Hotel California - Claude Cueni - E-Book

Hotel California E-Book

Claude Cueni

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Beschreibung

»Wenn du groß bist, werde ich nicht mehr da sein. Das ist der Lauf der Dinge, die einen kommen, die anderen gehen, mein Licht erlischt, ein anderes beginnt zu leuchten. Ich werde dich nie sprechen hören und du wirst auch nichts von mir hören. Der Gedanke bricht mir das Herz. Ich hätte dich gerne begleitet und dir ein paar Dinge erzählt, die in meinem Leben wichtig waren. Man muss nicht jeden Fehler wiederholen, den bereits Milliarden von Menschen begangen haben. Wenn du klug bist, hörst du zu und lernst aus den Fehlern der anderen. Deshalb bin ich hier. Ich will dir noch einige Dinge sagen, one more thing for Elodie.« Claude Cueni

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Nagel & Kimche E-Book

CLAUDE CUENI

HOTEL CALIFORNIA

ONE MORE THING: MEINE BOTSCHAFT AN ELODIE

Liebe Elodie

Ich will dir erzählen, was im Leben wirklich zählt, weil du das erst am Ende deines Lebens erfahren wirst. Wenn es vorbei ist. Wenn es zu spät ist.

Das ist die Ironie unseres Daseins.

Eine andere Hölle gibt es nicht.

1

Es war heiß, unendlich heiß. Ich lag in einer endlosen Wüste. Schleifspuren im Sand. Durst. Als endlich die Nacht anbrach, wurde es kühler. Ich raffte mich auf und begann zu laufen. Vielleicht würde ich fortan ewig laufen. Irgendwann sah ich in der Ferne ein schimmerndes Licht, ich hielt es zuerst für eine Täuschung, doch das Licht wurde größer. Nicht aufgeben, dachte ich, immer weiterlaufen, dem Licht entgegen. Ich stand vor einem schäbigen Haus ohne Nachbarschaft, das Gebäude wirkte heruntergekommen. Viele Menschen müssen hier gestrandet sein, denn der Weg war hier zu Ende. Über der Tür leuchtete eine bläuliche Neonanzeige: Hotel California. Ich war mir nicht sicher, ob zu dieser späten Stunde der Empfang noch besetzt war.

Die Eingangstür stand halb offen, pendelte im Wind. Eine kühle Brise fuhr mir durchs Haar. Der Duft von Cannabis lag in der Luft. Ich stieß die Tür auf und betrat die Empfangshalle: innen, gedimmtes Licht, Fußabdrücke auf dem Teppich, Spuren von Sand, die Wände in Orange, gerahmte Bilder von Menschen, die einst eine Bedeutung hatten, aber deren Namen fielen mir nicht mehr ein.

Hinter dem Empfangstresen hing ein Schlüsselkasten. Die Fächer waren von eins bis neunundsechzig nummeriert, sie waren leer, eine Nummer dreizehn gab es nicht. Ich drückte den Handballen auf die Bronzeglocke. Es dauerte eine Weile bis endlich jemand kam. Ich war müde, unendlich müde. Eine junge Mexikanerin schob einen Servicewagen in die Halle. Darauf lagen Schachteln mit kleinen Seifen, Badegels und Shampoos. Sie sagte, ich könne hier warten, bis ich grau würde, sie habe schon erlebt, dass einige Gäste beim Warten verstorben seien. Ihre Sprache war mir fremd und doch konnte ich sie verstehen. Ich sagte: »Ich suche Elodie.«

»Ich kann mich nicht an eine Elodie erinnern«, antwortete sie, »die Gäste nennen mich Penelope-Désirée, weil sie mich begehren.«

»Der Schlüsselkasten ist leer. Wo sind all die Gäste geblieben? Schlafen sie um diese Zeit nicht in ihren Zim-mern?«

»Hier braucht man keinen Schlaf mehr, es gibt auch keine Zimmerschlüssel, weder Schlüssel noch Geheimnisse. Sie sind hier im Hotel California.«

Ihre Worte verwirrten mich und das gefiel mir überhaupt nicht. Ich wiederholte, dass ich Elodie suche, dass es dringend sei, sehr dringend sogar.

»Sind Sie mit Elodie verabredet?«, fragte Penelope.

»Nicht direkt, aber irgendwie schon. Kann ich solange hierbleiben?«

»Hier warten alle Gäste auf irgendetwas, aber wenn Sie etwas wollen, müssen Sie durch die gleiche Türe, durch die Sie gekommen sind, wieder rausgehen.«

»Es war so heiß da draußen, es war ein langer Weg durch das Death Valley der Mojave-Wüste, nur in der Nacht kühlte es etwas ab.«

»Ja, auch die Sonne legt sich manchmal schlafen.«

Penelope schob ihren Wagen den Flur hinunter. Ich rief ihr nach, ich wolle hier ein paar Tage übernachten, »wie kann ich einchecken?«

Sie lief einfach weiter. Ich war ratlos, schaute mich um. Auf dem Empfangstresen lag ein Buch mit einem schwarzen Einband. Darauf stand in goldenen Lettern: »Check-in Hotel California«. Als ich es aufklappte ertönte eine Melodie. Ich hatte offenbar beim Aufschlagen des Buches die Mechanik einer Musikdose ausgelöst. Ich hörte einen Song: Welcome to the Hotel California – you can check out any time you like, but you can never leave. – Willkommen im Hotel California. Sie können jederzeit auschecken, aber sie können es nie verlassen. Ich nahm die Warnung nicht ernst und wollte meinen Namen eintragen, aber er fiel mir nicht mehr ein. Deshalb schrieb ich lediglich: »ELODIE, WO BIST DU?«

»Nehmen Sie die Kerze, es ist stockfinster da oben.«

Ich zuckte zusammen, hatte nicht bemerkt, dass Penelope zurückgekommen war und es sich im Halbdunkel in einem roten Ledersofa unter der Treppe bequem gemacht hatte. Sie entzündete eine Kerze. Ich nahm sie und stieg damit die geschwungene Treppe hoch. Bei jedem Tritt knarrte das Gebälk, als würde gleich alles auseinanderbrechen. Ich staunte nicht schlecht, als ich oben ankam. Ein uralter Mann mit Spitzbart und dünner Nickelbrille kniete mit einem Gewehr vor der Brüstung und beobachtete den Empfangsraum im Erdgeschoß.

»Nicht näherkommen«, flüsterte er.

»Sie arbeiten hier?«, fragte ich leise.

»Nein, ich habe vor langer Zeit eingecheckt und als ich wieder gehen wollte, sagten sie, ich könne nicht mehr auschecken, das sei nicht vorgesehen. Ich solle das Biest töten. Und seitdem warte ich auf das Biest.«

»Es gibt ein Biest im Hotel California? Sie meinen, einen Bären oder so?«

Der Alte erhob sich und hielt sein Gewehr quer über der Brust: »Ich arbeitete im Bergbau, in einer abgelegenen Gegend im Osten Nevadas nahe der Grenze zu Utah. Ich setzte mich unter einen Wacholderbaum und als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Zimmer im Hotel California. Neben meiner Winchester. Der Lauf war rostig, der Holzschaft spröde, grau und rissig. Ich weiß nicht, wie lange mein Gewehr den Launen der Natur ausgesetzt war. Die Sonne von Nevada hat ihm zugesetzt, Schnee, Regen, Wind, aber die Gravur kann man noch lesen, Model 1873, auch die Seriennummer ist noch erkennbar.«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte, Mister, ich werde mir jetzt ein Zimmer suchen und schlafen.«

»Wenn Sie hier übernachten wollen, müssen Sie immer so tun, als würden Sie die Treppe hinauf- oder hinuntersteigen. Sie dürfen nie stehenbleiben.«

»Wieso?«, fragte ich irritiert, »sind alle Zimmer besetzt?«

Er legte den Zeigefinger auf den Mund. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich das Biest aufwecke. Ich nickte ihm zu und klopfte an die erste Zimmertür. Als niemand antwortete, öffnete ich sie und machte das Licht an. Das Bett war unbenutzt, die Luft stickig heiß.

»Sind Sie das Biest?«, flüsterte der alte Mann. Ich drehte mich um. Er stand dicht hinter mir und hatte seine Winchester auf mich gerichtet.

»Nein, sicher nicht«, wehrte ich ab, »ich bin auf Durchreise.«

Ich hob beide Arme hoch, damit er sah, dass von mir keine Gefahr ausging.

»Es gibt viele freie Zimmer im Hotel California, zu jeder Jahreszeit. Es wäre ein wunderschöner Ort, wenn ich nicht das Biest töten müsste.«

»Jaja«, stotterte ich und wich einige Schritte zurück.

»Was suchen Sie hier?«, fragte er misstrauisch.

»Ich suche Elodie.«

»Das Biest?«

»Aber nicht doch«, versuchte ich ihn zu besänftigen, »Elodie ist kein Biest, mir ist in meinem ganzen Leben noch nie ein Biest begegnet. Ich stelle mir vor, ein Biest ist groß, pelzig und hat Riesenpranken mit schwarzen Krallen, so wie ein Grizzly.«

»Manchmal wohnt das Biest in einem selber«, sagte der Mann und senkte seine Winchester, »meine Freunde nannten mich Glenny, aber sie sind alle verstorben, jetzt heiße ich wieder Glenn Lewis Frey.«

»Okay, Mister Frey …«

»Nennen Sie mich Glenny, der alten Zeiten wegen. Das klingt wie die Songs, die wir damals hörten.«

»Okay, Glenny. Wissen Sie vielleicht, ob in letzter Zeit jemand hier abgestiegen ist, der Elodie heißt?«

»Gehen Sie in den zweiten Stock, dort finden Sie die Gästeliste mit den Namen aller Menschen, die seit 1969 im Hotel California abgestiegen sind.«

Ich stieg mit der Kerze einen Stock höher. Im Flur waren die Wände mit gräulichem Gips verkleidet. Jemand hatte lose Buchstaben und Worte in roter Farbe auf das Mauerwerk gestempelt, doch die Texte machten keinen Sinn. Ich sah einen Eimer Gips und eine Werkzeugkiste am Ende des Flurs. Ich nahm den Hammer und den spitzen Eisenstift in die Hand und suchte die Wand nach den richtigen Worten ab.

Wo bist du gerade?, wollte ich schreiben, ich warte auf dich.

Ich spitzte die einzelnen Buchstaben aus der Wand, setzte sie wieder zusammen und gipste sie über andere Textstellen. Wort für Wort. Doch für das Wort »Elodie« fehlte ein Buchstabe.

Enttäuscht stieg ich die Treppe hinunter. Glenny kniete wieder vor der Brüstung und hielt das Erdgeschoß im Auge.

»Schlafen Sie nie?«, fragte ich ihn.

»Nur wenn das Biest schläft, aber das Biest schläft nie.«

Ich wünschte ihm eine gute Nacht und stieg in die Halle hinunter.

»Ich werde nie aufgeben«, rief er mir trotzig nach.

Ich war um einiges jünger als er, aber meine Stimme hatte weniger Kraft, meine Lunge weniger Volumen. Mit jedem Schritt zogen sich die Lungenbläschen schmerzhaft zusammen, wie eine Blume, die langsam verdorrt. Im Erdgeschoß betätigte ich wieder die Klingel. Penelope trat aus der Dunkelheit und sagte, sie müsse jeden Tag neunundsechzig Zimmer reinigen, das sei schwierig, weil es im Hotel California nur achtundsechzig gebe, »haben Sie etwas Salz für mich?«

»Das ist viel Arbeit für eine einzige Person«, sagte ich anerkennend, »aber ich habe leider kein Salz bei mir. Ich glaube auch nicht, dass es Menschen gibt, die mit einem Salzstreuer in der Tasche ein Hotel betreten. Ich bedanke mich auf jeden Fall für Ihre Bemühungen und werde da draußen meine Suche nach Elodie fortsetzen.«

»Sie wollen auschecken?«, fragte sie erstaunt.

»Ja.«

»Das können Sie jederzeit«, sagte sie freundlich, »aber niemand hat das Hotel California jemals wieder verlassen.«

»Dann werde ich der Erste sein.«

»Sie haben mich missverstanden. Wenn man das Hotel einmal betreten hat, kann man es nicht mehr verlassen.«

»Ich muss aber,« insistierte ich, »ich muss Elodie finden, mir bleiben nur noch wenige Monate Zeit.«

Sie meinte, die Zeit spiele keine Rolle, da man eh immer zu wenig davon habe. Aber wenn man die Zeit richtig nutze, sei das nicht von Belang.

»Sokrates?«

»Nein, das ist von mir, hier wohnt kein Sokrates.«

Ich zeigte zur Brüstung im ersten Stock und fragte leise, ob der Alte da oben den Verstand verloren habe.

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Penelope, »er sucht das Biest, Sie suchen Elodie, wir sind alle auf der Suche nach irgendetwas. Ich suche die Schlüssel für das Gästezimmer, das es nicht gibt.«

»Okay, ist ja schon gut«, antwortete ich enttäuscht, »falls Elodie hier auftaucht, sagen Sie ihr, dass ich da bin. Ich muss mit ihr reden.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Wenn ich den nur wüsste.«

Sie sagte, sie wolle mir den Weg zu meinem Zimmer weisen und zündete eine zweite Kerze an.

»Haben Sie Koffer?«

»Ich hatte einen, er liegt irgendwo da draußen im Wüstensand begraben.«

Sie führte mich durch einen langen Flur im Erdgeschoß. Zimmertür reihte sich an Zimmertür. Es war ein sehr langer Flur, er schien kein Ende zu nehmen. Aus den Zimmern drangen leise Stimmen. Es hörte sich an wie ein Gesang, Willkommen im Hotel California. Penelope sagte, ich müsse mir den Weg merken, denn sonst würde ich mich in den Fluren verirren. Nach einer Viertelstunde sagte ich, dass ich bereits weit über hundert Türen gezählt habe und fragte, ob es noch lange dauern würde? Mein Kopf sei schwer und meine Augen müde. Sie lief weiter und erklärte, sie hätten viele Zimmer im Hotel California.

»Ich dachte, Sie haben nur neunundsechzig Zimmer?«

»Wir vermieten nur achtundsechzig Zimmer, aber dieses Hotel hat unendlich viele Zimmer. Ein Leben würde nicht ausreichen, um sie alle zu zählen.«

Sie blieb vor einer Tür stehen. Mir fiel auf, dass es keine Zimmernummer gab. Ich fand das ungewöhnlich. Penelope öffnete die Tür und bat mich einzutreten. Die Wände waren mit bunten Farben gestrichen, Waschbecken, Bett, Tisch und Stuhl, eher schlicht. Penelope sagte, wenn ich etwas bräuchte, solle ich auf die Klingel drücken, die über dem Bett hängt. Ich tippte mit dem Zeigefinger die kleine Glocke an, die von der Decke hinunterhing und schaute zu, wie sie an der Kordel hin- und herbaumelte. Sie erinnerte mich an etwas, das mir Angst einjagte, aber während ich der pendelnden Glocke folgte, wurde ich schläfrig, kniff die Augen zusammen, konnte nicht mehr akkommodieren. Die Augen drifteten auseinander, ich sah Doppelbilder, tausende von Glocken, die mich schwindelig machten.

Benommen setzte ich mich auf die Bettkante, legte mich hin, drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Alles um mich herum schien in Bewegung. Manchmal blinzelte ich, um zu sehen, ob sich auch das Zimmer wie ein Karussell drehte. Mir wurde übel, speiübel. Von draußen schien das bläuliche Licht einer Neon-Anzeige ins Zimmer. Ich fragte mich, wie viele Hotel-Leuchten wohl an den Außenwänden montiert waren. Jene über dem Eingang war über eine Viertelstunde entfernt. Ich fand keinen Schlaf, die melodiösen Stimmen aus den anderen Zimmern wurden lauter, dann wieder leiser, es war, als würde stets etwas an meiner Zimmertür vorbeigehen, den endlosen Flur hinunter und dann wieder zurück. Ich drückte den Glockenknopf über meinem Bett und sagte, ich bräuchte Wein. Ich ging davon aus, dass mich jemand hören würde. Vielleicht war in der Glocke ein Mikro eingebaut. Im Hotel California war ja offenbar vieles möglich. Wenig später betrat ein ausgemergelter Mann mit einer Karaffe Wein mein Zimmer. Er sagte, sein Name sei Don Henley, er sei der Captain und der Wein sei ein Cabernet Sauvignon Nappa Valley 1969.

»Wieso wussten Sie, dass ich Wein bestellen würde?«

»Sie wollten doch Wein bestellen, oder?«

»Ja, aber wieso wussten Sie das?«

Er reichte mir die Glaskaraffe.

Ich fragte ihn, ob es hier keine Gläser gebe.

»Möchten Sie denn ein Glas?«

Don Henley drehte das Tablett um. Auf der Rückseite war ein flacher Monitor mit Tastatur. Ich fragte, ob das ein iPad sei. Er antwortete, alles was ich hier im Hotel California sehe, sei genau das, was ich mir vorstelle. Falls ich denke, das sei ein iPad, dann sei es ein iPad, aber andere Gäste glaubten, das sei ein Schneidebrett, auf dem man Zwiebeln und Knoblauch zerhacken könne. Er tippte etwas in die Tastatur: »Wir haben keine Gläser mehr im Hotel California, sie sind alle zerbrochen wie auch die Wünsche und Hoffnungen unserer Gäste.«

»Ich brauche kein Glas, heute Nacht werde ich Wein brauchen. Ich werde sehr viel Wein brauchen. Solange, bis ich Elodie gefunden habe.«

»Ich hörte bereits, dass Sie Elodie suchen, aber niemand kennt eine Elodie. Vor einer halben Stunde war jemand hier, ein kleiner untersetzter Mann mit schwarzem Hut, er sagte, er sei auf der Suche nach Ihnen, er müsse Sie dringend sprechen. Vielleicht weiß er mehr über Elodie.«

»Wer war dieser Mann?«

»Wir wissen es nicht. Er sagte, sein Name sei Dachs, William Dachs.«

»Ich kenne niemanden, der Dachs heißt. Aber wenn er nach mir gesucht hat, dann hat er bestimmt meinen Namen genannt.«

»Nein, er wusste ihn auch nicht.«

»Wie konnten Sie wissen, dass er nach mir sucht?«

»Er vermaß die Fußabdrücke auf dem Teppich am Eingang und fragte, ob heute Nacht jemand eingecheckt habe, der einen Beckenschiefstand hat. Und Sie sind der einzige neue Gast heute Nacht.«

»Sie hätten mich gleich benachrichtigen sollen«, warf ich ihm vor, »vielleicht hat ihn Elodie geschickt.«

»Wir haben ihm den Weg gewiesen, aber wahrscheinlich hat er sich in den Fluren verirrt. Es gibt so viele Zimmer im Hotel California. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Der Mann mit dem schwarzen Hut wird Sie finden.«

2

Noch im Halbschlaf spürte ich den Schmerz, der mich aus wirren Träumen befreite. Es fühlte sich an, als würde mir jemand glühend heiße Socken über die Füße stülpen. So fing es jeweils an. Dann folgte dieses trügerische Kältegefühl, das Linderung versprach. Aber die Kälte begann zu brennen, meine Füße schmerzten, als wären sie in einem Schraubstock aus Trockeneis festgeklemmt. Die Zehen spreizten sich, verrenkten sich krampfhaft, gleich würden die kleinen Gelenkknochen brechen.

Ich öffnete die Augen, ließ sie nach links und rechts rollen, suchte das Zimmer ab. Da waren keine christlichen Inquisitoren am Werk, es war das periphere Nervensystem, verantwortlich für die Stimulanz der Muskulatur, das verrückt spielte. Mein Gehirn sandte Impulse, die unterwegs verlorengingen, wie Daten in einem defekten Kabel, die nur noch wirre Signale beim Empfänger abliefern. Es war nicht das Becken, das schief hing, es war der gesamte Apparat, der in Flammen stand und jede Möglichkeit für ein stabiles Gleichgewicht außer Kraft setzte.

Ich versuchte dennoch aufzustehen, aber meine Beine waren steif wie antike Marmorsäulen, ich hätte einen Kran gebraucht, der mich hochhievt und wieder auf die Füße stellt. Ich gab mir einen Ruck, kam zum Stehen, wankte, torkelte, suchte nach dem Nachttisch, aber ich konnte mich darauf nicht abstützen, denn auch die Hände hatten ein Eigenleben entwickelt und die Finger verrenkten sich und versteiften. Ich suchte Halt, riss den Nachttisch zu Boden und fiel der Länge nach hin. Ich musste wie üblich am Boden verharren und warten, bis der Sturm vorbei war. Ich dachte an das Leben, das ich einmal hatte, und dass auch der Tod ein paar Vorteile hat. Denn über den Tod geht das Leiden nicht hinaus.

Als die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, konnte ich wieder frei herumlaufen. Ich versuchte mich zu erinnern, aber die Fragmente, die mein Gehirn freigab, waren schwieriger zu entziffern als seinerzeit der Stein von Rosette. Ich horchte. Draußen im Flur war ein kratzendes Geräusch. Ich öffnete die Tür, aber es war niemand da. Es erklang erneut. In meiner unmittelbaren Nähe. Ich senkte den Kopf und sah auf einen aufgepumpten Perlhuhn-Kugelfisch hinunter, nicht größer als ein kleiner, schuppiger Medizinball mit kurzen Stoppeln. Ich fragte ihn, ob er Mister Dachs sei. Er rollte die Augen und riss seinen schnabelähnlichen Beißapparat auf.

Eine schleimige Fontäne spritzte mir ins Gesicht. Blitzschnell zog er an einem ungewöhnlich langen Stachel, der zwischen seinen Beinen hing. Das Maul ging auf, ich konnte in seinen Rachen hineinsehen. Von dort schoss etwas heraus wie ein Katapultgeschoß, ein gezacktes Sägeblatt, das haarscharf an meiner Schläfe vorbeisauste. Ich konnte mich gerade noch wegducken und fiel dabei rückwärts aufs Bett. Das Sägeblatt fräste das Holzgestell, Späne wirbelten durch die Luft. Ich hielt mich an der Glockenkordel fest, schwang mich über den Kugelfisch und landete unsanft vor der offenen Zimmertür. Ich schrie vor Schmerz, als sich ein Holzsplitter im aufgefrästen Parkett in meine Fußsohle bohrte. Als ich zurückschaute, sah ich, wie der Kugelfisch den Kopf nach hinten warf und weitere Sägeblätter abfeuerte. Sie sausten über meinen Kopf und bohrten sich in den Rahmen der gegenüberliegenden Zimmertür. Ich stolperte den Flur hinunter, wusste nicht, wohin er führte, es konnte der Himmel sein, aber auch die Hölle.

Aus allen Zimmern erklangen Stimmen, Willkommen im Hotel California. Ich rannte weiter, immer geradeaus, manchmal teilte sich der Flur und ich musste mich entscheiden, ich rannte einfach weiter, bis ich in einer Wandnische eine Glastüre entdeckte. 24 Hour Breakfast. Ich stieß die Tür auf, während zwei weitere Sägeblätter an mir vorbeisausten. Im Saal saßen ein Dutzend Menschen jeweils alleine an einem Vierertisch. Sie waren auffallend mager, ausgemergelt. Neugierig bewegte ich mich zwischen den Tischen, die Leute starrten konsterniert ins Leere. Ich fragte eine junge Frau, ob ich mich zu ihr setzen dürfe. Sie reagierte nicht. Mit ihrem leicht depressiven Blick erinnerte sie mich an missgelaunte Models, die sich in die eigene Magersucht verliebt hatten. Am nächsten Tisch saß ein in die Jahre gekommener Junkie, der bereits mumifiziert war. Unter seinen Füßen trocknete eine Lache mit all den Körpersäften, die er während des Verwesungsprozesses abgesondert hatte. Es schien, als hätten alle Leute in diesem Saal eines Tages beschlossen, nicht mehr zu essen. Ich ging zum Frühstücksbuffet.

Das Hotel hatte zwölf Edelstahl-Schalen aneinandergereiht. Sie waren leer. Ich setzte mich an einen freien Tisch und behielt das Buffet im Auge. Ich erschrak, als plötzlich die Tür zum Frühstücksraum mit einem heftigen Knall aufsprang. Don Henley hatte sie mit einem Servierwagen aufgestoßen. Darauf lagen große Schüsseln. Sie waren prallgefüllt mit farbigen Bonbons. Don Henley nahm eine Kelle und füllte damit die Buffet-Schalen. Neugierig ging ich auf ihn zu und fragte, ob es auch Eier mit Speck gebe. Er schaute mich verwundert an und antwortete, »die weißen Pillen löschen das Feuer in Ihrem Körper, Prednison ist ein Kortisonpräparat, aber es zieht nicht alleine in den Krieg, es braucht noch die Kavallerie, das sind die grauen Pillen, sie verhindern, dass Ihre Organe weiter abgestoßen werden, deshalb sehen diese klobigen Tabletten aus wie kleine Panzer in einem Computerspiel, Cellcept hält jedoch das Wasser in Ihrem Körper zurück und deshalb sehen Sie mittlerweile aus wie ein Werbemaskottchen von Michelin-Reifen, das im neunten Monat schwanger ist. Also nehmen Sie am besten ein harntreibendes Medikament, Torem, das sind diese winzig kleinen weißen Pillen, aber diese lösen wiederum Muskelkrämpfe aus. Deshalb empfehle ich eine weitere Pille, Sirdalud, um den Muskeltonus zu senken, leider erschlafft dabei auch ihre Augenmuskulatur und Sie sehen doppelt, Sie können nicht mehr akkommodieren, was wiederum Kopfschmerzen auslöst. Aber auch dafür gibt es ein Medikament.

Wenn Sie täglich mehr als fünf Medikamente einnehmen, haben Sie die Nebenwirkungen nicht mehr unter Kontrolle. Die Pillen ziehen in den Bürgerkrieg. Wir nennen es Frühstücks-Cocktail, doch es löst eine Herzinsuffizienz aus, Bluthochdruck, Osteoporose, Ödeme, manchmal gibt’s eine Embolie zum Nachtisch, Lungeninfarkte sind eher selten, aber wir haben hier im Hotel California alles, was Sie brauchen, Ursofalk, Singulair, Valtrex, Zithromax, Nopil Forte, Diflucan, Prograf, Pantozol, das Hotel California ist ein schöner Ort zum Bleiben.«

Ich schaute ihm ratlos zu, wie er die Schalen auffüllte und fragte, ob er nicht wenigstens Orangensaft hätte.

»Wir haben alle möglichen Säfte, Fruchtesäfte, Gemüsesäfte, Körpersäfte.«

»Ich sehe nirgends Fruchtsäfte.«

»Fragen Sie die Gäste.«

»Die reden nicht mit mir, was läuft hier eigentlich für eine Scheiße ab?«, schrie ich.

»Vielleicht sind Sie unsichtbar für unsere Gäste«, antwortete Don Henley ruhig.

»Ach wo, ich sehe Sie und Sie sehen mich …«

»Ich bin nicht Gast hier, ich gehöre zum Inventar. Hat sich Herr Dachs schon gemeldet?«

»Der kleine Mann mit dem schwarzen Hut?«

»Ich traf ihn eben im Flur, er hatte einen Stapel Dokumente bei sich.«

»Falls Sie ihm wiederbegegnen …«

»Wo kann er Sie finden?«, unterbrach mich Don Henley.

»In meinem Zimmer.«

»Welche Nummer?«

»Sie bringen mich um den Verstand! Sie wissen doch ganz genau, dass die Zimmer keine Nummern haben!«

»Ich bringe niemanden um den Verstand, bei uns ist der Gast König, es ist Ihr Gehirn, das sich selbständig macht.«

3

Ich saß ratlos vor dem