mich nicht mehr so recht erinnere, wie Küssen funktioniert. Steckt man einfach seine Zunge rein, und nichts wie ran? Hoffentlich ist es wie mit dem Fahrradfahren, sonst bin ich am Arsch.

Josie macht sich schon länger Sorgen um mich.

Erst letzte Woche hat sie mir gesagt, dass sie Gewissensbisse hat, weil ich so viel für sie aufgeben musste.

Natürlich habe ich protestiert.

»Keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich hab dich gern bei mir. Das weißt du doch.«

»Du hast viel für mich geopfert.«

»Ach, komm. Hab ich nicht.«

»Du hast keine Freunde.«

»Ich habe Ms. Murphy von nebenan.«

»Sie ist eine wunderliche Alte mit Kristallen um den Hals.«

»Es gefällt mir nicht, wenn du meine allerbeste Freundin als wunderliche Alte bezeichnest.«

Sie hält nicht mal inne, um zu lachen. »Du musstest meinetwegen dein Studium aufgeben.«

»Große Sache. Ich liebe meine jetzige Arbeit.«

»Und du gehst nie aus.«

»Stimmt nicht.«

»Als du das letzte Mal ein Date hattest, war ich noch keine dreizehn.«

»Das kann doch nicht sein …«

Ich führte den Gedanken nicht zu Ende, weil sie recht hatte. Es war tatsächlich so lange her.

Die Wahrheit lautet, dass ich wirklich viel opfern musste, um für Josie da zu sein. Im Grunde führe ich das Leben einer alleinerziehenden Mutter. Meine Zeit geht für Pflichten wie Wäschewaschen, Kochen und Saubermachen drauf. Ich muss dafür sorgen, dass Josies Noten nicht nachlassen und sie morgens pünktlich zur Schule kommt und dabei nicht so schnell aus ihren Jeans herauswächst, dass sie in Hochwasserhosen durch die Schulflure stakst. Ich gehe freitagabends nicht in Bars. Gestatte es mir nicht, Leute zu treffen. Ich arbeite und spare jeden Penny, den ich verdiene, damit ich mir eines Tages die Anzahlung auf ein Haus leisten kann, damit wir aus dieser armseligen Bruchbude ausziehen können, in die wir in den letzten Jahren gepfercht waren.

Trotzdem, bis auf fehlende Romantik ist es kein schlechtes Leben. Es ist sogar ein ziemlich gutes.

Josie sieht es bloß nicht so.

Sie dreht den Laptop herum, so dass ich gezwungen bin, Dr. Russells Foto anzusehen, das sie auf epische Ausmaße vergrößert hat. Ich weigere mich, ihrem Drängen nachzugeben und einzugestehen, wie scharf er ist. Stattdessen schiele ich und strecke ihr die Zunge raus, um sie zum Lachen zu bringen.

Ihr Seufzen verrät mir, dass sie mich für einen hoffnungslosen Fall hält. »Wenn du auch nur ein Fünkchen Mumm hättest, würdest du morgen früh schnurstracks auf diesen Arzt zumarschieren und ihn um ein Date bitten.«

Hahaha. Ich lache die ganze Zeit. Während des restlichen Abendessens, beim Geschirrspülen und noch danach, während ich einen Stoffbeutel mit unserer Schmutzwäsche zum Waschsalon am Ende der Straße zerre, und während ich vor diesen museumsreifen Waschmaschinen sitze und der Wäsche beim Herumwirbeln zusehe.

Josie hat keine Ahnung, wovon sie spricht.

Dr. Russell weiß nicht mal, dass ich existiere. Wir haben noch nie miteinander gesprochen. Er ist der jüngste Spitzenchirurg im Krankenhaus und hat den Ruf, der streitsüchtigste, unverschämteste Arzt im ganzen Land zu sein.

Ich hätte bessere Chancen, Dr. McDreamy auf ein Date festzunageln, als mich mit ihm zu verabreden.

Kapitel 2

Matt

»Ich möchte mit zweiwöchiger Frist kündigen.«

Als ich von dem Berg Papierkram auf meinem Schreibtisch aufblicke, steht Kirt, mein nigelnagelneuer chirurgischer Assistent, in der Tür zu meinem Büro. Er ringt die Hände. Ein Schweißtropfen läuft ihm über die Stirn.

»Warum?«

Sein Blick schießt zu mir, und seine Augen werden vor Angst groß. »Warum?«

Er hat nicht damit gerechnet, sich rechtfertigen zu müssen. Bestimmt entleert er gleich seinen Darm auf meinen Teppich.

Ich werfe meinen Stift auf den Schreibtisch und lehne mich auf dem Stuhl zurück. Das ist das Letzte, was ich von Kurt erwartet hätte. Ich dachte, es liefe gut zwischen uns. Nur zwei Mal habe ich ihn zum Heulen gebracht.

»Ich weiß, dass Sie ein großartiger Chirurg sind.« Mein Gesichtsausdruck scheint hart zu werden, denn er ergänzt hastig: »Der beste Chirurg! Wirklich! Deshalb habe ich diese Arbeit ja angenommen. Ich dachte, wenn ich ein paar Monate bei Ihnen durchhalte, stellen Sie mir ein gutes Empfehlungsschreiben für meine nächste Stelle aus. Ehrlich, ich hab das für eine Der Teufel trägt Prada-Situation gehalten …«

»Eine was?«

Er läuft rot an. »Der Teufel trägt Prada … der Film?« Ich verziehe keine Miene. »Entschuldigen Sie, meine Freundin hat mich neulich gezwungen, ihn mir anzusehen, und das hat mir wirklich geholfen, ein paar Dinge klarer zu sehen.« Er fasst gestenreich die Handlung zusammen. »Es geht um eine grässliche Chefin, die im Prinzip das ganze Büro terrorisiert. Die Hauptfigur glaubt, wenn sie es lange genug als ihre Assistentin durchsteht, kann sie später überall arbeiten, wo sie will.«

Er ist zu dumm, um zu bemerken, dass er soeben durchblicken lassen hat, dass er mich für einen »grässlichen Chef« hält, der die Leute »terrorisiert«. Wenn er nicht schon gekündigt hätte, würde ich ihn sofort rausschmeißen.

»Kommen Sie auf den Punkt.«

»Ach so, ja. Die Sache ist die … ich kann das nicht. Ich komme mit dem Stress nicht klar. Ich habe ein Magengeschwür. Ich habe ein Reizdarmsyndrom entwickelt.« Jetzt habe ich noch mehr Angst, dass er mir meinen Teppich versaut. »Ich kann nicht schlafen. Meine Freundin hat mir ein Ultimatum gestellt: Entweder ich verlasse das New England Medical Center oder sie verlässt mich. Ich dachte, ich könnte es bis ins neue Jahr schaffen, aber das ist noch Monate hin. Deshalb …« Er hält inne und blickt zu Boden. »Deshalb kündige ich mit zweiwöchiger Frist.«

Hinter ihm erscheint meine Sekretärin mit einer Akte in der Hand, was bedeutet, dass meine nächste Patientin da ist: ein siebenjähriges Mädchen namens Fiona. In wenigen Minuten treffe ich mich mit ihr und ihren Eltern im Besprechungszimmer, um mit ihnen ein Beratungsgespräch über einen komplizierten Eingriff zu führen, der das Leid und die Schmerzen lindern wird, unter denen sie seit ihrer Geburt aufgrund einer schweren Rückgratverkrümmung leidet.

Ich habe keine Zeit für Kirt und sein Magengeschwür.

Ich erhebe mich, um die Akte entgegenzunehmen.

»Sie sind schon im Besprechungszimmer«, sagt sie in sachlichem Ton.

»Danke, Patricia.«

Sie rückt ihre Brille gerade und durchbohrt Kirts Hinterkopf mit Blicken, was mir verrät, dass sie wahrscheinlich einen Teil seiner Ausführungen mitgehört hat und sie nicht billigt. Anders als er ist sie loyal. Sie arbeitet für mich, seit ich hier angefangen habe.

Als ich ihn dort stehen lasse und mich auf den Weg zum Besprechungszimmer mache, hastet Kirt hinter mir her. »Dr. Russell. Dr. Russell! Sie geben mir doch trotzdem eine gute Beurteilung?«, ruft er mir über den Flur nach. »Ich war doch ein guter chirurgischer Assistent, oder?«

Ich antworte nicht, weil ich bereits in Fionas Akte blättere, um mich noch einmal mit den Röntgenaufnahmen und Computertomographien vertraut zu machen, die ich in den letzten Tagen genaustens studiert habe. Fiona ist von vier anderen Ärzten abgewiesen worden. Die Verkrümmung ihres Rückens ist so massiv, dass sich der Eingriff selbst für die besten pädiatrischen Wirbelsäulenchirurgen auf der Welt als schwierig erweisen würde. Zum Glück für sie und ihre Eltern bin ich einer von ihnen.

Ich öffne die Tür und sehe Fionas Eltern mit ängstlich-besorgten Mienen am Tisch sitzen. Ihre Mutter hat dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Vater hat seine Hand auf die der Mutter gelegt und drückt sie zwei Mal beruhigend, als ich hereinkomme. Fiona sitzt in einem überdimensionalen Ledersessel neben ihrer Mom und lässt auf ihrem Schoß ein Püppchen tanzen. Zuerst lehnt sie unbeholfen an einer der Armlehnen, doch als sie mich sieht, versucht sie vergeblich, sich aufrecht hinzusetzen. Ihr pausbäckiges Gesicht verdüstert sich. Diese kurze Anstrengung mit anzusehen, bestärkt mich in meinem Entschluss, diese Operation durchzuführen, selbst wenn es mich umbringt. Sie verdient jemanden, der für sie kämpft, und wenn Kirt ein zu großes Weichei ist, das mit mir durchzuziehen, finde ich jemand Neues.

Ich bin jetzt seit fünf Jahren am New England Medical Center. Als ich hier angefangen habe, hatte ich gerade nicht nur eine, sondern gleich zwei Facharztweiterbildungen absolviert – eine in komplexer Wirbelsäulenchirurgie und eine andere in pädiatrischer Skoliose. Doch selbst nach dieser umfangreichen praktischen Ausbildung musste ich noch viel lernen. Manche würden sagen, das tue ich immer noch. Die meisten meiner Kollegen halten mich für naiv, solche Fälle anzunehmen. In unserem Fachbereich gibt es noch vier andere Rückenspezialisten, doch ich bin der einzige, der sich auf die Behandlung von Kindern spezialisiert hat. Die anderen – die gerade in der Lounge zusammen an einem Tisch sitzen, als ich zum Mittagessen hineinkomme – führen routinemäßige Spondylodesen an Erwachsenen durch. Das sind Fälle, für die man zwei Stunden braucht und die einem eine Viertagewoche und zusätzliche Zeit auf dem Golfplatz ermöglichen.

Als sie mich anhalten, stöhne ich innerlich auf. Ich weiß, was sie von mir wollen, und mir fehlt heute die Energie, mich mit ihrem Herrenriege-Quatsch zu befassen.

»Wie ich höre, verlierst du schon wieder einen Assistenten, Matt«, stichelt Dr. Goddard. Mit Ende dreißig ist er mir altersmäßig am nächsten, aber da hören die Ähnlichkeiten zwischen uns auch schon auf. Er ist wegen des Geldes und des Ansehens Chirurg geworden. Er trägt mit seinem Monogramm bestickte Poloshirts und fährt einen kirschroten Porsche. Seine Frau sieht aus wie eine aufgeblasene Sexpuppe.

»Wie ist deine Wirbelkörperfusion heute Morgen gelaufen, Jeff? Ist dir dabei ein Nagel abgebrochen?«

Er sieht mich wütend an.

»Entspannt euch, Jungs.« Dr. Lopez lacht und beugt sich zu mir. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie vielleicht diese Siebenjährige annehmen. Ich hab mir ihre Röntgenbilder angesehen, und sie sehen nicht gut aus.«

Ich zucke mit den Schultern. Ich halte einen Stapel Akten mit chirurgischen Details von Operationen in der Hand, die ich erfolgreich durchgeführt habe und die Fionas Fall ähneln. Wenn Dr. Lopez nicht bei Dr. Goddard und den anderen säße, würde ich ihn um seinen Input bitten.

»Wie willst du die OP ohne einen chirurgischen Assistenten durchführen?«, stichelt Dr. Goddard weiter.

Am liebsten würde ich ihn fragen, wie er es schafft, morgens in den Spiegel zu sehen, ohne mit der Faust hineinzuschlagen. Wir haben alle unsere unbeantworteten Fragen.

»Wisst ihr, dass im Pausenraum des Personals ein Foto von Dr. Russell hängt?«, fährt er fort und wendet sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen an die Gruppe. »Jemand hat Teufelshörner und einen roten Schwanz drangemalt. Ich überlege, sie zu fragen, ob sie es mir geben, damit ich es mir einrahmen kann.«

Ich lächele gequält. »Meine Herren, es war mir wie immer ein Vergnügen.«

Normalerweise würde ich die Ärzte-Lounge gar nicht betreten, aber das Gourmet-Catering ist in der Regel ziemlich gut, und so brauche ich mir keine Gedanken um das Mittagessen zu machen. Ich häufe mir gegrillten Lachs, sautiertes Gemüse und eine käsige Kartoffelspeise, die mir den Mund wässrig macht, auf den Teller und suche mir einen ruhigen Ecktisch.

Die Lounge funktioniert im Prinzip wie eine Highschool-Kantine. Das NEMC ist eine Privatklinik, an der vierundfünfzig Chirurgen arbeiten, die fünfzehn Spezialgebiete abdecken. Jedes Spezialgebiet hat seine speziellen Typen.

Man kann sie wie folgt auseinanderhalten:

Die biertrinkenden Sportfans? Das sind die Chirurgen für allgemeine Orthopädie. Sie haben sich auf Sportmedizin spezialisiert und noch nie ein Protein-Ergänzungsmittel gesehen, das sie nicht gut finden.

Die Masochisten? Die Männer und Frauen, die sich gern zu jeder Tages- und Nachtzeit wecken lassen, damit sie in den OP stürzen und die Lage retten können? Das sind die Transplantationschirurgen.

Wenn sie gern die Schwestern anbaggern und allen erzählen, dass sie am meisten Kohle verdienen, besteht eine gute Chance, dass es sich um Herz-Lungen-Chirurgen handelt.

Die Ferrari-Fahrer, die mit den hiesigen Promis auf Du und Du sein wollen, glänzende Herrenanzüge tragen und das machen, was wir anderen als »Pseudo-Chirurgie« bezeichnen – das sind plastische Chirurgen.

Sie wissen, was ich meine. Wir alle haben unsere Eigenarten, sogar ich. Ich bin zu einem Teil Masochist und zum anderen Perfektionist. Ich habe selbst ein kleines Helfersyndrom und ein Ego, das den ganzen Raum ausfüllen könnte, aber das ist auch notwendig. Wer will schon die Wirbelsäule seines Kindes einem einfältig lächelnden Dummkopf anvertrauen, der unter Druck zusammenbricht?

»Darf ich mal sehen?«, fragt Dr. Lopez.

Als ich von meinem Teller aufblicke, deutet er auf die Akten vor mir.

Ich nicke. »Nur zu!« Dann überlege ich es mir anders und greife nach der dritten Akte von unten – ein besonders schwieriger Fall, den ich letztes Jahr bewältigt habe. »Fangen Sie damit an.«

Er zieht sich den Stuhl mir gegenüber heraus und setzt sich. »Sie schüchtern Dr. Goddard ein. Deshalb verhält er sich so.« Ich antworte nicht, denn ich bin nicht zu einer Therapiesitzung hier. »Wahrscheinlich sollte ich es Ihnen nicht sagen, aber er hat sich für dieselbe Fortbildung beworben und ist nicht genommen worden.«

Ich bringe ein halbwegs interessiertes Brummen zustande und schiebe mir noch einen Happen Lachs in den Mund. Es wird ihm nicht gelingen, mich davon zu überzeugen, dass Dr. Goddard mein Mitleid verdient.

Dr. Lopez lacht. »Verstehe, ich sehe schon, dass Sie beide nie zu einer Verständigung kommen werden. Konzentrieren wir uns auf ein anderes Problem. Wie viele chirurgische Assistenten haben Sie im letzten Jahr verheizt? Zwei? Drei?«

Fünf, aber ich korrigiere ihn nicht.

»Ich habe seit Jahren dieselbe Assistentin, und sie ist großartig. Im OP ahnt sie voraus, was ich brauche, sie ist pünktlich und blitzgescheit. Sie macht mich zu einem besseren Chirurgen. Wissen Sie, was ich meine?«

Ich fixiere ihn gelangweilt. Er ist gefährlich nahe davor, gebeten zu werden, meinen Tisch wieder zu verlassen. Zwar ist er einer der ranghöheren Ärzte, aber nicht mein Vorgesetzter.

Ungerührt von den bösen Blicken, die ich ihm zuwerfe, fährt er fort. »Sie vergeuden Ihre Zeit, wenn Sie alle paar Monate neue Assistenten anlernen. Ihre Operationen sind auch ohne einen Grünschnabel an Ihrer Seite schon schwer genug. Denken Sie nur, wie viel mehr Sie mit einem Team erreichen könnten, dem Sie vertrauen.«

Ich stelle verärgert fest, dass er ein triftiges Argument vorbringt, aber er erzählt mir nichts Neues. Ich bin schon selbst zu diesem Schluss gekommen. Das Problem besteht darin, dass ich den Assistenten, der es länger als nur ein paar Wochen mit mir aushält, erst noch finden muss.

Kapitel 3

Bailey

Josie glaubt es mir zwar nicht, aber ich finde meine Arbeit als chirurgische Assistentin toll. Vielleicht hätte ich diesen Weg sogar auch dann gewählt, wenn das Leben mich nicht dazu gezwungen hätte, ihn einzuschlagen. Klar, einige Aspekte daran sind öde – Instrumente vorbereiten, ein steriles OP-Feld schaffen, den Operationssaal säubern –, aber der Rest ist großartig.

Diese Arbeit ist nichts für schwache Nerven. Während der Eingriffe bin ich Dr. Lopez‘ rechte Hand. Ich habe mehr Blut und Eingeweide gesehen als ein Sanitäter auf dem Schlachtfeld des Bürgerkriegs. Ich habe erlebt, wie Patienten einen Herzstillstand erlitten, Chirurgen zusammenbrachen, Medizintechnikvertreter in Ohnmacht fielen und Instrumente abhandenkamen.

Bei der OP heute Morgen fängt es an wie immer, mit einem Streit zwischen Dr. Lopez und mir, welche Playlist wir über die Lautsprecher streamen sollen.

»Sie wollen doch nicht ernsthaft wieder Oldies hören«, stöhne ich. »Merken Sie nicht, dass Sie zu einem wandelnden Klischee werden?«

Er grinst. »Ich operiere besser, wenn ich die Eagles höre.«

»Mhm, dann hab ich es mir nur eingebildet, dass Sie letzte Woche zu Maroon 5 mit den Hüften gewackelt haben?«

Der Anästhesist räuspert sich, um Dr. Lopez diskret zum Anfangen aufzufordern.

»Na schön. Lassen wir einfach den Technikvertreter entscheiden.«

Alle Blicke richten sich auf den jungen Mann, der in der Ecke des OP-Saals steht. Seine Augen werden vor Angst groß. Er strömt durch jede einzelne Pore Nervosität aus. Offenbar will er diese Verantwortung nicht. Er ist hier, weil er ein guter Verkäufer ist und will, dass Dr. Lopez weiterhin die irrsinnig teuren Wirbelsäulenimplantate seiner Firma benutzt. Und nach dem Ausdruck schierer Panik in seinem Gesicht zu urteilen, befürchtet er, bei der Entscheidung für einen falschen Song aus dem OP gejagt zu werden.

»Äh, ich hör auch gern die Eagles«, sagt er mit zittriger Stimme.

Dr. Lopez zwinkert mir verschwörerisch zu. Er sollte ihn wirklich nicht so fertigmachen, aber ich weiß, dass er nur schwer widerstehen kann.

Das ist jedoch sein einziger Fehler.

Er ist ein seltenes Juwel, und mir ist vollkommen klar, wie gut ich es bei ihm habe. Chirurgen sind notorisch schwierige Arbeitgeber. Sie neigen zu großen Egos, Arroganz und Götterkomplexen – manchmal zu allem zusammen. Schauder. Aber Dr. Lopez ist nicht so. Seine Grundstimmung ist heiter. Seine OP-Haube ist mit lächelnden Comic-Hunden verziert. Er zeigt persönliches Interesse an seinen Mitarbeitern. Außerdem ist er so alt, dass er mein Großvater sein könnte, was er mir regelmäßig unter die Nase reibt, wenn ich ihm das Leben schwer mache.

»Ich brauche den 8-Millimeter-Spreizer«, sagt er später während der Operation zu mir.

Ich schüttele den Kopf. »Sie lassen mich bei solchen Fällen immer mit dem Achter anfangen, nehmen aber letztendlich doch den Sechser, deshalb gebe ich Ihnen den Sechser gleich. Wenn Sie den Achter trotzdem noch wollen, sagen Sie Bescheid.«

Der Medizintechnikvertreter schnappt hörbar nach Luft. Er rechnet zweifellos damit, dass Dr. Lopez mich herunterputzt, weil ich die Frechheit besitze, ihn zu hinterfragen. Jeder andere Chirurg würde das vielleicht tun, aber Dr. Lopez nickt nur und nimmt das Instrument entgegen.

Ich grinse breit hinter meiner Maske.

Ich bin gut in meinem Job.

Ich liebe meinen Job.

Ich liebe meinen Chef.

»Ach ja«, fährt Dr. Lopez beiläufig fort. »Hätten Sie etwas dagegen, heute Nachmittag in mein Büro zu kommen? Nach dem Mittagessen?«

Was mein Treffen mit Dr. Lopez betrifft, habe ich ein gutes Gefühl. Nachdem ich mein Sandwich gefuttert habe, tupfe ich mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab, spüle mir den Mund mit Mundwasser und richte augenzwinkernd meine Zeigefinger wie Pistolen auf mein Spiegelbild.

»Endlich«, sage ich laut mit erwartungsvoll leuchtenden Augen. »Dr. Lopez gibt dir die Gehaltserhöhung, auf die du so lange gewartet hast. Er wird Hundertdollarscheine auf dich herabregnen lassen, und Josie muss heute Abend kein Thunfischsandwich mehr essen. Nope. Das muss mit etwas Ausgefallenem begangen werden. Steak. Okay, so reich sind wir auch wieder nicht. Vielleicht Hähnchenfleisch vom Grabbeltisch, das morgen abläuft.«

»Sind Sie hier fertig?«

Oh. Klar. Ich trete beiseite und lasse die Toilettenfrau ihren Wischmopp an mir vorbeischieben. Am liebsten würde ich sie fragen, wie lange sie schon dasteht, aber da erzählt sie mir bereits, dass es im Supermarkt die Straße runter Rindfleisch im Angebot gibt. Es sollte mir peinlich sein, aber wen interessiert’s? Eine Gehaltserhöhung steht unmittelbar bevor.

Als ich vor Dr. Lopez‘ Tür ankomme, klopfe ich in einem gut gelaunten Rhythmus an das schwere Eichenholz und warte auf seine Aufforderung, einzutreten.

»Kommen Sie rein, Bailey!«

»Wie war Ihr Mittagessen?«, frage ich beim Hineingehen, bereit, mich an ein wenig Small Talk zu versuchen, für den Fall, dass ich meine Gehaltserhöhung dadurch noch ein klitzekleines bisschen mehr steigern kann. Verdammt, ich werde mich hier hinsetzen und ihm dabei zuhören, wie er peinlich genau seine letzte Golfrunde beschreibt, wenn es bedeutet, dass ich in diesem Leben nie mehr eine Dose mit geschreddertem Fisch öffnen muss.

»Gut.« Er lächelt mich von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch an und fordert mich auf, Platz zu nehmen.

Mein Drang, vor Aufregung mit den Armen zu rudern, ist so stark, dass ich die Hände unter meinen Hintern klemmen muss. Dollarzeichen schweben zwischen seinem Kopf und dem unteren Rand seiner schicken Diplome. Während er zu reden anfängt, kann ich mich kaum auf seine Worte konzentrieren, weil ich mir mögliche zukünftige Anschaffungen überlege.

Ich werde mir neue Tennisschuhe kaufen. Josie bekommt endlich einen neuen Wintermantel. Vielleicht, ganz vielleicht kann ich mir sogar einen Waschtrockner leisten, damit ich unsere Klamotten nicht mehr zum Waschsalon karren muss.

»Ich hoffe, das kommt jetzt nicht zu überraschend«, sagt Dr. Lopez und reißt mich aus einem anschaulichen Tagtraum, in dem ich die Vorderseite einer frisch gelieferten Waschmaschine knutsche.

»Was? Verzeihen Sie, das Letzte hab ich nicht mitbekommen.«

Er schüttelt schmunzelnd den Kopf. »Sie haben nichts davon mitbekommen, stimmt‘s? Bailey, ich gehe in den Ruhestand.«

Ruhestand.

Ich spreche es im Geiste langsam vor mich hin. Ruuuuhestannnddd.

Das Wort schüttelt mich durch wie ein Whirlpool, was Sinn ergibt, denn so heißt die Marke des Waschtrockners, die ich in Betracht gezogen habe.

»Sie wollen sich zur Ruhe setzen? Wovon? Vom Golfen?« Ich klinge hoffnungsvoll. Es wäre doch möglich. Manchmal, wenn er zu viele Runden gespielt hat, klagt er über Kreuzschmerzen.

»Nein. Nein.« Er steht auf und tritt ans Fenster, um über die weitläufige Großstadt zu blicken. Ich schwöre, ich höre, wie seine Knochen beim Gehen knarren. Alt war er schon immer, aber seit wann ist er uralt? »Ich hätte mich schon seit Jahren zur Ruhe setzen können und habe es immer aufgeschoben, aber Laurie reicht es jetzt. Sie will, dass wir mehr Zeit mit unseren Enkelkindern verbringen und reisen, solange wir es noch können. Wozu stecken wir das viele Geld in den Sparstrumpf, wenn wir es nicht einmal ausgeben können?«, scherzt er. Wahrscheinlich gibt er das Argument wieder, das er sich in den letzten Jahren immer wieder hat anhören müssen.

»Können Sie es nicht noch ein kleines bisschen weiter aufschieben?«, frage ich flehentlich. »Sie praktizieren doch erst seit wie langer Zeit? Seit dreißig Jahren?«

»Im nächsten Monat sind es vierzig.«

Vierzig?! Herrgott. Holt dem Mann einen Gehstock.

Ich schüttele den Kopf, und meine Hände klemmen nicht mehr unter meinem Po – sie ziehen am Kragen meines OP-Oberteils, damit ich mehr Luft bekomme.

Das darf nicht sein. Er muss nur noch so lange bleiben, bis sich mein Notgroschen in ein Notpolster verwandelt hat. Verdammt, ich brauche die Anzahlung für ein Haus – und wenn schon nicht das, dann zumindest so viel Geld, dass Josie und ich in eine etwas größere, schönere Bruchbude ziehen können, eine mit einer verlässlichen Spülmaschine und einer Dusche, aus der mir kein braunes Kackawasser auf den Kopf spritzt, wenn es zu doll geregnet hat.

Seufzend dreht er sich zurück zu mir. »Ich wusste, dass Sie so reagieren würden. Wir sind ein gutes Team, Bailey, und seien Sie versichert, ich werde Sie nicht ohne Optionen zurücklassen.«

Ich spitze die Ohren, und meine Panikattacke tritt für einen Moment in den Hintergrund. »Optionen?«

Vielleicht will er mir einen Scheck ausstellen. Vielleicht plagt ihn sein Gewissen, weil er mich so im Stich lässt. Vielleicht hat er mich immer als die Tochter angesehen, die er niemals hatte (er hat drei sehr reizende Töchter), und will mich als Begünstigte in seinem Testament benennen. In dem Moment fällt mir ein, dass er sich nur zur Ruhe setzt und nicht das Zeitliche segnet. Herrgott.

Er nickt. »Ja. Optionen. In dieser Klinik gibt es noch vier andere Wirbelsäulenchirurgen.«

»Ja …«, bestätige ich langsam, weil mein Hirn immer noch Schwierigkeiten hat, hinterherzukommen.

»Also müssen wir Sie nur mit einem von ihnen zusammenbringen. Ich habe in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt. Sie wären verrückt, Sie abzulehnen.«

Bilder jedes einzelnen der vier anderen Ärzte ploppen vor mir auf wie kleine Denkblasen. Da ist Dr. Goddard, dessen Gesicht ständig rot und aufgedunsen ist. Er stellt nur junge hübsche Frauen ein. Seine Schwestern sehen aus, als hätten sie am Miss-USA-Schönheitswettbewerb teilgenommen. Ich lasse seine Blase platzen.

Dr. Richards ist in Ordnung, ein bisschen langweilig und spießig, aber bei ihm bräuchte ich keine Angst zu haben, dass er mich anmachen will. Er steht Dr. Lopez altersmäßig am nächsten und hat in der Klinik einen guten Ruf. Er ist eindeutig eine Möglichkeit.

Dr. Smoot (ja, so heißt er wirklich) ist ebenfalls eine gute Wahl, auch wenn ich ihn noch nie habe sprechen hören. Er ist extrem dünn, skelettartig sogar, und hört beim Operieren ausschließlich klassische Musik. Außerdem nimmt er nur geriatrische Fälle an. Was für ein Spaß. Alte Knacker auf dem OP-Tisch, während über uns Beethoven dröhnt. Aber ich darf nicht wählerisch sein, denn der letzte verbleibende Chirurg, Dr. Russell, ist überhaupt keine Option.

Ich kenne Kirt, seinen jetzigen chirurgischen Assistenten, und seinen letzten kannte ich auch. Ach, und den davor und den davor. Ich habe mit jedem einzelnen von ihnen im Pausenraum gegessen. Habe mich mit ihnen angefreundet, mir ihr Leid angehört, genickt und die Stirn gerunzelt, während sie mir die Gräuel beschrieben, die die Arbeit für einen Chirurgen wie Dr. Russell mit sich bringt. Ich habe ihnen beim Weinen zugesehen, erwachsene Männer und Frauen, die flennten, als wäre ihr Leben zu Ende, nur wegen irgendeiner Bemerkung, die er beim Operieren fallenlassen hatte.

Das mache ich nicht. Ich werde niemals für ihn arbeiten.

»Fangen wir mit Dr. Richards an«, sage ich widerstrebend. Er nickt und tritt vom Fenster weg, und ich bringe endlich den Mut auf, ihm die Frage zu stellen, die ich bislang vermieden habe. »Wie lange bleiben Sie denn noch?«

»Ein paar Wochen.«

»Wochen?!«

Ich hatte mit Monaten gerechnet. Er arbeitet seit vierzig Jahren hier und will innerhalb weniger Wochen aussteigen?

»Was ist mit Ihren Fällen?«, frage ich ungläubig.

»Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass ich keine neuen Patienten mehr angenommen habe? Ich habe nur noch ein paar Operationen vor mir.«

Nein, ich war damit beschäftigt, unter der Last des Lebens zusammenzubrechen.

»Laurie will, dass ich spätestens bis Halloween zu Hause bin. Sie möchte ein wenig herumreisen und über die Feiertage die Enkel besuchen.«

Wie wunderbar. Dr. Lopez wird Kürbisse aushöhlen und Lebkuchenhäuser verzieren, und ich bleibe hier ohne neuen Waschtrockner allein zurück.

»Und wenn mich nun keiner von denen in seinem Team haben will?«, frage ich und stelle peinlich berührt fest, dass meine Unterlippe ein winziges bisschen zittert.

Er schüttelt den Kopf und tritt um seinen Schreibtisch herum. »Unmöglich. Gehen wir. Dr. Richards sollte in seinem Büro sein. Was du heute kannst besorgen …«

Dr. Richards hat auf dem Revers seines weißen Kittels einen großen Kaffeefleck. Sein Büro ist mit Möbeln aus den siebziger Jahren ausgestattet. Passend, denn das war wahrscheinlich die Zeit, als er zuletzt seine volle Haarpracht besaß.

Als wir mein Anliegen vortragen, verzieht er das Gesicht.

»Ach, ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich habe schon Marlene und Chris. Sie sind schon fast ein Jahr bei mir, und Dr. Lopez, Sie wissen ja besser als alle anderen, dass ich diese Loyalität nicht einfach ignorieren kann.«

Das ist Dr. Richards‘ Antwort.

Ein dickes, fettes Nein.

Also versuchen wir es bei Dr. Smoot. Er hört klassische Musik in seinem Büro, während er seinen Schreibkram erledigt. Seine Haut ist so blass und sein Büro so dunkel, dass ich nicht zu hundert Prozent überzeugt bin, dass er kein Vampir ist.

Nachdem wir ihm die Situation geschildert haben, nimmt er seine Brille ab, klappt sorgfältig die Bügel zusammen und sieht uns mit einem schmallippigen, spöttischen Lächeln an. »Leider benötige ich momentan keine chirurgische Assistentin. Haben Sie es schon bei Dr. Richards versucht?«

Ja, wir haben es bei Dr. Richards versucht, du Bleichgesicht!

Am liebsten würde ich aus seinem Büro stürmen, doch stattdessen bedanke ich mich, dass er sich die Zeit genommen hat, und sage ihm, dass ich zur Verfügung stehe, sollte er je nach einer Assistentin suchen. Er lächelt, und ich schwöre bei Gott, der Mann hat überentwickelte Eckzähne. Es läuft mir kalt den Rücken herunter, und ich bin sogar froh, dass er mich nicht braucht, denn ich weiß nicht so recht, ob ich mich wohlfühlen würde, wenn ich für einen Untoten arbeiten müsste.

»Nun denn«, sage ich mit einem falschen Lächeln, als ich mich im Gang zu Dr. Lopez drehe. Meine Gesichtsmuskeln sind so angespannt, dass ich weiß, dass es nicht echt ist. Man sieht zwar meine Zähne, aber meine Mundwinkel sind nicht hochgezogen. »Der letzte Kandidat. Sollen wir es bei Dr. Goddard versuchen?«

Anfangs kam er für mich überhaupt nicht infrage, aber die Auswahl wird langsam dürftig, und entweder wird er es oder …

Ich weigere mich, den Gedanken zu Ende zu führen.

Dr. Goddards Büro ist mit einem Couchtisch aus Chrom und mit noblen Ledersesseln vollgestellt. An der Wand hängt ein riesiges gerahmtes Foto von ihm mit seinen platinblonden Sprösslingen, die in aufeinander abgestimmten weißen Outfits am Strand lächeln. Es würde erbaulich wirken, wenn nicht ein gleich großes gerahmtes Foto mit einem roten Porsche drauf direkt daneben hinge.

Als wir hereinkommen, mustert mich Dr. Goddard flüchtig. Als ihm klar wird, dass ich A) eine Frau bin und B) unter fünfundsiebzig, leuchten seine Augen auf.

»Dr. Lopez, was kann ich für Sie tun?«

Nichts.

Er kann nichts tun.

»Ach, Mann, ich wünschte, ich könnte helfen«, stöhnt er. »Aber ich bin momentan bestens mit Personal versorgt.«

Nicht einmal meine Brüste (auf die er dauernd starrt), können ihn überzeugen, mir eine Stelle zu geben. Tatsache ist: Keiner der anderen Chirurgen stellt jemanden ein. Sie haben Angestellte, die ihnen sympathisch sind, und ein gutes Team um sich herum. Ich hab’s kapiert. Ein gut ausgebildetes Team ermöglicht den einwandfreien Ablauf einer OP.

Noch heute Morgen war auch ich Teil eines solchen Teams. Und jetzt? Jetzt stehe ich draußen und blicke sehnsüchtig hinein, eine einfache kleine chirurgische Assistentin ohne Chirurgen.

»Eine Möglichkeit gibt es noch, Bailey«, sagt Dr. Lopez, als wir Dr. Goddards Büro verlassen haben.

Sein Ton verrät seine mangelnde Hoffnung.

Ich hebe abwehrend die Hand.

»Nicht heute. Sprechen wir nicht darüber, okay? Ich muss erst einmal verdauen, dass Sie sich zur Ruhe setzen und ich wahrscheinlich ohne Arbeit dastehen werde. Morgen können wir uns dann etwas einfallen lassen.«

»Es tut mir leid.«

Seine Worte treffen mich wie ein Stich in den Bauch. Armer Dr. Lopez. Es ist ja nicht seine Schuld. Was soll er machen, sich zu Tode schuften, nur damit ich einer geregelten Arbeit nachgehen kann? (Ja.) Nein. Das wünsche ich mir nicht für ihn.

Ich schüttele den Kopf. »Keine Sorge. Morgen sieht alles schon ganz anders aus. Ich weiß es.« Ich wende mich zum Gehen. »Und danke für Ihre Bemühungen. Einen Versuch war es wert.«

Beim Abendessen bringe ich Josie bei, dass wir bald auf der Straße leben werden. Wir essen Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwiches mit Babykarotten, für jedermanns Verhältnisse ein kärgliches Mahl. Als chirurgische Assistentin verdiene ich zwar nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig gut. Zweimal im Monat wird mein Gehalt auf mein Konto überwiesen, und sobald das Geld eingeht, wird es wieder eingezogen, um für Kreditkartenzahlungen, Miete, Krankenversicherung, Handyrechnungen und Lebensmittel und und und aufzukommen … Leicht ist es nicht, aber wir behelfen uns. Ich bedauere, dass ich in den mageren Jahren während meiner Ausbildung Kreditkarten benutzen musste, um uns über die Runden zu bringen, aber ich hatte keine andere Wahl. Josie lebt bei mir, weil unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen.

Ihr Tod kam plötzlich und unerwartet. Es gab keine Lebensversicherungspolice. Kein Testament. Die Beerdigungskosten hatte ich zwei Jahre nach dem Begräbnis abbezahlt. Randbemerkung: Bestattungsinstitute schätzen es nicht, wenn man vorschlägt, die Urnen einfach selbst zu basteln. (Die Dinger sind teuer!)

Dass sie wirklich tot sind, und nicht nur bei der Arbeit oder verreist, versetzt mir immer noch einen schmerzlichen Stich, wenn ich daran denke, aber raten Sie, wer sich den Luxus zu trauern nicht leisten kann? Hebt die Hand.

Es gibt nur mich und Josie. Alles, was jetzt zählt, ist, dass wir einander haben und ich sie nicht im Stich lasse.

»Ich finde eine andere Stelle«, verspreche ich ihr. »Dass wir auf der Straße leben müssen, war nur ein Scherz.«

Sie zuckt die Achseln. »Ich fände es spaßig, obdachlos zu sein. Ich wollte schon immer unter einer Brücke leben wie ein Troll.«

»Urkomisch.«

»Ich mein’s ernst.« Ihre braunen Augen sind vor Staunen geweitet. »Denk nur, wie cool ich in der Schule wäre, wenn ich allen erzähle, dass ich eine Landstreicherin bin!« Dann legt sie den Kopf schief und runzelt die Stirn, als würde ihr ein Licht aufgehen. »Echt ätzend, dass du vor Kurzem dein Auto verkauft hast. Es war zwar eine Klapperkiste, aber in schlechten Zeiten hätten wir darin wohnen können.«

Ich lege mein Sandwich hin und beuge mich vor, damit sie mir wirklich zuhört. »Josie, wir werden hier nicht rausgeworfen. Das war ein schlechter Scherz. Ich finde einen anderen Arzt, für den ich arbeiten kann. Jetzt iss auf, sonst gibt es heute Abend kein Grey’s Anatomy.«

Sie stopft sich den Rest ihres Sandwiches auf einmal in den Mund. Dann trinkt sie ihre Milch in einem Zug aus und streckt die Zunge heraus wie eine Psychiatrie-Patientin, die beweisen will, dass sie ihre Tabletten geschluckt hat. »Darf ich jetzt aufstehen?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, rutscht sie mit ihrem Stuhl zurück und lässt mich allein zu Ende essen. Ich beiße ein Stück von dem alten Brot ab und rede mir ein, in einem Michelin-Sternerestaurant zu speisen. Das ist nicht Wasser, sondern Champagner, und die Ameisen, die dort drüben in Reih und Glied an der Sockelleiste entlangmarschieren? Das nennt man eine Dinnershow.

Während ich zu Ende esse, dröselt mein Gehirn mein aktuelles Problem auf. Ich habe ehrlich keinen Schimmer, was ich tun soll. Wenn mich keiner der Wirbelsäulenchirurgen will, könnte ich auf ein anderes Spezialgebiet umschulen, aber das würde Monate dauern, wenn nicht Jahre, und mir gefällt Wirbelsäulenchirurgie. Ich könnte an eine andere Klinik wechseln oder in eine andere Stadt ziehen, aber ich will Josie nicht von der Schule nehmen und von ihren Freundinnen trennen, wenn es nicht absolut notwendig ist.

Unter Umständen könnte ich auch bei Dr. Goddard, Dr. Richards oder Dr. Smoot um Gnade winseln, aber ehrlich gesagt weiß ich, dass sie es sich nicht anders überlegen werden. Wenn sie mir einen Korb gegeben haben, obwohl Dr. Lopez neben mir stand und sich für mich verbürgte, brauchen sie mich wirklich nicht.

Ich spüle das Geschirr, wische die Theke ab, verstaue den Brotlaib und stelle eine Ameisenfalle auf. Dann gehe ich aus der Küche, schalte das Licht aus, und dort im Dunkeln erlaube ich mir, meine letzte, verzweifelte Option, die eigentlich keine ist, in Erwägung zu ziehen:

Für Dr. Russell zu arbeiten.

Den Leibhaftigen.

Alle in seiner Praxis nennen ihn so, aber ich war diejenige, die das urkomische Bild von ihm gemalt hat, das im Pausenraum hängt. Kirt hatte geweint, und er tat mir leid, weil er 1,90 groß ist und gebaut wie ein Linebacker und ich ehrlich keine Ahnung hatte, dass aus einem Mann seiner Größe so viele Tränen herauskommen können. Er schnäuzte sich in ein Taschentuch, das ich ihm gereicht hatte, und weinte so heftig, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Deshalb verzierte ich, um ihn abzulenken, Dr. Russells Porträt mit den Teufelshörnern und dem roten Schwanz. Alle lachten, und Kirt hörte auf zu weinen, aber ich bereute es sofort.

Allein bei dem Gedanken, dass Dr. Russell das je herausfinden könnte, läuft mir ein Schauer über den Rücken.

Nein.

Ich kann auf keinen Fall für ihn arbeiten.

Vielleicht hat Josie doch recht – wäre obdachlos zu sein wirklich so schlimm?

Kapitel 4

Matt

Mir ist im Leben schon öfter vorgeworfen worden, in meinen Gewohnheiten festgefahren zu sein, und das stimmt auch. Ich setze auf Routine. Ich frühstücke jeden Morgen das Gleiche: ein Protein-Smoothie, ein Omelett aus vier Eiweiß mit frisch gemahlenem Pfeffer, Truthahnwurst und zwei Tassen Kaffee (eine gleich nach dem Aufwachen und eine, wenn ich in der Klinik ankomme). Nach dem Frühstück trainiere ich. Auch das läuft jeden Tag gleich ab. Kardiotraining. Gewichte heben – nicht so intensiv, um übermäßig aufgepumpt zu sein, aber genug, damit ich neun Stunden lang am Operationstisch stehen und eine Wirbelsäule verdrehen kann, ohne in Schweiß auszubrechen. Core-Training ist unverzichtbar.

Montags bis freitags wache ich um vier Uhr auf und bin gegen halb sechs in meinem Büro. Wenn ich in meinem Team einen Assistenzarzt oder einen Fellow habe, treffe ich mich am liebsten um diese Zeit mit ihnen, um noch den Zeitplan durchgehen zu können, bevor wir Visite machen. Während der Visite überzeuge ich mich davon, dass operierte Patienten auf dem Wege der Besserung sind, und beantworte meinen Patienten, denen die OP noch bevorsteht, und ihren Erziehungsberechtigten eventuelle letzte Fragen. Ich habe gelernt, diese Zeit großzügig zu bemessen. Die Eltern sind immer nervös, und die Kinder überraschen mich stets aufs Neue mit ihren neugierigen Fragen. Oft geht es um die Narkose.

»Sie meinen, ich weiß danach nichts mehr davon? Es fühlt sich so an, als würde ich schlafen? Werde ich träumen?«

Heute bin ich schon um fünf im Büro, sogar noch früher als sonst. In ein paar Stunden steht ein Routineeingriff an, aber ich wollte mir Fionas Akte noch einmal genau anschauen. Ihre Eltern sind unsicher, ob sie die Operation durchführen lassen wollen. Sie sind irritiert, weil sie von so vielen Ärzten abgewiesen wurden und ich es trotzdem versuchen will. Sie wollen ihre Tochter nicht in Gefahr bringen, was verständlich ist, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie wiederkommen werden. Fionas Fall ist schlimm, und ihnen werden schon bald die Optionen ausgehen. Wenn es so weit ist, will ich bereit sein.

Als ich an meinem Schreibtisch ankomme, muss ich leider feststellen, dass mir die ersehnten dreißig Minuten ungestörter Zeit verwehrt bleiben. Mein AB zeigt dreizehn neue Nachrichten an, und ein paar Dutzend E-Mails harren einer Antwort. Zwei Ärzte fragen an, ob sie in der kommenden Woche bei einer OP zuschauen dürfen. Ein anderer bittet um meine Mithilfe bei einem Fall an der Westküste. Das ist nicht ungewöhnlich, da nur wenige Ärzte sich auf komplexe pädiatrische Skoliose spezialisiert haben.

Bevor ich die E-Mails beantworte, verlangt das blinkende rote Licht an meinem Bürotelefon meine Aufmerksamkeit. Ich drücke die Play-Taste und höre zu, während ich auf meinem Schreibtisch klar Schiff mache. Drei der Nachrichten sind von Victoria, die mir sagt, dass es »nichts Dringendes« sei, sie mich aber trotzdem bittet, sie so schnell wie möglich zurückzurufen. Ich frage mich, warum sie mich nicht einfach auf dem Handy anruft, doch dann fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihr meine neue Nummer zu geben. Das war zwar keine Absicht, aber jetzt frage ich mich, ob es nicht besser so ist.

Ich habe keine Ahnung, worüber sie mit mir reden will, doch da es nicht dringend ist, überspringe ich ihre Nachricht und nehme mir vor, sie zurückzurufen, wenn ich Zeit habe.

»Klopf, klopf!«, ruft Dr. Lopez vom Flur aus, während er die Tür öffnet und unbekümmert in mein Büro schlendert. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

Ich blicke nicht auf. »Nein.«

Unbeirrt tritt er näher und pflanzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Sicherlich würde er am liebsten die Füße hochlegen und die Finger hinter dem Kopf verschränken, aber er weiß, dass er es damit zu weit treiben würde.

»Ihre neue Einrichtung gefällt mir. Sie haben es gemütlich hier.« Er schaut demonstrativ auf meine gerahmten Diplome, die sich an der Wand hinter meinem Schreibtisch stapeln und immer noch darauf warten, aufgehängt zu werden. Daneben türmt sich ein Stapel aus Ausgaben des European Spine Journal und alten Lehrbüchern. Ein Großteil meiner Couch ist mit Wirbelsäulenimplantaten übersät. Zugegeben, es herrscht Chaos. Deshalb halte ich meine Beratungsgespräche mit Patienten immer im Besprechungszimmer ab.

»Es ist wie im Labor eines verrückten Wissenschaftlers«, stellt er mit einem spöttischen Lächeln fest. »Ich wäre nicht überrascht, hier drin auf die Geheimnisse des Universums zu stoßen.«

Er vergeudet meine kostbare Zeit. »Was kann ich für Sie tun, Dr. Lopez?«

»Ach ja – fleißig, fleißig. Wir Ärzte haben nie genug Zeit, nicht? Tja, ich werde demnächst viel mehr davon haben. Sie haben bestimmt gehört, dass ich mich zur Ruhe setze.« Das Gerücht kursiert schon seit Monaten, aber ich hätte nie geglaubt, dass er das wirklich durchziehen würde. Er hat das Zeug dazu, noch fünf Jahre zu operieren, vielleicht sogar zehn, wenn er sich alles abverlangt. »Jawohl. Laurie ist ganz aus dem Häuschen. Sie hat für die kommenden Monate alles Mögliche geplant. Eine Karibikkreuzfahrt, Ferien bei den Enkeln. Ihre Eltern leben hier, nicht wahr?«

Ich nicke, während ich meine E-Mails überfliege, die wichtigsten vorselektiere und die von Medizintechnikvertretern lösche, die ich hier nicht sehen will.

»Glück für sie. Dann sind sie in der Nähe, wenn Sie Kinder bekommen, und können sie umso besser nach Strich und Faden verwöhnen.«

Kinder. Mein Magen zieht sich zusammen. Klar. Ich blicke endlich zu ihm auf.

»Gratuliere zum Ruhestand«, sage ich mit professioneller, unfreundlicher Stimme. »Wollten Sie darüber mit mir sprechen?«

Grinsend faltet er die Hände im Schoß. Er wirkt, als würde er sich in meinem Büro verdammt wohlfühlen, als hätte er vor, noch eine ganze Weile zu bleiben.

»In gewisser Weise ja. Vielleicht habe ich Ihnen gegenüber schon öfter meine chirurgische Assistentin erwähnt?«

Ich zermartere mir vergeblich das Hirn. »Wenn dem so war, hab ich nicht zugehört.«

Er lacht. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, was, Dr. Russell? Auf alle Fälle ist Bailey großartig, eine der besten chirurgischen Assistentinnen, die ich je hatte, doch leider lasse ich sie in ein paar Wochen, wenn ich aufhöre, auf dem Trockenen sitzen.«

»Warum ist das mein Problem?«

Er schüttelt den Kopf und wedelt belehrend mit dem Finger. »Bailey ist nicht Ihr Problem, aber sie könnte Ihre Rettung sein. Kirt hat mit zweiwöchiger Frist gekündigt …«

»Kirt hätte sich nie gehalten. Er hat nicht den Mumm für die Chirurgie.«

»Bailey schon.«

Ich hebe eine Augenbraue und bedenke ihn mit meiner schönsten gelangweilten Miene. »Sagen Sie einfach, was Sie damit andeuten wollen, oder verschwinden Sie aus meinem Büro. Ich habe zu tun, bevor mein Assistenzarzt kommt.«

Er steht auf, beugt sich vor und drückt auf den Knopf meines Bürotelefons, um mich mit meiner Sekretärin zu verbinden. »Patricia, sind Sie schon am Schreibtisch?«

Eine Sekunde später blafft ihre Stimme durch die Leitung. »Was wollen Sie? Es ist verdammt früh. Ich habe noch nicht mal meinen Kaffee getrunken.«

»Ich verstehe das und entschuldige mich für die Unannehmlichkeit«, säuselt Dr. Lopez voller Ehrerbietung für die Frau, die in diesem Büro die Hosen anhat. »Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, schnell mal nachzusehen, wie viele chirurgische Assistenten sich schon auf Kirts Stelle beworben haben?«

Mir ist klar, worauf er hinauswill, noch bevor von Patricia ein langes Schweigen zu hören ist, gefolgt von einem Glucksen. »Bisher noch keiner, aber ich habe die Anzeige auch erst vor ein paar Tagen geschaltet.«

Dr. Lopez grinst selbstzufrieden. »Dacht ich’s mir. Danke, Patricia. Jetzt können Sie Ihre Tasse Kaffee genießen, und ich störe Sie nicht mehr.«

Er nimmt den Finger vom Telefonknopf. In meinem Büro macht sich Schweigen breit. Wir starren uns über den Schreibtisch hinweg an. Er hätte seinen Standpunkt nicht deutlicher machen können, wenn er wild mit den Händen über seinem Kopf gewedelt und auf eine Laufschrift gedeutet hätte, die ausbuchstabierte: Matt, du unausstehliches Arschloch, keiner will für dich arbeiten!

Ich unterbreche den Blickkontakt als Erster und räuspere mich. »Schon kapiert. Sie können mein Büro jetzt verlassen.«

Es gelingt ihm nicht, sein breites triumphierendes Lächeln zu verbergen, bevor er sich zur Tür wendet. Als ich schon glaube, dass er mich endlich in Ruhe lässt, wirft er mir über die Schulter noch einen letzten Ratschlag zu. »Ich weiß, dass Sie gern als Einzelkämpfer agieren, aber die besten Chirurgen sind Teamplayer. Sie wären dumm, sich Bailey durch die Lappen gehen zu lassen. Sie ist in den letzten vier Jahren meine rechte Hand gewesen, und wenn ihre Lebensumstände andere gewesen wären, hätte sie selbst eine verdammt gute Chirurgin abgegeben. Nehmen Sie meinen Rat an und stellen Sie sie ein, bevor es zu spät ist.«

Kapitel 5

Bailey

Es ist so weit: Dr. Lopez‘ letzte Woche in der Praxis. Er trägt neuerdings unter seinem weißen Kittel Hawaii-Hemden. Sein Schreibtisch ist mit Urlaubsprospekten übersät. Am Freitag kommt ein Umzugsunternehmen, um sein Büro auszuräumen. Er ist schon mit einem Fuß aus der Tür, und ich habe immer noch keine neue Stelle. Er war mit mir einer Meinung, dass es das Beste wäre, eine Headhunterin zu kontaktieren. Sie hat ein paar offene Stellen für mich aufgetan, von denen leider keine geeignet war. Die meisten sind einfach zu weit weg, manche sogar am anderen Ende des Landes, von den geringeren Gehältern ganz zu schweigen. Ich würde ein großes Wagnis eingehen, wenn ich Josie aus ihrer vertrauten Umgebung reißen und dazu noch weniger verdienen würde, alles in der vagen Hoffnung, dass der Chirurg, bei dem ich lande, auch nur halb so anständig ist wie Dr. Lopez.

So wie die Dinge stehen, wäre es fast sinnvoller, mir ein neues Fachgebiet zu suchen. Das sage ich am Montag zu Dr. Lopez, während wir in seinem Büro Mittagspause machen und die ausgedruckten E-Mails der Headhunterin auf seinem Schreibtisch vor uns liegen. Wir hatten an jeder einzelnen Stelle irgendetwas auszusetzen.

Die Vorstellung, dass ich den Wirbelsäulen sozusagen den Rücken kehre, scheint ihn zutiefst zu kränken.

»Sie würden sich zu Tode langweilen«, prophezeit er und nippt an seinem Kokoswasser, während auf seinem Computer Luau-Musik dudelt.

Ich zucke mit den Schultern und überlege, welches Fachgebiet mich noch interessieren würde. »Allgemeine Orthopädie wäre ganz okay.«

Er verengt die Augen, als hätte ich verkündet, kein Problem damit zu haben, es mit Prostitution zu versuchen. »Erinnern Sie mich noch mal, warum Sie nicht einfach die Stelle bei Dr. Russell annehmen wollen?«

»Nun, erstens hat er sie mir nicht angeboten.«

»Weil Sie sich nicht beworben haben.«

»Und außerdem kenne ich die Horrorgeschichten.«

»Darf ich Ihnen einen Einblick gewähren?«

Ich lege den Kopf schief und lächele wissend. »Das werden Sie sowieso tun. Warum fragen Sie überhaupt?«

Er stellt die Musik aus und beugt sich auf seinem Stuhl vor. Unser Gesprächston ändert sich unversehens. »Wir wissen alle, dass einfache, erfolgreiche Operationen lukrativ sind. Es gibt genügend routinemäßige Fusionen, um diese Klinik in den nächsten zehn Jahren über Wasser zu halten. Aber Dr. Russell sieht das anders. Sobald ein Eingriff zur Routine wird, heißt das für ihn, dass er sich nicht alles abverlangt. Er ist im OP nervös und angespannt, weil er danach strebt, es besser zu machen, besser zu sein. Was glauben Sie, warum es bei seinen OPs auf der Galerie sogar Stehplätze gibt? Warum, glauben Sie, reisen Menschen aus aller Welt an, um ihm beim Operieren zuzusehen? Der Grund ist nicht, weil er auf Nummer sicher geht, und auch nicht, weil er ein so sanftmütiger Chirurg ist. Ich verstehe vollkommen, warum Sie nicht für ihn arbeiten wollen. Das würde ich verdammt nochmal auch nicht. Aber denken Sie drüber nach, Kleine. Im schlimmsten Fall überdenken wir die Sache noch einmal und versuchen, Sie an einen Chirurgen unten auf der Eins zu vermitteln.«

Er weiß, was er tut. In der ersten Etage operieren die Handchirurgen. Ich würde tagaus, tagein bei ambulanten Karpaltunnel-Operationen assistieren und schon nach den ersten Tagen den Kopf gegen die Wand schlagen.

Während der Tag fortschreitet und die Frist, meine Entscheidung zu treffen, langsam abläuft, bemühe ich mich, seine weisen Worte größtenteils zu ignorieren, aber es gelingt mir nicht. Er strebt danach, es besser zu machen, besser zu sein. Okay. Das ist alles schön und gut, aber Kirt musste Säureblocker einwerfen wie Bonbons, während er für ihn arbeitete. Man munkelt, dass er wegen PTBS eine Therapie macht.

Trotzdem frage ich mich insgeheim, ob Kirt nicht vielleicht übertrieben hat. Mir dämmert, dass die Gerüchte über Dr. Russell meine Wahrnehmung von ihm vollkommen verzerrt haben. Ich meine, die meisten kann man einfach nicht glauben. Medizintechnikvertreter zum Weinen bringen? Chirurgische Assistenten mitten in einer OP entlassen? Einmal soll er so gemein zu einer Schwester gewesen sein, dass sie die Klinik verklagt hat, weil sie einem feindseligen Arbeitsumfeld ausgesetzt gewesen war, und den Fall gewonnen hat. Einer Großstadtlegende zufolge lebt sie jetzt auf einer Privatinsel in der Nähe von St Barts. Selbst ich kann erkennen, dass das höchst unwahrscheinlich ist.

Deshalb beschließe ich, auf eigene Faust nachzuforschen, und knapse mir Zeit ab, um Dr. Russell beim Operieren zuzusehen. Danach werde ich genau wissen, was mir bevorstehen könnte. Doch als ich am Montag nach Feierabend zu seiner OP komme, ist die Galerie bereits so voll, dass ich es nicht einmal durch die Tür schaffe. Am Tag darauf versuche ich, mich noch hineinzuquetschen, und ein besonders übereifriger Fellow stößt mir mit dem Ellbogen in die Rippen und legt mir rüde nahe, früher zu kommen, wenn ich einen guten Platz erwischen will. Ich widerstehe dem Bedürfnis, ihm mit Schmackes auf den Fuß zu treten.

Am Mittwoch habe ich endlich Glück. Dr. Lopez‘ OP wird gestrichen, weshalb ich die Gelegenheit nutze und so früh wie möglich auf Dr. Russells Galerie aufkreuze. Ich bin als Erste dort. Ich habe Knabberzeug dabei und setze mich in die erste Reihe. Außerdem habe ich Pfefferspray in meiner Handtasche, nur für den Fall, dass irgendein dämlicher Medizinstudent glaubt, diesen Platz mehr verdient zu haben als ich.

Innerhalb weniger Minuten füllt sich die Galerie. Die Leute um mich herum unterhalten sich über die geplante OP und über irgendeine Party, auf der sie am Abend zuvor alle waren, während ich nur still dasitze, mit niemandem spreche und auf den Beginn der Vorführung warte. Das Sichtfenster erstreckt sich von einer Seite des Saals bis zur anderen, fast wie eine Kinoleinwand. Wir sitzen eine Etage höher und sehen auf das Hilfspersonal hinunter, das jetzt im OP eintrudelt.

Genau nach Plan, auf die Minute, wird der Patient, ein kleiner Junge, hereingeschoben und auf den OP-Tisch gehoben. Als die Narkose wirkt, herrscht rege Betriebsamkeit. Schwestern und OP-Techniker packen die Instrumentensets aus. Sterile Schalen werden angeordnet und um den OP-Tisch herum platziert, und dann, sobald das Abdecktuch bis auf den mittleren Teil des Rückens des Patienten alles verdeckt, hat der Spitzenchirurg seinen Auftritt.

Die Pendeltür wird aufgestoßen, und Dr. Russell tritt ein, die Arme um neunzig Grad abgewinkelt, während Wasser auf den Boden tropft.

Um mich herum senkt sich Stille.

Mein Magen zieht sich zusammen, als würde ich Zeugin davon werden, wie ein olympischer Athlet die Arena betritt. Alle auf der Galerie und im Operationssaal sind voll auf ihn konzentriert. Seine Ausstrahlung ist legendär. Er ist legendär. Das liegt nicht unbedingt an seiner Größe, obwohl er hochgewachsen und breitschultrig ist, sondern eher an seiner Haltung, an dem trotzig angehobenen Kinn.

Unter seiner OP-Maske und der Schutzbrille sind sein markanter Kiefer, sein faszinierender Mund und seine stechend blauen Augen nicht zu sehen. Doch wenn ich ehrlich bin, wüsste ich sogar mit geschlossenen Augen, wie er aussieht.

Eine Schwester eilt mit einem sterilen Handtuch herbei, damit er sich die Hände abtrocknen kann. Dann hält sie ihm einen Kittel hin, damit er die Arme hindurchstecken und sie ihn ihm hinten am Rücken zubinden kann. Als Nächstes bekommt er sorgfältig Handschuhe angezogen. Im Grunde ist es lustig. Mit der ganzen OP-Ausrüstung sollte er wie ein formloser Kloß aussehen, doch in Wahrheit ist er eindrucksvoller, als ich ihn je erlebt habe.

Das liegt an seiner Haarpracht. Wie bei Dr. McDreamy liegt ein Großteil seiner Macht in seinen kurzen, leicht gelockten braunen Haaren. Ihr Reiz kann von der hellblauen OP-Haube nicht gemindert werden.