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Als ich endlich die lebensrettende Spenderniere bekomme, glaube ich, das Schlimmste überstanden zu haben. Junge, wie falsch kann man denn liegen? Plötzlich spüre ich Blicke, die mich verfolgen, wohin auch immer ich gehe. Ich werde beobachtet. Gestalkt. Gejagt. Es ist unfassbar gruselig. Dann tritt der Jäger plötzlich aus den Schatten heraus, und mein gesamtes Leben implodiert. Renzo Torrisi, ein gefährlicher und gnadenloser Mann, entführt mich. Es stellt sich heraus, dass meine Spenderniere einem seiner Männer gehörte und ich meine Schulden nun abzahlen soll. Allerdings sind die Bedingungen nicht ganz klar, und die Regeln ändern sich nach Lust und Laune. Als Gefangene in seinem Penthouse muss ich dem rücksichtslosen Mafiaboss zu Diensten sein und ihn behandeln wie den Gott, der er ist. Ob ich es überleben werde, Renzos Geisel zu sein, muss sich allerdings erst noch herausstellen …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Michelle Heard
Hunted by a Shadow
Kings of Mafia
(Band 3)
Übersetzt von Alexandra Gentar
Hunted by a Shadow
(Kings of Mafia Band 3)
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel
»Hunted by a Shadow (Kings Of Mafia)«
Copyright © 2024 HUNTED BY A SHADOW by M.A. HEARD.
All rights reserved.
The moral rights of the author have been asserted.
Published by Arrangement with PODIUM PUBLISHING SUBCO, LLC, EL SEGUNDO, CA 90245 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © 2025
Hunted by a Shadow
by VAJONA Verlag GmbH]
Lektorat: Alexandra Gentara
Korrektorat: Anne Masur
Satz: VAJONA Verlag GmbH,
Umschlaggestaltung: Okay Creations
unter Verwendung von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Teil der SCHÖCHE Verlagsgruppe GmbH
In jedem Buch, das ich schreibe, werdet ihr die Worte »ein Kaleidoskop von Schmetterlingen« finden. Das ist so ein Insider zwischen meiner Lektorin und mir.
Sheena, danke für Deine Geduld mit mir in all den Jahren. Dieses Buch hier ist für Dich
ANMERKUNG DER AUTORIN:
Diese Buch enthält Themen, auf die einige Leserinnen und Leser empfindlich reagieren könnten. Einige triggernde Inhalte beziehen sich auf brutale und grafisch geschilderte Gewalt, Entführung, Organtransplantation, Verlust eines engen Familienangehörigen
Dieses Buch ist nur für Leserinnen und Leser über achtzehn geeignet. Bitte lest verantwortungsbewusst.
»Manchmal ist selbst das Leben ein Akt der Courage.«
– Lucius Annaeus Seneca
Thousand Eyes – Of Monsters and Men Oats In The Water – Ben Howard In The Shadows – Amy Stroup Raise The Dead – Rachel Rabin Do You Really Want To Hurt Me – Denmark
Winter Warm Shado – Fink It Had To Be You – Tommee Profitt, Tiffany Ashton
When It’s All Over – RAIGN Silhouettes – Of Monster and Men
Crystals – Of Monsters and Men Get On The Road – Tired Pony
Skylar
Renzo, fünfunddreißig; Skylar, dreißig Jahre alt.
Früher war das Leben einfach großartig.
Das Restaurant »Dame«, in dem ich als Souschefin arbeitete, hatte gerade meinetwegen seinen ersten Michelin-Stern erhalten.
Ich hatte ein Vorstellungsgespräch in einem der besten Restaurants in New York.
Wenn ich die Stelle als Chefköchin dort bekommen hätte, hätte ich meine eigenen Signature-Gerichte kreieren können.
Ich war in Höchstform und hakte ein Ziel nach dem anderen ab.
Aber je höher man fliegt, desto tiefer fällt man.
Und Junge, wie tief ich fiel.
Jetzt liege ich in einem Krankenhausbett, neben mir summt ein Dialysegerät, und versuche immer noch zu verarbeiten, was Dr. Bentall mir gerade gesagt hat.
Nierenversagen im Endstadium. Mir bleibt keine Zeit mehr. Wenn ich nicht bald eine Spenderniere bekomme, werde ich sterben.
Mit dreißig.
Mein fabelhaftes Leben kam vor drei Jahren zum Stillstand, als ich mit Mom zusammen in einen Autounfall verwickelt war.
Mom lag acht Monate lang im Koma, bevor wir die herzzerreißende Entscheidung treffen mussten, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen.
Ich dachte, das wäre der dunkelste Moment meines Lebens gewesen, aber es wurde noch viel schlimmer. Dad hatte die besten Ärzte aus aller Welt einfliegen lassen und sehr viel Geld bezahlt, aber nichts half.
Mein zerschmettertes Becken ist inzwischen verheilt. Meine rekonstruierte Blase funktioniert. Aber der Schaden an meinen Nieren ist irreversibel.
Ohne die Dialyse wäre ich schon vor Monaten gestorben, aber jetzt reicht nicht einmal mehr diese aus.
Ich brauche innerhalb der nächsten Wochen eine neue Niere, sonst werde ich sterben.
Langsam wandert mein Blick zu den Schläuchen, die mit meinem Blut gefüllt sind.
Vor zwanzig Minuten ist Dad mit Dr. Bentall weggegangen, seitdem habe ich die beiden auch nicht mehr gesehen.
Die letzten drei Jahre waren eine Qual für mich, aber für Dad war es noch viel schlimmer. Erst hat er Mom verloren, und jetzt wird er auch noch mich verlieren.
Jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, erkenne ich die fiebrige Panik in seinen Augen. Die Verzweiflung bei den Versuchen, eine Spenderniere für mich zu finden, hat tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.
Ich hasse es zu sehen, was mein immer schlechter werdender Zustand mit Dad macht.
Ich hasse es, dass er zusehen muss, wie ich langsam sterbe.
Ich hasse es, dass ich in diesem Krankenhausbett festsitze und eine Maschine darum kämpft, mich am Leben zu erhalten.
Lohnt es sich überhaupt noch?
Es gibt dunkle Momente, in denen ich glaube, dass es besser wäre, jetzt zu sterben. Dann hätte die Qual ein Ende und Dad könnte um mich trauern, bevor er endlich sein Leben weiterleben kann.
Ich bin es leid, ständig unter Druck zu stehen.
Ich bin es leid, nur noch bis zur nächsten Dialyse zu existieren.
Was ist ein Leben ohne Hoffnungen und Träume noch wert? Was bleibt, wenn einem sämtliche Möglichkeiten genommen wurden?
Es ist nur noch morbide und seelenzerstörend erschöpfend.
Ich kann das nicht mehr.
Eine Bewegung an der Tür reißt mich aus meinen dunklen Gedanken, und ich hebe den Blick zu meinem Vater, der mich mit unerträglichem Kummer im Gesicht ansieht.
Ich darf mich jetzt nicht in meinem bevorstehenden Tod und in Selbstmitleid suhlen. Ich muss meinem Vater zuliebe stark sein.
Irgendwie verzieht ein Lächeln meine Mundwinkel nach oben. »Es wird alles gut, Daddy.«
Er schüttelt den Kopf, Tränen glänzen in seinen rot unterlaufenen Augen.
Dad kommt näher, setzt sich auf die Bettkante und umfasst mit beiden Händen meine Finger. Sein gesenkter Kopf wirkt, als würde das gesamte Gewicht der Welt auf seinen Schultern lasten.
»Ist schon okay«, flüstere ich.
Er schüttelt erneut den Kopf und räuspert sich, bevor seine Augen meinen begegnen. Sehr lange sieht Dad mich einfach nur fest an, als wollte er sich jeden einzelnen meiner Gesichtszüge einprägen.
Dann räuspert er sich noch einmal und sagt: »Wir geben nicht auf. Du musst nur noch ein bisschen länger so stark bleiben. Okay?«
Ich habe keine Kraft mehr, Daddy.
Da ich weiß, dass ich diese Worte nicht laut aussprechen darf, lüge ich: »Okay. Das bin ich.« An seinem hoffnungslosen Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er mir nicht glaubt. Das ist alles, was wir in den letzten Monaten getan haben. Uns anzulügen.
Kein einziges wahres Wort wurde zwischen uns gewechselt.
Ich schaue den Mann an, der mich wie sein eigenes Kind großgezogen hat. Als er Mom kennenlernte, war ich sechs Jahre alt, und es gab keinen einzigen Tag, an dem er mich wie eine Stieftochter behandelt hätte.
Er ist der beste Mensch, den ich kenne, und ich hasse es, ihn so sehen zu müssen.
Ich kann meine Scharade nicht länger aufrechterhalten. Tränen schießen mir in die Augen, und ich flüstere: »Ich liebe dich, Daddy.«
Er senkt den Kopf und drückt einen Kuss auf meinen Handrücken. Seine Finger zittern, während er seinen Griff um meine Hand verstärkt.
Ich lasse meinen Tränen freien Lauf, und aus Angst, dass mir die Zeit davonläuft und ich ihm nicht mehr alles sagen kann, das mir auf dem Herzen liegt, purzelt mir die Wahrheit einfach so über die Lippen.
»Danke dafür, dass du der beste Vater bist, den man sich wünschen kann. Danke, dass du alles für mich warst, was ich brauchte, und dass du dich immer so gut um mich gekümmert hast. Danke, dass du mich liebst.«
Ein erstickter, schmerzerfüllter Ton dringt aus Dads Kehle, der meine Tränen noch schneller fließen lässt.
»Wenn ich nicht mehr bin, möchte ich, dass du ein schönes, langes Leben führst. Verlieb dich wieder. Du bist nicht zu alt, um noch ein Kind zu bekommen. Lebe und sei glücklich.«
Dads Augen blicken mich zornerfüllt an, dann brüllt er: »Hör auf, so zu reden! Ich lasse dich nicht sterben, und ich will verdammt noch mal auch keine anderen Kinder. Ich will dich, Skylar. Du bist meine Tochter, und niemand kann deinen Platz einnehmen.«
Ich neige meinen Kopf und schaue ihn flehend an. »Daddy.«
Er lässt meine Hand los, steht auf und wischt sich wütend die Tränen von den Wangen. »Du wirst nicht sterben.«
Bevor ich noch etwas sagen kann, stürmt er bereits aus dem Krankenzimmer.
Gott, es ist einfach zu schwer.
Wie verabschiede ich mich von meinem Vater, wenn ich weiß, dass er auf dieser Welt ganz allein sein wird?
Wie bitte ich ihn darum, nach meinem Tod loszulassen und weiterzuleben?
Ich würde alles dafür tun, um ihn vor diesem Kummer und der Einsamkeit zu bewahren.
Renzo
Während ich den Status aller Lieferungen noch einmal mit Elio überprüfe, höre ich Giulios ansteckendes Lachen. Er trainiert gerade mit Fabrizio und Vincenzo.
»Giulio, es hat keinen Sinn, weiter zu trainieren«, murmele ich. »Ich werde dich niemals als Bodyguard einstellen.«
Mitten im Schlag hält er inne und verzieht das Gesicht. »Komm schon, Renzo. Ich bin fast so gut wie Fabrizio und Vincenzo.«
Ich schnaube, während Vincenzo sagt: »Das hättest du wohl gerne.« Um seinen Standpunkt zu untermauern, zieht er Giulio abrupt die Füße weg, sodass er auf den Hintern plumpst.
Elios dröhnendes Gelächter erfüllt die Luft. Er schüttelt den Kopf und sein Tonfall klingt sarkastisch, als er gedehnt sagt: »Ja, du bist echt richtig gut geworden.«
Mit finsterer Miene steht Giulio wieder auf. »Ich war unvorbereitet.«
Ich erhebe mich vom Stuhl. »Elio, sorg dafür, dass die Lieferung nach China nicht zu spät kommt. Der Vertrag mit den Triads ist wichtig.«
»Wird erledigt, Boss.«
Als ich zur Tür gehe, holt Giulio mich ein. »Wo fahren wir hin?«
»Ins Restaurant«, antworte ich, während ich das Lagerhaus verlasse.
»Mittagessen?«, fragt er. »Ich bin am Verhungern. Das Sparring mit den Jungs hat meinen Appetit angeregt.«
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. »Nein. Um zu überprüfen, ob alles reibungslos läuft. Denkst du auch irgendwann mal nicht ans Essen?«
»Natürlich. Wenn ich trainiere, um dein Leibwächter zu werden, denke ich überhaupt nicht daran.«
Ich seufze und sage: »Du bist mein Fahrer, und damit hat es sich.«
Giulio ist erst zwanzig. Sein Vater Santino war der Fahrer meines Vaters, bis er vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt starb. Seitdem ist Giulio praktisch mein Schatten, und um ihn zu beschäftigen, habe ich ihn zu meinem Fahrer gemacht.
Als Kind habe ich Santino öfter gesehen als meinen eigenen Vater, daher habe ich Giulio immer als Teil der Familie betrachtet.
Indem er ständig in meiner Nähe ist, lernt er nach und nach alles über das Geschäft, und sobald er bereit ist, werde ich ihn zu Elios Stellvertreter machen.
Ich stehe vielen Menschen nahe, aber Giulio ist wie ein kleiner Bruder für mich, was bedeutet, dass ich ihn auch immer beschützen werde.
Natürlich liegen mir alle meine Männer am Herzen, aber einige von ihnen liebe ich, als wären sie mein eigen Fleisch und Blut. Elio, Francisco, Vincenzo und Giulio stehen dabei ganz oben, zusammen mit den anderen Anführern der Cosa Nostra.
Giulio öffnet die Tür des schwarzen Bentleys, und nachdem ich eingestiegen bin, schließt er sie wieder und eilt um die Vorderseite des Wagens herum. Dann setzt er sich hinter das Lenkrad.
Während er uns vom Lagerhaus wegfährt, schweigt er.
Fünf Minuten vor dem La Torrisi, dem Restaurant, das ich mit einundzwanzig Jahren eröffnet habe, fragt Giulio: »Wieso?«
Ich schaue weiter aus dem Fenster und sage: »Wieso ich dich nicht mein Leibwächter sein lasse?«
»Ja.«
»Weil es mein Job ist, dich zu beschützen. Nicht umgekehrt.«
»Aber –«
»Schluss jetzt, Giulio«, schnauze ich ihn an. »Herrgott noch mal.«
Während er den Wagen vor dem Restaurant parkt, klingt er reumütig. »Ich wollte dich nicht aufregen.« Er schaut über seine Schulter und begegnet meinem Blick. »Ich möchte nur, dass du in Sicherheit bist.«
Seufzend antworte ich: »Und ich will, dass du in Sicherheit bist. Als der Ältere von uns beiden ist das auch meine Aufgabe.« Ich beuge mich vor, lege ihm eine Hand auf die Schulter und drücke sie. »Ich habe deinem Dad versprochen, gut auf dich aufzupassen. Lass mich mein Versprechen bitte halten.«
Seine Mundwinkel heben sich, dann nickt er. »Okay.«
Ich stoße die Autotür auf. »Komm. Lass uns essen gehen.«
Er gluckst, während er aussteigt, und in dem Moment, als wir das Restaurant betreten, höre ich auch schon Giulios Magen laut knurren.
»Bestell dir was und komm zu mir ins Büro«, murmele ich, dann lasse ich Giulio im Hauptbereich des Restaurants stehen.
Als ich mein Büro betrete, vibriert mein Handy. Francos Name taucht auf dem Display auf.
Franco ist einer der Anführer der Cosa Nostra. Ich stehe Dario, Angelo und Damiano zwar auch sehr nahe, aber Franco ist obendrein auch noch mein bester Freund.
Lächelnd gehe ich ran. »Hey. Was gibt’s?«
Ich höre ihn gähnen, dann murmelt er: »Verdammt, ich werde noch an Schlafentzug sterben.«
Ich lache leise und setze mich hinter meinen Schreibtisch. Beim Hochfahren des Laptops sage ich: »Das ist wohl so, wenn man Drillinge hat.«
Franco hat vor ein paar Jahren geheiratet und ist gerade stolzer Vater von drei wunderschönen Babys geworden. Seitdem sehe ich nicht mehr viel von ihm, weil seine Familie die gesamte Zeit einnimmt.
Wenn ich es mir recht überlege, habe ich in letzter Zeit auch von Angelo nicht viel gesehen. Er ist nämlich ähnlich oft mit seiner Frau und seinem Kind beschäftigt.
Aber ich bin nicht der einzige Single in unserer Truppe. Und es sieht auch nicht so aus, als würden Dario und Damiano sich in nächster Zeit fest binden, deshalb kann ich mit den beiden immer noch hin und wieder abhängen.
»Jaja.« Franco gähnt erneut, bevor er sich räuspert. »Deine Lieferung ist übrigens ohne Zwischenfälle in Peru angekommen.«
»Danke für die Info.« Ich lehne mich im Stuhl zurück. »Wann sehen wir uns eigentlich mal wieder?«
»Du kannst jederzeit gern hier vorbeikommen und uns mit den Kindern helfen.«
Ich muss lachen. »Danke, ich passe. Mit schreienden Babys kann ich nicht viel anfangen.«
Giulio betritt mein Büro und setzt sich mir gegenüber.
In diesem Moment höre ich am anderen Ende des Handys ein Baby weinen und Franco seufzt müde. »Ich muss auflegen.«
»Viel Erfolg!« Lachend beende ich den Anruf.
»Franco?«, fragt Giulio.
»Ja. Er ist total erledigt. Die Drillinge halten ihn ständig wach.«
Giulio mustert mich einen Moment lang, dann fragt er: »Hast du eigentlich jemals vor, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«
Kopfschüttelnd wende ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Laptop-Bildschirm zu. »Nein.«
»Aber du brauchst doch einen Erben, der übernimmt, wenn du mal in Rente gehst.«
Mein Blick huscht zu seinem Gesicht, bevor ich wieder auf den Bildschirm schaue. »Ich hab doch Elio.«
Giulio nimmt einen Stift aus der Halterung auf meinem Schreibtisch, schnappt sich einen Notizblock und beginnt darauf zu kritzeln. »Ja, aber Elio ist doch noch älter als du. Was ist, wenn er auch in Rente gehen will?«
»Herrgott, heute stellst du aber ganz schön viele Fragen«, murmele ich.
Ich öffne das Dokument mit der Bestandsliste des Restaurants und überprüfe, ob Alain, der Chefkoch, nicht wieder zu viele Zutaten bestellt hat. Einmal hat der Mistkerl so viele Forellen geordert, dass man eine ganze Armee damit hätte durchfüttern können. Und am Ende sind drei Viertel davon im Müll gelandet.
Giulio beugt sich vor und klebt die Haftnotiz auf den Bildschirm, dann grinst er mich an.
Er hat ein Comicmännchen gezeichnet, das ein schreiendes Baby auf dem Arm hält.
Glucksend sagt er: »Das könnte deine Zukunft sein.«
Ich reiße den Zettel vom Bildschirm, und als ich versuche, ihn ihm zuzuwerfen, schwebt das Papier über den Schreibtisch.
»Hör auf, herumzualbern, und lern lieber was.«
Ich warte, bis Giulio seinen Stuhl auf meine Seite des Schreibtisches geschoben hat, dann beginne ich, ihm die Besonderheiten der Küche eines Restaurants zu erklären.
Keine fünf Minuten später gähnt der Mistkerl und murrt: »Wo bleibt eigentlich mein Essen?«
Ich sehe ihn mit ernstem Blick an. »Wolltest du für immer mein Fahrer bleiben?«
Hastig schüttelt er den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Je schneller du alles lernst, desto eher wirst du auch befördert.«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Befördert?«
Eigentlich wollte ich das Gespräch über Giulios Beförderung auf später verschieben, aber da ich glaube, dass er einen Anreiz braucht, sage ich: »Ich möchte dich zu Elios Stellvertreter ausbilden. Glaubst du, dass du das schaffst?«
Der Schock lässt seine Gesichtszüge erstarren und er sieht mich eine ganze Minute lang an, während er offenbar verarbeitet, was ich da gerade gesagt habe.
Als es an der Tür klopft, rufe ich: »Herein!«
Sophia, eine der Kellnerinnen, betritt das Büro mit einem Tablett und stellt es auf die Ecke des Schreibtisches. Normalerweise würde Giulio jetzt mit der jungen Frau flirten, aber er starrt mich immer noch schockiert an.
»Ist das alles?«, fragt Sophia, den Blick fest auf Giulio geheftet. Es ist offensichtlich, dass sie auf meinen kleinen Bruder steht.
»Ja. Du kannst gehen«, murmele ich.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, heben sich meine Mundwinkel und ich lege ihm eine Hand auf die Schulter.
»Verstehst du jetzt, warum ich dich nicht zum Leibwächter ausbilden lassen will?«
Er nickt eifrig, dann verziehen sich seine Gesichtszüge gerührt.
»Aber es bedeutet sehr viel und sehr harte Arbeit«, warne ich ihn.
Er nickt erneut, offenbar immer noch sprachlos.
Ich deute auf das Tablett. »Iss, bevor es kalt wird.«
Giulio sieht mich unverwandt an. Seine Stimme klingt ungläubig, als er fragt: »Du willst mich wirklich zum Unterboss machen?«
»Du bist mein kleiner Bruder, Giulio. Niemand wäre daher besser dazu geeignet, die Nachfolge anzutreten, wenn Elio und ich in Rente gehen.« Das spreche ich nicht oft aus, aber es ist ja auch allgemein bekannt.
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Dann stürzt er sich auf mich, um mich zu umarmen, und sieht dabei verdammt glücklich aus.
»Ich werde dich ganz bestimmt nicht enttäuschen, Renzo«, verspricht er mit angespanntem Tonfall.
Ich klopfe ihm auf den Rücken und antworte: »Ich weiß.«
Skylar
Mit jedem Tag werde ich schwächer und Dad immer verzweifelter. Als Dr. Bentall uns sagte, dass mir nicht mehr viel Zeit bliebe, konnte ich die Tatsache, bald sterben zu müssen, nur schwer verarbeiten. Eine Million Dinge gingen mir durch den Kopf.
Das Leben ist unfair.
Ich bin noch viel zu jung.
Ich hatte bisher kaum eine Chance, zu leben.
Was passiert eigentlich, wenn man stirbt?
Gibt es einen Himmel oder ist es so wie vor der Geburt, wo alles einfach nur schwarz ist?
Ich werde niemals meine eigene Küche leiten.
Ich werde nie wieder Essen für Dad kochen.
Ich werde niemals heiraten und Dad wird mich nicht zum Altar führen können.
Ich werde keine Kinder bekommen.
Es ist unfair.
Aber die Gedanken verblassten langsam, und an ihre Stelle trat eine gewisse Akzeptanz im Sinne von: »Es ist, wie es ist.«
Man kann das Unvermeidliche nicht bekämpfen.
Immer, wenn ich glaube, dass etwas zu schwer oder unmöglich zu bewältigen ist, schaffe ich es irgendwie doch, es zu überwinden. So ist es auch mit dem Sterben. Am Ende habe ich mich mit dem, was auf mich zukommt, abgefunden, nur um nicht den Verstand zu verlieren.
Dad betritt das Krankenzimmer und ein müdes, aber glückliches Lächeln huscht über sein Gesicht. Nachdem ich mein Schicksal akzeptiert hatte, habe ich beschlossen, jede Sekunde, die mir mit meinem Vater noch bleibt, zu genießen.
Wenn ich nicht mehr da bin, soll er sich nur an mein Lächeln und nicht an meine Tränen erinnern.
»Hey, Daddy«, sage ich leise. In meinem Ton schwingt all die Liebe mit, die ich für ihn empfinde.
»Hallo, mein Schatz.« Er setzt sich auf den Sessel neben meinem Bett und nimmt meine Hand. Wie immer drückt er einen Kuss auf meine Finger, bevor sein Blick über jeden Zentimeter meines Gesichts schweift.
Mein Lächeln wird breiter, dann sage ich: »Weißt du noch, als du Mom gedatet hast? Immer, wenn du vorbeigekommen bist, habe ich mich an derselben dämlichen Stelle versteckt.« Ein Glucksen entringt sich meiner Kehle.
Dads Mundwinkel heben sich. »Hinter den Vorhängen im Wohnzimmer. Deine Füße guckten raus.«
Ich muss wieder kichern. »Und du hast immer so getan, als würdest du überall nach mir suchen.« Meine Finger umschließen Dads Hand fester. »Ich verdanke dir so viele ganz besondere Erinnerungen.«
Dads Kinn zittert und er räuspert sich, bevor er sagt: »Und wir werden auch noch viele weitere Erinnerungen schaffen.«
Sein Handy klingelt. Er lässt meine Hand los, kramt das Gerät aus seiner Tasche und geht aus dem Zimmer. Ich höre ihn noch sagen: »Bitte, ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich … Der Preis spielt keine Rolle … Ja … Ja …«
Mehr höre ich nicht, da seine Stimme immer leiser wird, aber Minuten später kommt er mit einer gewaltigen Erleichterung im Gesicht zurück. Er beugt sich über mich, umfasst mein Gesicht und sieht mir fest in die Augen.
»Du bekommst morgen eine neue Niere, mein Schatz.«
Der Schock trifft mich wie ein Fausthieb, und ich kann nur flüstern: »Wie bitte?«
»Ich habe jemanden gefunden, der uns helfen kann. Die Operation wird schon morgen stattfinden.«
Dad beugt sich näher zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du wirst wieder gesund.«
Die verzweifelte Hoffnung, die ich die ganze Zeit unterdrückt hatte, explodiert plötzlich in meiner Brust, und sofort dringt ein Schluchzen über meine Lippen. Für einen Moment fühlt es sich an, als hätte ich eine außerkörperliche Erfahrung. Meine Haut kribbelt und mein Herz rast wie verrückt.
Ein paar Tränen stehlen sich aus Dads Augen und seine Stimme klingt heiser, als er wiederholt: »Du wirst wieder gesund, mein Schatz.«
Ich kann nur noch schluchzen, nicke aber gleichzeitig.
Vor einer Sekunde war mein Leben noch vorbei und ich wartete lediglich auf den sicheren Tod.
Jetzt bin ich auf einmal erfüllt von einer schwindelerregenden Erleichterung und Hoffnung.
Ich bekomme eine neue Niere.
Ich muss nicht sterben.
Renzo
Während ich auf die Uhr schaue, runzele ich die Stirn, als ich sehe, dass es bereits sechs Uhr morgens ist.
Giulio war gestern Abend in einem Club und ist noch nicht zurückgekommen. Ich dachte, er hätte sich mit einem Mädchen getroffen, aber um sechs ist er immer wieder zu Hause, damit er noch duschen und frühstücken kann, bevor wir losfahren müssen.
Ich nehme mein Handy vom Küchentisch, wähle seine Nummer und nippe dabei an meinem Kaffee.
Statt zu klingeln, landet der Anruf direkt auf der Mailbox. Ich warte auf den Piepton, dann sage ich: »Ich hoffe für dich, dass du innerhalb der nächsten fünf Minuten hier auftauchst.«
Ich beende den Anruf und stecke das Gerät in die Brusttasche meines Jacketts. In dem maßgeschneiderten dunkelblauen Dreiteiler, den ich trage, bin ich bereit, mich an die Arbeit zu machen. Und es gibt auch jede Menge zu tun.
Ich hasse es, zu warten, und Giulio weiß das.
Er ignoriert meine Anrufe sonst nie.
Das sieht ihm gar nicht ähnlich.
Dann vibriert mein Handy plötzlich, und da ich glaube, dass es Giulio ist, ziehe ich es erleichtert wieder aus der Tasche. Doch anstelle von Giulios blinkt Elios Name auf dem Display.
Ich gehe ran und murmle: »Ja?«
»Du musst sofort kommen. Ich bin in einer Gasse in der Nähe des Presbyterian-Krankenhauses in New York. Ich schicke dir die genauen Koordinaten.«
Stirnrunzelnd frage ich: »Wieso? Was ist denn passiert?«
»Komm einfach her, Renzo!«
Die Sorge, die ich gerade eben noch verspürt hatte, kehrt mit der Wucht einer Atombombe zurück. Und detoniert mitten in meiner Brust. »Geht es um Giulio?«
»Ja.«
»Bin unterwegs!«
Ich lasse die Tasse Kaffee in die Spüle fallen, renne aus der Küche und steuere auf den Aufzug meines Penthouses zu. Während der Fahrt in die Tiefgarage mache ich mir Gedanken über alles, was Giulio zugestoßen sein könnte.
War er in eine Schlägerei verwickelt?
Als die Fahrstuhltür unten aufgeht, eile ich hinaus und Vincenzo und Fabrizio gehen umgehend in Habachtstellung.
»Was ist los?«, fragt Vincenzo.
»Wir müssen sofort zu Giulio«, antworte ich, während ich hinten in den Bentley steige.
Fabrizio setzt sich hinter das Lenkrad und fragt: »Wo ist er denn?«
Ich schicke Fabrizio die Koordinaten aufs Handy. »Es ist in der Nähe des Presbyterian-Krankenhauses. Elio ist bereits dort. Beeilung.«
Während der Fahrt wähle ich Elios Nummer, und sobald er abhebt, frage ich: »Was ist passiert? Geht es ihm gut?«
»Ich erzähle dir alles, wenn du hier bist«, sagt Elio, und an der Anspannung in seiner Stimme erkenne ich, dass es sehr schlimm sein muss.
Giulio.
»Nein, sag es mir jetzt«, befehle ich, und mein Ton lässt keinen Spielraum für Diskussionen zu.
»Antonio hat einen Anruf von seiner Cousine bekommen, die ist Krankenschwester in dem Krankenhaus. Sie hat Giulio erkannt, als sie für einen zwielichtigen Auftrag eingespannt wurde.«
Als Elio stockt und nicht weiterspricht, schnauze ich: »Lebt er noch?«
»Renzo«, stöhnt er.
Nein.
Ein eisiges Gefühl durchfährt mich, gefolgt von einem unbarmherzigen Dolchstoß mitten in mein Herz.
Elio räuspert sich und sagt dann: »Du musst sofort herkommen.«
»Wir sind nur noch ein paar Minuten entfernt«, sage ich, und mein Tonfall klingt genauso eisig, wie sich mein Herz anfühlt.
Er ist nicht tot.
Er ist doch erst zwanzig.
Ich habe alles getan, um ihn zu beschützen.
Giulio kann nicht tot sein.
Auf gar keinen Fall.
Meine Gedanken überschlagen sich, und als wir am Eingang der Hintergasse ankommen, stoße ich die Tür des Bentleys auf und renne los, sobald meine Füße den Boden berühren.
»Wo bist du?«, knurre ich ins Telefon.
»Ich sehe dich«, antwortet er, als er auch schon in Sichtweite kommt.
Als ich ihn erreiche, eilen wir an ein paar Müllcontainern vorbei, die am Rand der Gasse stehen, bis diese sich zu einem verlassenen Grundstück öffnet. Ein unbeschrifteter Lastwagen steht dort, umringt von meinen Leuten.
»Das hier ist total abgefuckt, Renzo«, sagt Elio. »Mach dich auf was gefasst.«
Mein Blick huscht zu dem Mann, der meine rechte Hand ist. »Auf was?«
Er schüttelt den Kopf, sein Gesicht ist aschfahl und es sieht aus, als würde er sich jeden Moment übergeben.
Als wir uns der offenen Tür an der Seite des Lastwagens nähern, sagt er nur: »Organhandel.«
Da ich in einer Welt des Verbrechens lebe, weiß ich genau, was er damit meint.
Eine zerstörerische Wut erfüllt jeden Zentimeter meines Wesens, bis es sich anfühlt, als würde mein gesamter Körper vibrieren.
Ich habe keine Chance, mich darauf vorzubereiten, und als ich die vier Stufen hinaufsteige und den Lastwagen betrete, wird mir jegliche Luft aus der Lunge gepresst.
Das Innere des Lastwagens wurde zu einer mobilen chirurgischen Einheit umgebaut.
Antonio, einer meiner Männer, steht neben einer Frau, von der ich annehme, dass sie besagte Cousine sein muss.
Zwei Leichen unbekannter Männer liegen auf dem Boden. Auf einem Tisch stehen Kühlboxen, dann fällt mein Blick auf Giulios leblosen Körper.
Großer Gott.
Ich habe schon sehr viel Scheiße gesehen, aber bei diesem Anblick dreht sich mir der Magen um, und ich muss mich beherrschen, um nicht zu kotzen.
Von seiner Brust bis hinunter zum Bauch verläuft ein sehr langer Schnitt.
»Ich habe versucht, ihn wieder zusammenzunähen«, sagt die Krankenschwester mit zittriger Stimme.
Mein Blick schnellt zu ihr, und sie zuckt zusammen und versucht, sich hinter ihrem Cousin zu verstecken. »Erzähl mir, was passiert ist«, befehle ich mit leiser, aber bedrohlicher Stimme.
»Einer der Ärzte kam zu mir und fragte, ob ich mir etwas dazuverdienen wolle. Als er mir sagte, worum es bei dem Job ging, stimmte ich zu, weil ich wusste, dass die Cosa Nostra gegen Organhandel ist und ich sämtliche Informationen brauchen würde, die ich bekommen konnte. Ich habe auch geglaubt, den Patienten helfen zu können. Dann habe ich Antonio angerufen und er kam auch sofort her, aber als ich eintraf, hing Giulio bereits an einer Herzlungenmaschine.« Die Worte rauschen ihr regelrecht über die Lippen, jedes einzelne erfüllt von purer Angst.
»Sie hatten seine Organe bereits entnommen und waren dabei, sie für den Transport vorzubereiten.« Sie hält sich mit zittriger Hand den Mund zu. »Es tut mir so unglaublich leid, Mr. Torrisi. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.«
»Raus hier. Alle«, knurre ich, während mein Blick wieder auf Giulio fällt. »Sofort!«
Erst als die Tür hinter der letzten Person, die den Raum verlässt, ins Schloss gefallen ist, beuge ich mich über den OP-Tisch und schaue auf Giulio, dessen Gesicht mit zahlreichen Prellungen übersät ist. Seine Nase ist gebrochen und sein linkes Auge zugeschwollen. An seiner Schläfe klebt getrocknetes Blut, und an seiner Kehle sind violette Flecken zu sehen.
Ich untersuche ihn weiter und bemerke die aufgerissene Haut an seinen Fingerknöcheln. Es gibt jedoch keinerlei Schuss- oder Stichwunden.
Mein Blick wandert zurück zu seinem Gesicht, und als ich die Leichenblässe seiner Haut sehe, trifft mich der Herzschmerz so verdammt hart, dass ich einen Schritt zurücktreten muss.
Ich hebe eine Hand, greife mir an den Nacken und schüttle langsam den Kopf.
»Nein.« Das einzelne Wort ist nichts weiter als ein Stöhnen.
Dann trete ich wieder näher an den OP-Tisch heran, auf dem er liegt, beuge mich über meinen kleinen Bruder und umfasse mit zitternden Händen sein verprügeltes Gesicht.
Ich spüre, wie kalt er ist, und ein Atemzug entweicht meinen Lippen, bevor ein gebrochener Schrei aus meiner Seele gerissen wird.
Ich presse meine Stirn gegen seine, und der unerträgliche Schmerz darüber, meinen Bruder verloren zu haben, lässt meine Seele bluten.
Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit habe ich schon zahlreiche Verluste erlitten, aber keiner davon war vergleichbar mit diesem hier. Der bittere Schmerz vermischt sich mit einer unkontrollierbaren Wut und treibt mich an den Rand des Wahnsinns.
Ich richte mich wieder auf und schaffe es kaum, meinen Atem zu kontrollieren, während ich mich erneut im Raum umsehe. Als ich die Kühlboxen entdecke, eile ich um den Operationstisch herum und öffne eine nach der anderen. Organe befinden sich darin.
Sie sind mit Etiketten gekennzeichnet, auf denen steht, um welches Organ es sich jeweils handelt und wohin es geliefert werden soll.
Als ich sein Herz entdecke, durchfährt mich ein heftiger Schauder. So intensiv, dass es sich anfühlt, als würde der verdammte Boden unter meinen Füßen beben.
Ich kann nicht mehr rational denken, und während ich den Behälter mit Giulios Herz an mich nehme, lasse ich mich auf den Boden sinken und drücke ihn fest an meine Brust.
Mit geschlossenen Augen höre ich nur noch, wie mein Atem rau über meine Lippen kommt.
Und dann höre ich plötzlich Giulios Lachen.
Sehe sein ansteckendes Lächeln.
Jede einzelne Erinnerung, die ich an ihn habe, überflutet mich. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis ich wieder zu Sinnen komme.
Mein Kummer vermischt sich mit Wut, bis daraus ein mörderisches, blutrünstiges Verlangen nach Rache entsteht.
Ich werde jede einzelne Person vernichten, die in das hier verwickelt war.
Bis sämtliche Straßen von New York mit ganzen Flüssen aus Blut überflutet sind.
Renzo
Als ich die Tür öffne, fällt mein Blick auf die Krankenschwester, und ich befehle: »Mach ihn auf und steck seine Organe wieder in seinen Körper zurück.«
Sie nickt kreidebleich, während sie vorsichtig wieder in den Lastwagen klettert.
Elio folgt ihr hinein. Sein Gesicht ist von Sorge und Trauer gezeichnet. »Das ist total abgefuckt.«
»War Antonio der erste Mann vor Ort?«, frage ich und sehe den Genannten fest an.
Antonio kommt näher, nickt und deutet auf die Leichen auf dem Boden. »Ich hab einfach unüberlegt reagiert und nicht daran gedacht, einen von ihnen am Leben zu lassen, um Informationen aus ihm rauszubekommen. Tut mir leid, Boss.«
»Erzähl mir alles, was du weißt«, befehle ich. »Lass nichts aus.«
Er deutet erneut auf die Leichen. »Ich habe die Wichser dabei erwischt, wie sie gerade Giulios Organe entnommen haben, und habe sie sofort umgelegt. Danach habe ich Elio angerufen.«
Mein Blick wandert zu Bianca, die gerade den Schnitt an Giulios Brust wieder öffnet, und kehrt dann zu Antonio zurück.
»Eine seiner Nieren wurde bereits für eine Transplantation weggebracht«, sagt Bianca und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich konnte es nicht verhindern, sonst hätte ich mich verraten. Ich musste zusammen mit dem Arzt die Dokumente dafür unterschreiben, damit es legitim aussieht.«
Meine Wut steigert sich zu einem gewaltigen Sturm, und ich stoße nur noch drei Worte aus. »Mit welchem Arzt?«
Ihre Augen sind immer noch riesig vor Angst, während sie antwortet: »Dr. Bentall.«
»Wer hat die Niere bekommen?«, frage ich mit immer grimmiger werdendem Tonfall.
»Eine Frau«, antwortet Antonio im Namen seiner Cousine. »Sobald Bianca hier fertig ist, kann sie uns alle weiteren Informationen besorgen.« Er wirft seiner Cousine einen kurzen Blick zu, bevor er mich wieder ansieht. »Ich brauche Schutz für Bianca. Nur, bis das Problem gelöst ist.«
Der Schock, meinen Bruder verloren zu haben, trifft mich erneut wie ein Hammerschlag, und ich verschränke die Arme vor der Brust, während mein Blick zu Giulios leblosem Körper zurückkehrt.
Bianca behandelt jedes einzelne Organ mit größter Sorgfalt, während ihr die Tränen über die Wangen laufen.
Als sie die Wunde wieder schließt und sich einen Moment Zeit nimmt, um Giulios Brust zu reinigen, sage ich: »Elio, besorg ein paar Leibwächter für Bianca. Sie sollen sie zum Haus in den Hamptons bringen und dafür sorgen, dass sie sich dort wohlfühlt.«
Biancas Augen huschen zu meinem Gesicht. »Danke, Mr. Torrisi. Es tut mir so leid, dass ich nichts mehr für ihn tun konnte.«
Ich nicke und murmele: »Dir Schutz zu gewähren, ist das Mindeste, was ich tun kann, um mich für deine Loyalität der Familie gegenüber zu bedanken.«
Ich deute mit einer Kopfbewegung zur Tür und befehle: »Antonio, nimm zwei Männer und begleite Bianca, während sie die Informationen bezüglich der Transplantation einholt. Ich möchte, dass jemand diesen Arzt rund um die Uhr überwacht.«
Als die Gruppe geht, schaue ich Vincenzo an. »Ruf unseren Kontakt im Leichenschauhaus an und lass Giulio dorthin bringen, damit er für die …« Ich schaffe es nicht, das Wort »Beerdigung« auszusprechen, und schüttle einfach nur den Kopf.
»Schon dabei, Boss«, antwortet Vincenzo mit heiserer Stimme.
Jeder, der Giulio kannte, wird den Verlust spüren. Sein Tod wird eine klaffende Lücke in unser aller Leben hinterlassen.
»Sollen wir diesen mobilen Operationssaal zum Lagerhaus bringen?«, fragt Elio. »Vielleicht finden wir noch was, das uns dabei hilft, diesen Organhändlerring in New York aufzuspüren.«
Während ich nicke, entsteht draußen ein Tumult, und eine Sekunde später wird ein Mann von Carlo und Emilio, zweien meiner Soldaten, in den Lkw gezerrt.
»Wir haben den Wichser gerade beim Herumschnüffeln erwischt, Boss«, erklärt Carlo.
Mit wuterfüllter Stimme befehle ich: »Bringt ihn ins Lagerhaus. Ich kümmere mich um ihn, sobald ich hier fertig bin.«
»Ist gut, Boss«, antwortet Carlo, bevor sie den Mann wegschleifen.
»Wir sollten Franco und die anderen informieren«, merkt Elio an.
Es gibt noch so viel zu tun, dass mir beinahe schwindlig wird, und ich habe Mühe, mich zu konzentrieren, während ich mein Handy aus der Tasche ziehe.
Dann gehe ich in den Gruppenchat mit den anderen Anführern der Cosa Nostra und drücke auf das Symbol für Videoanrufe.
Einer nach dem anderen wird verbunden, bis all ihre Gesichter das Display füllen.
Dario ist der Erste, der fragt: »Was gibt’s?«
Mein Blick wandert zu Giulios Leiche, und ich muss schwer schlucken, bevor ich sagen kann: »Giulio wurde getötet.«
Alle Gesichter auf dem Display erstarren.
»Großer Gott, Renzo. Ich komme sofort vorbei«, sagt Dario, der bereits durch sein Penthouse eilt. »Wo seid ihr?«
»Nein. Bleibt in der Nähe eurer Computer. Sobald ich mehr weiß, müsst ihr für mich nach Informationen graben.«
Erst dann erholt sich Franco weit genug von seinem ersten Schock, um zu sagen: »Es tut mir so unglaublich leid.«
Auch Angelo und Damiano sprechen mir ihr Beileid aus, dann fragt Damiano: »Wisst ihr schon, wer ihn getötet hat?«
Ich schüttle den Kopf. »Es ging um Organhandel.«
»Verdammt«, murmelt Angelo. »Damit haben wir nicht gerade oft zu tun.«
»So gut wie nie«, fügt Dario hinzu.
Damiano, der Capo dei Capi – der Boss aller anderen Capos – hat einen finsteren Ausdruck im Gesicht. »Findet heraus, wer in unserer Gegend mit Organen handelt, und eliminiert sie.«
Ich nicke und werfe noch einen Blick auf Giulio. »Ich rufe an, sobald ich mehr Informationen habe.«
Bevor einer von ihnen noch etwas sagen kann, beende ich das Gespräch und trete näher an den OP-Tisch heran. Die Trauer, die kurzzeitig meiner Wut gewichen ist, kehrt mit heftiger Wucht zurück, als ich meinen kleinen Bruder ansehe.
Ich beuge mich zu ihm hinunter, drücke ihm einen Kuss auf die Stirn und flüstere: »Addio, fratello. Ti vendicherò.«
Dann richte ich mich wieder auf, wende mich von Giulio ab und schaue Elio in die Augen. »Bleib hier, bis alles geklärt ist.«
»Wo willst du hin?«, fragt er.
»Zum Lagerhaus.« Ich gehe zur Tür und füge hinzu: »Sag mir sofort Bescheid, wenn ihr Neuigkeiten habt.«
»Natürlich.«
Fabrizio und Vincenzo flankieren mich, während wir die Gasse entlanggehen.
Er hatte es nicht verdient, so zu sterben.
In einem verdammten mobilen Operationssaal am Ende einer verlassenen Gasse.
Aufgeschlitzt, als wäre er nichts weiter als Schlachtvieh.
Die Wut in meiner Brust wird mordlustig und gnadenlos, und als wir den Bürgersteig, auf dem der Bentley geparkt ist, erreichen, weichen mir die Fußgänger ängstlich aus.
Ich werde jeden einzelnen Verantwortlichen für Giulios Tod jagen. Niemand wird meinem Zorn entkommen.
Als ich das Lagerhaus betrete, blicke ich in die traurigen Gesichter meiner Männer. Hier und da hebt einer von ihnen das Kinn oder zollt mir anderweitig seinen Respekt, aber die meisten bleiben einfach still.
Ich gehe nach hinten und die Treppe hinauf zu dem Raum, in dem Carlo den Mistkerl, den sie beim Herumschnüffeln in der Gasse gefunden haben, vor sich auf dem Betonboden knien lässt.
Emilio hat bereits sämtliche Folterinstrumente ausgebreitet und steht hinter dem Mann bereit.