Love the One You Hate - R.S. Grey - E-Book

Love the One You Hate E-Book

R. S. Grey

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Beschreibung

Maren kann Nicholas Hunt nicht ausstehen – und das aus gutem Grund. Schon vor ihrer Ankunft auf dem prachtvollen Anwesen seiner Großmutter ist seine Meinung über sie von Vorurteilen geprägt, und ihr erster Eindruck von ihm könnte ebenfalls nicht schlechter sein. Sein arrogantes, kaltes Wesen lässt keinen Zweifel daran, dass er der Typ Mann ist, dem man besser aus dem Weg geht.

Doch trotz der weitläufigen Gärten von Rosethorn scheint es unmöglich, Abstand zu halten. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, und die Spannungen zwischen ihnen sind greifbar.

Man sagt, man solle seine Feinde nah bei sich halten, aber je näher Maren Nicholas kommt, desto mehr fragt sie sich: Ist es wirklich nur Abneigung oder könnte da mehr sein?

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Seitenzahl: 416

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Maren kann Nicholas Hunt nicht ausstehen – und das aus gutem Grund. Schon vor ihrer Ankunft auf dem prachtvollen Anwesen seiner Großmutter ist seine Meinung über sie von Vorurteilen geprägt, und ihr erster Eindruck von ihm könnte ebenfalls nicht schlechter sein. Sein arrogantes, kaltes Wesen lässt keinen Zweifel daran, dass er der Typ Mann ist, dem man besser aus dem Weg geht.

Doch trotz der weitläufigen Gärten von Rosethorn scheint es unmöglich, Abstand zu halten. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, und die Spannungen zwischen ihnen sind greifbar.

Man sagt, man solle seine Feinde nah bei sich halten, aber je näher Maren Nicholas kommt, desto mehr fragt sie sich: Ist es wirklich nur Abneigung oder könnte da mehr sein?

Über R.S. Grey

R. S. Grey ist eine US-amerikanische Schriftstellerin. Mit ihren erfolgreichen Romanen steht sie regelmäßig auf der USA Today Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren zwei Hunden in Texas. 

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R.S. Grey

Love the One You Hate

Aus dem Amerikanischen von Anne Morgenrau

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

Newsletter

PROLOG

Kapitel Eins — Nicholas

Kapitel Zwei — Maren

Kapitel Drei — Maren

Kapitel Vier — Maren

Kapitel Fünf — Nicholas

Kapitel Sechs — Maren

Kapitel Sieben — Maren

Kapitel Acht — Nicholas

Kapitel Neun — Maren

Kapitel Zehn — Nicholas

Kapitel Elf — Maren

Kapitel Zwölf — Maren

Kapitel Dreizehn — Nicholas

Kapitel Vierzehn — Maren

Kapitel Fünfzehn — Maren

Kapitel Sechzehn — Nicholas

Kapitel Siebzehn — Maren

Kapitel Achtzehn — Nicholas

Kapitel Neunzehn — Maren

Kapitel Zwanzig — Nicholas

Kapitel Einundzwanzig — Maren

Kapitel Zweiundzwanzig — Nicholas

Kapitel Dreiundzwanzig — Maren

Kapitel Vierundzwanzig — Maren

Kapitel Fünfundzwanzig — Maren

Kapitel Sechsundzwanzig — Nicholas

Kapitel Siebenundzwanzig — Maren

Kapitel Achtundzwanzig — Maren

EPILOG — Maren

Impressum

PROLOG

Er steht auf der anderen Seite des Ballsaals, ein Teufel in Schwarz. Der maßgeschneiderte Smoking schmiegt sich an seine hohe Gestalt. Eine Halbmaske verdeckt die obere Hälfte seines Gesichts, aber der Teil, den ich sehe, verrät mir, dass mich sein unverhüllter Anblick auf der Stelle erstarren lassen würde. Er hat ein kantiges Kinn, dichtes dunkles Haar und Lippen, die nicht lächeln.

Ein flüchtiger Blick von ihm, und schon richten sich die feinen Härchen in meinem Nacken auf. Ich kenne ihn nicht, aber er mustert mich, als wüsste er, wer ich bin. Oder vielmehr: als ob er mich hasst. Er legt den Kopf schief, während er mich weiterhin betrachtet, und mir flattert das Herz in der Brust wie ein Kolibri. Noch bevor er Anstalten macht, sich durch die Menge einen Weg zu mir zu bahnen, habe ich das dringende Bedürfnis, der Situation zu entkommen. Ein gejagtes Tier weiß, wann es an der Zeit ist, zu fliehen, und dasselbe gilt für mich. Ich schlüpfe zu der Doppeltür hinaus, die in den leeren Garten führt.

Aber der Teufel folgt mir.

Kapitel Eins

Nicholas

»Mehr Geld, als sich die meisten Leute vorstellen können. Eine Abstammungslinie, die bis zu den Gründungsvätern zurückreicht. Verbindungen, die dafür sorgen, dass man überall Zutritt erhält – wir alle fragen uns, wie Amerikas reichste Familien leben, und heute entführen wir Sie hinter vergoldete Türen und ermöglichen Ihnen exklusive Einblicke in das Privatleben der Cromwells.«

Dann zeigen die Produzenten einen Zusammenschnitt von Aufnahmen meiner Familie, die sie im Lauf der Jahre gesammelt haben: meine Mutter und mein Vater in der Oper in New York, Großmutters jährliche Ostereiersuche, ich beim Verlassen einer Kneipe, als ich noch aufs College ging. Mein Gesichtsausdruck verrät, wie sehr ich mich über die lauernden Fotografen ärgere.

Ich verzichte darauf, die Fernbedienung gegen den Bildschirm zu pfeffern. Stattdessen schalte ich den obszönen Bericht einfach aus. Ich kann ihn mir nicht mehr ansehen, und ich muss es auch nicht. Über die ganze Stadt verteilt sitzt ein Team von Anwälten vor dem Fernseher, macht sich eifrig Notizen und bereitet eine Pressemitteilung vor, die wir noch am Vormittag herausgeben werden.

Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelt, und ich greife hastig nach dem Hörer. Die Nummer erkenne ich sofort.

»Siehst du es dir an?«, fragt Rhett.

»Hab den Fernseher gerade ausgemacht.«

Ich lehne mich in meinem Chefsessel zurück und drehe ihn, um aus dem Fenster zu schauen. Meine Büroräume befinden sich in einem restaurierten Brownstone an der Upper East Side, drei bis obenhin vollgestopfte Stockwerke. Vor meiner Tür schuften Praktikanten und junge Angestellte. Sobald ich diese Katastrophe hier überblicke, werde ich mich zu ihnen gesellen.

»Eigentlich ist es nicht so schlimm«, versichert mir Rhett, während ich eine alte Frau beobachte, die, gefolgt von einem Hund von der Größe einer Teetasse, den Bürgersteig entlanggeht. »Oh, da bist du zu sehen, wie du aus der Polo Bar kommst und böse in die Kamera starrst. Hey! Das da bin ich. Verdammt, sie schneiden mich weg.«

Ich unterdrücke ein Lächeln. »Du bist gerade nicht besonders hilfreich.«

»Ach, komm schon. Ich versuche nur, dich ein bisschen aufzuheitern. So schlimm ist es doch wirklich nicht.«

Natürlich hat er recht. Im Großen und Ganzen gesehen ist es nicht besonders schlimm, aber in meiner Familie steht das Recht auf Privatsphäre nicht ohne Grund über allem anderen. Wir wollen unseren Namen aus der Presse heraushalten. Normalerweise sind unsere Gesichter weder auf den Titelbildern von Illustrierten noch als Topstory in Amerikas meistgesehener Morgenshow zu sehen. Wir sind diskret und leise und bleiben meistens unbemerkt, bis eine Story wie diese erscheint und uns unverhofft ins Rampenlicht stößt.

Die Auswirkungen dieses Berichts sind draußen auf der Straße bereits zu sehen. Die Frau mit dem Hund bleibt stehen, damit er pinkeln kann, und hinter ihr lungert gut sichtbar ein Fotograf herum in der Hoffnung, dass ich mich am Fenster sehen lasse.

»Warum wurde dieser Bericht nicht verhindert?«, fragt Rhett.

Wir beschäftigen ein Team von Leuten, dessen einzige Aufgabe darin besteht, uns aus den Schlagzeilen herauszuhalten. Gerichtsverfahren, Nötigung, Bestechung … Ich habe keinen Zweifel, dass sie zu jeder erforderlichen Taktik greifen, und dennoch gibt es Geschichten, die durchschlüpfen. Wie diese hier. Die Morgenshow und ihre Muttergesellschaft haben ihre Optionen mit Sicherheit gründlich abgewogen. Sie wussten, dass wir sie mit allen Mitteln verfolgen würden, wenn sie die Story bringen, und dennoch haben sie es getan, und zwar, weil es sich für sie lohnt.

Rhett weiß das, ich muss es ihm nicht erklären.

»Es gibt einfach keine Loyalität mehr«, sagt er und knurrt angewidert.

Aus dem Handy höre ich Rhetts Fernseher plärren, und ich weiß, dass sie zu dem Live-Interview mit Michael Lewis übergegangen sind, dem Mann, den ich gern erwürgen würde.

Der ehemalige Fahrer meiner Großmutter.

Er blieb nur ein Jahr bei uns, nachdem er uns in den höchsten Tönen von einer Agentur angepriesen worden war, die Familien wie unsere mit gut ausgebildetem Personal versorgt. Wir bezahlten ihn großzügig für seine Diskretion und hätten es auch weiterhin getan, hätte ich ihn nicht dabei erwischt, wie er meine Großmutter bestahl.

Ich kümmere mich selbst um ihre Konten, und der Betrug flog in dem Augenblick auf, in dem er Hand an ihr Scheckbuch legte. Drei Schecks, ausgestellt auf eine nicht eingetragene Kapitalgesellschaft, alle von meiner Großmutter unterschrieben, alle von ihm eingelöst.

Ich habe den talentierten Mr Ripley umgehend gefeuert.

Er beteuerte seine Unschuld. »Wie hätte ich denn diese Schecks ausschreiben sollen? Die Unterschrift Ihrer Großmutter steht darauf!«

Er hätte seinem Glücksstern danken sollen, dass ich nicht gerichtlich gegen ihn vorgegangen bin. Nicht aus Mitgefühl für ihn, sondern in der Hoffnung, dass der kleine Skandal rasch wieder abklingen würde. Ich wollte nicht, dass meine Großmutter zum Objekt von Untersuchungen und Dramen wird. Ich wollte nicht, dass ihre Position als Matriarchin unserer Familie durch den Vorwurf greisenhafter Senilität befleckt wird.

Ich hatte geglaubt, er würde es dabei bewenden lassen, aber Mr Lewis hat doch noch eine Methode gefunden, Gewinn aus meiner Großmutter zu schlagen. Letzte Woche kamen Gerüchte über einen Artikel auf, der angeblich die Geheimnisse und Skandale unserer Familie enthüllen soll. Was für Geheimnisse und Skandale will dieser Lewis denn kennen? Wer weiß.

Nachdem er meine Großmutter ein Jahr lang durch die Gegend gefahren hat, glaubt er vermutlich, mehr als genug Informationen für die Presse gesammelt zu haben. Hoffentlich hat es sich für ihn gelohnt.

Die Verschwiegenheitserklärung, die er vor Antritt seiner Stelle unterschrieben hat, ist nämlich absolut wasserdicht. Der Mann tut mir beinahe leid.

Ein Anruf unterbricht Rhetts weitschweifige Rede darüber, dass wir alle besser aufpassen müssen, welche Menschen wir in unser Leben lassen. Es sind meine Anwälte; sicherlich wollen sie, dass ich die Verlautbarung durchlese, die sie vorbereitet haben.

Ich habe heute echte Arbeit auf dem Zettel, Aufgaben, die wichtiger sind als dieser belanglose Mist. Und schon bin ich wieder stinksauer auf Michael Lewis. Sauer, weil er meine Großmutter ausgenutzt hat. Sauer, weil er sie bestohlen und danach nicht mal den Anstand besessen hat, sich davonzuschleichen und irgendwo zu verrotten. Und jetzt stiehlt mir der Typ noch mehr Zeit, die ich anderswo sinnvoller einsetzen könnte.

Ich würge Rhett ab, sage ihm, dass wir uns bald in Newport sehen, und wechsle dann auf Leitung zwei.

Ich lasse meinen Anwalt überhaupt nicht zu Wort kommen.

Ich mache ihm unmissverständlich klar, dass er Michael Lewis auslöschen soll.

Niemand tut meiner Familie weh und kommt einfach so damit durch.

Kapitel Zwei

Maren

»Warte! Ich hab noch was für dich!«

Ich drehe mich um und sehe einen Typen auf mich zukommen. Er trägt ein Haarnetz und eine schmutzige weiße Schürze; in der Hand hält er eine schwarze, zum Platzen volle Mülltüte, so schwer, dass er sie nur mit Mühe tragen kann.

»Ich habe keinen …«, setze ich an, habe den Satz aber noch nicht beendet, da hievt er die Tüte auch schon über den Rand des Containers, den ich vor mir her schiebe, und wirft sie auf die anderen Mülltüten.

»… Platz mehr.«

Er hebt beide Daumen. »Alles klar?«

Nein, es ist nicht alles klar, aber die Frage war sowieso rein rhetorisch, denn er macht bereits auf dem Absatz kehrt, um zurück in den Flur zu stürmen.

»Das ist nicht mein Job!«, protestiere ich. »Die Küche muss ihren Müll selbst rausbringen!«

Er antwortet nicht. Er biegt bereits um die Ecke und lässt mich mit einem Rollcontainer voller Müll zurück. Es stinkt. Mich wundert, dass keine grünen, sich windenden Linien wie im Comic daraus aufsteigen und sich in alle Richtungen verteilen. Ich unterdrücke den Würgereiz, während ich den Behälter weiterschiebe.

Die Müllcontainer stehen ganz hinten auf dem Parkplatz des Altenheims.

Ich stoße die Tür auf und werde von einem Strom warmer Luft begrüßt. An einer Seite sickert etwas Schlammiges aus dem Rollcontainer, und ich trete versehentlich hinein. Meine vernünftigen schwarzen Schuhe – die Art, die das Pflegepersonal hier trägt – geben nun bei jedem Schritt ein entzückendes Schmatzen von sich. Ich verfluche den Koch und atme tief ein, um den klobigen Container über das unebene Pflaster zu wuchten.

Vorn am Eingang des Holly Homes sind nichts als Rosenbüsche und ordentlich gestutzte Hecken zu sehen. Hinter dem Gebäude dagegen lehnen müde Köche rauchend an der Hauswand, und die flackernden Scheinwerfer reichen nicht bis zum Bordstein, sodass ich auch prompt dagegen fahre. Müll ergießt über die Seiten des Containers, und für einen Moment denke ich, das war’s. Das hier ist mein letzter Tag in diesem Job. Ich werde die Kündigung einreichen, mir die weiße Uniform vom Leib reißen und diesen Ort verlassen, nackt, aber hocherhobenen Hauptes.

Der glorreiche Gedanke stirbt einen schnellen Tod, sobald mir wieder einfällt, in welcher Situation ich mich befinde: wie lange es gedauert hat, auch nur diesen Job zu ergattern, und wie unwahrscheinlich es ist, dass ich einen besseren finde.

Das ist nun mal mein Los im Leben, rufe ich mir ins Gedächtnis, gehe auf den Müllcontainer zu und fange an, die Säcke hineinzuwuchten.

Als ich damit fertig bin, schiebe ich den Rollcontainer wieder an seinen Platz in der Hausmeisterei, gleich unter der Öffnung des hausinternen Müllschluckers.

Leroy ist da. Von seinem Schreibtisch aus bedenkt er mich mit einem zögerlichen Lächeln.

»Tut mir leid, Maren.«

Er senkt den Blick auf sein Fußgelenk, das er sich gestern ziemlich übel verstaucht hat, was seine Arbeit hier praktisch unmöglich macht. Er hat es unserer Chefin nicht erzählt – aus Angst, gekündigt zu werden –, darum habe ich mich erboten, wo immer möglich für ihn einzuspringen. Meine Schicht ist sowieso zu Ende. Ich wollte gerade ausstempeln.

Ich winke ihm zu und lächle.

»Hey, war nicht so schlimm«, sage ich augenzwinkernd. »Jetzt muss ich mir wenigstens nicht mehr überlegen, wo ich heute noch ein Workout einschieben kann.«

Was natürlich ein Witz ist. Workouts sind für privilegierte Menschen da, die ein paar Kalorien erübrigen können.

Leroy lacht nicht. Stattdessen hält er ein halbes, in braunes Wachspapier eingewickeltes Sandwich hoch.

»Das hier hat mir Benita aus der Küche mitgebracht. Ich habe dir die Hälfte übrig gelassen.«

Ich trete einen Schritt vor und nehme das Sandwich umstandslos entgegen. Ich sage nicht: »Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Es ist nötig. Ich bin am Verhungern.

Ich hebe es dankend an und gehe hinaus auf den Flur und zu meinem Spind. Die Freiheit ruft. Die nächste Stunde nimmt in meinem Kopf Gestalt an wie ein luxuriöser Traum. Ich werde rechtzeitig hier verschwinden und um 9:05 Uhr den Bus zurück zum Wohnheim erwischen. Unterwegs werde ich mit drei oder vier Bissen das Sandwich verschlingen. Sobald ich im Heim angekommen bin, gehe ich kurz duschen – um diese Zeit sollte man das Bad nicht allzu lange in Beschlag nehmen –, und danach werde ich gerade noch genug Energie haben, um mein Bett im Schlafsaal zu erreichen und eine Weile zu lesen, bevor mir die Augen zufallen. Bei dem Gedanken, wie gut sich das anfühlen wird, erschauere ich. Doch da kommt meine Chefin, Mrs Buchanan, um die Ecke. Sie ist eine große Frau mit einer tiefen Stimme, und ihre Kleidung sieht aus, als wäre sie so häufig gewaschen worden, dass sie jede Farbe verloren hat: gedämpftes Braun, Grau und mattes Schwarz.

»Oh, Maren, gut, dass ich Sie noch erwische. Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz mit in mein Büro zu kommen?«

Im Lauf der Jahre habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Leute einen anders betrachten, wenn man ein Pflegekind war, nämlich wie jemanden, der nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hat. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich häufig die Schule und den Wohnort gewechselt. Überall spürte ich wachsame Blicke auf mir. Ich frage mich, woher sie diese Schuhe hat. Hey, die Uhr, die Maren trägt, sieht genauso aus wie die, die ich letzte Woche verloren habe.

Als mich Mrs Buchanan in ihr Büro bestellt, erkenne ich darum an ihrer Unfähigkeit, mir in die Augen zu sehen, und an ihrem angespannten Lächeln, dass sie mir etwas zu sagen hat, das mir nicht gefallen wird.

»Ich möchte nur an alles gedacht haben«, so formuliert sie es. »Und selbstverständlich meine ich es nicht persönlich.« Nein, natürlich nicht. Reiner Zufall, dass ich die erste und einzige Person bin, die sie wegen eines Schmuckstücks befragt, das während meiner Schicht aus Mrs Dyers Zimmer gestohlen wurde.

»Ich will damit nicht andeuten, dass Sie den Ring genommen haben. Ich frage mich nur, ob Sie vielleicht etwas Verdächtiges gesehen haben. Es wäre mir lieber, die Behörden außen vor zu lassen, wenn wir die Sache also unter uns klären können … Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

Anschuldigungen dieser Art haben im Lauf der Jahre aus meinem Herz ein welkes, schlaffes Etwas gemacht. Mich wundert, dass es überhaupt noch schlägt.

»Nein, Mrs Buchanan«, sage ich mit monotoner Stimme. Ausdruckslos. Tot. »Ich habe nichts gesehen, und ich habe nichts genommen.«

Sie schürzt die Lippen, verärgert wegen meiner Weigerung, ihr die Version der Wahrheit zu liefern, nach der sie verzweifelt sucht. Es ist meine Schuld, dass all dies passiert, obwohl ich mit dem Diebstahl überhaupt nichts zu tun habe. So fühle ich mich, als sie das Gespräch beendet und mich aus dem Büro schickt. Aber damit ist es natürlich noch nicht vorbei.

Als Nächstes werde ich mit der Polizei reden müssen, um irgendwie zu beweisen, dass ich ein anständiger Mensch bin wie alle anderen auch. Es ist erstaunlich, wie wenige Menschen mich so sehen. Vorurteile sind eine weit verbreitete Krankheit.

Ich habe große Angst davor, dass man mich immer mit einem schmutzigen Pinsel zeichnen wird, dass ich – egal, wie ich mich kleide, wie ich spreche oder wie viel Parfüm ich auflege, um den muffigen Wohnheimgeruch zu überdecken – niemals werde leugnen können, dass ich Maren Mitchell bin … weniger wert als andere.

***

Als ich am nächsten Tag zu einer weiteren Schicht im Holly Home eintreffe, ist mir klar, dass Mrs Buchanan allen von meinem mutmaßlichen Diebstahl erzählt hat. Kollegen, die mich bisher kaum beachtet haben, machen nun einen großen Bogen um mich aus Angst, durch meine Gesellschaft befleckt zu werden. Zum Glück haben die Bewohner von den Anschuldigungen nichts mitbekommen.

Wie üblich freuen sich die meisten, mich zu sehen. Als Pflegerin sind meine Pflichten so vage umrissen, dass jede Abteilung mich als zusätzliche Hilfskraft einsetzen kann. Das bedeutet, dass ich häufig für andere einspringe, vor allem, wenn es um Bewohner geht, die ich tatsächlich mag.

Nehmen wir zum Beispiel Mrs Archer. Sie wohnt am Ende des Flurs im ersten Stock, weshalb sie häufig die Letzte ist, die Frühstück, frische Bettwäsche und Begleitung an den Tagen bekommt, an denen sie Lust auf einen Spaziergang hat. Ich hasse so etwas. Darum erkläre ich mich bereit, ihr das Frühstück zu bringen, und da ich weiß, wo die Hauswirtschaft die Laken und so weiter aufbewahrt, wechsle ich ihr auch die Bettwäsche, wenn ich es für nötig halte.

Mrs Archer ist ein stiller Mensch. Ich glaube, in den Monaten, die ich hier bin, haben wir kaum mehr als eine Handvoll Worte miteinander gewechselt, aber ich weiß trotzdem, dass sie mich mag. Wenn ich hereinkomme, lächelt sie, und wenn ich mich von einer Geschichte mitreißen lasse, fordert sie mich mit einem Nicken zum Weiterreden auf. Während ich sie über den Flur zum Freizeitraum führe, erzähle ich ihr von dem Kleinkind, neben dem ich im Bus gesessen habe.

An der Tür deutet sie mit dem Kopf auf die hintere Ecke und auf den Stuhl, der neben einem abgenutzten Flügel steht. Es ist ihr Lieblingsplatz, und ich habe keine Einwände gegen das, worum sie mich wortlos bittet. Sie möchte, dass ich für sie spiele.

»Im Augenblick geht es nicht, ich muss noch etwas erledigen, aber in einer halben Stunde habe ich Pause. Soll ich dann noch einmal vorbeikommen?«

Mrs Archer lächelt und tätschelt mir die Hand. »Das würde mich sehr freuen.«

Ich spähe auf die Wanduhr, um sicherzugehen, dass die alte Dame keine Minute länger als nötig auf mich warten muss.

Als ich zurückkomme, bin ich nicht überrascht, sie exakt an der Stelle vorzufinden, an der ich sie zurückgelassen hatte. Allerdings ist sie nicht allein. Ihre Freundin sitzt neben ihr.

Mrs Archer bekommt mehr Besuch als andere Bewohner. Ihre Enkelkinder und Freunde kommen häufig ins Holly Home, aber diese spezielle Besucherin ist mir die liebste. Im Stillen nenne ich sie die Königin, weil sie mich so sehr an die alten Monarchinnen erinnert, über die ich in Romanen lese. Stattlich und schön, aber auch so scharfkantig wie ein fein geschliffener Edelstein. Ihr kurzer weißer Pixie Cut rahmt zwei gletscherblaue Augen ein, die mich jedes Mal gefangen nehmen, wenn sie eine Frage an mich richtet.

Sie wirkt beinahe kalt, wie sie da in einer schlichten, perfekt gestärkten Hemdbluse sitzt, deren Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt sind. Dazu trägt sie eine marineblaue Hose und cremefarbene, flache Schuhe. Der aufgestellte Kragen umgibt eine schwere Perlenkette, und ihre Handgelenke sind mit dünnen Armreifen bedeckt. Ihr Smaragd-Ehering funkelt im Licht.

Mit ihrer perfekten Haltung und dem aufmerksamen Blick sieht sie aus, als hielte sie Hof. Auch deshalb nenne ich sie insgeheim die Königin, obwohl ich weiß, dass sie Cornelia heißt. Vor einigen Wochen hat sie sich mir vorgestellt. Damals habe ich ihr verlegen die Hand geschüttelt, die sie mir entgegenstreckte, als erwarte sie einen Handkuss.

»Ach, da ist das Kind ja«, sagt sie, als sie mich hereinkommen sieht.

Ich bin dreiundzwanzig und würde mich nicht mehr als Kind bezeichnen, aber ich traue mich nicht, sie zu korrigieren. Sie wirkt derart einschüchternd auf mich, dass ich beinahe verstumme, etwas, das mir nur noch selten passiert.

»Kommen Sie, spielen Sie für uns, ja? Annette hat gesagt, Sie können sich ein paar Minuten frei nehmen, und ich habe einen langen Weg auf mich genommen, um meine Freundin zu besuchen«, sagt sie und tätschelt Mrs Archer die Hand. »Aber ich gebe zu, es gibt einen weiteren Grund, einen selbstsüchtigen, warum ich das Holly Home heute besuche. Ich will Sie nämlich spielen hören.«

Ich erröte und nicke. »Selbstverständlich. Ja, ich kann gern ein paar Minuten für Sie spielen.«

Es gibt hier keine Notenblätter, auf die ich zurückgreifen könnte. Als ich gerade in dem Heim angefangen hatte und mich nach dem Flügel erkundigte, sagte Mrs Buchanan, dass sich niemand je die Mühe machte, darauf zu spielen. Sie wollte ihn eigentlich loswerden, um Platz für mehr Sitzgelegenheiten zu schaffen, aber er war zu schwer und der Transport zu teuer, deshalb steht es immer noch hier, leicht verstimmt, ein bisschen angestaubt und abgesehen von meinen Händen komplett unberührt. Mrs Archer war die Erste, die mich zum Spielen ermutigt hat. Wir machten einen kurzen Spaziergang auf dem Flur, und sie stützte sich auf meinen Arm und fragte mich nach meinem Leben aus. Ich erwähnte, dass ich Klavier spielen kann – oder es zumindest mal gekonnt hatte –, und sie bestand darauf, umzudrehen und zurück zum Freizeitraum zu gehen. An jenem Tag nahm ich auf der wackligen Bank Platz, deren eines Bein kürzer als die anderen ist, sodass ich ständig vor und zurück schaukelte, und ich spielte zum ersten Mal seit Jahren wieder Klavier.

Keine Notenblätter, das heißt, ich muss alles aus dem Gedächtnis spielen. Obwohl ich in den letzten Monaten ein bisschen geübt habe, kann ich nur aus einem kleinen Liederfundus schöpfen, alte Melodien, die mir in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Ich entscheide mich für ein Stück, das mein Dad mir als Kind immer vorgespielt hat, etwas, das ich nie für eine nahezu Fremde spielen würde, wäre ich nicht davon überzeugt, dass sie es genauso intensiv empfindet wie ich.

Rêverie.

Das Stück findet bei meinem Publikum solch großen Anklang, dass Cornelia seufzt.

»Ah, Debussy. Was für einen wunderbaren Geschmack Sie haben.«

Lächelnd spiele ich weiter, konzentriere mich so sehr auf die folgenden Noten, dass Mrs Buchanan an den Flügel herantreten und mir mit der Hand vor dem Gesicht herumwedeln muss, ehe ich bemerke, dass sie seit einer Weile meine Aufmerksamkeit zu erregen versucht.

Sofort höre ich auf zu spielen.

»Ich habe in der Tür gestanden und nach Ihnen gerufen«, schimpft sie.

»Sie hat für uns gespielt«, sagt Cornelia, um mich zu verteidigen.

Leider kann ihre Erklärung Mrs Buchanan nicht besänftigen. Sie hat schon mehrfach klar zum Ausdruck gebracht, dass mich das Altenheim nicht dafür bezahlt, auf dem Hintern zu sitzen, selbst wenn ich auf Bitten einer Bewohnerin Klavier spiele.

Ich mache den Mund auf, um mich zu rechtfertigen. Ich habe Pause; ich habe nicht gefaulenzt. Ich hätte mich wie alle anderen auch in die Umkleide setzen können, aber mir ist klar, dass es sinnlos ist, mich zu wehren. Mrs Buchanan ist nicht hier, um wegen des Klavierspielens mit mir zu schimpfen.

Sie nickt in Richtung Tür.

»Wir müssen uns noch einmal unterhalten.«

Ich bin schon häufiger von der Polizei befragt worden, und mein zweites Gespräch mit Mrs Buchanan fühlt sich fast wie ein Verhör an.

Ihre Worte könnten direkt aus einem schlechten Krimi stammen. Gibt es noch etwas, das ich ihr gern sagen möchte? Habe ich ihr die ganze Wahrheit gesagt? Sie will mir nur helfen. Sie steht auf meiner Seite.

Als ich auf meiner Unschuld beharre, anstatt klein beizugeben, seufzt sie und präsentiert mir neue »Beweise«.

Offenbar haben sich nach gestern Abend zwei Augenzeugen gemeldet und behauptet, Mrs Dyers Ring bei mir gesehen zu haben.

»Ich habe ihren Ring nicht gestohlen«, sage ich zum gefühlt einhundertsten Mal.

Und wenn ich es getan hätte, warum hätte ich ihn dann für alle sichtbar mit mir herumtragen sollen?

»Dann bezichtigen Sie diese beiden Personen also der Lüge?« Sie betont das Wort, als wäre eine Lüge ein schlimmeres Vergehen als der Diebstahl selbst.

Ich zucke mit den Schultern. Ich weiß nicht, aus welchem Grund sie mich beschuldigen. Vielleicht glauben sie, mich mit dem Ring gesehen zu haben. Vielleicht decken sie eine andere Person. Ich sollte Mrs Buchanan klipp und klar sagen, dass die beiden lügen, aber ich will es mir mit niemandem verscherzen. So dumm bin ich nicht.

Als Reaktion auf mein Schweigen ordnet sie die Papiere auf ihrem Schreibtisch neu an, dann schiebt sie sich die Brille auf der dünnen Nase hoch. Als sie mich wieder anschaut, sind ihre Augen schmal.

»Ich wünschte, ich müsste das hier nicht tun, Maren. Ich weiß, wie wichtig dieser Job für Sie ist, aber ich habe mich weit aus dem Fenster gelehnt, indem ich Sie eingestellt habe …«

Den Rest ihres Geschwafels blende ich aus, denn ich habe es schon viel zu oft gehört. Mrs Buchanan genießt es, die Sache so darzustellen, als wäre sie die Heldin und ich ihre Leibeigene, dabei weiß ich genau, dass das Altenheim Steuervorteile genießt, weil es mich beschäftigt.

Doch ihre nächsten Worte erregen meine Aufmerksamkeit. Tatsächlich treffen sie mich bis ins Mark.

»Ich fürchte, ich muss mich mit Ihrem Wohnheim in Verbindung setzen. In ein paar Tagen hätten sie mich wegen Ihrer monatlichen Überprüfung sowieso angerufen.« Sie lässt die Drohung fallen wie eine Granate und hofft, dass sie ihren Zweck erfüllt.

Ich bin kurz davor, ihr zu geben, was sie will: eine emotionale Reaktion. Meine Unterlippe zittert, mein Magen krampft sich zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mir bei Leuten wie ihr immer noch Hoffnungen mache, aber ich habe mich geirrt. Nach all dieser Zeit bin ich immer noch verletzbar.

Sie weiß, dass sie mich in die Enge getrieben hat. Das Wohnheim ist eine Unterkunft für vorbestrafte junge Erwachsene, die zu alt für das Fürsorgesystem sind, die aber eine sichere Anlaufstelle brauchen. Im Gegenzug für die niedrige Miete müssen wir uns an gewisse Regeln halten. Eine davon besagt, dass wir keine Gesetze brechen dürfen.

»Aber wenn Sie gestehen …« Sie lässt den Vorschlag eine Weile wirken, ehe sie fortfährt: »Nun, ich wäre bereit, eine Vereinbarung mit Ihnen zu treffen.«

Sie bietet mir also einen Deal an: ein Verbrechen gestehen, das ich nicht begangen habe, im Austausch gegen eine milde Strafe. Das ist Bullshit, doch anstatt es ihr ins Gesicht zu sagen, stehe ich abrupt auf und verlasse ihr Büro.

Ich tue es keine Sekunde zu früh. Tränen sind etwas sehr Persönliches. Mein Schmerz gehört mir, und ich bin froh, dass ich es auf den Flur hinausschaffe, bevor ich zu weinen anfange. Ein paar Sekunden gebe ich mich einer seelenzerfetzenden Wut hin, dann atme ich tief durch, wische mir die Wangen ab und straffe die Schultern, denn ich bin nicht bereit, dem Selbstmitleid nachzugeben, das an meine Tür klopft. Ich werde herausfinden, wer mir diese Sache anzuhängen versucht. Ich werde mir ein Alibi besorgen. Ich werde Mrs Archer bitten, sich für meinen guten Charakter zu verbürgen. Ich werde mich auf die Jagd nach Mrs Dyers Ring begeben und ihn selbst zu ihr zurückbringen! Alles, nur kein Geständnis für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe. So was mache ich nicht, und die Folgen sind mir verdammt noch mal egal.

»Oh, gut, ich hatte gehofft, Ihnen zu begegnen, bevor ich gehe.«

Ich erschrecke, als mich vom Flur her jemand anspricht. Beschämt stelle ich fest, dass Cornelia, Mrs Archers Besucherin, Zeugin meines peinlichen Zusammenbruchs geworden ist.

O Gott. Ich wische mir hektisch über das Gesicht, als wollte ich die Tränen an ihren Ursprungsort zurückdrängen.

Falls sie meinen Zustand bemerkt hat, zeigt sie es nicht. Mit einer braunen Ledertasche am Arm, die vor und zurück schwingt, kommt sie auf mich zu geschlendert. Ich erkenne die Tasche. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber ich habe sie auf den Titelseiten von Illustrierten gesehen und weiß, dass sie mehr Geld kostet, als ich in diesem und dem nächsten Leben jemals besitzen werde.

Ich starre noch immer auf die Tasche, deshalb dauert es eine Sekunde, bis ich bemerke, dass Cornelia mir etwas hinhält.

»Das wollte ich Ihnen geben, bevor ich gehe.«

Ich nehme die Karte entgegen und halte sie wie eine empfindliche Fotografie, die ich nicht mit meinen Fingerabdrücken beschmutzen will. Sie ist dick und trotzdem irgendwie filigran. Schlicht und mit Goldrand. Oben ist der Name Cornelia Cromwell aufgedruckt. Darunter steht eine Telefonnummer.

»W…was ist das?«

Sie lacht. »Eine Visitenkarte, Liebes.«

Mit ungläubig gerunzelter Stirn blicke ich zu ihr auf. »Und warum geben Sie mir Ihre Karte?«

Da sehe ich sie zum ersten Mal lächeln und fühle mich sofort schlecht, weil ich vorhin noch gedacht habe, sie sei gefühlskalt. Sie ist nicht kalt, jetzt sehe ich es.

»Weil ich Ihnen ein Angebot machen möchte.«

Kapitel Drei

Maren

Ich drehe die Karte hin und her wie eins von Willy Wonkas goldenen Tickets. Ich betrachte sie nach meinem Dienst im Bus, wo ich mich an das Fenster drücke, weil mein Sitznachbar so viel auf den Rippen hat, dass er beide Plätze für sich beansprucht. Ich betrachte sie, als ich im Wohnheim in der Schlange vor dem Badezimmer stehe, und auch danach, als ich mir in der Gemeinschaftsküche eine Dose Suppe warm mache. Versehentlich fällt ein Wassertropfen aus meinen nassen Haaren auf den Rand der Karte und auf Cornelias Namen, und ich greife rasch nach einem Papiertuch und wische ihn weg.

Erst nachdem ich einen weiteren Dienst im Holly Home durchlitten habe, bringe ich den Mut auf, Cornelia anzurufen. Die Blicke in der Umkleide und die geflüsterten Verleumdungen im Pausenraum verraten mir, dass mich tatsächlich das gesamte Personal einschließlich Mrs Buchanan für die Ringdiebin hält. Sie alle sind so felsenfest von meiner Schuld überzeugt, dass ich mich eine hirnverbrannte Sekunde lang frage, ob ich ihn tatsächlich gestohlen habe. Wissen diese Leute etwas, das ich nicht weiß?

Zum Glück komme ich sofort wieder zur Vernunft. In der Pause gehe ich zu Mrs Archers Zimmer in der Hoffnung, dass ich ihr Telefon benutzen darf. Als ich dort ankomme, ist sie nicht da. Auf dem Stundenplan an ihrer Tür steht, dass sie gerade bei der Physiotherapie ist. Ich gehe trotzdem hinein. Es ist meine letzte Pause bei diesem Dienst, und es gibt kein anderes Telefon, das ich benutzen könnte. Ich wünschte, ich hätte ein Handy, aber ich musste den Vertrag vor ein paar Monaten kündigen, um mir von dem Geld meine Dienstkleidung und Schuhe zu kaufen.

Ich betrete ständig irgendwelche Zimmer, deren Bewohner nicht anwesend sind, weil ich beim Putzen und Bettenbeziehen helfe, aber das hier ist etwas anderes. An der Tür zögere ich kurz, dann sage ich mir, dass ich keine andere Wahl habe. Wessen Telefon soll ich denn benutzen, wenn nicht das von Mrs Archer? Etwa das von Mrs Buchanan? Ha. Ich würde ja Leroy fragen – ich glaube, er hält mich nach wie vor für unschuldig –, aber er ist heute nicht da.

Ich drehe den Türknauf und husche ins Zimmer; mein Herz rast, als täte ich etwas Unrechtes. Und vielleicht ist es auch unrecht, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Ich hole Cornelias Karte aus der Hosentasche und gehe rasch zu dem Telefon, das auf dem Nachttisch steht. Ich wähle die Nummer und warte, während das Freizeichen ertönt. Mrs Archer hat die Lautstärke voll aufgedreht. Als der Anruf durchgeht und sich jemand meldet, zucke ich zusammen und halte mir den Hörer vom Ohr weg, denn ich bin jetzt zweifellos taub.

»Cromwell-Residenz. Sie sprechen mit Mr Collins.«

Nachdem er sich ein zweites Mal vorgestellt hat, bringe ich mühsam heraus: »Oh … äh … Ist Mrs Cornelia da? Äh … ich meine … Mrs Cromwell?«

Er räuspert sich, als hätte ich ihn jetzt schon verärgert, dann fährt er in geschliffenem Ton fort: »Und wen darf ich melden?«

»Ach ja … Äh … Sie können ihr sagen, dass Maren Mitchell sie sprechen möchte. Aus dem Altenheim.«

»Maren Mitchell aus dem Altenheim«, wiederholt er, als könnte er es nicht glauben, und ich erröte vom Kopf bis zu den Zehen. »Einen Moment bitte. Ich werde sehen, ob Mrs Cromwell Ihren Anruf entgegennehmen kann.«

Ich hänge in der Warteschleife und starre die Tür an, als wollte ich sie beschwören, geschlossen zu bleiben. Wenn Mrs Archers Physiotherapie früher endet oder jemand von der Hauswirtschaft ihr Zimmer betreten muss, werden sie mich beim Telefonieren erwischen. Wie soll ich dieses Szene erklären? Ich habe nur den Hörer abgeputzt!

»Maren Mitchell.«

Erleichtert höre ich wenige Sekunden später Cornelias Stimme.

»Hi!«, begrüße ich sie, bevor mir klar wird, dass ich keine Ahnung habe, was ich als Nächstes sagen soll. Wie geht es Ihnen?, wäre vielleicht die passende Frage, aber ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, und deshalb halte ich mich nicht mit Nettigkeiten auf, sondern komme sofort zur Sache. »Ich rufe an, weil ich gern wissen möchte, was für ein Angebot Sie mir machen wollen.«

»Sie sind sehr direkt … Gut, das gefällt mir. Ja, ein Angebot, so habe ich mich gestern ausgedrückt. Klingt irgendwie verdächtig, das Wort.«

Ich wickle mir die Telefonschnur um den Finger und trete von einem Fuß auf den anderen, kann es kaum erwarten, an den Punkt des Gesprächs zu kommen, an dem sie mir sagt, dass ich mich besonders um Mrs Archer kümmern soll oder so. Vielleicht ist sie sogar bereit, mir ein bisschen Geld dafür zu geben.

»Ich würde Sie gern einstellen, Maren, und Sie mit nach Rosethorn nehmen.«

Worte.

Sie bedeuten nichts, denn ich habe mich mit ziemlicher Sicherheit verhört.

»Ich habe bereits einen Job«, ist das Erste, was ich sage, rasch gefolgt von: »Und was ist Rosethorn?«

Ich höre die Belustigung in ihrer Stimme, als sie antwortet: »Dort wohne ich.«

»Und was soll ich da tun?«

Sie kichert. »Das ist am Telefon schwer zu erklären. Vielleicht sollten Sie mich besser besuchen, und wir besprechen alles bei einer Tasse Tee. Sie mögen doch Tee, oder?«

Ich habe noch nie im Leben Tee getrunken. Ich ziehe die Nase kraus, bin kurz davor, dem Impuls nachzugeben und zu lügen. Tee? Ich liebe Tee! Egal, welche Sorte. Schwarzen … und … äh … grünen?

»Na ja … ich weiß es nicht«, sage ich stattdessen, denn ich habe beschlossen, bei der traurigen Wahrheit zu bleiben.

Cornelia schnalzt mit der Zunge. »Ist das zu glauben? Ich schicke Ihnen morgen einen Wagen. Sagen wir, gegen Mittag? Wie wär’s? Ich muss jetzt los. Ich gehe zum Lunch in den Club, aber ich verbinde Sie noch einmal mit Collins. Sie können ihm sagen, wohin ich meinen Fahrer schicken muss.«

Und bevor ich bestätigen kann, dass ich um die Uhrzeit verfügbar und bereit bin, ihr seltsames Angebot anzunehmen, ist sie verschwunden und wird durch den geschniegelten Mr Collins ersetzt, der mich nach meiner Adresse fragt.

Ich nenne sie ihm, denn er strahlt eine Autorität aus, die verrät, dass er sich nur ungern infrage stellen lässt. Dann versichert er mir, dass der Fahrer pünktlich um zwölf Uhr da sein wird, wünscht mir kurz einen schönen Tag und legt auf.

Ich starre auf den Hörer und weiß nicht, wie mir geschieht.

Ein Job? In Rosethorn?

***

Ich habe mich daran gewöhnt, dass unglückliche Ereignisse mein Leben entgleisen lassen. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, so unumstößlich wie die Schwerkraft. Glückliche Fügungen betrachte ich mit größter Skepsis. Es gibt immer einen Haken. Immer. Ein Kollege bietet mir an, mich von der Arbeit nach Hause zu fahren? Ja, weil er mich für leichte Beute hält. Ein Mädchen setzt sich in der Schule neben mich und bietet mir ihre Freundschaft an? Sie tut es, weil sie beim Test von mir abschreiben will. Aus Schaden wird man klug. Mancher mag das für abgestumpft halten. Ich halte es für clever.

Cornelias Angebot ist zu schön, um wahr zu sein, das weiß ich einfach. Warum sollte sie mich einstellen wollen? Welche Fähigkeiten könnte ich besitzen, die sie braucht? Sucht sie etwa jemanden, der gefüllte Teigtaschen in der Mikrowelle aufwärmen kann? Jemanden, der zehn Folgen von Friends nacheinander schauen kann? Jemanden, der den ganzen Tag lang lesen kann? Wahrscheinlich nicht.

Ich habe die Highschool abgeschlossen und ein Semester an einem Community College absolviert. Mein Lebenslauf besteht aus einer Reihe mieser Jobs mit Titeln wie »Restaurantfachkraft« oder »Einzelhandelskauffrau«. Tatsächlich habe ich durchweichte Panini zubereitet und die T-Shirts zusammengefaltet, die Teenager in den Umkleidekabinen bei Old Navy liegen lassen haben.

Sie will mich bestimmt nicht wegen meiner außergewöhnlichen Fähigkeiten einstellen und auch nicht wegen meiner strahlenden Persönlichkeit, denn ich bin nicht mal besonders umgänglich oder mitteilsam. Das hat man mir jedenfalls früher häufig gesagt.

»Mach dich mal locker, Maren!«

»Wir sind hier auf einer Party. Amüsier dich!«

Meine Freundin Ariana hat mich immer Schlaftablette genannt, und der Spitzname tut heute noch weh.

Meine wenigen Begegnungen mit Cornelia reichen nicht, um ihre Beweggründe zu erkennen. Ich habe sie nur ein paarmal im Holly Home gesehen. Wir haben uns nie lange unterhalten und nichts Bedeutsames miteinander erlebt. Ich weiß, dass sie es genießt, wenn ich Klavier spiele, aber das habe ich nur gelegentlich getan und wahrscheinlich nicht mal besonders gut. Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass an diesem Ungetüm von Flügel, der dort steht, selbst Beethoven wie ein Anfänger klingen würde.

Als ich am nächsten Tag auf dem Gehweg vor dem Wohnheim stehe, schwanke ich deshalb zwischen der Hoffnung, in meinem Leben einen neuen, aufregenden Weg einschlagen zu können, und Ärger auf mich selbst, weil ich glaube, demnächst vielleicht etwas anderes zu erleben als das, was ich in den zehn Jahren seit dem Autounfall meiner Eltern immer wieder erlebt habe.

Mach dir keine falschen Hoffnungen, sage ich zu mir selbst, als ein schwarzer Range Rover um die Ecke biegt und vor mir anhält.

Der Fahrer, ein älterer Gentleman, stellt die Automatik auf Parken und öffnet die Tür, dann kommt er um die Motorhaube herum auf mich zu.

»Maren Mitchell?«, fragt er in geschäftsmäßigem Ton.

Ich nicke, während ich seinen schwarzen Anzug, die Krawatte und die weißen Handschuhe auf mich wirken lasse. Unter seiner Chauffeursmütze lugt sehr kurzes grau meliertes Haar hervor. Er ist schicker gekleidet, als ich es in meinem ganzen Leben jemals war, dabei sitzt er nur hinter dem Lenkrad eines Wagens. Ich bin verblüfft.

Er missversteht meine Reaktion.

»Stimmt etwas nicht?«

Ich schüttle eilig den Kopf und sage: »Nein, alles in Ordnung.«

Er schaut auf den Bordstein zu meinen Füßen, und als er dort nichts erblickt, runzelt er die Stirn. »Haben Sie etwas dabei, das ich für Sie in den Kofferraum legen soll?«

Ich senke den Blick auf meine Crossbody-Bag aus rotem Kunstleder, die ich in einem Secondhandladen erstanden habe und die schon ziemlich verschlissen ist. Darin befinden sich mein Portemonnaie, ein Apfel und ein Buch – nur das Nötigste.

»Nee, ich hab alles dabei.«

Er nickt knapp und greift dann hinter sich, um die Beifahrertür für mich zu öffnen. Ich lasse mich auf den Sitz gleiten, und als er die Tür hinter mir schließt, nehme ich den Duft des Leders wahr.

In den Getränkehaltern stehen eine ungeöffnete Wasserflasche und eine kleine Tüte mit einem Sortiment an Snacks: englische Kekse, die ich nicht kenne, ein Müsliriegel, der aussieht, als schmeckte er nach Baumrinde, und ein paar Sahnebonbons. Ich rühre nichts davon an. Tatsächlich rühre ich überhaupt nichts an, außer dass ich meinen Sicherheitsgurt schließe. Danach lege ich die Hände auf die Oberschenkel und lasse sie dort liegen.

Als der Fahrer wieder Platz genommen hat, richtet er den Rückspiegel, dann schaut er mich an und sagt: »Ich heiße Frank. Ich bin einer der Fahrer der Familie Cromwell. Wenn Sie während der Fahrt etwas benötigen, sagen Sie gern Bescheid.«

»Okay. Danke.«

»Wir sollten in etwa einer Stunde da sein.«

»In einer Stunde?!«

»Ja. Manchmal schaffe ich es schneller nach Newport, aber nicht bei diesem Verkehr.«

Newport.

Jetzt kommt mir in den Sinn, dass ich besser gefragt hätte, wo Rosethorn eigentlich liegt, andererseits weiß ich nicht mal, was Rosethorn überhaupt ist. Etwa auch ein Altenheim? Lieber Gott, bitte nicht.

Ich war einfach davon ausgegangen, dass der Fahrer mich zu einer Adresse in Providence bringen würde, aber da ich nun weiß, dass ich mich geirrt habe, ist es wohl zu spät, um auf die Bremse zu treten – im wahrsten Sinn des Wortes. Frank ist bereits vom Bordstein gefahren, und ich würde wie eine Verrückte aussehen, wenn ich ihn jetzt auffordern würde, anzuhalten, damit ich aussteigen kann. Also bleibe ich stattdessen einfach sitzen. Die Fahrt verläuft schweigend. Im Radio ist ein Klassiksender eingestellt, und ich genieße es ohne Ende. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ungestört diese Art von Musik gehört habe, während vor dem Fenster die frühsommerliche Landschaft von Rhode Island vorbeirast.

Je weiter wir uns von Providence entfernen, desto stärker ist die Landschaft von Wasser geprägt. Kleine Seen verwandeln sich in weite Buchten, die sich bis zum Horizont erstrecken. Als wir Aquidneck Island erreichen, fahren wir weiter nach Süden, bis uns der Memorial Boulevard ans Ende der Welt führt. Ich blicke auf einen Sandstrand hinaus, auf dem ein paar mutige Seelen liegen, während wir einen steilen Hügel hinauffahren, der uns schließlich auf eine Straße führt, die mit Geschäften wie aus einem Freizeitpark gesäumt ist. Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt, eine lange Reihe zweistöckiger Stadthäuser im Tudorstil mit geschwungenen grünen Markisen davor, die auf Cafés, Kunstgalerien, Tennisläden und Boutiquen hinweisen. Wir fahren daran vorbei und dann weiter in ein Stadtviertel hinein … jedenfalls fällt mir nur dieser Ausdruck ein, um den Ort zu beschreiben. Jedes Haus, an dem wir vorbeikommen, ist ein bisschen größer als das vorherige. Grundstücke dehnen sich aus. Tore wachsen in den Himmel, bis sich unmöglich erkennen lässt, was sich dahinter verbirgt.

Ich habe von Newport gehört, jeder in Rhode Island hat davon gehört. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Gerüchte nur zur Hälfte stimmen, aber es soll keine exklusivere Welt und keine teureren Immobilien geben als dort. Der Unterschied zwischen den Hamptons und Newport besteht darin, dass Leute, die ein paar Millionen übrig haben, in die Hamptons ziehen, so habe ich es zumindest gehört. Newport hingegen ist unbezahlbar. Die Villen hier werden nicht verkauft, sondern vererbt.

Ich frage mich, wie es wäre, eines dieser Anwesen zu besichtigen. Fast bringe ich den Mut auf, Frank zu fragen, ob wir anhalten können, um rasch einen Blick hinter eines der Tore zu werfen, da setzt er auch schon den Blinker nach links, fährt von der Straße ab und eine lange Zufahrt hinauf.

Mein erster Gedanke ist, dass er falsch abgebogen sein und umkehren muss, aber dann hält er vor einem hohen, von Kalkstein gerahmten Tor mit zwei schweren kupfernen Gaslaternen, und er drückt auf einen Knopf der Fernbedienung, die an seiner Sonnenblende befestigt ist.

Die riesigen Torflügel aus Eisen schwingen auf, und wir fahren hindurch. Kurz bevor das Tor aus meinem Sichtfeld verschwindet, schaue ich über die Schulter und lese das Wort, das von zarten Eisenschnörkeln oben auf dem Tor geformt wird.

Rosethorn.

Kapitel Vier

Maren

Ich stehe in einem Zimmer und warte auf Cornelia. Genau wie in dem Range Rover wage ich nicht, etwas zu berühren. Die Haushälterin, die mich hierhergebracht hat, sagte, ich solle mich wie zu Hause fühlen, aber ich traue mich nicht. Ich lungere in der Nähe der Tür herum, ohne den Teppich zu betreten, habe das Gefühl, die Schuhe ausziehen zu müssen, tue es aber nicht. Ich bezweifle, dass meine Socken sauberer sind, und außerdem weiß ich nicht, welche Benimmregeln gelten, wenn man in einem Palast zu Gast ist.

Ja, in einem Palast.

Ein derart prunkvoller Palast, dass es mich nicht überraschen würde, wenn er ursprünglich für einen längst verstorbenen französischen König erbaut worden wäre, für einen Ludwig wahrscheinlich. Vom Tor aus sah ich Rosethorn inmitten eines dichten Walds auftauchen und starrte ungläubig die stolze, zweistöckige Fassade aus Marmor an. Das Anwesen protzte mit dicken Säulen und gewölbten Fenstern, mit sorgfältig gestutzten Buchsbäumen und hoch aufragenden Zypressen. Ein Paar Löwen geleiteten mich in einen Eingangsbereich mit glitzernden Böden und Porträts an den Wänden.

Sogar in diesem »Salon«, wie die Haushälterin den Raum nannte, bevor sie mich hier allein ließ, blicken mich reich verzierte Statuen von ihren Plätzen auf dem Kaminsims an. Innerlich lachend frage ich mich, ob es sich wohl um Leihgaben eines edlen Museums handelt.

Die Möbel sind antik, und alle zusammen verschmelzen zu einer Kombination von Blautönen. Allmählich habe ich das Gefühl, dass es ein behaglicher Raum sein soll, in dem sich Besucher wohlfühlen, und im Vergleich zu dem, was ich vom Rest des Hauses gesehen habe, ist er tatsächlich anheimelnd. Allerdings finde ich nicht, dass man ein Zimmer mit vier getrennten Sitzgruppen, einem großen marmornen Kamin und einem Konzertflügel als behaglich bezeichnen kann.

Erneut werfe ich einen Blick auf das Klavier und fange fast an zu sabbern.

Ein schöneres Instrument habe ich noch nie gesehen; es ist schwarz lackiert und in tadellosem Zustand, soweit ich es aus der Entfernung beurteilen kann. Die dick gepolsterte Bank ist einladend geneigt. Mein Magen krampft sich vor Verlangen zusammen, und dann öffnet sich die Tür des Salons, und Cornelia kommt hereingeschlendert, direkt an mir vorbei.

Sie macht drei weitere beherzte Schritte in den Raum hinein, hält inne und sieht sich verwirrt um, bis sie mich neben der Tür stehen sieht.

Sie lacht. »Was um alles in der Welt machen Sie denn da drüben?«

»Auf Sie warten.«

»Hat Diane Ihnen nicht gesagt, dass Sie Platz nehmen sollen?«

Ich nicke. »Doch, hat sie. Sie hat mir nur nicht gesagt, wo.«

Cornelia lächelt. »Natürlich. Verstehe. In diesem Raum gibt es viele Möglichkeiten. Ich finde die Sofas am bequemsten. Wollen wir uns vielleicht dort drüben hinsetzen?«

Ich tue, was sie mir vorschlägt, und lasse sie zuerst Platz nehmen, bevor ich mich auf den Rand der Couch ihr gegenüber hocke. Ein Blumenarrangement mit vier weißen Orchideen versperrt uns den Blick aufeinander, bis sie sich vorbeibeugt und es ein kleines bisschen zur Seite schiebt.

Dann sagt sie ohne jede Vorrede: »Erzählen Sie mir etwas von sich selbst.«

Ruckartig hebe ich den Kopf und schaue sie an. Was will sie von mir wissen? Meine Lieblingsfilme? Wie ich meinen Kaffee trinke?

»Das ist eine sehr unbestimmte Frage. Können Sie mir genauer sagen, was Sie über mich wissen möchten?«

»Ja, natürlich. Fangen wir mit Ihrer Kindheit an. Annette hat mir erzählt, dass Sie Ihre Eltern bereits in recht jungem Alter verloren haben?«

Im Grunde stört es mich nicht, dass Mrs Archer diese Information weitergegeben hat, denn ich habe nicht das Gefühl, dass Cornelia sie gegen mich verwenden will. Offenbar ist sie einfach neugierig, deshalb antworte ich ihr offen.

»Ja, mit dreizehn.«

»Mhm«, sagt sie, und es klingt traurig. »Wirklich sehr jung. Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu ihnen?«

»Ich war gerade in die Pubertät gekommen und hatte starke Meinungen«, sage ich schulterzuckend. »Wir haben uns häufig gestritten und waren einander fremd geworden. Aber als ich noch kleiner war, hatte ich ein gutes Verhältnis zu ihnen, ja. Vor allem zu meinem Dad.«

Ich habe das Gefühl, dass sie mir gleich eine weitere bohrende Frage stellen wird, deshalb spreche ich rasch weiter, ehe sie das Wort ergreifen kann.

»Mrs Cromwell …«

»Cornelia.«

»Ja, Cornelia. Sie haben am Telefon erwähnt, dass Sie einen Job für mich haben, und ich wüsste gern, um was für einen Job es sich handelt.«

»Natürlich. Sie haben eine lange Reise hinter sich und sind bestimmt erschöpft.«

Sie beugt sich zu einem Beistelltisch hinüber, auf dem ein schlankes silberfarbenes Telefon in einer Ladestation steht. Sie greift danach, drückt eine Taste, und dann erteilt sie der Person am anderen Ende der Leitung Anweisungen.

»Rita, würden Sie uns bitte den Tee bringen lassen? Ja, das wäre reizend, und auch ein paar von diesen kleinen Sandwiches, die ich so gern mag, Sie wissen schon … die mit Sahnelachs, wie Chef sie letzte Woche gemacht hat.«

Klingt widerlich, aber ich lächle, als Cornelia das Telefon wieder in die Basis stellt und mich ansieht.

»Patricia kommt gleich mit dem Tee.«

Patricia? Hat sie nicht gerade Rita gesagt?

»Wie viele Menschen arbeiten hier?«

Vielleicht sollte ich keine derart unverblümten Fragen stellen, aber möglicherweise bin ich bald einer dieser Menschen, und ich möchte gern wissen, wie viele Kolleginnen und Kollegen ich dann haben werde.

»Im Augenblick?« Sie wedelt mit der Hand in der Luft herum, als wäre die Frage völlig belanglos. »Fünfzehn Angestellte, aber das umfasst bereits die Hausmeister und Fahrer und das Küchenpersonal. Für die Hauswirtschaft sind Patricia, Diane und Rita zuständig. Chef ist der Koch, Collins der Butler und Bruce der Diener.«

Der Diener, klar. Denn Frank hat mich nicht nur nach Newport, sondern auch zurück ins 19. Jahrhundert gefahren.

Ich lächle nervös. »Nicht, dass ich Ihnen für Ihr Angebot nicht dankbar wäre, es klingt nur, als verfügten Sie bereits über das nötige Personal.«

Was kann sie denn von mir wollen? Soll ich ihr vielleicht den Hintern abputzen? Ja, genau! Wahrscheinlich hat sie schon ein Team von Bediensteten, das genau dafür zuständig ist.