Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout - Ortwin Meiss - E-Book

Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout E-Book

Ortwin Meiss

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Beschreibung

Die Behandlung von Depressionen und Burnout ist für Therapeut:innen und Psychiater:innen eine Herausforderung. Die Beziehung zu den Patient:innen gestaltet sich oft kompliziert und schwierig. Ortwin Meiss illustriert mit einer Fülle von Fallbeispielen aus seiner Praxis als Psychotherapeut, Coach und Supervisor, wie Patient:innen die Sinnhaftigkeit ihrer emotionalen Reaktionen verstehen und erworbene Reaktions- und Interaktionsmuster verändern können. Behandelt werden Themen wie Schwangerschaftsdepressionen, postpartale Depressionen, sogenannte endogene Depressionen, manisch-depressive Verläufe, larvierte Depressionen sowie verschiedene Burnout-Verläufe. Das Buch vermittelt wichtige Kenntnisse über Depression und Burnout und eröffnet Therapeut:innen die Welt der Hypnotherapie und der systemischen Therapie. Nebenbei zeigt der Autor, wie es gelingt, Beziehungsfallen zu umgehen, und wie der Umgang mit depressiven Patient:innen und Burnout-Betroffenen leicht und mühelos werden kann.

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Beliebtheit




Ortwin Meiss

Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout

Mit einem Vorwort von Gunther Schmidt

Fünfte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«

hrsg. von Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: ©DesignConsultant/photocase.de

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Fünfte Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0153-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8275-7 (ePUB) )

© 2016, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax + 49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort von Gunther Schmidt

Vorwort

Antidepressiva und Placebowirkung

Das Suchtpotenzial der Medikamente

Sport und Antidepressiva

Praxis der Verordnungen

Psychotherapie – ein Placebo?

Motivation zu diesem Buch

Systemische und hypnotherapeutische Ansätze

Einführung

Depression als Volkskrankheit

Symptome einer Depression

Larvierte Depressionen

Diagnosekategorien der Depression

Burnout (oder melt down)

Typische Symptome eines Burnouts

Burnout-Persönlichkeiten

Burnout und Depression – ein Unterscheidungsversuch

I Theoretische Überlegungen zu Depression und Burnout

1 Theorien über die Entstehung von Depressionen

Neurobiologisches Modell der Depression

Psychodynamische Theorien

Behavioristische Theorie der Depression

Erlernte Hilflosigkeit

Kognitiver Ansatz

Interpersonale Theorie

Gratifikationskrise – emotionale Minusgeschäfte

Einschätzung der verschiedenen theoretischen Modelle

2 Biologische Grundlagen der Depression und des Burnouts

Ökonomie als biologisches Grundprinzip

Soziale Verrechnungssysteme

Frust, Ärger, Enttäuschung, Wut und Aggression

Energiesparmodus

Selbstwirksamkeit versus Hilflosigkeit

Depressionen und Burnout als sinnhafte Reaktionsmuster

Depression und Trauer – zwei verschiedene Gefühlszustände

3 Minusgeschäfte und Gratifikationskrisen

Depression und Burnout durch die Entstehung eines Minusgeschäfts

Fehlende Selbstwirksamkeit und Minusgeschäfte

Unterforderung oder Bore-out

Arbeitslosigkeit und Depression

Selbstloses Verhalten

Leistungen, die nicht honoriert werden

Vorleistungen, die nicht zurückgezahlt werden

Verbitterung

Faule Kompromisse

Gesellschaftliche Spielregeln – zum Opfer werden

Religion und Minusgeschäfte – Gott vergelts

4 Lebensgeschichtliche Hintergründe für Depressionen und Burnout

Endogene Depression

Schwangerschaftsdepression

Postpartale (postnatale) Depression

Burnout und zwangsähnliches Verhalten

Typische Kindheitserfahrungen depressiver Patienten

Typische Kindheitserfahrungen von Burnout-Patienten

Parentifizierte Kinder

Gemocht werden ohne Vorbedingungen

5 Depression als Trancephänomen

Hypnose und Gehirnaktivität

Problemtrancen

Depression als Problemtrance

Hypnotische Sprachmuster in der Kommunikation depressiver Patienten

6 Scham und Schuld bei depressiven und Burnout-Patienten

Der Teufelskreis von Scham, Schuld und Depression

Scham- und Schuldgefühle und die Krankenrolle

Alkoholabhängigkeit als Krankheit

Das Kernthema bei Schamproblemen

Zugehörigkeit herstellen

II Systemische Ansätze für die Therapie von Depressionen und Burnout

7 Systemische Aspekte

Das Arbeitsumfeld eines Burnout-Patienten

Burnout-Schutz über die Berücksichtigung von Grundbedürfnissen

Burnout durch Missachtung von Grundbedürfnissen

Leistungsdruck in Familien

Die Suche und die Sucht nach Anerkennung

Verbot, von seinen Erfolgen zu erzählen

Die Bedeutung der Familie und der Paarbeziehung bei der Entstehung von Depressionen

Familienarrangements

Hypersoziale Wesen

Manisch-depressive Verläufe

Krankheit als Aggressionsbremse

Hilfsangebote, die erniedrigen

Geschenke, die erniedrigen

Gute Ratschläge, die von oben kommen

8 Typische Probleme in der therapeutischen Beziehung

Hilflosigkeit und regressive Tendenzen

Die dominante Position einnehmen

Verstärkermodelle und Psychoedukation

Deutungen und Interpretationen

Anweisungen und Reglementierungen

Verdeckte Aggressionen aufseiten des Therapeuten oder Psychiaters

Die hilflosen Helfer

Wenn Hilfe nicht akzeptiert werden kann

Widerstand als Versuch die eigene Würde und Autonomie zu wahren

Ambivalenzen und der Umgang damit

Suiziddrohungen

Umgang mit Misserfolgen

9 Systemische therapeutische Methoden

Zirkuläres Fragen

Sich aus der Schusslinie bringen

Visualisierung von Systemen

Stuhlarbeiten

Das Suchtmittel als Kommunikationspartner

Den Patienten als Berater nutzen

Therapeutische Diagnostik

Therapeutische Diagnostik des Systems, in das der Patient eingebunden ist

III Hypnotherapeutische Ansätze für die Therapie von Depressionen und Burnout

10 Allgemeine Überlegungen zum hypnotherapeutischen Ansatz bei Depressionen und Burnout

Hypnose als direktiver Ansatz

Nicht angekoppelt, nicht in Kontakt

11 Der ungebetene Hausgast – Das Symptom als Berater

Perspektivenwechsel

12 Die Stellvertreter-Technik

Erweiterung der Stellvertreter-Technik

Kombination der Stellvertreter-Technik mit anderen hypnotherapeutischen Methoden

13 Die Landschaft als Metapher für die Lebenssituation

Erweiterung der Landschaftsmetapher

Larvierte Depressionen

Die Verwendung der Metaphern des Patienten

14 Aufarbeitung belastender Kindheitserfahrungen

Die Rolle, die man im Leben spielt

Erfahrungen von Hilflosigkeit und Überforderung

Familiäre Einschränkungen und Bindungen

Die Bearbeitung von Scham- und Schuldgefühlen

Alte Beziehungs- und Interaktionsmuster

Die Borderline-Störung

Was bringt die Borderline-Diagnose?

Nachholen von nicht gemachten Erfahrungen

15 Die Erfahrung, kompetent zu sein, das eigene Leben zu gestalten

Selbstachtung und Selbstbewusstsein

Depressionen und ein ruiniertes Selbstwertgefühl

Therapeutisches Vorgehen zur Entwicklung einer Kompetenzerfahrung

Fehlentscheidungen und faule Kompromisse

16 Geschichten, Metaphern, Symbole, Gedichte und Filme

Die Nutzung von Geschichten, Metaphern und Symbolen

Einleuchtende Metaphern

Struktur einer passenden Geschichte

Geschichten beiläufig erzählen

Geschichten in Trance erzählen

Die Metapher des Patienten aufgreifen

Geschichten, Erzählungen oder Gedichte verändern

Erzählungen, die das Unbewusste erreichen

Symbole nutzen

Was sich reimt, überzeugt

Filme in der Psychotherapie

17 Nutzen von Ressourcen

Wie funktioniert die hypnotherapeutische Arbeit mit Ressourcen?

Ressourcen leihen – Mamma mia, was für ein Theater

Die »weise Person« als Ressource

18 Zukunftsorientierung und Veränderungsbereitschaft

Die Arbeit mit Zeitprogression

Schlafstörungen

Das bequeme, komfortable Elend

Fördern von Veränderungsbereitschaft

Anwendung der Technik für die Persönlichkeitsentwicklung

Nachwort

Literatur

Über den Autor

Vorwort von Gunther Schmidt

Zum Thema »Therapie von Depressionen und Burnout« gibt es inzwischen eine Flut von Publikationen. Kein Wunder, bedenkt man die in den letzten Jahrzehnten geradezu epidemische Zunahme von Beschwerden, die mit diesen Etikettierungen versehen werden. Da könnte man verstehen, wenn jemand sich fragt, wozu dann noch ein Buch wie dieses hier? Aus meiner Sicht stellt diese Arbeit von Ortwin Meiss einen regelrechten Glücksfall für das psychotherapeutische Arbeitsfeld dar. Ich bin sehr froh, dass er sich durchgerungen hat, seine vielfältigen Erfahrungen und seine herausragende Kompetenz in der Arbeit mit diesen Themen auch schriftlich verfügbar zu machen. Das Buch ist ein reicher Schatz vielfältiger hilfreicher Ideen und Beispiele für Selbstwirksamkeit und für Empowerment der Klienten (und der Therapeuten und Berater, die mit ihnen arbeiten). Alleine die vielen wunderbaren therapeutischen Metaphern machen das Buch schon zur lohnenden Lektüre.

Ich finde es ausgesprochen wohltuend, dass der Autor nicht in die übliche Routine einstimmt und »Störungen« und Probleme ausschließlich als Ergebnis vergangener Erfahrungen betrachtet, insbesondere der Kindheit. Natürlich können diese wichtig sein, aber Ortwin Meiss zeigt deutlich, dass auch die Erfahrungen, die man nicht hat machen können, besonders belastend wirken können. In vielen Arbeiten habe ich belegt, dass die Vergangenheit nicht die Erlebnis-Wirkung in der Gegenwart bestimmt, sondern dafür nur eine – wenn auch oft starke – Einladung ist. Die Gestaltung der Gegenwart bestimmt, welche Wirkung man vergangenen Erfahrungen (und Zukunftsfantasien) erlaubt. Und die Gegenwart kann variabel gemacht werden, wie auch immer die Vergangenheit war. Dieses Buch bietet auch dafür viele anschauliche und ermutigende Belege.

Es ist mir auch deshalb eine Freude, dieses Vorwort zu schreiben, weil ich Ortwin Meiss in seiner Arbeit unter allen Experten im Feld der ericksonschen Hypnotherapie als am meisten übereinstimmend erlebe mit den hypnosystemischen Kompetenz-Konzepten, für die ich stehe.

Die meisten Veröffentlichungen zum Thema Depression und auch zu Burnout orientieren sich an Pathologie-Hypothesen. Wer eine Depression entwickelt, gilt als krank, oft auch als schwach, unfähig, voller Defizite, die meist in linear-kausaler Weise aus Erfahrungen der Vergangenheit erklärt werden, wenn sie sich an tiefenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen Modellen orientieren. Dadurch, dass sich die biologische Psychiatrie in den letzten 25 Jahren die Deutungshoheit für »psychische Störungen« erkämpfen konnte, haben auch Hypothesen über Stoffwechseldefekte bei den Betroffenen mehr und mehr Einfluss gewonnen. Die typischen Schlussfolgerungen aus diesen Hypothesen, die zumeist als »Wahrheit« angeboten werden, sind lange Zeiten von Psychotherapie und auch von »Psychoedukation« oder intensive Medikation mit Antidepressiva, die von vielen als »unverzichtbar« bezeichnet werden. Durch die Meta-Untersuchungen von Irving Kirsch (Antidepressants – The Emperor’s New Drugs?) wissen wir inzwischen allerdings, dass Antidepressiva durchaus kritisch betrachtet werden sollten, denn wenn man die Ergebnisse aller Studien zu ihrer Wirksamkeit nimmt (d. h. nicht nur die von der Pharmaindustrie veröffentlichten, sondern auch diejenigen, die wegen schlechter Ergebnisse unter Verschluss gehalten wurden), so zeigt sich, dass Antidepressiva nicht wirksamer sind als beispielsweise Placebos. Ortwin Meiss liefert hierzu differenzierte und sehr sachverständige Überlegungen.

Nach meiner klinischen Erfahrung verstärken diese defizitfokussierenden Konzepte bei vielen Menschen, die an Beschwerden leiden, die »Depression« genannt werden, das Erleben, ausgelieferte, ohnmächtige und inkompetente Opfer unwillkürlicher Prozesse zu sein. Ich nenne diese Phänomene absichtlich nicht »Depression«, denn aus hypnosystemischer Sicht stellt dieser Begriff keine Wahrheit dar, sondern eine aus ihren relevanten Kontexten gerissene Verdinglichung. Sie wirkt sehr oft als eine Realitätskonstruktion, die suggestiv den Eindruck erwecken kann, Betroffene seien immer so, sie »hätten« eine Depression (wie einen Gegenstand oder wie eine genetische »Eigenschaft«, z. B. eine grüne Augenfarbe). Alle Erfahrungsmuster, Erlebnisepisoden, in denen jemand auch anderes erlebt, eher hilfreiche Prozesse etwa, werden dann aus dem Fokus der Wahrnehmung ausgeblendet. Nun kann aber als gesichertes Wissen aus der Neurobiologie, der Hypnotherapie und der hypnosystemischen Arbeit angesehen werden, dass jedes Erleben das Ergebnis von Prozessen der Aufmerksamkeitsfokussierung ist. Erleben steht also nie konstant fest, sondern wird im wortwörtlichen Sinn immer wieder aktuell neu erzeugt, nicht nur bewusst-willentlich, sondern auch auf unwillkürlicher, oft auch unbewusster Ebene. Diese Ebene des Erlebens wirkt besonders stark und schnell. Daraus ergibt sich für mich die ethische Pflicht, alle Kommunikationsprozesse im Umgang mit Betroffenen wie auch untereinander in der »professional community« so zu gestalten, dass jedes möglicherweise hilfreiche Erfahrungspotenzial der leidenden Menschen, jede ihrer denkbaren (auch »schlummernden«) Kompetenzen intensiv in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird. So können viele Kompetenzen, die den Betroffenen überhaupt nicht mehr bewusst sind, die aber in ihrem unbewussten »Erfahrungsrepertoire« noch gespeichert sind, wieder aktiviert werden.

In der therapeutischen Kooperation mit Hunderten von Klienten, die von Psychiatern oder Psychotherapeuten nach den üblichen ICD-10-Kriterien als »schwer depressiv« definiert worden waren und nicht selten als »austherapiert« (ein fürchterlicher Begriff) galten, habe ich erleben können, dass bei systematischer und konzentrierter Befragung und Fokussierung praktisch alle Kompetenzen, die jemand für hilfreiche Entwicklungen braucht, in seinem Erlebnisrepertoire zu finden sind und auch reaktiviert werden können. Die Annahme, dass »schwere Depressionen« Ausdruck grundlegender Defizite und eines Mangels an Kompetenzen seien, können wir als klar widerlegt ansehen. So gesehen »ist« auch niemand nur »depressiv« oder »hat einen Burnout«. Wenn jemand an den entsprechenden Prozessen leidet, kann dies verstanden werden als Ausdruck davon, dass die Person zurzeit intensiv assoziiert ist mit Prozessen, mit denen sie sich auf unwillkürlicher Ebene selbst niederdrückt. Stephen Gilligan und ich haben Anfang der 1980er Jahre vorgeschlagen, Symptome wie »Depressionen« als Ausdruck unbewusst selbst induzierter »Problemtrance« zu verstehen. Denn im modernen Verständnis von Hypnotherapie wird Trance qualitativ als Erleben verstanden, bei dem Unwillkürliches vorherrscht. Gewünschte, als zieldienlich angesehene Trance ist charakterisiert durch gewünschte unwillkürliche Prozesse (»Lösungstrance«). Symptome und »psychische oder psychosomatische Störungen« sind Ausdruck ungewünschter unwillkürlicher Prozesse. Wenn man mit Klienten systematisch rekonstruiert, wie solche ungewünschten unwillkürlichen Prozesse zustande kommen (eine wichtige Standardintervention hypnosystemischer Arbeit), lässt sich zeigen, dass diese unbewusst auf unwillkürliche Art selbst induziert worden sind, also letztlich Ergebnis einer wirksamen Selbsthypnose sind – leider verbunden mit viel Leid. Was aber so (man kann durchaus sagen: sehr erfolgreich und wirksam) selbst gestaltet wurde, kann auch wieder selbst in konstruktiver Weise umgestaltet werden.

Dieses Buch illustriert in vielen Facetten, wie den Betroffenen diese Art des Verständnisses auf achtungsvolle und empathische Weise zu vermitteln ist und wie ihnen ermutigende und effektive Vorgehensweisen angeboten werden können, die sie wieder erleben lassen, dass sie Gutes für sich tun können. Sie werden dabei die Erfahrung machen, dass sie quasi »von sich selbst und von ihrer wertvollen, bisher unbewussten Kompetenz lernen«. So können Selbstachtung, Würde und das Erleben von Selbstwirksamkeit intensiv gestärkt werden. Schon deshalb stellt das Buch eine herausragende Perle im Felde der Arbeiten zu Depression dar und kommt zur rechten Zeit.

Puristen der eher »klassischen« systemischen Therapiekonzepte mögen zu diesem Buch kritisch anmerken, der »systemische« Teil sei im Vergleich zu den beschriebenen hypnotherapeutischen Interventionen relativ schmal. Dies hätte aus meiner Sicht nur Bestand, wenn man »systemisch« einseitig auf die Arbeit mit interaktionellen Systemen bezöge. Auch die wird hier aber in vielen Variationen sehr anschaulich und praxisrelevant beschrieben. Ortwin Meiss geht zudem von einem erweiterten, umfassenderen Systembegriff aus, der auch die Dynamik der internalen Systeme mit erfasst. Dies freut mich besonders. Ich hatte das Glück, Teil der sogenannten »Heidelberger Gruppe« um Helm Stierlin zu sein, die – unterstützt und angeregt von der Mailänder Gruppe – den systemischen Ansatz im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. Aber schon seit meinen direkten Lernerfahrungen bei Milton Erickson 1980 und in den Jahren danach war es mir ein zentrales Anliegen, den Fokus der systemischen Arbeit nicht nur auf die interaktionellen Wechselwirkungen auszurichten, sondern diese Perspektive zu ergänzen um die systematische Arbeit mit den inneren Systemen (wobei immer die gleiche Herangehensweise beachtet wird, nämlich das Denken in zirkulären Mustern auf allen Systemebenen). Dies hat mich auch am meisten dazu veranlasst, den hypnosystemischen Integrationsansatz zu entwickeln. Ortwin Meiss zeigt sehr konsequent und anschaulich, wie man mit den inneren Systemen sehr effektiv arbeiten und dabei die interaktionellen Wechselwirkungen sehr wohl konstruktiv beachten kann. So berücksichtigt er eindrücklich auch die Interaktionen zwischen Therapeuten und Klienten, die oft mit dem Angebot depressiver Symptome einhergehen. Ich bin sicher, dass die entsprechenden Beispiele im Buch vielen Therapeuten helfen werden, besser zu beachten, wie und wie schnell man als Therapeut in eine gemeinsame »Problemtrance« geraten kann. Deshalb finde ich, dass der Titel des Buchs auch im Hinblick auf seinen systemischen Anteil sehr angemessen ist.

Eine etwas wehmütige Bemerkung möchte ich in diesem Zusammenhang aber auch machen. Ortwin Meiss formuliert an einer Stelle: »Die Hypnotherapie betrachtet eine psychische Störung als eine aktive Leistung des Individuums«, ganz im Sinne dessen, was ich gerade dargelegt habe. Die Dynamik, die zur Entwicklung von Depressionen beiträgt, beschreibt er dabei sehr differenziert und treffend, aber eben erfreulicherweise nicht als Ausdruck von Inkompetenz und Defizit, sondern als selbstwirksam erbrachte Leistung (die natürlich – siehe oben – nicht absichtlich-bewusst, sondern unbewusst-unwillkürlich gestaltet wird).

Dass der Autor unser Berufsfeld so optimistisch sieht, finde ich wunderbar. Ich wünschte mir sehr, dass er mit dieser Aussage Recht hätte. Aber als ich vor einigen Jahren einen Artikel zum hypnosystemischen Verständnis und der Therapie von Depressionen veröffentlichte, in dem ich genau diese Perspektive (Depression als aktive selbsthypnotische Leistung der Klienten) als Basis einbrachte, bekam ich von einem Teil des Herausgebergremiums die Rückmeldung, das sei eine oberflächliche, schönfärberische Verzerrung der schweren Pathologie und der Defizite der Klienten und widerspreche klinischen Erfahrungen. Und dies, obwohl ich in dem Artikel viele klinische Beispiele aus unserer Arbeit beschrieben hatte.

Leider erlebe ich auch im Feld der Hypnotherapie – durchaus auch bei manchen Ericksonianern (da tut es mir besonders weh) –, dass verdinglichende Konzepte wie etwa »Die Klientin ist depressiv« noch immer wie selbstverständlich verwendet werden. Dem entsprechend werden die Symptome doch noch vor allem als Defizit gesehen, das es »wegzumachen« gilt, zum Beispiel durch kreative Trance-Induktionen, EMDR usw. Es wird dann zwar vorgeschlagen, man solle die Symptome mit strategischen Reframings usw. utilisieren, aber eine Defizit-Sichtweise bleibt erhalten, und die »psychische Störung« wird eben nicht als aktive Leistung gesehen und behandelt. Sieht man sie dagegen als Leistung, wird auch schnell verständlich, dass man mit Fragen vom Typ »Wie könnten Sie die Depression verstärken?« die Selbstwirksamkeit erhöhen kann.

Ich habe leider schon des Öfteren beobachten müssen, dass Therapeuten solche Strategien als Technik ohne Mitgefühl angewendet haben. Das kann katastrophal entwertend wirken, Klienten können dies als zynisch wirkenden Vorwurf erleben. Ortwin Meiss zeigt dagegen in berührender Art und Weise, wie man so achtungsvoll und behutsam vorgehen kann, dass es würdigend und ermutigend ankommt und Menschen in ihrer Autonomie und ihrem Selbstverständnis von Kompetenz sehr wirksam unterstützt.

Bewertet man die Symptomentwicklung als Leistung, kann sofort gefragt werden: Als Leistung wofür? Damit können wir den Fokus auf die Bedürfnisse ausrichten, für die die Symptome auf unbewusster Ebene unwillkürlich »produziert« werden, und dann können die Symptome endlich in ganzheitlich würdigender Weise utilisiert werden als das, was ich gerne »wichtige kompetente Botschafter für Bedürfnisse« nenne. In vielen Vorträgen, Seminaren und Artikeln plädiere ich unter der Überschrift »Burnout als Kompetenz« seit vielen Jahren dafür zu berücksichtigen, welche beziehungsgestaltenden Auswirkungen mit dem Symptomerleben einhergehen, und etwa Loyalitätsleistungen, die sich in den Symptomen zeigen, zu beachten und zu utilisieren. Mit solchem Vorgehen kann nicht nur gezeigt werden, dass die Kompetenzen, die für hilfreiche Lösungen benötigt werden, so gut wie immer schon im Erfahrungsrepertoire der Betroffenen gespeichert sind und dass die Symptomatik keineswegs durch einen grundsätzlichen Mangel an Kompetenz begründet ist. Es zeigt sich auch, dass es auf unbewusster Ebene oft Befürchtungen gibt, es könnten sich ungewünschte Auswirkungen ergeben, wenn man dauerhaft wirksam seine Kompetenzen für hilfreiche Lösungen aktivieren und nutzen würde. Diese Befürchtungen beziehen sich meistens nicht darauf, dass man selbst belastet werden könnte, sondern dass andere durch die Lösung Probleme erleiden könnten. Die Symptomatik lässt sich also auch als unbewusste Loyalitätsleistung verstehen und würdigen. Und das bisherige Nichtnutzen der Lösungskompetenzen kann als Ausdruck unbewusster Zielkonflikte verstanden werden.

Dann wiederum wird verständlich, dass Widerstand gegen Besserung oder massive Ambivalenz auch geachtet und genutzt werden muss und dass dies keine »strategische Trickserei« darstellt, sondern Ausdruck eines ganzheitlich würdigenden Vorgehens im Dienste von tragfähigen, ausbalancierten Lösungen ist. Ortwin Meiss zeigt hier in vielen Beispielen sehr schön und überzeugend, wie sich das gestalten lässt. Hilfreich finde ich, dass er dabei Symptome wie zum Beispiel Suchtverhalten als Quasi-Beziehungspartner utilisiert. Die beziehungsgestaltenden Wirkungen können so noch anschaulicher erlebt und verstanden werden. Auch hier vertrete ich ähnliche Positionen und habe in vielen Arbeiten dargelegt, wie aus systemischer Sicht Symptome wie »Familienmitglieder« wirken und dementsprechend genutzt werden können. So lassen sich Symptome sogar zu hilfreichen Ratgebern transformieren. In unserer Arbeit in der sysTelios-Klinik berichten sehr viele Klienten, dass gerade diese Perspektive ihnen sehr nutzt und sie in ihrer Autonomie unterstützt.

Ein weiterer Umstand, den Ortwin Meiss anschaulich und treffsicher beschreibt, ist die Gefahr einer entwürdigenden Oben-unten-Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten, die häufig mit einer Pathologie-Sichtweise einhergeht. Dem stellt er überzeugende Argumente für eine Gestaltung der Beziehung auf Augenhöhe entgegen, gerade bei Klienten mit Depressionen. Dafür übrigens halte ich es für unerlässlich, dass man den Klienten transparente Erklärungen über das eigene Vorgehen anbietet – ich nenne das »Produktinformationen« – und jedes Interventionsangebot verknüpft mit der Bitte um Rückmeldungen dazu, wie die Intervention ankommt und wirkt. So wird jede Reaktion, jede Rückmeldung des Klienten zur wertvollen Anleitung dafür, die therapeutischen Angebote danach auszurichten und die Interventionen an diese Rückmeldungen anzupassen. Damit wird auch deutlich, dass es nicht passend wäre, von »Pacing und Leading« zu sprechen, wenn damit gemeint sein soll, dass der Therapeut in der Kooperation führen würde. Wenn jemand führt, dann ist es der Klient mit seinen Rückmeldungen, denn Bedeutung und Wirkung einer Botschaft bestimmt ja nicht der Sender (z. B. der Therapeut mit seiner Intervention), sondern der Empfänger, also der autonom reagierende Klient. So wird Kooperation auf Augenhöhe erst kongruent wirksam.

In ähnliche Richtung gehen auch die Ideen von Ortwin Meiss, zu Beginn der Kooperation, aber ebenso im weiteren Verlauf der Therapie, auch im niederdrückenden (»depressiven«) Erleben einfach mal so sein zu dürfen, dies nicht gleich ändern zu müssen. Klienten sind (in der Terminologie von »Anteilen« oder »Seiten der Person« gesprochen) zunächst am meisten in Kontakt mit dem Ich, das sich ohnmächtig und völlig inkompetent fühlt. Dieses Ich bekommt gleichzeitig enormen Druck von einer gnadenlos-perfektionistischen anderen »Seite« in der Person. Empathisches, wertschätzendes Pacing für das leidvolle Erleben und die Unterstützung dafür, erst mal gar nichts verändern zu müssen, macht daher eine besonders wirksame Veränderung des bisherigen Problemmusters möglich. Auch wenn solche Interventionsangebote oft als »paradoxe Intervention« missverstanden werden: Sie sind keineswegs paradox.

Sehr gut finde ich auch, dass Ortwin Meiss gute Argumente dafür anführt, Burnout und Depression klar zu unterscheiden. Viele Psychiater gehen davon aus, dass Burnout nur eine Modebezeichnung für Depressionen sei. Dagegen sprechen viele Aspekte, die hier differenziert berücksichtig werden. Ich bin sicher, dass seine Argumente für viele Betroffene sehr hilfreich sind, denn nach meiner Erfahrung erleben sie sich durch die Diagnose »Depression« häufig als abgewertet und als schwach und unfähig gezeichnet, was ihnen zusätzliche Probleme einbringt.

Dafür, dass der Autor auch für »Borderline-Störungen« und für die Entwicklung von Scham-Prozessen einen Kompetenz-Fokus berücksichtigt, muss man ihm besonders dankbar sein. So wird deutlich gemacht, dass zum Beispiel hinter Scham die Furcht vor dem Verlust von Zugehörigkeit zur relevanten Bezugsgruppe steht. Diese Erkenntnis wiederum hilft, Lösungs- und Ressourcen-Hypothesen zu entwickeln, etwa im Hinblick auf die Frage, was helfen könnte, wieder mehr Zugehörigkeitserleben und Sicherheit in Beziehungen aufzubauen. Auch das verschiebt den Fokus von einer einseitigen Problemfixierung hin zu Ressourcenprozessen.

Sehr nützlich finde ich den Umgang mit Suizidideen. Ortwin Meiss utilisiert sie durch Fragen wie »Was möchten Sie mit dem Suizid erreichen?« und arbeitet damit die Bedürfnisse von Klienten konstruktiv heraus. Auf die Frage, wohin sie in ihrer Vorstellung gelangen, wenn ein Suizid gelingen würde, entwickeln die meisten Klienten Fantasien über ersehntes Erleben, sodass man zu dem Schluss kommen kann, sie wollten sich offenbar das ersehnte Leben geben, nicht nehmen. Solche Fragen führen also, wenn man sie systematisch aufbaut, keineswegs dazu, dass die Suizidgefahr größer wird, ganz im Gegenteil. Mit ihnen lassen sich Suizidtendenz übersetzen als wertvolle Information über Bedürfnisse in diesem Leben und wirksame Schritte für die Kooperation entwickeln. So wird dieses Vorgehen zur besonders effektiven Suizidprophylaxe. Ortwin Meiss vermitteltt auch diese Art des Vorgehens sehr anschaulich und gut lernbar.

Ähnlich hilfreich finde ich die vorgestellten Ideen für Interventionen bei erlebten Traumata. Manche Experten formulieren ja (aus meiner Sicht zu Recht) Sätze wie »Hinter jeder Depression stecken traumatische Erfahrungen«. Diesen Umstand berücksichtigt der Autor sehr kompetent. Das anschaulich beschriebene Vorgehen lässt sich nicht nur gut für die Arbeit mit Depressionen nutzen, sondern auch in jeder direkt als »Traumatherapie« definierten Arbeit.

Ich habe die Lektüre dieses Buches durchgehend sehr genossen, die Kreativität und der enorm reiche Schatz professioneller Kompetenz des Autors haben mir viele wertvolle Anregungen gegeben. Dafür bin ich sehr dankbar. Und ich kann jedem, der mit den behandelten Themen, aber auch mit anderen Aufgaben im Bereich der Psychotherapie und Beratung zu tun hat, nur empfehlen, sich zur Vertiefung dieser Ansätze Weiterbildungen mit Ortwin Meiss zu gönnen. Durch viele Rückmeldungen von Teilnehmern seiner Seminare weiß ich zuverlässig, wie hervorragend auch da seine Angebote sind. Und ich hoffe und glaube, dass dieses Buch nachhaltig wirksamen Einfluss auf viele Kollegen haben wird – und damit auch darauf, dass Defizit-Sichtweisen von »Depressionen« immer weniger und dafür achtungsvoll kompetenzfokussierende Herangehensweisen immer mehr werden. Deshalb wünsche ich diesem Buch sehr große Resonanz und viel Erfolg, aber ich bin auch sicher, dass es beides haben wird.

Heidelberg, im Januar 2016Dr. med. Dipl.-Volksw. Gunther SchmidtLeiter des Milton-Erickson-Instituts HeidelbergÄrztlicher Direktor der sysTelios-Klinik fürpsychosomatische Gesundheitsentwicklung Siedelsbrunn

Vorwort

In der Behandlung von depressiven und Burnout-Patienten gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze, die miteinander konkurrieren und auch kombiniert werden. Die Verordnung von Medikamenten, insbesondere von Antidepressiva, und die psychotherapeutische Behandlung, wobei vor allem die Kognitive Verhaltenstherapie zur Anwendung kommt. Während die Psychotherapeuten die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlungen betonen, sind viele medizinisch ausgebildete Fachleute der Meinung, mit der Behandlung durch Antidepressiva sei das Notwendige getan. Dies sei praktisch, leicht durchführbar und entspräche in vielen Fällen den Wünschen der Patienten. Zudem sei die Wirkung der Medikamente wissenschaftlich belegt.

Antidepressiva und Placebowirkung

Nach den Ergebnissen der Metastudien von Irving Kirsch (2009) beruht die Wirkung von Antidepressiva in erster Linie auf der Placebowirkung. Dies mag insofern überraschen, als die Medikamente erst nach Vergleichsstudien mit Placebos zugelassen werden. Angeblich handelt es sich bei den Studien um Doppelblind-Vergleiche, bei denen weder der Patient noch der Untersucher weiß, wer zu welcher Gruppe gehört. Allerdings werden die Medikamente meist mit Placebos verglichen, die keinerlei Veränderungen im Körper der Probanden bewirken. Antidepressiva hingegen produzieren eine Fülle von Nebenwirkungen, die Probanden merken also, ob sie zur Placebo- oder zur Medikamentengruppe gehören. Die Voraussetzungen für eine Doppelblind-Studie sind somit nicht gegeben. Vergleicht man die Wirkung der Antidepressiva mit der Wirkung von »aktiven Placebos« – dies sind Placebos, die »aktiv« Nebenwirkungen produzieren –, ist die Überlegenheit der Antidepressiva nach Kirsch gleich null.

Die Untersuchungen von Kirsch blieben nicht ohne Widerspruch. Viele Praktiker argumentierten, es könne nicht falsch sein, was man jahrelang praktiziert habe, schließlich habe man seine positiven Erfahrungen mit der Gabe von Antidepressiva.

Der positive Effekt der Medikamentengabe lässt sich nicht abstreiten, der Effekt entsteht gleichwohl auch dann, wenn man aktive Placebos verabreicht, denn sowohl die Medikamentengruppe wie die Placebogruppe schneiden wesentlich besser ab als die Warteliste, bei der überhaupt nichts unternommen wird. Am schlimmsten wird es also, wenn man nichts tut. Die persönlichen Erfahrungen der Behandler widersprechen somit nicht der These, dass die Wirkung der Antidepressiva auf Placebowirkung beruht.

Die Kirsch-Studien werden von Praktikern auch deshalb in Zweifel gezogen, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass oft mehrere Antidepressiva wirkungslos bleiben, bis man das »richtige« gefunden hat. Die Wirkung des »richtigen Medikaments« schreibt der Behandler dann dessen Inhaltsstoffen zu. Die Placebostudien zeigen jedoch, dass auch bei der Gabe von Placebos nicht alle Probanden schon beim ersten Placebo reagieren. Ein bestimmter Prozentsatz reagiert erst beim zweiten, ein weiterer beim dritten oder beim vierten. Es ergeben sich die gleichen Prozentsätze wie bei der Gabe von Antidepressiva. Dies erklärt die Fehlwahrnehmung aufseiten des Behandlers.

Weiterhin werden positive Erfahrungen berichtet, wenn man die Dosis der Medikamente erhöht. Manche Hersteller empfehlen in Fällen, bei denen das Medikament keine Wirkung zeigt, die Dosis zu verdoppeln. Es ist zu beobachten, dass einige Patienten danach eine Besserung wahrnehmen. Dieser Effekt zeigt sich jedoch nur, wenn Behandler und Patient wissen, dass die Dosis verdoppelt wurde. Es handelt sich auch hier um einen Placeboeffekt.

Das Suchtpotenzial der Medikamente

Nun berichten viele Patienten, dass es ihnen sofort schlechter gehe, wenn sie die Antidepressiva absetzen. Daraus schließen sie, dass sie die Medikamente brauchen und diese eine positive Wirkung haben. Tatsächlich bekommen die Patienten nach dem Absetzen Entzugserscheinungen. Es entsteht die gleiche Fehlwahrnehmung wie bei einem Raucher, der einem erklärt, dass ihn das Rauchen beruhige. Faktisch macht Nikotin unruhig. Was der Raucher mit der Zigarette beruhigt, ist seine Sucht bzw. seine Entzugserscheinungen, die auftreten, wenn er einen Nikotinabfall erleidet.

Die Ergebnisse Kirschs haben die Antidepressiva nachhaltig in Verruf gebracht. Dennoch wurde wenig an der Verordnungspraxis der Antidepressiva geändert. Der Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität München Prof. Hans-Jürgen Möller bezeichnet die Verordnung von Antidepressiva als »State of the Art« (Ärztezeitung vom 3.3.2008) und beklagt die Verunsicherung der Patienten. Entscheidend sei, dass die Antidepressiva von Behörden zugelassen sind. Ob die Zulassung durch die Behörden die Verabreichung der Medikamente rechtfertigt, darf bezweifelt werden. In einer 2015 im British Medical Journal publizierten Re-Analyse einer Original-Studie der Wirksamkeit der zugelassenen Medikamente Paroxetin und Imipramin konnte das Forscherteam aus Großbritannien und den USA nachweisen, dass die Medikamente nicht wirksamer als ein Scheinpräparat sind, jedoch zu starken Nebenwirkungen führen, wie Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Beschwerden, und sie zudem die Suizidneigung der Patienten verstärken (Stöcker 2008).

Sport und Antidepressiva

Eindeutig belegt ist die positive Wirkung von Sport bei depressiven Erkrankungen. Gelingt es den Patienten, Sport zu machen, erreichen sie die gleichen positiven Effekte wie bei der Einnahme von Antidepressiva, allerdings ohne die unerwünschten Nebenwirkungen wie z. B. Gewichtszunahme, Libidoverlust etc. In einer von Kirsch referierten Vergleichsuntersuchung zwischen einer Medikamenten-, einer Sport- und einer Sport+Medikamenten-Gruppe erreichte die Kombinationsgruppe Sport plus Antidepressiva die besten Ergebnisse. Allerdings war die Rückfallhäufigkeit nach zehn Monaten in der Kombinationsgruppe viermal so hoch wie in der Gruppe, die nur Sport gemacht hatte. Die Sportgruppe war der Medikamenten-, und der Kombinationsgruppe deutlich überlegen. Man kann die Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass die Antidepressiva auf Dauer die positive Wirkung von Sport zunichtemachen (Kirsch 2009).

Praxis der Verordnungen

Die Haltung des »Weiter so!« wirkt aufgrund der augenblicklichen Forschungslage irritierend. Da man vermuten kann, dass vielfach die Durchführung und Interpretation der Studien interessengeleitet sind, da die Hersteller der Medikamente sowohl Forschungen als auch Kliniken subventionieren, wäre ein gewisses Maß an Skepsis bezüglich der Medikamente angebracht. Man sollte bei der Verabreichung zurückhaltender sein, bis weitere Forschungen ein klareres Bild liefern. Stattdessen berichten mir immer wieder Patienten, dass sie sich in einigen Kliniken geradezu genötigt fühlten, Antidepressiva zu nehmen. Einwände dagegen wurden beiseitegewischt, die erheblichen Nebenwirkungen und die Probleme beim Absetzen verschwiegen oder verharmlost. Weigern sich die Patienten dennoch, die Medikamente zu nehmen, wird ihnen vorgeworfen, die Behandlung zu boykottieren und nicht mitzuarbeiten.

Psychotherapie – ein Placebo?

Auch die Effekte der psychotherapeutischen Methoden, die bisher im Bereich der depressiven Erkrankungen angewendet wurden, sind nach den Studien von Kirsch gering, auch wenn es Hinweise dafür gibt, dass langfristig positivere Ergebnisse erzielt werden. Entsprechen die von Kirsch erhobenen Daten der Wirklichkeit, so muss man ernüchternd feststellen, dass selbst langjährige Psychotherapie-Ausbildungen nicht dazu befähigen, kurzfristig gesehen eine deutlich stärkere Wirkung zu erzielen als ein aktives Placebo. Dies stützt die Hypothese des Neurobiologen Gerhard Roth (2015), der die Wirkung vieler ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlungen der positiven Zuwendung zuschreibt, welche der Patient vom Behandler bekommt.

Motivation zu diesem Buch

Die von Kirsch veröffentlichten Ergebnisse, dass weder die Antidepressiva noch die bisher angewendeten psychotherapeutischen Methoden eine wesentliche Wirkung entfalten, die deutlich über die Wirkung von aktiven Placebos hinausgeht, haben mich zu diesem Buch bewegt.

Grundsätzlich stimme ich der Ansicht zu, dass eine gute Beziehung zum Patienten eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen einer Therapie ist. Zuwendung heilt, wie sich sowohl aus den Studien Kirschs wie auch aus den Ergebnissen der Neurobiologie ableiten lässt. Deshalb widmen sich die Kapitel zu systemischen Ansätzen vor allem der Beziehungsgestaltung und zeigen, wie diese gelingen kann. Ebenso muss ich feststellen, dass ich ohne die in diesem Buch beschriebenen hypnotherapeutischen Methoden und Techniken mit vielen Patienten nicht wirklich vorangekommen wäre. Diese Methoden und Techniken bilden den zweiten Schwerpunkt dieses Buches. Es hat nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit, vielmehr möchte ich Psychotherapeuten, insbesondere denjenigen mit Grundkenntnissen in systemischen und hypnotherapeutischen Ansätzen, die Möglichkeit geben, ihren eigenen Ansatz um effektive Techniken zu bereichern.

Systemische und hypnotherapeutische Ansätze

Es mag im ersten Moment verwundern, dass ein Verfahren wie die Hypnotherapie, das sich auf die Nutzung von Hypnose gründet, mit der systemischen Therapie vereinbar ist. Systemische Ansätze sehen lebende Organismen als sich selbst organisierende Wesen. Hypnose dagegen wird noch immer mit Fremdsteuerung und Ursache-Wirkungs-Modellen assoziiert. In dieser Vorstellung bewirkt der Hypnotiseur, dass der Hypnotisierte in Trance fällt, er verursacht das, was der Hypnotisierte an Reaktionen zeigt. Dieses Modell der Hypnose ist überholt und mit moderner Hypnotherapie nicht vereinbar. In dem modernen Verständnis der Hypnose ist Trance eine natürliche Fähigkeit des Gehirns, bestimmte Bereiche hochaktiv werden zu lassen, während andere in ihrer Aktivität reduziert werden. Der hochaktive Gehirnbereich kann seine Fähigkeiten und Potenziale optimal entwickeln, da die anderen ihn dabei nicht stören, es zu keinen Interferenzprozessen kommt. Diese gezielte Aktivierung nutzen Menschen und auch höhere Tiere in Anforderungssituationen, in denen alles, was nicht relevant ist, ausgeblendet wird (Halsband 2015). Die Hypnotherapie hilft dem Patienten, diese Fähigkeit für die Veränderung seiner Problematik und für das Finden von kreativen Lösungen zu nutzen.

Hypnotherapie verstehe ich als Systemtherapie nach innen, mit der ein Selbstorganisationsprozess beim Patienten angeregt wird. Dass systemische Therapie und Hypnotherapie vereinbar sind, erweist sich im hypnosystemischen Ansatz von Gunther Schmidt (2015).

Die Fallbeispiele in diesem Buch zeigen, wie der Patient sich selbst auf die Spur kommt, den Zusammenhang zwischen seiner Symptomatik und der zugrunde liegenden Problematik eigenständig erkennt und Lösungen für seine Probleme findet. Innerhalb dieses Selbstorganisationsprozesses ist der Therapeut mehr Begleiter, als dass er führt. Er liefert weniger gute Antworten als gute Fragen. Die Antworten findet der Patient selbst. In dieser Weise arbeitet der Therapeut leicht und ohne Anstrengung.

Gerade die Hypnotherapie kann die systemische Therapie in der Arbeit mit Einzelpatienten erheblich erweitern. Es wird zudem deutlich, dass die Hypnotherapie als das Missing Link zwischen den verschiedenen Ansätzen angesehen werden kann, da sie sowohl ressourcen- und lösungsorientierte als auch tiefenpsychologisch orientierte Ansätze enthält. Sie kann damit einen Beitrag dazu liefern, dass die in Deutschland entstandenen Richtlinienverfahren endlich Geschichte werden und sich ein integrativer Ansatz entwickelt, wo verschiedene Verfahren und Therapiekonzepte zusammenwachsen. Neuere Verfahren wie die Schematherapie, in die auch hypnotherapeutische Konzepte eingeflossen sind, gehen ebenfalls in diese Richtung (Young 2008).

Einführung

Depression als Volkskrankheit

Depressionen gelten als Volkskrankheit. Nach Schätzungen des deutschen Bundesgesundheitsministeriums leiden in Deutschland vier Millionen Menschen unter Depressionen, gut zehn Millionen erleiden bis zum 65. Lebensjahr eine Depression. Die Kosten, die der Volkswirtschaft durch die Behandlung sowie durch Fehlzeiten und verminderte Leistung entstehen, werden auf 21,9 Milliarden Euro geschätzt. Fast 25 % aller Fehltage im Beruf werden mit Depressionen in Verbindung gebracht (Holsboer 2011). Die Krankheitskosten, etwa in Form von Arbeitsunfähigkeiten, stationären Behandlungen und Frühverrentungen, sind in Deutschland in den letzten Jahren stark angestiegen. Dies entspricht einem weltweiten Trend. Glaubte man früher an eine genetische Disposition von Frauen, so geht man heute davon aus, dass Männer genauso oft Depressionen erleiden, die Symptomatik nur weniger offen zutage tritt.

Symptome einer Depression

Der Begriff Depression kommt vom lateinischen deprimere »niederdrücken«. Typische Zeichen sind eine anhaltende gedrückte Stimmung, Antriebshemmung und eingeengte Gedanken oder Gedankenkreisen. Es zeigt sich ein Verlust an Freude, Interesse und Antrieb sowie ein Rückgang von sexuellem Verlangen. Vielfach entwickeln sich Schlafstörungen, es kommt zu frühmorgendlichem Erwachen, der Schlafrhythmus ist gestört. Die Betroffenen zeigen ein vermindertes Selbstwertgefühl und eine reduzierte kognitive Leistungsfähigkeit, wie verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit. Die Patienten fühlen sich hilflos und ihren Stimmungen ausgeliefert. Sie haben wenig Hoffnung, dass sich etwas positiv ändert. Es herrscht eine negative und pessimistische Zukunftsperspektive. Sie präsentieren sich ängstlich und davon überfordert, anstehende Aufgaben zu bewältigen. Viele reagieren übertrieben beunruhigt auf äußere Veränderungen oder Bagatellstörungen im Bereich des eigenen Körpers und katastrophisieren Misserfolge und Fehlschläge.

Bei schweren Depressionen kommt es zu völliger Gefühllosigkeit und anhaltender innerer Leere. Bei einer schweren depressiven Episode können Betroffene in ihrem Antrieb so gehemmt sein, dass selbst leichteste Aufgaben zu unüberwindlichen Hürden werden. Selbst einfachste Tätigkeiten wie Körperpflege, Einkaufen oder Abwaschen können sie nicht mehr verrichten. Viele der Patienten sind durch Ansprache und Zuspruch nicht mehr zu erreichen. Dabei kann die äußere Starre mit einer starken inneren Unruhe einhergehen, welche für die Betroffenen extrem quälend sein kann.

Das Empfinden völliger Sinnlosigkeit und innerer Leere führt oft zu latenter oder akuter Suizidalität. Man schätzt, dass die Hälfte der Menschen, die einen Suizid begehen, unter Depressionen gelitten hat.

Larvierte Depressionen

Depressionen können von anderen Erkrankungen überdeckt sein oder sich in diesen ausdrücken. Man spricht in diesem Zusammenhang von larvierten Depressionen. Die Depression versteckt sich wie in einer Larve. Häufig zeigen sich Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Gelenk-, Muskel- und Nervenschmerzen, Beklemmungen im Brustbereich, Schwindel, Appetitmangel, Gewichtsverlust, Schlafrhythmusstörungen, Neigung zu Schweißausbrüchen, morgendliche Erschöpfungszustände, Unterleibsbeschwerden, Störungen der Sexualfunktion, verminderte sexuelle Appetenz.

Es wird vermutet, dass eine Vielzahl derjenigen, die einen Allgemeinarzt aufgrund von körperlichen Beschwerden aufsuchen, unter einer larvierten Depression leiden. Die Tendenz, die Depression auf die körperliche Ebene zu verlagern, wird durch eine Gesellschaft gefördert, die körperliche Erkrankungen toleriert, sich aber gegenüber seelischen Störungen oft intolerant und abwertend verhält. Körperlich Kranke haben es leichter, ihre Leistungseinbußen mit ihrer Krankheit zu rechtfertigen. Die Patienten können eine körperliche Erkrankung auch selbst besser akzeptieren. Die ökonomische Situation der meisten Ärzte lässt zudem ein längeres Gespräch mit dem Patienten nicht zu, sodass somatisch orientierte Behandlungsansätze favorisiert werden.

Diagnosekategorien der Depression

Das Diagnoseschema, nach dem die Depression und das Burnout kategorisiert werden, hat sich im Laufe der Zeit vielfach geändert, was auf seine Abhängigkeit von aktuellen Lehrmeinungen hinweist. Während man früher zwischen endogenen (von innen verursachten), neurotischen (strukturell bedingten) und reaktiven (Reaktion auf äußere Ereignisse) Depressionen unterschied, trennt man heute zwischen depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen und unterscheidet bei Depressionen, je nach Schwere, zwischen leichten, mittelgradigen und schweren depressiven Episoden. Unter dem Begriff Dysthymia versteht man eine chronische Form einer depressiven Verstimmung, die nicht alle diagnostischen Kriterien für das Vollbild einer Depression erfüllt.

Schwangerschaftsdepressionen oder postnatale Depressionen bilden keine eigenen Diagnosekategorien, haben sich aber als Beschreibungsbegriffe eingebürgert.

Darüber hinaus gibt es Depressionen, die infolge von degenerativen Prozessen im Gehirn sowie durch Schilddrüsenfunktionsstörungen, Hypophysen- oder Nebennierenerkrankungen entstehen können. In diesem Zusammenhang spricht man von organischen Depressionen. Diese sind durch psychotherapeutische Methoden nur bedingt beeinflussbar.

Burnout (oder melt down)

Burnout ist das Symptom einer beschleunigten Zeit mit einem ausgeprägten Leistungsdenken. Unter einem Burnout (ausgebrannt sein) versteht man einen Zustand chronischer, emotionaler, mentaler und physischer Erschöpfung infolge von lang anhaltenden emotional belastenden Situationen. Selbst in Ruhephasen findet keine Erholung statt.

Viele Diagnostiker lehnen eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einem Burnout und einer Depression ab oder empfinden den Unterschied als konstruiert. Manche Psychiater sprechen von einer Modediagnose (Kaschka 2011). Innerhalb des medizinischen Diagnostiksystems existiert die Diagnose Burnout nicht, man spricht eher von einer Erschöpfungsdepression.

Anzeichen eines Burnouts sind ein fortschreitender Abbau von Idealismus, Energie und Zielstrebigkeit. Die Erschöpfung wird begleitet von Unruhe und Anspannung, dem Gefühl von verminderter Effektivität und Motivation, dem Verlust von Empathie und Einfühlungsvermögen. Es gibt Schwierigkeiten, anderen zuzuhören. Es zeigt sich eine Erosion der Werte, Zynismus und eine Entpersönlichung von Beziehungen. Weiterhin ein Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit, eingeschränkte Wahrnehmung, Konzentrations-, Gedächtnis- und Entscheidungsschwäche, Unfähigkeit zu klaren Anweisungen, verringerte Initiative und Produktion, Dienst nach Vorschrift. Der Arbeitsstil ist kreativlos und unflexibel, man kann nicht mehr abschalten.

Als Auslöser für Burnout findet man Situationen von Ermüdung und Frustration, wo Beziehungen oder Tätigkeiten nicht die erwarteten Resultate mit sich brachten und ein Ungleichgewicht zwischen Einsatz und Ertrag, Anstrengung und Belohnung, Positivem und Negativem besteht. Zu viel des immer selben, das Ausbleiben einer erwarteten positiven Veränderung (Anerkennung, Beförderung, Arbeitswechsel etc.), die Unerreichbarkeit wichtiger Ziele sind Faktoren, die ein Burnout zur Folge haben können. Versetzungen und Degradierungen ohne Begründung können eine latent bestehende Spannung zu einem chronischen defensiven Alarmzustand verschärfen.

Der Weg ins Burnout wird beschleunigt durch eine idealisierte Überhöhung der Arbeit, den Rückzug von anderen Menschen und den Verlust an Anteilnahme. Privates wird untergeordnet, Ziele werden unrealistisch hoch gesteckt, darüber hinaus sind sie oft fremdbestimmt. Zudem entsprechen die Ziele nicht den eigenen Bedürfnissen und bieten dann, wenn sie erreicht werden, keine wirkliche Befriedigung. Manchmal werden an realistische Ziele unrealistische Erwartungen geknüpft, die dann nicht eingelöst werden.

Die Betroffenen fühlen sich oft auf verlorenem Posten kämpfend. Humorlosigkeit, Abgestumpftheit, Leere, Abgestorbensein, Bitterkeit und das Gefühl, in der Falle zu sitzen, sind typische Merkmale. Das Burnout wird als Niederlage erlebt. Die Folgen sind eine reduzierte Selbstachtung und ein Insuffizienzerleben. Oft herrscht Ratlosigkeit und Fassungslosigkeit über die eigene emotionale Reaktion.

Ängstlich agitierte Typen und Erwartungserfüller, die ausschließlich aus der Arbeit Bestätigung ziehen, sind besonders gefährdet. Perfektionismus und ein Rollenverständnis als Macher sowie das Bedürfnis, überall beliebt zu sein, fördern die Tendenz auszubrennen. Ausbrenner können Hilfsbedürftigkeit und Schwäche schlecht zugeben. An den vorhandenen Einstellungen und Werten wird krampfhaft festgehalten. Wo Arbeit Lebenszweck ist, verliert man seine Existenzberechtigung, wenn man seine Arbeit nicht schafft. Das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung sind abhängig von beruflichem Erfolg und von Fremdbestätigungen. Es fehlt in der Regel an sozialer Unterstützung sowohl im beruflichen als auch privaten Bereich (Burisch 2010).

Typische Symptome eines Burnouts

Der Beginn eines Burnouts zeigt sich im Auftreten bestimmter Symptome, die sich sowohl im Bereich der körperlichen Befindlichkeit, des Umgangs mit Aufgaben und Anforderungen als auch in den Interaktionen mit anderen zeigen. Der Betroffene neigt dazu, seine sozialen Kontakte einzuschränken, hat nie Zeit, sich zu erholen, und verleugnet eigene Bedürfnisse. Er neigt dazu, alles selbst machen zu wollen, ist oft zu gestresst und zu nervös, um etwas zu delegieren. Dabei zeigt er sich misstrauisch, launenhaft, übermäßig empfindlich, oft unsicher, ängstlich, pessimistisch und negativ in seinen Grundhaltungen. Er hat keine Ruhe, um sich den Belangen anderer Menschen zu widmen, und empfindet diese als zusätzliche Belastung. Es besteht wenig Verständnis für die Sorgen anderer und eine Unfähigkeit, anderen zuzuhören. Es entwickelt sich ein Gefühl, ausgebeutet und ausgenutzt zu werden, es kommt zu ungerechten Schuldzuweisungen, zu einer übermäßigen Gereiztheit und Ungeduld und infolgedessen zu einer zunehmenden Ablehnung vonseiten der Kollegen. Der zunehmende Stress wird mit Alkohol, Rauchen, übermäßigem Essen und Internetspielereien kompensiert.

Wird das Burnout akut, reduziert sich die Leistungsfähigkeit dramatisch. Der Betroffene präsentiert sich lustlos und unmotiviert, fühlt sich ständig erschöpft, energielos, müde und unausgeschlafen. Es kommt zu Phasen geistiger Abwesenheit, Aufmerksamkeitsstörungen, übermäßiger Reizbarkeit, Intoleranz, Selbstmitleid, Niedergeschlagenheit und unspezifischen Ängsten. Es zeigt sich eine Scheu vor Entscheidungen, eine zunehmende Desorganisation, Dienst nach Vorschrift, Vernachlässigung von Aufgaben und Verpflichtungen und ein Aufgeben von vormals bedeutsamen Lebenszielen.

Schließlich breitet sich eine zunehmende Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Hilflosigkeit aus bis hin zur Selbstaufgabe. Der Betroffene ist unfähig, sich zu konzentrieren, erleidet Gedächtnisausfälle, die zunehmende Desorganisation endet im Chaos. Es kommt zur Abstumpfung und Apathie verbunden mit Gefühlen der inneren Leere. Die sich verstärkenden Ängste werden generalisiert bzw. scheinen keine klaren Auslöser mehr zu finden, es kommt zu grundlosem Weinen. Der Betroffene sieht keinen Sinn mehr im Leben und es entstehen Suizidgedanken.

Burnout-Persönlichkeiten

Burnout-Gefährdete zeigen bestimmte Reaktionsmuster und Bewältigungsstrategien in Anforderungs- und Stresssituationen. Sie versuchen, diese Situationen durch noch mehr Engagement und Leistung zu bewältigen. Es herrscht die Vorstellung, über noch mehr Anstrengung und noch bessere Ergebnisse die gestellten Anforderungen meistern und die aufkommenden Probleme überwinden zu können. Burnout-Gefährdete sind oft Macher und Problemlöser, fühlen sich für alles verantwortlich und glauben, sie seien unentbehrlich. Sie versuchen, alles unter Kontrolle und die Fäden in die Hand zu bekommen. Vielfach finden sich Ängste, etwas falsch oder nicht perfekt zu machen, sich zu blamieren oder den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Aus diesen Ängsten heraus reagiert man unflexibel, macht alles nach Vorschrift, zeigt wenig Kulanz und Großzügigkeit.

Viele Burnout-Gefährdete haben eine feine Wahrnehmung für die Bedürfnisse anderer, können sich diesen gegenüber schlecht abgrenzen und reagieren sofort darauf. Der Burnout-Gefährdete weist eine übersteigerte Bereitschaft auf, sich zu verausgaben, besitzt oft ein starkes Pflicht- und Verantwortungsgefühl und kann schlecht von der Arbeit abschalten. Es gibt keine klare Grenze zwischen Arbeits- und Privatbereich. Es besteht ein hoher Leistungsanspruch an sich selbst und andere, mit halben Sachen gibt man sich nicht zufrieden, es soll perfekt sein. Auch in der Freizeit strebt man 100 % Leistung an. Mit diesem hohen Anspruch setzt man sich selbst und andere unter Druck, macht sich damit unbeliebt und wird irgendwann gemobbt.

Burnout und Depression – ein Unterscheidungsversuch

Ein akutes Burnout ist von einer Depression schwer zu unterscheiden, da meist ähnliche Symptome zu beobachten sind. Bei genauer Betrachtung fällt jedoch auf, dass typische Burnout-Patienten völlig andere Grundeinstellungen und Sichtweisen präsentieren als depressive Patienten. Diejenigen, die burnoutgefährdet sind, unterscheiden sich deutlich in ihrem Welt- und Selbstbild sowie in ihrer Einstellung zu Leistung und den Umweltbedingungen.

Unterschiede zwischen zu Depressionen und zu Burnout neigenden Menschen

Während depressive Menschen in der Regel Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit zeigen und wenige Möglichkeiten sehen, ihre Situation zu verändern, glauben Burnout-Gefährdete oft, alles im Griff zu haben.

Menschen, die unter Depressionen leiden, sehen sich häufig als abhängig von einer unfreundlichen und von ihnen selbst nicht zu verändernden Umwelt. Der Burnout-Patient glaubt dagegen, von seinen Umweltbedingungen unabhängig zu sein und – egal, wie diese sich gestalten – mit den richtigen Strategien (z. B. indem man sich noch mehr anstrengt) erfolgreich sein zu können.

Der depressive Patient glaubt nicht mehr, seine Zukunft positiv beeinflussen zu können, während der Burnout-Patient glaubt, alles hinbekommen zu können, wenn er es nur richtig machen würde.

Während depressive Patienten ihre Möglichkeiten, ihre Situation zu verändern, unterschätzen, überschätzen Menschen mit einem Burnout ihre Möglichkeiten, die an sie gestellten Anforderungen zu bewältigen und sich einer unpassenden Situation anzupassen.

Ein Burnout-Patient kämpft darum, das zu schaffen, was er nicht schaffen kann. Er neigt dabei dazu, sich in seinen Leistungsmöglichkeiten zu überschätzen, seine Bedürfnisse zu ignorieren, sich zu überfordern und über seine Grenzen zu gehen. Der depressive Patient unterschätzt in der Regel das, was er verändern und bewältigen kann, und ist blind für seine Potenziale und Ressourcen, die er nutzen könnte.

Burnout-Betroffene neigen dazu, ihr Scheitern als persönliches Versagen zu begreifen und sich selbst die Schuld zu geben. Sie wollen sich nicht beklagen. Sie akzeptieren krankmachende Umweltbedingungen nicht nur als gegeben, sondern neigen dazu, diese zu bejahen und gutzuheißen. Depressive Menschen sehen die Gründe für ihren emotionalen Zustand häufiger im Verhalten ihrer Bezugspersonen und in den Umweltbedingungen (vgl. Burisch 2010).

Ein Burnout erfasst in der Regel ehemals sehr leistungsbereite und leistungsfähige Personen. Wie wir sehen werden, unterscheiden sich zu Depressionen neigende Menschen von den klassischen Burnout-Patienten vor allem durch deutlich unterschiedliche Kindheitserfahrungen.

I Theoretische Überlegungen zu Depression und Burnout

1 Theorien über die Entstehung von Depressionen

Zur Entwicklung von Depressionen gibt es Theorien und Modelle aus verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen und auch von medizinischer Seite. Sie beschreiben jeweils aus unterschiedlicher Perspektive und mit verschiedenen Schwerpunkten bestimmte Aspekte depressiver Entwicklungen und Zustände. Diese Theorien und Modelle überschneiden sich in vielen Bereichen und erklären die Entwicklung der Depression auf der Basis ihres theoretischen Grundmodells jeweils mit den mit diesem Modell verbundenen Begriffsbildungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ansätze kurz dargestellt werden.

Neurobiologisches Modell der Depression

Jede emotionale Reaktion ist eine Leistung des Gehirns und hat ein neurologisches Korrelat, eine Entsprechung im Gehirn. Wie sich aus den Forschungen ergibt, korreliert eine Depression mit bestimmten neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Hier wird insbesondere dem Botenstoff Serotonin eine entscheidende Bedeutung zugesprochen. Der Zusammenhang bzw. die Wechselwirkung zwischen psychischen und körperlichen Phänomenen wird von manchen Vertretern des neurobiologischen Modells so interpretiert, als bestünde eine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Nach diesem Verständnis sind biochemische Prozesse im Gehirn ursächlich verantwortlich für eine Depression, woraus man den Schluss zieht, dass die Verabreichung von Medikamenten eine notwendige und ausreichende Methode sei, um Depressionen in den Griff zu bekommen.

Kommentar: Die Serotonin-Hypothese kann beim aktuellen Forschungsstand nicht als vollständig gesichert gelten. Analysiert man zudem die vorhandenen Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva, so ergibt sich zwar eine Überlegenheit der Antidepressiva gegenüber reinen Placebos, allerdings findet sich keine Überlegenheit gegenüber aktiven Placebos. Aktive Placebos sind Placebos, die Nebenwirkungen produzieren. Der Patient merkt also eine körperliche Veränderung. Werden Antidepressiva mit aktiven Placebos verglichen, ist der Wirksamkeitsunterschied gleich null.

Daraus kann man folgern, dass kein Antidepressivum über den in ihm enthaltenen Wirkstoff wirkt. Die Wirkung beruht auf der Placebowirkung.

Psychodynamische Theorien

Depression wurde anfangs in Zusammenhang mit realen oder symbolischen Verlusten einer geliebten Person gesehen. Es besteht ein Konflikt zwischen Wut und Hass (Freud 1916–17) und zwischen Wut und Schuld. Depression gilt in der Psychoanalyse auch als eine nach innen gewandte Aggression. Die Bindungsforscher Bowlby und Fry (1977) sehen Depressionen in Verbindung mit frühen Verlusterfahrungen. Es besteht zudem ein Auseinanderklaffen von Selbst- und Idealbild. Miller (1997), Kohut (1993) und Winnicott (1992) betonen die Bedeutung von dysfunktionalen Familien mit überforderten Eltern. Das Kind soll problemlos funktionieren, sich anpassen und den Erwartungen der Eltern entsprechen.

Kommentar: Versucht man, die psychodynamischen Theorien zur Depression einzuschätzen, so fällt auf, dass sie Phänomene beschreiben, die bei vielen depressiven Patienten zu finden sind. Frühe Verluste zu wichtigen Bezugspersonen können die Entwicklung von Depressionen fördern. Gleichwohl findet sich nicht bei allen depressiven Patienten eine frühe Verlusterfahrung. Ein vermindertes Selbstwertgefühl und ein Auseinanderklaffen von Idealbild und Selbstwahrnehmung sind oft zu beobachtende Phänomene, da die depressiven Patienten sich als wenig selbstwirksam wahrnehmen und den Kriterien, die andere und sie selbst an sich stellen, nicht gerecht werden. Unterschwellige Wut und Aggressionen sind bei vielen Patienten feststellbar. Während sie nach außen oft brav, angepasst und devot erscheinen, brodelt es im Inneren. Daher wurde die Depression manchmal als nach innen gewendete Aggression bezeichnet.

Die Bedeutung der familiären Erfahrungen für die Entstehung von Depressionen ist unbestritten. Viele der in diesem Buch geschilderten Fallbeispiele dokumentieren den Zusammenhang zwischen den Erfahrungen in der Ursprungsfamilie und der Entwicklung von Depressionen.

Behavioristische Theorie der Depression

Depression entsteht, wenn Verhalten nicht mehr positiv verstärkt wird. Drei Gründe für eine depressive Entwicklung werden beschrieben (Lewinsohn 1978):

a)

Das aktuelle Umfeld bietet wenige positive Verstärker.

b)

Es besteht ein Mangel an sozialen Fähigkeiten, um positive Resultate zu erzielen und mit schwierigen Situationen umzugehen.

c)

Die depressive Person interpretiert Ereignisse so, dass wenig positive Verstärkungen entstehen können.

Kommentar: Die klassischen behavioristischen Modelle kann man in ähnlicher Weise kritisieren wie die psychodynamischen. Deprivation kann Depressionen zur Folge haben. Gleichwohl aber auch Überforderung durch zu viele Reize, wo durchaus positive Verstärker vorhanden sind. Es stimmt, dass ein Mangel an sozialen Fähigkeiten bei vielen depressiven Patienten festzustellen ist. Allerdings auch bei vielen Angst- oder Zwangspatienten. In den späteren Theorien wird insbesondere auf die Interpretation bestimmter Ereignisse eingegangen. Aber auch hier verwischen die Unterschiede zwischen Beschreibung und Erklärung.

Erlernte Hilflosigkeit

Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit sieht die Ursache von Depressionen in den Lernerfahrungen, dass das eigene Handeln keinen Einfluss auf das erzielte Resultat hat. Depressive Personen können demnach keinen Zusammenhang zwischen ihren Entscheidungen und Aktionen und dem erzielten Ergebnis herstellen. Ihnen fehlt die Erfahrung, dass sie über ihr Handeln ihre emotionale Befindlichkeit beeinflussen und steuern können, und sie glauben, auch in Zukunft nicht dazu in der Lage zu sein. Sie reagieren dementsprechend hilflos, sind motivationslos und kognitiv eingeschränkt. Negative Ereignisse werden als unveränderbar, global und entweder als intern (Unfähigkeit) oder extern (unveränderbare Umstände) verursacht angesehen. Es besteht der Glaube, weder auf die internen noch externen Faktoren Einfluss nehmen zu können. Das wiederum führt zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit (Seligman 1992).

Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit lässt sich durch Experimente gut belegen. In den von Seligman durchgeführten Experimenten verabreichte man zwei Gruppen von Hunden elektrische Schocks. Die eine Gruppe konnte den Schocks nicht ausweichen. Diese Gruppe zog sich irgendwann winselnd in eine Ecke ihres Käfigs zurück und blieb dort regungslos liegen. Die andere Gruppe war in der Lage, die Schocks zu beenden.

In einem Nachfolgeexperiment wurde beiden Gruppen die Möglichkeit gegeben, mit einem Sprung über eine Barriere den Schocks zu entkommen und in einen Käfigteil zu springen, der nicht unter Strom stand. Die Gruppe, die im Vorexperiment den Schocks ausweichen konnte, lernte schnell, sich mit einem Sprung über die Barriere in Sicherheit zu bringen. Die andere Gruppe, die den Schocks hilflos ausgeliefert gewesen war, lernte nicht einmal dann, wenn man sie in den stromfreien Käfigteil zog, dass es ihr möglich war, ihre Situation zu beeinflussen. Sie blieb vielmehr winselnd und regungslos sitzen und ließ die Schocks über sich ergehen.

Wie sich in weiteren Untersuchungen zeigte, führen Hilflosigkeitserfahrungen bei Menschen ebenso zu Reaktionen und Verhaltensmustern, die man als depressionsfördernd bezeichnen kann. Studenten wurden unlösbare Aufgaben gestellt, was dazu führte, dass sie in Nachfolgeuntersuchungen bei der Lösung von lösbaren Aufgaben deutlich schlechter abschnitten als Studenten, die diese Hilflosigkeitserfahrung nicht gemacht hatten.

Kommentar: Hilflosigkeitserfahrungen spielen bei depressiven Patienten eine entscheidende Rolle. Je globaler (»Nichts bekomme ich hin, alles geht schief!«) und stabiler (»Nichts kann sich ändern, es kommt immer so!«) diese interpretiert werden, desto stärker die subjektiv erlebte Hilflosigkeit der Patienten, desto ausgeprägter die depressive Symptomatik.

Kognitiver Ansatz

Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) betont, dass depressive Personen zu einer negativen Betrachtung ihrer selbst, ihrer Umgebung und der Zukunft neigen (Beck 2004). Diese fehlangepassten Kognitionen haben ihren Hintergrund in Kindheitserfahrungen, sind weitgehend unbewusst und entwickeln sich vor allem in Stresssituationen. Sie beeinflussen die Wahrnehmung in der Weise, dass Depressionen verstärkt werden. Der erweiterte kognitive Ansatz unterscheidet zwischen automatischen Gedanken, darunterliegenden Überzeugungen und Schemata oder sogenannten core beliefs.

Beck (2004) beschreibt eine kognitive Triade, bestehend aus der Neigung, sich selbst in einer defizitären Weise zu sehen, die Welt als feindlich und destruktiv wahrzunehmen und die Zukunft als unveränderbar und negativ zu betrachten. Für die meisten der bei Depressiven auftretenden Probleme werden diese Kognitionen als grundlegend wahrgenommen.

Kommentar: Dass Kindheitserfahrungen für die Entstehung von Depressionen relevant sind, lässt sich in vielen Fällen verifizieren. Dass diese Erfahrungen die Wahrnehmung, die Interpretationen und Kognitionen beeinflussen, ist ebenso unumstritten. Die aus diesem Zusammenhang abgeleitete Schlussfolgerung der kognitiven Verhaltenstherapie, dass man die Depression über ein Modifizieren der Kognitionen verändern könne, ist in der Praxis wenig verifizierbar. Innerhalb der Hirnforschung wird inzwischen infrage gestellt, ob sich Emotionen überhaupt über Kognitionen verändern lassen. Der bekannte und renommierte Hirnforscher Prof. Gerhard Roth behauptet in seinem Buch Wie das Gehirn die Seele macht, dass Kognitionen Gefühle nicht beeinflussen können. »Die Grundannahme der Kognitiven Verhaltenstherapie ist falsch« (Roth 2015).

Nun weiß man aus der Praxis, dass es manchmal möglich ist, über eine Veränderung der Kognitionen einen Einfluss auf die Emotionen auszuüben. Allerdings meist nur dann, wenn sich über eine Veränderung der Kognition auch eine neue Vorstellung entwickelt. Der gut gemeinte Versuch, einen unter Flugangst leidenden Patienten zu beruhigen: »Bei Turbulenzen brauchen Sie doch keine Angst zu haben«, funktioniert meist wenig. Die Information eines Zahnarztes an einen zahnbehandlungsphobischen Patienten: »Das kann jetzt gar nicht so weh tun«, bewirkt in der Regel keine positive Veränderung. Vielmehr fördern die Worte »Angst« und »Schmerz« die negativen Vorstellungen, die den Ängsten und der erhöhten Schmerzempfindlichkeit zugrunde liegen.

Interpersonale Theorie

Dieses Konzept fokussiert auf die Beziehungserfahrungen der depressiven Patienten. Depressionen entstehen aufgrund von bestimmten Beziehungsmustern, die meist in der Kindheit erworben wurden. Wenn Kinder ihre Bezugspersonen nicht als verlässlich und fürsorglich empfinden, entstehen Ängste dahingehend, dass sich die Bezugsperson zurückzieht und einen verlässt. Kinder mit solchen Beziehungserfahrungen haben das Gefühl, Beziehungen nur dann erhalten zu können, wenn sie den Erwartungen ihrer Umgebung gerecht werden (Lineares u. Campo 2003). Dabei vernachlässigen sie die eigenen Bedürfnisse und können diese irgendwann nicht mehr wahrnehmen. Diese in der Kindheit erworbenen Beziehungsmuster werden auf spätere Beziehungspartner übertragen. Es bestehen ein generelles Gefühl der Wertlosigkeit und eine Angst, nicht in Ordnung zu sein und verlassen zu werden.

Groll und Aggressionen werden aus Angst vor Ablehnung und negativen Sanktionen nur indirekt und in sozial akzeptierter Weise ausgelebt (Meiss 2009). Die depressive Person kommuniziert nicht: »Ich will nicht!«, sondern bestenfalls: »Ich kann nicht!«

Kommentar: Die beschriebenen problematischen Beziehungserfahrungen spielen eine erhebliche Rolle bei vielen depressiven Patienten. Dass es notwendig ist, in bestimmten Fällen die Lebenspartner oder Bezugspersonen in den therapeutischen Prozess miteinzubeziehen, wird heute kaum noch bestritten. Gleichwohl sind die Beziehungserfahrungen nur ein entscheidender Faktor unter anderen.

Gratifikationskrise – emotionale Minusgeschäfte

Dieses Konzept bezieht sich auf ein ökonomisches Modell der Verrechnung von Einsatz und Ertrag und behauptet, dass Depressionen dann entstehen, wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem Einsatz, den man in eine Tätigkeit oder eine Beziehung investiert hat, und dem Ertrag, den man aus dieser Tätigkeit oder Beziehung zieht, besteht (Meiss 2009; Siegrist 2007). Depressive Menschen haben ihre Erfahrung so interpretiert, dass sie viel investiert haben, aber unverhältnismäßig wenig von diesen Investitionen profitieren. Es besteht wenig Hoffnung, dass sich dies in absehbarer Zukunft ändert, sowie ein Mangel an adäquaten Strategien, um dies zu ändern. Die Depression steht in Zusammenhang mit einer unbewussten Weigerung, in weitere Tätigkeiten und Beziehungen zu investieren, und verhindert weitere Minusgeschäfte. Dieser Ansatz gibt der Depression einen Sinn oder eine Funktion. Die Depression hält die Person davon ab, weitere Energie in etwas zu investieren, was keine Resultate bringt (Meiss 2009) und hilft, zukünftige Enttäuschungen und weitere Minusgeschäfte zu vermeiden.

Kommentar: Dieses theoretische Konzept ist mit anderen Konzepten, wie dem der erlernten Hilflosigkeit, der fehlenden Verstärker, mit psychodynamischen Ansätzen sowie mit der interpersonalen Theorie und den kognitiven Theorien kompatibel. Es liefert eine auf biologischen Grundüberlegungen basierende Theorie der Depression. Mit dieser lassen sich die Entwicklung und die Sinnhaftigkeit einer Depression und eines Burnouts beschreiben. Dieses Konzept soll im nächsten Kapitel genauer dargestellt werden.

Einschätzung der verschiedenen theoretischen Modelle

Die verschiedenen Theorien und Modelle beschreiben unterschiedliche Aspekte depressiver Reaktionen und sind durchaus miteinander vereinbar. Insbesondere das Seligman-Modell der erlernten Hilflosigkeit bietet eine Erklärung für die Entstehung von Depressionen. Auch in diesem Modell wird darauf hingewiesen, dass nicht die Hilflosigkeitserfahrung an sich, sondern vor allem ihre Bewertung und Verarbeitung eine entscheidende Rolle spielt. Werden Hilflosigkeitserfahrungen als stabil und global gewertet, ist die depressive Reaktion am ausgeprägtesten. Diese Interpretationen stehen in Bezug zu den Vorerfahrungen des betroffenen Individuums.

Im Folgenden soll eine Theorie der Depression und des Burnouts dargestellt werden, die die verschiedenen schon vorhandenen Theorien und Modelle integriert und auf eine biologische Basis stellt.

2 Biologische Grundlagen der Depression und des Burnouts

Ökonomie als biologisches Grundprinzip

Menschen sind ökonomische Wesen. Sie berechnen bewusst oder unbewusst beständig, ob sich eine Handlung lohnt und die Effekte bringt, die den Aufwand rechtfertigen (Thibaut u. Kelly 1959). Diese Eigenschaft teilen sie mit anderen Organismen. Da Ressourcen, die für das Überleben gebraucht werden, häufig knapp sind, kann es für das Überleben entscheidend sein, keine Energie in Tätigkeiten zu investieren, die keinen adäquaten Nutzen bringen. Mit anderen Worten: Energie in etwas zu stecken, was keinen dem Aufwand entsprechenden Ertrag bringt, reduziert die Überlebenswahrscheinlichkeit. (Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass schon frisch geschlüpfte Küken einen Mengenbegriff besitzen.)

Tatsächlich bewerten wir den Erfolg oder den Nutzen einer Handlung nicht nach ihrem absoluten Ergebnis, sondern nach dem Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Wenn wir wenig Geld für eine Sache ausgeben, erwarten wir nur einen beschränkten Nutzen. Haben wir ein billiges Zimmer in einem Hotel mit einem Stern gebucht, das laut Beschreibung ein Bad und eine Toilette auf dem Gang hat, und werden dann, weil das Hotel renoviert wird, ohne zusätzliche Kosten auf ein Dreisternehotel umgebucht und erhalten ein Zimmer mit Bad, Toilette und Meerblick, so erhellt dies unsere Stimmung und wir sind guter Laune. Haben wir den Preis für ein First-Class-Hotel gezahlt, erwarten wir für den gezahlten Betrag Meerblick, Whirlpool und ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Wenn man dann in einem kleinen Zimmer landet und auf die belebte, laute Durchgangsstraße blickt, wird man sauer und wütend über das schlechte Verhältnis zwischen Gezahltem und Erhaltenem. Ich persönlich habe selten so viele Leute gesehen, die sich über den miesen Service beschwert haben, wie in Fünfsternehotels. Ich erinnere mich an einen Langstreckenflug bei dem die Fluggesellschaft die Maschine überbucht hatte. Ich bekam ein kostenloses Upgrade in die Businessclass. Gut gelaunt saß ich auf einem bequemen Platz, neben mir ein Passagier mit ziemlich schlechter Laune. Ihn hatte man aus der ersten Klasse heruntergestuft.

Dieses Verrechnungssystem hat sich in der Natur bewährt. Es sichert das Überleben. Der Organismus belohnt ein positives Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag mit Lust und Freude, während ein negatives Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag Frust, Ärger und Wut nach sich zieht. Dieses innere Belohnungssystem hilft, dem Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag die nötige Aufmerksamkeit zu geben.

Soziale Verrechnungssysteme

Wir verrechnen nicht nur, was wir selbst tun in Bezug auf den Ertrag, den wir daraus erzielen, sondern auch das, was wir für andere tun, in Bezug auf das, was wir von ihnen zurückbekommen. Soziale Systeme funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit (De Waal 2006). Man investiert seine Arbeitskraft und erhält einen Lohn oder ein Honorar. Man tut dem anderen einen Gefallen und erhält etwas zurück. Die Gegenleistung ist nicht unbedingt materieller Natur. Anerkennung, Würdigung, Status, Lob und Dankbarkeit für die Leistungen und das Gute, was wir für andere getan haben, sind genauso erwünscht. Bei diesen Rechnungen rechnet gleichwohl mehr der Bauch als der Verstand.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit wird nur dann außer Kraft gesetzt, wenn deutliche Statusungleichheiten bestehen. Der König braucht den Untertanen das, was er ihnen nimmt, nicht zurückzugeben. Wenn er gibt, gibt er aus dem Status eines Überlegenen und erweist sich als großzügig. Würde einer der Untertanen auf die Idee kommen, in gleicher Weise zurückzugeben, würde das von dem Überlegenen als Zeichen gewertet, dass er die Überlegenheit nicht anerkennt. Es würde als Angriff auf den eigenen Status verstanden.

Frust, Ärger, Enttäuschung, Wut und Aggression

Bleiben Handlungen ohne Wirkung oder bleiben erwartete Gegenleistungen aus, so produziert der Organismus unangenehme Gefühle und Empfindungen. Wurde viel in eine Sache investiert oder etwas für andere getan, ohne dass ein Ausgleich erfolgt, reagiert man mit Frust, Enttäuschung, Ärger, Wut oder Aggression. Versuchen wir, ein Möbelstück aufzubauen, das uns immer wieder zusammenfällt, reagieren wir mit Ärger und Frustration. Haben wir lange für eine Prüfung gelernt und fallen dennoch durch, entsteht Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Das gleiche Muster zeigt sich in den Interaktionen