Hüttengaudi - Nicola Förg - E-Book
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Nicola Förg

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Beschreibung

Kommissarin Irmi Mangold ärgert sich: Warum hat sie sich nur von ihrer Nachbarin zu dieser albernen Schrothkur in Oberstaufen überreden lassen? Und dann steht sie am Urlaubsort plötzlich vor einem Toten, der ihr mehr als bekannt vorkommt: ihrem Exmann Martin Maurer ... Währenddessen hat es Kollegin Kathi Reindl in Garmisch mit dem toten Liftmann Xaver Fischer zu tun, der zu Lebzeiten im Skiclub mitmischte. Ein arger Dorn im Auge war ihm die moderne Skihütte, deren Wirte er so piesackte, dass sie schließlich verkaufen wollten. Zwei Mordfälle an zwei verschiedenen Orten, aber beide Male dieselbe Todesursache – alles nur Zufall?

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www.piper.de

Für Lutz, der achtsam mit dem Menschen umgeht

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95180-7

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: plainpicture / bildhaftKarten: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»I … I’m a roamer in timeI travel aloneThroughout an endless journeyHome … Where is my homeFragments of a love lifeI won’t surrender.Misen, Soundtrack zu »Der Adler«

Prolog

Was hatte ihre Mutter ihr zum Dreißigsten grinsend auf den weiteren Lebensweg mitgegeben? Als Frau musst du dich irgendwann entscheiden, ob du eine Kuh oder eine Ziege werden willst. Irmi hatte das schrecklich zynisch gefunden – und über die letzten zwanzig Jahre zugenommen. Damit gehörte sie eindeutig in die Kategorie Kuh, dabei hatte sie sich für diese Statur gar nicht bewusst entschieden. Die Pfunde waren einfach über sie gekommen – mäßig, aber gleichmäßig.

Sie war nicht eitel, höchstens ein ganz kleines bisschen. Sie war kein Fashion Victim, wirkte aber auch nicht ungepflegt. Kleidung kaufte sie meist im Vorübergehen an Sonderpreisständern – weniger wegen des reduzierten Preises, sondern weil sie sich ihr quasi in den Weg stellte. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, freiwillig einen Modeladen zu betreten. Shopping stand auf ihrer Liste überhaupt nirgendwo.

Außerdem gab es Kataloge, in denen man die Ecken umknicken konnte von all den Seiten, auf denen Verlockendes zu sehen war. Sie nahm die Kataloge bisweilen mit in die Badewanne, wo sie regelmäßig abstürzten, woraufhin die bereits ausgefüllten Bestellkarten bis zur Unkenntlichkeit verwischten und sich die Eselsohren mitsamt des Katalogs auflösten.

Eigentlich empfand sie es jedes Mal als Affront, wenn so ein Moppelfrauenkatalog eintraf: von Größe vierzig bis Größe sechzig. Woher wussten die, dass sie keine Größe sechsunddreißig war? Vermutlich durch den Verkauf von Adressen, was Datenschutz betraf, gab sie sich als Polizistin erst recht keinen Illusionen hin. Es kamen auch Werbeblättchen mit Wunderpillen – und ja, sie war gefährdet. Verschämt dachte sie immer wieder mal darüber nach, sich so etwas zu bestellen. Klang einfach zu gut und zu einfach: essen wie sonst und dabei abnehmen. Fressen wie beim römischen Gelage und dann die Ich-setz-nicht-an-Pille hinterher. Auch die Bauchmuskeltrainer aus dem Shopping-Fernsehen ließen sie immer mal zusammenzucken. Sollte sie sich so was mal bestellen? Nein, natürlich würde sie das nicht tun. Das wäre ja peinlich.

Und dann war Lissi gekommen, ihre Nachbarin. Lissi, das Energiewunder. Lissi, der Kugelblitz. Einsfünfundfünfzig groß und rund. Dabei war sie beileibe nicht fett oder unförmig, nur eben rund mit dem besten Dirndldekolleté, das man sich vorstellen konnte. Von Figurfragen war sie meist unbeeindruckt, umso mehr hatte sich Irmi gewundert, als Lissi ihr die kühne Frage gestellt hatte, ob sie mit ihr nach Oberstaufen fahren wolle.

Irmi hatte erst einige Sekunden überlegt: Oberstaufen? Lag das nicht irgendwo kurz vor Vorarlberg, wo die Menschen so einen drolligen Dialekt hatten? Und was sollten sie dort?

»Wir machen eine Schrothkur«, hatte Lissi erklärt.

Leicht befremdet hatte Irmi das »wir« registriert, aber in ihrer flammenden Rede für das Schrothwesen hatte ihre Nachbarin am »wir« festgehalten. »Was glaubst du, wie gut uns das tut! Es geht uns ja nicht ums Abnehmen. Es geht ums Entgiften. Ohne Verzicht kein Genuss, ohne Kampf kein Sieg, ohne Reinigung keine Heilung«, schmetterte sie.

Irmi fragte sich, aus welcher Broschüre sie das wohl hatte. Ihre Einwände, sie müsse weder kämpfen, noch bedürfe sie irgendeiner Heilung, wurden geflissentlich übergehört.

»Wir brauchen das. Mal raus aus dem Alltag. Und Oberstaufen passt viel besser zu uns als die Karibik oder so.« Schwungvoll hatte Lissi ein Unterkunftsverzeichnis auf den Tisch geworfen. »Ich hab auch schon was ausgesucht für uns. Was Kleines, Kuscheliges.«

Hinterher hatte Irmi nicht den blassesten Schimmer, warum sie schließlich zugestimmt hatte.

Wie hatte ihre Mutter das gestern formuliert? »Wenn du weiter so abnimmst, wirst du in zehn Jahren aussehen wie eine alte Ziege. Mager und faltig – zickig bist ja eh schon.« Sie hatte das »mager« besonders tirolerisch betont: »mooger«. Ihre Tochter Sophia war herumgehüpft wie ein Derwisch und hatte laut gerufen: »Mama ist ’ne Zicke, Mama ist ’ne Zicke!«

Kathi hatte beide mit einem »Leckts mi« gestoppt, die Tür zugeknallt und war die Treppe hinaufgerannt mit einem Geräuschpegel, der auch auf eine Herde Flusspferde hätte deuten können. Vorausgesetzt, Flusspferde würden durch Tiroler Häuser trampeln.

Kathi war vor den Spiegel getreten, hatte ihr bauchfreies T-Shirt noch weiter hochgezogen und nüchtern konstatiert: Rippen statt Wölbung nach außen. Die Brüste noch kleiner als früher, und da hatte sie auch nicht gerade in der Dolly-Buster-Liga gespielt. Das knochige Dekolleté gefiel ihr wirklich nicht. Sie drehte sich um und blickte über die Schulter. Kein Arsch in der viel zu weiten Jeanshose. Man konnte es nicht mal auf den Modetrend der »Boyfriend-Jeans« schieben. Das war eine ganz normale Damenhose, die ihr früher mal richtig gut gepasst hatte.

Dann schob sie das Kinn näher an den Spiegel heran und betrachtete ihr Gesicht. Sie war hübsch, das war sie immer schon gewesen. Auf der Stirn traten erste schmale Falten zum Vorschein, in den Augenwinkeln auch. Sie würde in ein paar Tagen dreißig werden und dabei ziemlich »mooger« daherkommen.

Dabei aß sie genug, mehr als Irmi und ihre Kollegin Andrea, die schon zunahmen, wenn sie das Wort Fleischsalat nur dachten oder die Torte bloß durch die Scheibe beim Konditor ansahen. Richtig neidisch waren die beiden auf sie.

Jetzt allerdings war sie zugegebenermaßen arg schmal geworden. Das lag auch an ihrem Neuen. Sven studierte Architektur in München und war erst fünfundzwanzig. Außerdem war er Veganer. Und weil Kathi dieses ganze Grün- und Körnerzeug nicht mochte, ihn aber nicht durch den Verzehr toter Tiere provozieren wollte, aß sie lieber gar nichts.

Sie und Sven hatten sowieso wenig Zeit zum Essen. Schließlich gab es auch Wichtigeres, wenn der eine nächtelang über Modellen in München saß und die andere mit unmöglichen Dienstzeiten in Garmisch. So oft trafen sie sich nicht, aber wenn sie sich trafen … Kathi war jedes Mal ein wenig überrascht, dass ein eher anämischer Kulturmensch es im Bett so krachen lassen konnte.

1

Da saß sie nun in dem eher puristisch eingerichteten Hotelzimmer. An den Wänden hingen Bilder von Allgäuer Landschaften. Der Hochgrat, der Alpsee, eine üppig geschmückte Kuh beim Almabtrieb. Oder nein, hier hieß das ja Viehscheid.

Eine Einführungsveranstaltung hatte es gegeben mit Erklärungen, die Irmi auch nicht gerade beruhigt hatten. Sie wurden aufgeklärt, dass der Name Schrothkur nichts mit Schrot und Korn zu tun hatte, sondern von einem schlesischen Fuhrmann namens Johann Schroth stammte. Der Mann hatte irgendwann um 1820 nach einem Pferdetritt ein steifes Knie bekommen, sich erfolgreich mit feuchtkalten Wickeln behandelt und daraus dann die Therapie mit einem Ganzkörperwickel abgeleitet. Seine Beobachtung, dass krankes Vieh die Nahrung verweigerte und wenig trank, übertrug er als Diät mit sogenannten Trockentagen auf den Menschen. Er musste ein echter Marketingprofi gewesen sein, denn schon bald hatte er sich einen Ruf als »Wunderdoktor« erarbeitet und eine Kurklinik in Niederlindewiese im heutigen Tschechien eröffnet.

Hermann Brosig, einer der dortigen Kurärzte, war nach englischer Kriegsgefangenschaft nach Oberstaufen gelangt und hatte dort die Schrothsche Heilkur eingeführt.

Nicht, dass Irmi dem Mann seine Karriere nicht gegönnt hätte und sein Überleben im Krieg. Aber hätte der nicht durch Kriegstraumatisierung den ganzen Blödsinn vergessen und mit irgendwas anderem sein Geld verdienen können? Und Oberstaufen – und damit ihr – den Schrothwahnsinn ersparen?

Irmi verfluchte Schroth, Brosig und Lissi, sich selbst aber am allermeisten. Sie hätte ja nur nein sagen müssen. Nun aber saß sie hier neben ihrem Koffer auf dem Bett und wusste, dass sie in wenigen Minuten zum Abendessen antreten sollte.

Abendessen war ein großes Wort. Sie sollte hier zwei Wochen lang cholesterinfreie Nahrung zu sich nehmen, ohne tierisches Eiweiß und Fette. Kein Salz, nur Kohlenhydrate und das im Umfang von fünfhundert Kalorien am Tag. Wussten diese Wahnsinnigen denn nicht, was allein eine einzige Leberkas-Semmel an Kalorien hatte? Von fünfhundert Kalorien konnte doch kein bayerischer Mensch leben!

Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Das dreigängige Menü bestand aus einem Süppchen, das wenig mehr war als gewürztes Wasser, gekochtem Gemüse als Hauptgang und Kompott als Hauch eines Nachtisches. Himmel, ihre Zähne hatte sie doch noch! Schon jetzt sehnte sie sich danach, einfach mal herzhaft in etwas hineinzubeißen.

Lissi war sehr still geworden, das Gespräch verlief eher schleppend. Klar, Lissi fühlte sich schuldig! Gut so, fand Irmi. Ihre Nachbarin murmelte, dass sie gleich ins Bett gehe, weil sie doch gestern noch eine Problemgeburt im Stall gehabt habe und die ganze Nacht wach gewesen sei.

Nun, Irmi war nicht böse um die frühe Schlafenszeit und ruhte trotz ihres Grants gut und traumlos. Plötzlich ertönte von irgendwoher ein schauerliches Geräusch. Felswände schienen einzustürzen, und eine Sirene heulte grauenvoller als alles, was je an ihr Ohr gedrungen war.

Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das Geräusch kam von einem Radiowecker und war so laut, dass es die gesamte Unterwelt geweckt hätte. Hektisch hieb Irmi auf einige Tasten ein, doch das Gerät dröhnte weiter. Mit einem jähen Sprung aus dem Bett erreichte sie die Stromzufuhr und entriss dem Ding den Saft. Leider hing nun auch die halbe Steckdose aus der Wand.

Irmis Herz raste. Dass es nun auch noch klopfte und jemand etwas von Tee flötete, der draußen stehe, gab ihr den Rest. Sie hatte, bevor sie den Wecker so rüde vom Strom getrennt hatte, einen Blick darauf geworfen. Es war halb vier Uhr in der Früh, da stand nicht mal ein Landwirt auf!

Gestern bei der Einführung hatten sie das nun folgende Horrorszenario bereits durchgesprochen: Irmis schlafwarme Haut wurde in feuchte Tücher gewickelt, damit der Körper gegen die Kälte mit einer gesteigerten Durchblutung anheizte. Wärmflaschen im Rücken, an den Füßen und auf dem Bauch trieben den Schweiß zusätzlich aus allen Poren. Die anschließende Schnürung war am schlimmsten. Da durfte man wirklich nicht klaustrophobisch sein. Und von wegen wohlig warme Hülle. Irmis Tüchergefängnis heizte sich nicht auf. Sie fror. Ziemlich lange. Bis sie um Hilfe rief und ihr erklärt wurde, dass ihr Körper eben noch ganz falsch reagiere. Einen bedauernden Blick hatte ihr die Packerin zugeworfen und versichert, dass sie mit zunehmender Entgiftung auch normaler reagieren werde. Normaler?

Immerhin schlief Irmi im Wickel wieder ein und zog sich, nachdem sie entwickelt worden war, nochmals in ihr Bett zurück. Gut, das Frühstück war ja auch nicht der Rede wert, ebenso wenig wie das Mittagessen. Nachdem sie und Lissi sich wirklich nicht für Nordic Walking hatten erwärmen können, hatte man ihnen den Ponyhof empfohlen. Zum Fünf-Uhr-Tee.

Das Lokal entdeckten sie in Weidach. Mit Ponys hatte es wenig zu tun – die Pferdchen hier waren von anderem Kaliber. Vorbei schwebten mit kostbaren Ketten und Armreifen behängte Damen weit jenseits des Alters, das man gerne zugab.

Auf der Terrasse lag ein Flor aus Rosenblättern, offenbar anlässlich einer Hochzeit. Der Mann, der sich verehelicht hatte, war ein berühmter Doppelprofessor an der Uni Tübingen – das entnahmen Irmi und Lissi der Unterhaltung zweier Damen am Nebentisch, deren altersgemäße Taubheit dazu führte, dass sie extrem laut redeten.

Irmi blickte zum Hochzeitspaar hinüber: Das neue Weibchen war eine bildschöne orientalisch aussehende Frau, Irmi vermutete, eine Iranerin. Sie war etwa so alt wie die erwachsenen Kinder des Herrn Professor, denen anzusehen war, wie sehr sie die neue Stiefmama schätzten. Die eine Tochter blickte unentwegt auf das sanft gerundete Bäuchlein der Iranerin. Ein Hauch eines Bauchs – im engen Partykleid aber sichtbar. Die Tochter schien ihre Erbpfründe schwinden zu sehen.

An einem zweiten Tisch saßen weitere geldige Gäste, ebenfalls behängt mit allerlei schwerem Schmuck. Eine Frau redete ohne Punkt und Komma, und Irmi fragte sich, ob diese Dame denn nie Luft holte.

Irgendwann kamen Riesenplatten mit Backhendl, Leberkäse und Obatzda – in den Himmel wachsende Gestelle, die üppig mit Brezen behängt waren. Irmi warf einen Seitenblick auf Lissi, die hektisch an ihrem Wasser sog.

»Ungesundes Zeug«, sagte Lissi. »Ich glaub, wir zahlen mal.«

Wenig später trollten sie sich. Draußen kamen sie an Porsche Cabrios vorbei, einem Maybach, zwei Bentleys, diversen Benzen und ein paar Z3s, die neben den Riesenkutschen so wirkten, als gehörten sie der Putzfrau.

Sie stapften bergwärts, und Irmi war wirklich verwundert, wie frisch sie ausschreiten konnte, obwohl sie nichts gegessen hatte. Schweigend gingen sie voran, bis Lissi schließlich sagte: »Prominent sein ist vielleicht a Soach.«

Irmi musste lachen. Lissi war wirklich eine Philosophin.

Am nächsten Morgen hatte Irmi den Eindruck, dass sie sich schon etwas schneller erwärmte in ihrem Wickel. Das Problem an dieser Kur war natürlich, dass man zu viel Zeit hatte. Ein normaler Menschentag wurde in angemessenen Abständen von Essen unterbrochen. Man überlegte, was man kochen würde. Oder aber man studierte Speisekarten, man saß, wartete, aß. Man räumte Geschirr weg. Essen teilte den Tag in vernünftige Abschnitte. Essen war Belohnung.

Zumindest eins hatte Irmi am dritten Tag ihres Aufenthalts schon begriffen: Ihre Einstellung zum Essen würde sie ändern. Nicht mehr schnell im Stehen irgendwas in sich hineinschlingen, sondern sich Zeit nehmen. Essen war doch so schön.

Weil die Tage so viel Leere boten, nahmen Irmi und Lissi natürlich die Freizeitangebote gerne an, beispielsweise eine Wanderung zur Alpe Mohr.

»Wie weit ist es denn zu der Alm?«, fragte Irmi den Wanderführer.

»Gnädige Frau, ich sehe, Sie stammen aus dem Oberbayerischen. Bei uns im Allgäu heißt das Alp oder Alpe.«

Zweierlei verdarb Irmi den Tag: die Anrede »Gnädige Frau« und dieses »bei uns«, das in tiefstem Sächsisch vorgetragen wurde. Sehr ungnädig schlurfte Irmi deshalb dahin, zumal der Großteil des Weges auf Asphalt verlief.

Die Lage der Alm, pardon Alpe, war wunderschön, so wie dieses ganze Allgäu überhaupt sehr schön war. Die Berge waren weniger erdrückend als bei ihr daheim. Das Auge konnte sich immer wieder an Fixpunkten festhalten: Höfen, Wiesenhängen, Waldstücken, Tümpeln und Seen. Die Landschaft stieg gefällig stufenförmig an: Sanfte Hügel gingen über in Vorberge, und am Horizont standen die Gipfel Spalier. Dieses Allgäu ist wie ein Aquarell, dachte Irmi. Kein schweres Ölgemälde wie das Karwendel.

Oben angekommen, suchten sie sich einen Tisch, jemand trug einen Riesenberg Kaiserschmarrn vorbei, was Irmis Laune nicht gerade steigerte, und dann trat auch noch ein allein unterhaltender Ziehharmonikaspieler auf. Immerhin hatte sie ja schon gelernt, »dass ma im Allgäu isch, wenn d Schumpa scheener wia d Föhla sind«. Dabei standen Schumpa für Jungkühe und Föhla für junge Mädchen. Und außerdem sagten die hier »i bi gsi« für »ich bin gewesen« – und das klang in Irmis Ohr doch sehr Schwyzerdütsch.

Der Kaiserschmarrnduft wehte herüber, der Mann sang von den »Blauen Bergen« – ein Albtraum. Irmi bestellte sich einen trockenen Wein. Kurwein war schließlich erlaubt. Gut, »das Viertele« hatte sie schon zu Mittag genossen, aber sei’s drum. Als hätte Lissi auf einen Startschuss gewartet, rief sie: »Dann bringen S’ doch gleich einen halben Liter.«

Der Wein, der die Kehle in den leeren Magen hinunterrann, tat seine Wirkung. Und ja, sie nahmen noch einen halben Liter. »Mezzo litro für die Damen«, blökte der Sachse, bestimmte Tage erforderten einfach Drogen.

Eigentlich war er ganz nett, der Sachse. Man konnte ja nichts für seinen Geburtsort. Sie tranken. Ein Leben ohne Alkohol war zwar möglich, aber an Tagen wie diesen eben keine Lösung. Also schunkelten sie und sangen mit, Lissi legte ein flottes Tänzchen mit dem Sachsen aufs Parkett. Der Tag schritt fort, das Licht wurde weicher.

Auf der Wiese neben dem Haus baute sich eine Alphorngruppe auf und begann, diesem seltsamen Instrument nachgerade magische Töne zu entlocken. Irmi setzte sich auf die Brüstung und hörte zu. Ein Gänsehauterlebnis. Ein Instrument, das die Seele berührte. Vielleicht machte sie der Wein so sentimental. Oder diese bucklige Region. Oder der leere Magen. Der Sachse hielt gerade einen Vortrag über das Alphorn.

»Alphörner waren immer Sache von Landschaften, wo es Hirten und Herden gab – egal ob im Allgäu, in Südamerika oder in Tibet. Hirten haben auf die Signalwirkung solcher Hörner gesetzt, um sich über die Täler hinweg zu verständigen. Sie lockten damit ihre Tiere an. Das Alphorn ist ein kultisch-mystisches Instrument.«

Inzwischen fand Irmi ihn wirklich sympathisch. Er sah eigentlich auch recht gut aus. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Netter Hintern. Gut, der Schnäuzer war natürlich ein Minuspunkt, der Dialekt auch, aber wahrscheinlich war sein Job, hungernde Menschen bei Laune zu halten, auch nicht gerade prickelnd.

Lissi jedenfalls schien ihn ganz besonders ansprechend zu finden, was Irmi mit Verwunderung registrierte. Warum eigentlich? Sie kannte Lissi nur als Alfreds Frau. Immer schon. Sie hatten geheiratet, als Lissi achtzehn und schwanger gewesen war. Sie kannte Lissi als perfekte Köchin, perfekte Bäuerin, Mutter von drei Söhnen, die alle eine gute Ausbildung machten. Der Älteste studierte sogar in Weihenstephan Agrarwissenschaft. Lissi war kürzlich vierzig geworden und hatte sich immer nur um ihre vier Männer gekümmert.

Irmi schlenderte auf die Wiese hinaus, wo ein älterer Mann an sein Alphorn gelehnt stand.

»Stimmt es, dass so ein Alphorn nur aus einem Baum stammen darf, der über zwölfhundert Metern gewachsen ist?«, erkundigte sich Irmi.

»Na, des isch a Mythos. Es gaoht au mit Fichta, dia weiter dunda wachset.« Er lachte sie an. »I bi dr Sepp.« Reichte ihr die Hand und fuhr dann in bestem Hochdeutsch fort: »Wenn man ein Alphorn aus einem Stamm schaffen will, sollte der Baum eine Krümmung aufweisen. Die erhält er zum Beispiel, wenn der junge Setzling durch den Schnee zu Boden gedrückt wird und später dann dem Licht zustrebt. Eng gewachsenes Holz ist für den Musikinstrumentenbau, gerade bei Geigen, sehr wichtig. Und in Hochlagen wachsen die Bäume sehr langsam, die Jahresringe liegen viel dichter beisammen als beim Talholz. Deshalb die Zwölfhundert-Meter-Regel, aber zwingend ist das nicht.«

Irmi lächelte den Mann an. »Du kennst dich aus?«

»Ja, i bau dia Trümmer au.«

Es war großartig, wie er zwischen seinem Heimatdialekt und dem gepflegten Deutsch für die Touristen hin und her springen konnte. Der Mann war eindeutig zweisprachig.

»Mei, heutzutage gibt’s Alphörner auch zwei- oder dreiteilig, aus Transportgründen. Es isch ja au bled, wenn ma so a Trumm auf em Dach transportiera muas oder es aus’m Fenschtar vom Auto naus hängt.«

Sie plauderten eine Weile. Sepp, der sicher weit über siebzig war, setzte sich zu Irmi ins Gras und erzählte weiter. Er war ein Alphornbauer der ersten Stunde gewesen.

»Als Buaba hond mir scho auf em Gartaschlauch gschpielt«, berichtete er lachend.

Und Irmi erfuhr, dass der Heimatbund das Alphorn im Allgäu 1958 wiederbelebt hatte und das erste Alphorn damals in Marktoberdorf erklungen war – »also fascht im Unterland«.

Der Tag hatte sich zum Guten gewendet. Sepp hatte sie noch eingeladen, ihn bei Gelegenheit zu besuchen, und es war dunkel, als sie zu Tale marschierten. Lissi ging neben dem Sachsen, sie lachten und scherzten, Irmi versuchte ab und zu, Lissis Blick zu erhaschen, aber die sah weg. So what, Lissi war schließlich erwachsen.

2

Irmi ging ins Bett. Diesmal ohne Hungergefühl. Sie hatte an ihrem Handy einen etwas freundlicheren Weckton eingestellt und fügte sich in die frühmorgendliche Packung. Es war der vierte Tag, sie war allmählich drin im Kurrhythmus und entschlief sanft in ihrem Ganzkörperwickel. Bis ein gellender Schrei sie weckte.

Es war ein Schrei in einer ohrenbetäubenden Frequenz. Darauf folgte ein herzhaftes: »Scheiße, das darf doch nicht wahr sein!« Sie hörte Getrappel zur Tür und Rufe nach irgendwem. Wer das sein sollte, blieb Irmi ein Rätsel. Es war halb fünf, wer sollte schon da sein außer der Packerin? Das Getrappel kam zurück, es war mehr ein Flapp-Schlapp, das Geräusch, das schlecht am Fuß vertäute Crocs erzeugen. Die Packerin trug solche Dinger.

Vergeblich versuchte Irmi, sich zu befreien, aber das gelang ihr nicht, also rief sie: »Was ist los? Hallo?«

Keine Antwort.

»Hallo? Ich bin von der Polizei!«

Das Flapp-Schlapp erreichte ihre Tür. Die Packerin öffnete und starrte sie mit großen Augen an.

»Frau Mangold, Sie sind von der Polizei?«

»Ja, sogar Hauptkommissarin. Bei der Kripo. Also, was ist los?«

»Da drüben! Oh Gott, das ist mir noch nie passiert!«

»Holen Sie mich da mal raus!« Irmi hasste es, wenn Menschen keine präzisen Angaben machten. Und ein »Oh Gott!« half nie weiter. Der war im entscheidenden Moment nicht zuständig, das hatte Irmi in ihrem Leben gelernt.

Die Packerin tat wie ihr geheißen, und anstatt sich abzuduschen, wickelte sich Irmi in den Bademantel, der ungut an ihrer schwitzigen Haut klebte. Sie fummelte ihre Zehen in die Flip-Flops und unter zweistimmigem Flapp-Schlapp gingen sie in die Nachbarkabine.

Da lag ein Mann. Im Wickel. Sein Kopf war zur Seite gesunken. Ein erbärmliches Bild, das diese Schroth-Mumie abgab! Aber elend sahen sie doch alle aus bei dieser Kur.

Die Augen der Packerin waren weit aufgerissen. Sie wiederholte leise flüsternd: »Das ist mir noch nie passiert.«

Irmi trat näher. Sie fühlte mit geübtem Griff die Halsschlagader. Da war Stille. Der Mann war tot, keine Frage.

Irmi drehte sich zu der Frau um. »Was haben Sie gemacht?«

»Ich? Nichts!«

Das war vielleicht genau das Problem. Ein Zertifikat im Schwitzfolterkeller besagte, dass die Packerinnen die erforderlichen Weiterbildungsmaßnahmen wie regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse absolviert hätten. Der Ausweis als anerkannte Schrothkurpackerin musste alle zwei Jahre bestätigt werden. Doch es schien an der Praxis zu hapern.

Irmi atmete tief durch. »Haben Sie reanimiert?«

Die Dame schüttelte den Kopf. Es folgte ein gebetsmühlenartig wiederholtes »So was ist mir noch nie passiert«.

Die Frage, ob sie einen Arzt informiert hätte, konnte sich Irmi schenken. Der trat übrigens in diesem Moment auf den Plan. Es war der Kurarzt, der die Eingangsuntersuchung gemacht und bei der Gelegenheit ihren BMI bemängelt hatte. Er hatte außerdem behauptet, dass ein bisschen Fettreserve ab einem bestimmten Alter nicht schade, allein das Bauchfett sei das gefährliche, denn es fördere sogar Demenz.

Der Mann trat an das Packbett, untersuchte den Mann und drückte ihm am Ende die Augen zu.

»Tot.«

»Ach was!«, entfuhr es Irmi.

»Und was machen Sie hier, Frau Mangold?«

Gerne hätte Irmi schwungvoll ihre Polizeimarke präsentiert, aber sie war im Bademantel und darunter nackt, mit zu viel Fettreserve.

»Ich bin von der Polizei. Maria«, sie nickte der Packerin zu, »hat um Hilfe gerufen.«

»Aha«, sagte er, »aber das ist ja kaum eine Sache der Polizei. Sind Sie hier überhaupt zuständig?«

Wie sie so was hasste! Neunmalkluge Schwätzer, und das vor fünf in der Früh. »Durchaus, wir sprechen von einer örtlichen und einer sachlichen Zuständigkeit. Zweitere betrifft alle Polizeiorgane, also auch mich. Und was die Behörde vor Ort betrifft, werden wir die gleich mal anrufen.« Polizeiorgane, was redete sie, sie war im Hungerwahn, eindeutig. Und genervt!

»Ja, aber …«

»Lieber Herr Doktor. Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass Sie hier ›natürlicher Tod‹ ankreuzen werden? Ein vorher noch putzmunterer Mann mittleren Alters liegt eine Stunde später tot im Wickel?«

Irmi wandte sich an die Packerin. »Wann haben Sie ihn eingewickelt? Hat er da irgendwie komisch auf Sie gewirkt? Oder sogar krank?«

»Um halb vier ist er runtergekommen. Er war gut drauf. Besser als … besser als Sie … äh … die meisten so früh morgens. Der wirkte auf mich sowieso recht fit.«

»Wann haben Sie ihn gefunden?«

»Um halb fünf.«

»Wieso sind Sie eigentlich noch mal zu ihm reingegangen?«

»Das mach ich immer«, erklärte die Packerin. »Zur Kontrolle. Die meisten schlafen eh.«

»Woher wussten Sie denn, dass er nicht nur schläft?«

»Sein Wickel war nicht mehr korrekt gewickelt. Da bin ich hin. Hab ihn angesprochen, ob was nicht stimmt. Da war er …« Sie brach ab.

Irmi trat wieder näher an den Mann heran. In der Tat war der nicht richtig gewickelt. Und dann traf es sie wie ein Blitz. Sie schwankte kurz.

Der Arzt griff nach ihrem Arm. »Alles in Ordnung?«

»Ich kenne den Mann.« Wie schwer fiel ihr dieser Satz. »Können Sie bitte die Kollegen von der zuständigen Polizei informieren? Dieser Todesfall kommt mir merkwürdig vor. Da muss eine Spurensicherung her. Dieser zerstörte Wickel – Sie werden mir zustimmen, dass man die Sache nicht einfach so unter den Tisch kehren kann. Selbst wenn das am Ende ein gewöhnlicher Herzinfarkt war.«

Irmi versuchte sachlich und souverän zu wirken, doch in ihrem Inneren raste ein Feuer, das sich schnell ausbreitete. Vom Magen die Kehle hinauf. Und wieder hinunter zu den Knien, die ihr nicht gehorchten. Sie sank auf den Stuhl, den der Arzt ihr hingestellt hatte.

Er nickte, schrieb irgendwas in den Totenschein.

Irmi erhob sich. »Wir sollten den Raum verlassen, und es sollte auch niemand mehr hineingehen.« Immer noch kamen klare Sätze aus ihrem Munde. Komisch, dass das Gehirn dazu in der Lage war mitten im Seelenfeuer.

Gegen halb sechs saßen sie übermüdet im Restaurant. Inzwischen war die Besitzerin des Hauses eingetroffen, und ein paar Gäste und Angestellte hatten wohl etwas mitbekommen, darunter auch Lissi.

»Was ist denn los?«, wollte sie wissen.

»Im Keller liegt ein Toter. Und der ist ganz sicher nicht auf natürlichem Weg gestorben.«

Lissi lachte auf. »Na, du bist lustig! Selbst hier im Urlaub stolpert die Frau Kommissarin über Leichen.«

Lissi hatte so laut gesprochen, dass es jeder mitbekommen hatte. Im Raum wurde getuschelt. Ein Toter war schließlich eine echte Sensation im eintönigen Schrothgekure. Und diese Frau da drüben, die war von der Polizei? Sah gar nicht so aus.

»Himmel, Lissi!«

»Tschuldigung.« Lissi senkte die Stimme. »Ein echter Toter?«

»Kennst du unechte Tote?«

»Blöde Nuss! Nein, im Ernst. Was ist denn passiert? Ist er entstellt? Erschossen? Erwürgt? Lila im Gesicht, weil sie ihn vergiftet haben? So richtig widerlich?«

»Lissi, du schaust zu viel Fernsehen.«

»Irmgard!« Lissi nannte sie nur sehr selten bei ihrem Taufnamen. »Irmgard, meine beste Nachbarin von allen: Du siehst öfter Leichen. Da bist du aber nicht so durch den Wind. Also doch ein besonders widerliches Exemplar?«

»Du hast bloß eine Nachbarin.«

»Wurscht. Aber sag mal, was ist los?«

Irmi blies die Luft aus. »Der Tote ist Martin.«

»Wer?«

»Martin. Martin Maurer.«

»Was für ein Martin Maurer?«

Irmi stöhnte. »Lissi, bitte!«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Lissi schaltete. »Martin, dein Exmann? Der Martin?«

Ja, genau der Martin. Den sie mit dreißig geheiratet und mit fünfunddreißig aus ihrem Leben verbannt hatte. Der sie Jahre ihres Lebens gekostet hatte. Dessen Namen sie bis heute nicht aussprechen wollte. Martin Maurer, der nun tot im Keller lag.

Bevor Lissi noch etwas sagen konnte, wurde ein Mann an Irmis Tisch geführt, der sich als »Riedele, Riedele Anderl« vorstellte. Irmi hatte zwar kurz geduscht und trug nun eine Jeans und T-Shirt, aber ihre widerspenstigen Haare gaben sicher ein wildes Bild ab. Sie war müde und überdreht zugleich. Der Allgäuer Kommissar seinerseits schien aber auch nicht gerade ein Modekenner zu sein und wirkte ein bisschen wie eine Allgäuer Ausgabe von Kottan. Und sein BMI war sicher auch nicht in Ordnung.

»Frau Mangold?«

Irmi nickte.

»Freut mich. Man hört ja so einiges von Ihnen.«

Ob das gut oder schlecht war, blieb offen. Wer »man« war, ebenfalls. Der Mann sprach diesen schwäbischen Dialekt, halt, nein, sie hatte als Erstes in Oberstaufen gelernt, dass Allgäuer alles waren, bloß keine Schwaben. Nun ja, Werdenfelser waren auch keine Tiroler und Loisachtaler keine Garmischer. Sie konnte problemlos den Dialekt von Farchant und Eschenlohe unterscheiden, doch diese Schwaben oder eben Nichtschwaben klangen in ihren Ohren alle gleich.

Irmi sagte erst mal nichts, ihr Gegenüber schien auch nicht gerade eine Plaudertasche zu sein, und so schwiegen sie sekundenlang und maßen sich mit Blicken. Dann kam vom Allgäuer: »Ganget mer num ins Stüble. Do isch es ruhiger.«

Im Stüble hing dann auch noch ein Poster, das besagte, dass das Büble wieder da sei. Dass es sich dabei um eine Bierspezialität handeln musste, kapierte Irmi gerade noch. Ihr kam das alles komplett surreal vor. Sie hatte ein Bild vor Augen: Martin mit seinen braunen Augen, wovon das eine kaum merkbar schielte. Eine ihrer Freundinnen hatte nach der Scheidung gesagt, sie sei froh, den los zu sein. Man habe ja nie gewusst, wo der hinsehe. Als ob so was zählte.

Irmi versuchte die Bilder abzuschütteln und sich auf den Allgäuer Kollegen zu konzentrieren.

»Bringt des eabbas?«

»Was?«

»Die Schrothkur?« Anderl Riedele schaute sie zweifelnd an.

»Na ja, wir sind erst vier Tage hier.«

»Frau Kollegin, Sie sind ganz recht, wie Sie sind. Nix essa isch ganz schlecht für die Psyche. Kässpatza, Krautwickel und Schupfnudla sind guat.« Der Allgäuer klopfte sich auf den Bauch. Demnach war seine Psyche absolut in Ordnung.

Irmi lächelte schief. Riedele hatte recht. Nix essen machte einen ganz kirre, tote Exmänner im Keller übrigens auch.

Anscheinend war der private Teil nun um, denn der Allgäuer konnte auf einmal Hochdeutsch: »Schildern Sie mir bitte mal das Ereignis aus Ihrer Sicht.«

Irmi blickte ihn überrascht an. Anderl Riedele gab vordergründig den Trottelinspektor, in Wirklichkeit aber steckte da ein waches Köpfchen hinter dem Allgäuer Gebrumme. Sie musste lächeln. Eigentlich war der wie sie. Ein bisschen trampelig nach außen, aber tief drinnen hellwach. Irmi begann zu erzählen.

Als sie geendet hatte, fragte der Allgäuer bedächtig: »Sie kennen den Mann?«

Irmi schluckte. »Ja, ich kenn ihn. Das Ganze ist mehr als bizarr. Der Mann heißt Martin Maurer und ist …« Irmi rechnete nach. Sie hatte ihn mit dreißig geheiratet, da war er siebenundzwanzig gewesen. »… neunundvierzig Jahre alt. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt lebt oder was er macht.«

Anderl Riedele schaute sie prüfend an. »Sie kannten den Mann mal besser?«

Was für eine Frage! Sie war versucht herauszuschreien: Nein, genau das war ja das Problem. Ich habe geglaubt, ihn zu kennen. Stattdessen sagte sie mit beherrschter Stimme: »Er ist mein Exmann.« Sie horchte dem Satz hinterher. Vier Worte, vier lächerliche Worte für so viel Hoffnung und Scheitern.

Der Allgäuer sagte nichts. Lange. »Frau Mangold, Sie sind eine Kollegin. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass das Ganze mehr als merkwürdig wirkt. Ihr Ex, von dem Sie sich wahrscheinlich nicht in Frieden und Wohlgefallen getrennt haben …« Er sah sie an und lächelte. »Nach meiner Erfahrung trennen sich Menschen nie in Wohlgefallen. Also, da liegt ihr Ex tot im Nebenwickel …«

Irmi war angeschlagen, und es kostete sie wieder einige Sekunden, zu begreifen, was ihr Kollege ihr damit sagen wollte. Unterstellte er ihr etwa, ihren Exmann gemeuchelt zu haben? »Ich wusste gar nicht, dass Martin in derselben Klinik war«, sagte sie nach einer Weile. »Ich hatte seit fast zwei Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich war völlig konsterniert, ihn zu sehen.« Irmi fand es extrem unerfreulich, auf der anderen Seite zu stehen. Wie schal solche Sätze klangen.

Anderl Riedele nickte behäbig. »Ich habe gehört, Sie hätten den Doktor vorhin etwas aufgerüttelt?«

»Der Wickel war doch gelöst. Ich gehe davon aus, dass jemand im Raum gewesen sein muss.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich war es nicht. Oder glauben Sie, ich hätte mich auswickeln können und dann wieder so akkurat einwickeln?«

»Sie hätten einen Komplizen oder eine Komplizin haben können.« Riedele lachte gutmütig.

»Das glauben Sie aber selber nicht, oder?«

»Nein. Aber natürlich warten wir die Ergebnisse ab.« Er zückte ein Stäbchen. »Darf ich?«

Der Mann wollte allen Ernstes eine DNA-Probe von ihr! Irmi nickte und gab ihm das Stäbchen wenig später mit Speichelprobe retour.

»Nur wenn’s grad wär …« Er lächelte.

»Ich weiß. Just in case.« Auf Englisch klang das lässiger. Zufälliger.

»Sie bleiben ja noch ein bisschen, oder?«, fragte Anderl Riedele.

»Ja, schon, ich muss das noch mit meiner Freundin besprechen.«

»Sicher, ich halt Sie auf dem Laufenden, Frau Mangold.« Er machte eine kurze Pause. »Und essen Sie was. Das Leben ist kürzer als dieser Löffel.« Er wedelte mit einem Kaffeelöffel. »Das sagt Janosch. Oder der kleine Tiger.« Er lächelte wieder. »Das Blaue Haus kann ich empfehlen. Machet’s guat.«

Dann ging er, während Irmi im leeren Stüble unter dem skurrilen Büble-Poster sitzen blieb. Sie sah auf die Uhr. Es war noch nicht mal acht. Andere hatten den Tag noch gar nicht begonnen, ihrer hatte jetzt schon viel zu viele Stunden.

Langsam erhob sie sich, und noch langsamer ging sie zurück in den Speisesaal. Die meisten saßen nun beim Frühstück oder wie man diese Ansammlung von nichts nennen wollte. Lissi hatte den Blick gehoben. Erwartung lag in ihren Augen, auch etwas Gehetztes.

Irmi sank auf die Bank. »Kaffee mit viel Milch«, bestellte sie bei der Servicekraft.

»Aber Ihre Kur, Frau Mangold, viele haben mal so einen Durchhänger, also …«

»Ich habe keinen Durchhänger. Ich will und brauche Kaffee. Sofort!« Wieder schaute der halbe Speisesaal herüber.

Dann stand Irmi auf und holte sich am Büfett eine Breze und ein Stück Butter – es gab hier ja auch »normale« Gäste. Irmi stoppte die Besitzerin, die nun auch etwas sagen wollte, mit einem scharfen Blick. Setzte sich wieder und strich Butter auf das gekringelte Backwerk. Es kam ihr fast vor wie eine kultische Handlung. Dann biss sie in die Breze. Herrlich!

Lissi hatte sie die ganze Zeit angestarrt. Wie ein Schulkind, das im Chemieunterricht einen besonders gefährlichen Versuch verfolgt. Irmi konnte sich an ihre eigene mäßig erfolgreiche Schulkarriere erinnern. Da hatte es diesen völlig verwirrten Chemielehrer gegeben, der einen gewaltigen Versuch angekündigt hatte, zu dem sie sich sogar Schutzkleidung mitbringen sollten. Die Klasse hatte natürlich eine Show draus gemacht und sich mit Wolldecken und Mützen ausgerüstet. Der Versuchsaufbau hatte fast die ganze Stunde gedauert. Dann war der große Moment gekommen. Doch es hatte grad mal »pffft« gemacht – und das war es dann gewesen. Darüber war der Lehrer noch verwirrter geworden und hatte ein Jahr später den Dienst quittiert. Heute nannte man das Burn-out. Aber wieso musste Martin wieder auftauchen? Und gleich so. Sie war wütend auf ihn, als könne er etwas dafür. Was legte sich dieser Idiot auch tot in den Nebenwickel?

Lissi starrte sie immer noch an.

»Lissi, hol dir auch eine Breze, iss was. Nach dem zweiten Kaffee bin ich eventuell wieder ein Mensch und beantworte deine Fragen. Falls es da was zu fragen gibt.«

Ihre Nachbarin stand auf, ging tatsächlich zum Büfett und kam mit einer Käsesemmel wieder. Sie aßen schweigend. Nach der Breze war Irmi pappsatt. Nach der dritten Tasse Kaffee begann ihr Hirn wieder im Takt zu laufen. Sie atmete tief durch und lehnte sich nach hinten.

»War es wirklich Martin?«, fragte Lissi flüsternd.

»Ja, wie …« Ach nein, der Spruch »wie er leibt und lebt« passte hier nicht so recht.

»Weiß man schon was?«

»Nein, aber die Kollegen sind dran. Mehr ist momentan nicht zu sagen.« Irmi hoffte, dass Lissi diesen Wink mit der Litfaßsäule verstanden hatte. Sie wollte und konnte nicht über Martin reden.

Lissi nagte an ihrer Käsesemmel und sah furchtbar unglücklich aus.

»Madl, mir geht es gut. Jetzt schau doch nicht so!«

Lissi sah Irmi direkt in die Augen. Flehentlich. »Ja, aber mir geht’s nicht gut.«

»Wegen Martin, also ich …« Irmi brach ab. Wie blöd war sie? Wie egozentriert. Natürlich ging es Lissi gar nicht um Martin, sondern um den Sachsen. »Hast du …?« Irmi sah verlegen in ihre Tasse.

»Ja.«

Sie hätte jetzt »ja und?« sagen wollen, aber das ging natürlich nicht. Lissi war eine brave Bauersfrau, die ihren Mann ganz sicher noch nie betrogen hatte. Nun hing ihre Weltkugel in arger Schieflage.

»Lissi-Madl, so was passiert schon mal. Mei …« Das war auch nicht gerade psychologisch wertvoll.

»Aber Irmi, ich hab …«

»Was hast du? Du hast zu viel getrunken. Du hast mit einem netten Mann geflirtet. Es ist mehr draus geworden. So was passiert.«

»Aber …«

»War’s denn nicht nett?«

»Mensch, Irmi, was ist das für eine Frage!«

Nein, ihr war heute nicht nach Schonung und Samthandschuhen. »Lissi, jetzt schau mal: Du hast mit einem Mann geschlafen, der ganz nett ist. Entweder es war schön, dann freu dich drüber. Oder aber es war nicht so toll, dann schieb es auf den Alkohol und hak es ab. Mach dir bitte keine Vorwürfe, es geht doch nicht um Schuld.«

»Aber ich hab Alfred betrogen.«

»Willst du es ihm sagen?«

»Nein!« Lissi hatte zu ihrem Organ zurückgefunden. Die Leute schauten wieder her.

»Eben. Es war ein Ausrutscher. Du hast doch nicht vor, die nächsten Wochen mit ihm eine Affäre zu haben, oder?«

»Nein!«

»Eben! Hast du dich in ihn verliebt? Das wäre natürlich blöd.«

»Nein, er ist nett. Er war …«

»Er war eben da. Genau. Und das genügt oft. Dass jemand da ist.«

Ja, das genügte. Wenn man einsam war. Oder sentimental. Oder melancholisch. Was hätte sie Lissi von Nebenwelten erzählen sollen? Davon, dass man die Ebenen wechseln konnte, ja, sogar musste, um zu überleben? Dass so eine Kur ein Zauberberg war, der mit der Realität nichts zu tun hatte. Wie schwer es war, dann wieder in das profane und wahre Leben abzusteigen. Wie oft sie selbst diese Bergtour gemacht hatte. Wenn sie ihn traf, war das für beide ein ganz persönlicher Schonraum. Aber wenige Tage Zauber wurden schal gegen die Einsamkeit in der Realität.

Lissi kannte so was nicht. Sie hatte jung geheiratet, hatte ihre Kinder, den Hof, die klaren Abläufe. Sie würde das mit sich selbst ausmachen müssen, auch wenn das schwer sein würde, weil so ein Ausrutscher weit außerhalb ihres Weltbildes lag. Eigentlich beneidenswert. Auch wenn sie nun Höllenqualen litt.

»Was mach ich denn jetzt nur?« Sie klang wie ein kleines Mädchen. Vierzig Jahre alt mit dem Gemüt einer Zwölfjährigen.

»Gar nichts. Wenn du den Sachsen triffst, sagst du ›servus‹, benimmst dich normal, und gut ist’s.«

»Aber das kann ich nicht!«

»Doch, das kannst du!«

»Nein, ich fahr heim!«

»Madl, wenn du jetzt heimfährst, merkt Alfred sofort, dass was nicht stimmt. Komm, wir machen einen Ausflug. Irgendwohin. In der Rezeption hängen jede Menge Vorschläge. Wir suchen uns was aus. Wandern hilft immer. Ab jetzt, wir treffen uns in zwanzig Minuten!«

Als Lissi endlich kam, verheult, aber gefasst, hatte Irmi schon eine Tour ausgewählt. »Hochprozentiger Hochgenuss in Hörmoos: Allgäus höchste Schnapsbrennerei auf 1300 Metern« hieß das Angebot. Schnaps war sicher das, was Lissi jetzt brauchte, und das Ganze wurde nicht vom Sachsenlümmel geführt. Der war schon weg, zu einer Sonnenaufgangswanderung. Der muss Kondition haben, dachte Irmi.

Ein Bus sammelte noch die anderen Hotelgäste ein, und Irmi kam sich vor wie auf einer Kaffeefahrt, wo es Schafwolldecken zu erwerben gab und fünfhundert Gramm deutscher Landbutter. Wie erfreulich, dass sie in ihrem hohen Alter den Schnitt im Bus ausnahmsweise mal senkte!

Man kurvte hinüber nach Österreich und hinauf zu einem Liftparkplatz am Almhotel Hochhäderich, von wo aus gewandert werden sollte. Schon nach den ersten Metern blieben die restlichen Businsassen zurück. Irmi rannte mehr, als dass sie ging, und begrüßte den Schweiß, der ihr unter dem Rucksack den Rücken hinunterlief, mit Freude. Lissi stolperte wortlos hinterher. Der Reiseleiter hatte ihnen erklärt, wo der Weg verlief: durch Alpweiden, wo das Allgäuer Braunvieh mit stoischem Blick wiederkäute. Es versetzte Irmi einen Stich. Sie vermisste ihre Kühe. War es nicht extrem dämlich, Kühe zu vermissen?

In diesem Moment sagte Lissi: »Endlich Kühe. Die fehlen mir schon.«

Irmi lächelte. Ihre Nachbarin sah besser aus als noch vor einer Stunde. Und sie war eine ebenso Infizierte wie sie selbst. Nutztiere waren Freunde und Teil ihrer beider Leben, die sich sonst so sehr voneinander unterschieden. Ein paar Goaßn und Schafe standen ebenfalls am Wegesrand.

»Das sind Thüringer Waldziegen«, sagte Irmi.

»Und die Schafe sind Alpine Steinschafe«, meinte Lissi.

»Sind beides vom Aussterben bedrohte Haustierrassen«, ergänzte Irmi. Ohne Bernhard, der die Idee dämlich fand, hätte Irmi aus dem Hof längst einen Archehof gemacht. Auf Archehöfen wurden alte bedrohte Haustierrassen wie das Schwäbisch-Hällische Schwein, Bergschafe, das Murnau-Werdenfelser Rind, die Thüringer Waldziege, die Bayerische Landgans, das Augsburger Huhn gezüchtet. In Deutschland standen fast hundert Nutztierrassen auf der Roten Liste. Sie waren zu Auslaufmodellen geworden, als die Landwirtschaft sich immer mehr in Richtung Effizienz und Massenerzeugung bewegte: Fleischberge und Milchmaschinen waren gefragt, und es waren die Zuchtverbände gewesen, die den Bauern den Umstieg auf die effizienteren Rassen empfohlen hatten. Das Murnau-Werdenfelser Rind war so ein Modernisierungsopfer, ein schönes Tier und dazu genügsam, mit starken Beinen und harter Klaue. Ihre Kuh Irmi Zwo war eine Werdenfelserin und für eine Kuh längst uralt. Irmi Zwo war Irmis persönlicher Archebeitrag.

Durch ihren Stechschritt waren sie den anderen weit voraus. Außer ihnen war niemand unterwegs. Der Himmel war verhangen. Immer wieder trieb der Wind Regenschauer vor sich her, dann riss es für Minuten auf. Es war noch immer vergleichsweise warm, aber das Wetter kündete schon den Winter an. Dabei hatte es heuer gar keinen Sommer gegeben.

Vor ihnen lag ein großes Gebäude, der Alpengasthof Hörmoos. Davor tummelte sich eine Wandergruppe von älteren Semestern, die ausgerüstet waren, als wollten sie den Himalaya bezwingen, dabei sollte es nur hinunter nach Steibis gehen.

Irmi grinste und sah an sich hinunter: uralte Bergstiefel und Jeans – die Outdoormoderne war definitiv an ihr vorübergegangen. Nebenan lag ihr Ziel, die Alpe inmitten eines herrlichen Kräutergartens. Hundert verschiedene Sorten waren dort angepflanzt, und bei jeder Sorte waren kleine Infotafeln aufgestellt, die alles über die Wirkung der Kräuter und Alpenblumen verrieten. So erfuhr Irmi, dass Johanniskraut gegen Nervenschmerzen und bei Sonnenbrand hilft, Vogelbeere gegen Rheuma, der Wurmfarn bei einem Hexenschuss und Meisterwurz bei Arterienverkalkung.

Ende der Leseprobe