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Eine verbotene Liebe. Ein alter Krieg. Und ein Kampf, der sie alles kosten könnte. Der zweite Teil von Tiana Warners Young Adult Friends-to-Enemies-to-Lovers Fantasy Romance, in der zwischen Meerjungfrauen und Menschen Krieg herrscht und Loyalität tödlich enden kann. Meela will Frieden für ihre Insel – und Lysi retten, die Meerjungfrau, die sie liebt. Doch um König Adaro zu stürzen, muss sie eine uralte Macht entfesseln, die gefährlicher ist als jeder Feind. Während Meela an Land um Hoffnung kämpft, steht Lysi in den Reihen des Feindes – gefangen zwischen Pflicht, Rebellion und ihrer Liebe zu Meela. Als dunkle Geheimnisse ans Licht kommen und der Krieg alles zu verschlingen droht, müssen sie sich entscheiden: Verraten sie ihr Herz – oder ihr Volk? Inhaltswarnung: Ice Crypt: Der Ruf der Macht enthält Themen und Szenen, die im Kontext eines fiktiven Krieges stehen. Diese Darstellungen können emotional belastend wirken.
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Seitenzahl: 567
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Inhaltswarnung
Über Tiana Warner
Von Tiana Warner außerdem lieferbar
Kapitel 1 ~ Meela: Das Massaker-Komitee
Kapitel 2 ~ Lysi: Adaros Gefangene
Kapitel 3 ~ Meela: Auf dem Trainingsgelände
Kapitel 4 ~ Lysi: Die Südpazifische Armee
Kapitel 5 ~ Meela: Auf frischer Tat ertappt
Kapitel 6 ~ Lysi: Der Plan des Königs
Kapitel 7 ~ Meela: Skaaw Beach
Kapitel 8 ~ Lysi: Das kleinere Übel
Kapitel 9 ~ Meela: Eriana, die Sterbliche
Kapitel 10 ~ Lysi: Eines Königs würdig
Kapitel 11 ~ Meela: Erianas Handel
Kapitel 12 ~ Lysi: Die Mine
Kapitel 13 ~ Meela: Das Familienwappen
Kapitel 14 ~ Lysi: Todesstrafe
Kapitel 15 ~ Meela: Ravendust
Kapitel 16 ~ Lysi: Eine Harpune mit Zähnen und Flossen
Kapitel 17 ~ Meela: Erianas Krypta
Kapitel 18 ~ Lysi: Cohos Dilemma
Kapitel 19 ~ Meela: Schlafende Seele
Kapitel 20 ~ Lysi: Für Eriana
Kapitel 21 ~ Meela: Die Göttin erwacht
Kapitel 22 ~ Lysi: Uraltes Unheil
Kapitel 23 ~ Meela: Nachfahrinnen
Kapitel 24 ~ Lysi: Zu Hause
Kapitel 25 ~ Meela: Das fehlende Puzzleteil
Kapitel 26 ~ Lysi: Der Eid
Kapitel 27 ~ Meela: Die letzte Chance
Kapitel 28 ~ Lysi: Seeratten
Kapitel 29 ~ Meela: Blutiges Erbe
Kapitel 30 ~ Lysi: Para la reina
Kapitel 31 ~ Meela: Die Schlacht um Eriana Kwai
Kapitel 32 ~ Lysi: Das Ende einer Reise
Kapitel 33 ~ Meela: Eine neue Reise beginnt
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über das Buch
Eine verbotene Liebe. Ein alter Krieg. Und ein Kampf, der sie alles kosten könnte.
Der zweite Teil von Tiana Warners Young Adult Friends-to-Enemies-to-Lovers Fantasy Romance, in der zwischen Meerjungfrauen und Menschen Krieg herrscht und Loyalität tödlich enden kann.
Meela will Frieden für ihre Insel – und Lysi retten, die Meerjungfrau, die sie liebt. Doch um König Adaro zu stürzen, muss sie eine uralte Macht entfesseln, die gefährlicher ist als jeder Feind.
Während Meela an Land um Hoffnung kämpft, steht Lysi in den Reihen des Feindes – gefangen zwischen Pflicht, Rebellion und ihrer Liebe zu Meela.
Als dunkle Geheimnisse ans Licht kommen und der Krieg alles zu verschlingen droht, müssen sie sich entscheiden: Verraten sie ihr Herz – oder ihr Volk?
Inhaltswarnung
Ice Crypt: Der Ruf der Macht enthält Themen und Szenen, die im Kontext eines fiktiven Krieges stehen. Diese Darstellungen können emotional belastend wirken.
Über Tiana Warner
Tiana Warner wohnt in British Columbia (Kanada).
Bekannt wurde die Schriftstellerin durch ihre Trilogie „Mermaids of Eriana Kwai“, die sie auch als Comic-Adaption veröffentlicht hat.
Tiana ist ein Outdoor-Fan und reitet schon seit frühester Kindheit. Außerdem ist sie eine engagierte Unterstützerin von Tierrettungsinitiativen. Sie hat einen Abschluss in Informatik und hat lange als Programmiererin gearbeitet.
Von Tiana Warner außerdem lieferbar
Zusammen unterwegs: Die Roadtrip-Vereinbarung
Küsse am Set
Die Meerjungfrauen von Eriana Kwai
Ice Massacre: Im Schatten der Tiefe
Ice Crypt: Der Ruf der Macht
Ice Kingdom: Die Bestimmung
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag, e.Kfr.
ISBN (E-Book): 978-3-69006-066-0
ISBN (PDF): 978-3-69006-067-7
Dieser Titel ist als Taschenbuch und E-Book erschienen.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Copyright © der Originalausgabe 2016 bei Rogue Cannon Publishing
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzerin: Charlotte Herbst
Übersetzungslektorat: Kati Krüger
Korrektorat: Tanja Eggert
Satz & Layout: Ylva Verlag e.Kfr.
Grafiken vermittelt durch Freepik
Coverdesign: Ronja Forleo
Kontakt:
Ylva Verlag, e.Kfr.
Inhaberin: Astrid Ohletz
Am Kirschgarten 2
65830 Kriftel
Tel: 06192/9615540
Fax: 06192/8076010
www.ylva-verlag.de
Amtsgericht Frankfurt am Main HRA 46713
Kapitel 1 ~ Meela
Das Massaker-Komitee
Am krummen Ast eines Ahornbaums zu baumeln, wirkte wenig glamourös – und war so gar nicht das, was man von der tapferen Überlebenden eines Massakers erwarten würde. Ich strampelte mit den Beinen, um Halt zu finden, und schwang mich auf den nächsthöheren Ast. Haarsträhnen klebten mir im verschwitzten Gesicht.
Wenn ich beide Hände zur Verfügung gehabt hätte, wäre das Ganze einfacher gewesen.
Ich hatte zwar erst die Hälfte geschafft, war aber trotzdem schon außer Atem. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um den nächsten Zug zu überlegen. Ich stand mit je einem Bein auf den beiden Ästen einer Astgabelung. Der Babykauz in meiner Hand gab einen kläglichen Laut von sich.
Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Mit seinem dünnen weißen Flaum und den übergroßen Füßen war er nicht gerade niedlich.
»Wehe, deine Familienzusammenführung ist das nicht wert«, murmelte ich.
Ich drückte mich von dem einen Ast ab und legte meine Arme um den anderen, um mich weiter zum Nest zu hangeln.
Zwei Babykäuze, die genauso aussahen wie der in meiner Hand, starrten mich an.
»Gaawhist«, sagte ich. Home, sweet home.
Kaum hatte ich den kleinen Abenteurer zu seinen Geschwistern gesetzt, fiel er zur Seite und blinzelte mich an. Hoffentlich hatte ich ihn nicht verletzt! Ich stupste ihn an. Er rappelte sich auf und hockte sich hin.
Ich konnte zwar nicht jedes Leben retten, aber immerhin dieses eine.
Ich hoffte nur, dass seine Mutter bald zurückkam.
Gegen den Stamm gelehnt wartete ich, bis mein Herzschlag sich wieder normalisierte. Meine Gedanken gingen zu dem eigentlichen Grund zurück, weswegen ich hier war. Ich atmete tief ein und der süße Duft des Ahorns beruhigte mich.
Von hier oben wirkte die moosbedeckte Holzhütte gar nicht mal so bedrohlich. Früher war das ganze Areal ein Campingplatz gewesen – damals, als es noch nicht lebensgefährlich war, am Strand zu campen. Jetzt befand sich in der Hütte eines von mehreren Klassenzimmern des Ausbildungslagers. Wo man früher im Einklang mit der Natur seinen Urlaub verbringen konnte, wurden heute die wirkungsvollsten Techniken unterrichtet, Meeresungeheuer abzuschlachten.
Die Rekrutinnen waren bereits alle zum Abendessen nach Hause gegangen. Ohne die ständigen Gespräche über die besten Kampfmethoden war es im Wald still und friedlich. Der Sommerwind strich durch das Laub der Bäume, Insekten summten und irgendwo in der Nähe unterhielten sich lautstark zwei Drosseln.
Doch dann drangen Stimmen durch den Wald und die Drosseln verstummten.
Eine kleine Gruppe Leute ging auf die Hütte zu. Ich blieb, wo ich war. Teils verdeckten mich die Blätter vor ihren Blicken, teils schützte mich die Tatsache, dass sie sowieso nicht nach oben schauten.
Mein Vater führte die Gruppe an. Er unterhielt sich leise mit Anyo, dem Ausbildungsmeister. Anyo war ein strenger, ernster Mann, der eine große Narbe auf dem Kopf hatte, dort, wo ihn einst eine Meerjungfrau halb skalpiert hatte. Er hielt den Blick gesenkt und ich konnte nicht erkennen, ob er gut oder schlecht gelaunt war. Anyo war für mich der Wichtigste. Er war es, der das letzte Wort hatte, wenn es um die Massaker ging.
Hassun folgte den beiden, ein großer, muskulöser Mann Ende zwanzig. Als wir noch naiverweise Männer ins Massaker geschickt hatten, war er von seinem lebend zurückgekommen. Tatsächlich war er überhaupt der letzte Mann, der ein Massaker überlebt hatte. Bald nach seiner Rückkehr hatte das Komitee entschieden, nur noch Kriegerinnen auszusenden.
Hinter Hassun lief Mujihi, ein ernster, massiger Mann, der Vater des menschlichen Wesens, das ich von allen auf der Welt am meisten hasste.
Eine Frau in den Dreißigern bildete den Abschluss, die Witwe eines ehemaligen Kriegers. Ich war mir relativ sicher, dass sie für die Uniformen, die wir im Massaker trugen, verantwortlich war.
Sie betraten die Hütte und schlossen die Tür hinter sich.
Ich wandte mich wieder den Babykäuzen zu. Sie blinzelten mich an.
»Bleibt, so lange ihr könnt, in eurem Nest«, sagte ich. »Vertraut mir.«
Dann kletterte ich den Baumstamm hinunter.
Zum millionsten Mal ging ich in Gedanken durch, was ich sagen wollte. Annith und ich hatten es geprobt, damit ich nicht wirkte wie eine Achtzehnjährige, die einen auf erwachsen machte, sondern wie eine erfahrene Kriegerin. Das war ganz schön schwer.
Ich war noch nicht ganz wieder auf dem Boden angekommen, als ich Schritte hörte und Annith auftauchte. Sie blieb vor der Hüttentür stehen und sah sich suchend um.
Ich landete direkt vor ihr auf dem sumpfigen Waldboden. Sie zuckte noch nicht einmal zusammen, als hätte sie damit gerechnet, dass ich den Umweg über einen Baum nahm – hatte sie vielleicht auch, schließlich waren wir schon ein Leben lang miteinander befreundet.
Meine Anspannung spiegelte sich auf ihrem hübschen, sommersprossigen Gesicht.
»Du musst nichts sagen«, meinte ich.
»Wenn du Unterstützung brauchst, spring ich natürlich ein.«
Wir ließen das gedämpfte Licht des Waldes zurück und betraten die schummrige Hütte. Die Hälfte der Mitglieder des Massaker-Komitees war versammelt und starrte uns an. Wo waren die anderen?
Wir setzten uns an die gegenüberliegende Seite des langen Tischs. Die harten Stühle und der modrige Geruch weckten die Erinnerungen an meine Ausbildung.
Ich wischte mir die schwitzigen Handflächen an meinen Jeans ab und nahm die Schultern zurück.
Links neben mir saß Hassun. Er wippte mit dem Stuhl vor und zurück und schaute desinteressiert aus dem Fenster. Neben ihm saß der Ausbildungsmeister und neben ihm die Witwe. Der Stuhl mir gegenüber war leer. Mujihi stand hinter den anderen und schaute aus zusammengekniffenen Augen auf uns herab. Und dann war da noch mein Vater, der mit den Fingern auf den Tisch trommelte und meinem Blick auswich.
Niemand sagte ein Wort.
Ich schluckte nervös, es klang viel zu laut.
»Danke, dass ihr diesem Treffen zugestimmt habt.«
Endlich, fügte ich in Gedanken bitter hinzu.
Ich hielt den Blick auf meinen Vater und Anyo gerichtet. Keiner von beiden sah mich an.
»Der König der Meerjungfrauen ist auf uns zugekommen«, sagte ich mit fester Stimme. »Er hat uns einen Handel vorgeschlagen.«
So. Jetzt schauten sie mich doch an.
»Deswegen bin ich heute mit meiner Kameradin Annith hierhergekommen, um eine neue Strategie vorzuschlagen, wie wir uns endgültig von den Meeresungeheuern befreien können. Nach Jahrzehnten, die wir mit ihnen Krieg führen, ist wohl eindeutig klar, dass die Massaker nichts bringen.«
Sie quittierten meine Worte mit hochgezogenen Augenbrauen, verschränkten Armen und skeptischem Stirnrunzeln. Der Gesichtsausdruck meines Vaters war unergründlich. Schon zu Hause hatte er so frustrierend zögerlich reagiert. Dabei sollte doch gerade er daran interessiert sein, die Massaker zu beenden. In meinem Alter hatte er hautnah erlebt, wie grauenvoll sie waren. Er hatte seinen Sohn – meinen großen Bruder – während eines Massakers verloren. Und vor zwei Wochen hätte er beinahe auch mich verloren.
»Wir hungern immer noch«, fuhr ich fort. »Wir dürfen nicht zu nahe ans Meer herangehen. Und jedes Jahr im Frühling riskieren wir die Leben von zwanzig jungen Menschen. Annith und ich haben einen Plan, aber wir brauchen eure Hilfe. Der König der Meerjungfrauen meinte, es gebe eine vergessene Legende über Eriana Kwai. Wenn wir die entschlüsseln, gibt uns das die Macht, um endlich für Frieden –«
Hassun hob eine Hand. »Willst du uns gerade ernsthaft erzählen, dass der König der Ungeheuer einfach so zu dir gekommen ist und dir von dieser Legende erzählt hat?«
Ich warf Annith einen schnellen Blick zu. »Nicht ganz.«
Was sollte ich ihnen erzählen? Dass alles nur wegen meiner geheimen, verräterischen Freundschaft mit einer Meerjungfrau passiert war? Eher würden mich meine Leute mit einem Stein an den Beinen ins Meer werfen, als diese Freundschaft zu akzeptieren.
»Er ist zu dir geschwommen und du hast ihn nicht sofort erschossen?«, hakte die Witwe nach.
»Ich hatte meine Armbrust nicht dabei.«
»Du warst unbewaffnet?«, fragte Hassun.
»Nein. Die Meerjungfrauen haben mich ins Wasser gezogen, damit wir miteinander reden.«
»Was –?«
»Lasst mich ausreden«, sagte ich.
Warum machten sie es mir nur so schwer? Gerade Anyo musste doch Interesse an einer neuen Strategie haben, die nicht den sicheren Tod seiner Schülerinnen bedeutete. Schließlich hatte inzwischen auch seine Tochter mit der Ausbildung begonnen. Erfolglos versuchte ich, Blickkontakt zu ihm herzustellen.
Hassun machte eine wegwerfende Handbewegung.
Bevor ich fortfahren konnte, ging knarrend die Tür auf. Synchron drehten sich alle Anwesenden um.
Eine große, dünne junge Frau mit hohem Pferdeschwanz trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte die Lippen zu einem amüsierten Grinsen verzogen. Ihre Haare waren zwar lange nicht mehr so wirr und verfilzt wie während des Massakers, aber auch jetzt waren ihre Hände, Arme und ihr Shirt voller Blut.
»Entschuldigt die Verspätung«, sagte sie, klang dabei aber kein bisschen so, als täte es ihr tatsächlich leid.
Hassuns Stuhl kippte nach vorn, die Stuhlbeine knallten auf den Boden.
»Dani.« Mujihi klopfte seiner Tochter auf die Schulter. »Komm rein.«
»Was ist passiert?« Die Witwe klang entsetzt.
»Oh, das?« Dani inspizierte ihre blutigen Finger wie eine neue Maniküre.
»Dani war auf der Jagd«, erklärte Mujihi. »Hat heute Morgen eine kerngesunde Hirschkuh erwischt. Eine echte Schönheit. Hat wohl ein bisschen gedauert, sie auszuweiden, was, meine Kleine?«
»Mhm«, machte Dani.
Ich biss die Zähne aufeinander. Mein Vater hatte mir schon erzählt, dass Dani seit Neuestem zum Massaker-Komitee gehörte. Ich hatte eigentlich erwartet, dass ihr der Prozess gemacht würde, dass sie für ihre Verbrechen büßen müsste – aber jetzt waren seit unserer Heimkehr schon zwei Wochen vergangen und sie war immer noch frei und wurde sogar als Kriegsheldin gefeiert.
Dani stolzierte zum Tisch und strich Anyo mit der Hand über die Schultern, wobei sie eine Blutspur hinterließ. Dann winkte sie Hassun zu, der plötzlich viel interessierter wirkte und sich neugierig nach vorn beugte. Zum Kotzen.
Sie ließ sich auf den leeren Stuhl mir gegenüber fallen. Als sie mir in die Augen sah, verschwand ihr Lächeln wie eine Flamme, die ausgepustet wird.
»Hoffentlich hab ich nichts Spannendes verpasst.«
Ihre Stimme war ein tiefes, unheilvolles Säuseln. Der Klang erinnerte mich an einen Puma, den ich einmal dabei beobachtet hatte, wie er einen großen, blutigen Kadaver verschlang.
»Nichts, wozu du etwas beitragen könntest«, erwiderte ich.
Annith räusperte sich. »Wir sind gerade bei dem Handel, den der Ungeheuerkönig Meela vorgeschlagen hat.«
»Ah«, sagte Dani zu den anderen im Raum. »Also haben sie euch schon von ihrer kleinen Verabredung erzählt, mit der sie die Massaker beenden wollen?«
Kollektives Brummen antwortete ihr. Hassun schaukelte wieder mit seinem Stuhl.
So war das also. Darum hatte niemand überrascht auf meine Eröffnung reagiert: Dani hatte ihnen bereits davon erzählt. Aber was genau hatte sie ihnen erzählt? So finster, wie die anderen mich anstierten, war ihre Version bestimmt ganz schön verworren.
»Es ist keine Verabredung«, stellte ich richtig. »Es ist ein Plan, um zu verhindern, dass noch mehr unserer Kriegerinnen sterben müssen.«
Dani starrte mich mit ihren hellen Augen an. »Wie immer so edel und gut, unsere liebe Metlaa Gaela.«
Ich ignorierte Dani und wandte mich den anderen zu. »König Adaro sucht nach Erianas Wirt, einer Figur aus einer vergessenen Legende, die aber wichtig für unsere Geschichte ist. Kommt das jemandem von euch bekannt vor?«
Keinerlei Erkennen zeigte sich auf ihren Gesichtern. Im Gegenteil, sie runzelten nur noch mehr die Stirnen. Und mich verließ ein wenig der Mut. Ich hatte so sehr darauf gehofft, dass sie wenigstens einen winzigen Hinweis für mich hatten, mit dem ich arbeiten konnte.
Aber da kam nichts.
Ich versuchte es trotzdem weiter.
»Adaro will uns von der Insel vertreiben, um an den Wirt ranzukommen. Er hat angeboten, die Attacken einzustellen, wenn wir ihn übergeben. Dieser Wirt muss eine mächtige Waffe sein. Wir glauben, dass er damit vielleicht die Meere kontrollieren kann, und wenn wir es schaffen –«
Hassun lachte trocken auf. »Mädels, so sind die Meeresungeheuer nicht. Die greifen uns an, weil sie Menschenfleisch fressen, und nicht, weil es ihnen befohlen wird.«
»Genau das ist der Punkt, an dem wir uns immer getäuscht haben.« Ich beugte mich vor. »Sie gehen strategisch vor, kämpfen in Formationen und denken und benehmen sich wie Menschen.«
»Meela«, schaltete sich die Witwe ein. »Es ist völlig in Ordnung, Angst zu haben. Im Massaker zu sein bedeutet, ständig unter Anspannung zu stehen. Da kann man schon mal paranoid werden.«
»Ich bin nicht paranoid. Meerjungfrauen sind intelligent. Das ist eine Tatsache. Was glaubt ihr denn, warum sie es auf uns abgesehen haben? Adaro will etwas, das sich auf unserer Insel befindet. Er hat es ganz speziell auf uns abgesehen und nicht auf den Rest der Welt.«
»Die Ungeheuer sind eine invasive Spezies«, meinte Hassun. »Wenn wir wieder frei sein wollen, müssen wir sie aus dem Pazifik vertreiben.«
»Nein, müssen wir nicht. Das eigentliche Problem ist der König. Wir können Frieden mit ihnen schließen.«
Warum verstanden sie das bloß nicht?
Dani verstand es ganz bestimmt, schließlich hatte sie während des Massakers immer ausgeklügeltere Pläne gegen die Meerjungfrauen geschmiedet. Sie hatte von ihnen gesprochen wie von intelligenten Wesen. Und doch schwieg sie jetzt und spielte bloß an ihren blutverkrusteten Fingernägeln herum.
Annith schien zu spüren, wie sehr mir das alles zusetzte, denn sie fuhr fort. »Adaro hat zwar versprochen, die Strände nicht mehr anzugreifen, aber das ist noch lange kein Friedensschluss. Meela und ich wollen darum auch gar keine Allianz mit dem Meeresungeheuer schmieden, sondern die Waffe – den Wirt – finden und gegen den König verwenden.«
»Wenn wir Adaro töten, werden die Angriffe aufhören.«
Sie wirkten weiter wenig beeindruckt. Die Witwe starrte mit offenem Mund vor sich hin. Mein Vater schaute zur Seite. Dass Anyo nur die Wand hinter Annith anschaute, machte mich besonders wütend, denn als Ausbildungsmeister war es seine Stimme, die am meisten zählte.
Seufzend lehnte Dani sich zurück. »Das ist ja mal eine nette einstudierte Geschichte.«
Hassun grinste.
Betont nachdenklich ließ Dani den Blick über die Anwesenden schweifen, ehe sie sich mir zuwandte.
»Woher um alles in der Welt von Gaela sollte eine Seeratte eine uralte Legende über Eriana Kwai kennen? Eine, die noch nicht einmal den Einwohnern hier etwas sagt?«
»Wir glauben, dass die Legende im Lauf der Zeit verloren gegangen ist«, meinte Annith. »Aber wir möchten alles daransetzen, sie wiederzufinden. Und wir wünschen uns, dass wir in der Zwischenzeit die Massaker aussetzen, damit wir nicht –«
»Und du willst mir wirklich einreden«, fuhr Dani fort, als hätte Annith gar nichts gesagt, »dass der König Meela ganz zufällig ausgewählt hat, um mit ihr über diesen Deal zu reden?«
Annith zog fragend die Augenbrauen hoch und warf mir einen vielsagenden Blick zu: Vielleicht solltest du ihnen alles erzählen. Fast unmerklich schüttelte ich den Kopf. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass Adaro mich aus gutem Grund ausgesucht hatte – dass er mich ins Wasser zerren ließ, weil er von meiner Freundschaft mit einer seiner Kriegerinnen wusste. Teil unserer Abmachung war, dass er mir Lysi zurückbrachte, wenn ich den Wirt fand.
»Dieser Meerjungfrauenkönig, Ada-wie-heißt-er-noch«, meinte Hassun, »der ist also zum Schiff geschwommen gekommen, während ihr gerade Ungeheuer abgeschlachtet habt, und hat dir von diesem Wirt der Eriana erzählt?«
»Ja.«
»Wie habt ihr miteinander geredet?«
»Er spricht Eriana«, sagte ich.
»Er spricht Eriana?«
»Ja. Englisch und Spanisch kann er auch, glaube ich.«
Das hätte ich nicht sagen sollen. Das wurde mir in dem Moment klar, als sie sich skeptische Blicke zuwarfen.
Die Witwe ergriff das Wort. »Und wenn dieser Adderall-Meermann – «
»Adaro.«
»Ja. Wenn der, wie du sagst, zu eurem Schiff gekommen ist – was macht dich dann so sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat? Bist du bereit, einem Seeungeheuer zu vertrauen, nur weil er Eriana spricht?«
»Tja, wir wissen ja alle, dass Meela schnell mal einer Meerjungfrau vertraut, wenn sie unsere Sprache spricht«, warf Dani ein.
Ruckartig sah mein Vater hoch. Annith atmete scharf ein.
Dani grinste höhnisch.
»Das hast du bereits erwähnt«, sagte Mujihi.
Nein, dachte ich verzweifelt.
Die Raumtemperatur schien sich merklich abzusenken. Sie wussten es.
»Dieser Plan hat den angenehmen Nebeneffekt, dass er auch verhindert, dass weitere Ungeheuer abgeschlachtet werden«, meinte Hassun.
Schweiß trat mir auf die Stirn. Das musste Dani von einem Mädchen aus der Crew haben, das Lysi gesehen hatte. Texas vielleicht? Aber wie viel wusste Texas? Kannte sie meine und Lysis Vorgeschichte?
Nein, das konnte nicht sein. Für die Crew sah es so aus, als hätten Lysi und ich uns einmal unterhalten und sie daraufhin mein Leben gerettet. Sie wussten nicht, warum sie das getan hatte, und erst recht nicht, wie lang wir einander schon kannten.
Und dabei musste es auch bleiben. Niemand durfte von Lysi erfahren. Niemals. Sie würden mich dafür hassen – und was noch schlimmer war: Die Menschen, die ich liebte, wären enttäuscht von mir. Niemand konnte eine Frau lieben, die eine Meerjungfrau liebte. Eriana Kwai war meine Familie, meine Geschichte, und ich durfte das nicht verlieren.
Aber Dani und Texas hatten offensichtlich die Begegnung mit Lysi erwähnt. Und jetzt vertraute man mir nicht mehr genug, um mich bei meinem Plan zu unterstützen.
Dani bedachte das Komitee mit ihrem charmantesten Lächeln.
Ich kniff die Augen zusammen. Wenn sie dreckig spielen wollte, dann bitte. Ich war hier nicht die Einzige, die einen dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit hatte.
Ich äffte ihren giftigen Tonfall nach und sagte: »Sag mal, Dani, warum warst du eigentlich nicht dabei, als Adaro zum Schiff gekommen ist?«
Annith wandte sich ruckartig zu mir um.
»Du warst zu dem Zeitpunkt ein bisschen isoliert, nicht wahr?«, fuhr ich fort.
Danis Miene wurde zu Stein.
Mujihi machte einen Schritt nach vorn. »Das reicht. Dani hat recht. Diese junge Dame«, er deutete mit einem dicken, schwieligen Finger auf mich, »ist scharf darauf, die Massaker zu beenden. Wie es aussieht, hat sie ihre Freundin hier dazu gebracht, ihr dabei zu helfen, uns diese Geschichte einzureden.«
»Das ist keine Geschichte«, rief ich aufbrausend. »Die meisten von uns wissen, wie es dort draußen ist. Warum sollten wir noch mehr Mädchen ins Massaker schicken, wenn es eine Alternative gibt?«
»Metlaa Gaela.« Endlich meldete Anyo sich zu Wort. »Es ist ein ehrenwertes Ziel von dir, zukünftige Generationen beschützen zu wollen. Aber –«
»Aber mit den Massakern geht es voran«, unterbrach Mujihi ihn.
»Wie oft haben wir das schon gedacht?«, fragte ich. »Kann sein, dass wir erfolgreicher sind, wenn wir Frauen statt Männer schicken. Das ändert aber nichts daran, dass viele von ihnen sterben werden, bis wir etwas erreichen – falls wir denn je etwas erreichen.«
Koste es, was es wolle: Ich konnte nicht zulassen, dass es zu einem weiteren Massaker kam. Wenn ich den Wirt nicht rechtzeitig fand und Adaro dadurch noch verzweifelter und wütender wurde, stand uns mit dem nächsten Massaker das schlimmste aller Zeiten bevor – für die Kriegerinnen an Bord, für mein Volk. Und für Lysi.
Bei dem bloßen Gedanken spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Adaro hielt Lysi als Geisel. Ich wusste nicht, wo sie war und was er ihr antat.
»Wir haben noch eine neuere Strategie«, meinte Mujihi. »Einen neuen Ausbildungsmeister.«
Diese Eröffnung traf mich wie ein Donnerschlag. Ich brachte nur zusammenhangsloses Gestammel heraus.
»Ein neuer … Was … Neuer Ausbildungs…?«
Anyo schaute mir kurz in die Augen, senkte den Blick jedoch gleich wieder. Es reichte aber, um die Entschuldigung zu sehen, die in seinen müden, dunklen Augen lag.
Mujihi schlug Anyo mit seiner schwieligen Pranke auf die Schulter. »Nach eurem Auslaufen im Mai habe ich die Ausbildung übernommen. Wir arbeiten an neuen Strategien und experimentieren mit tödlicheren Waffen.«
»Nein«, rief ich aus, bevor ich recht wusste, was ich da tat.
Mujihis Miene verdüsterte sich, was ihn aussehen ließ wie einen Falken auf der Jagd.
»Es ist nur … Anyo war schon immer der Ausbildungsmeister. Das könnt ihr doch nicht einfach ändern.«
Ich spürte, dass Annith mich anschaute. Damit hatten wir nicht gerechnet.
»Das Komitee hat befunden, dass es einen Interessenskonflikt gibt, da Anyos Tochter jetzt auch in der Ausbildung ist«, sagte Mujihi. »Außerdem gab es schon seit Jahren Stimmen, die Änderungen gefordert haben.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Ich nehme an, du konntest mit abstimmen, als es um seine Nachfolge ging.«
»Mujihi war der naheliegendste Kandidat«, meinte Hassun. »Außer ihm hat niemand Pläne für neue Waffen oder ein effizienteres Training vorgelegt – und er war es ja auch, der überhaupt die Idee hatte, Frauen ins Massaker zu schicken.«
Mujihi drückte stolz die Brust heraus. In diesem Moment erinnerte er mich extrem an Dani.
Ich wandte mich meinem Vater zu, in der Hoffnung, dass er mich wenigstens ein bisschen unterstützte. Er betrachtete Mujihi mit fest zusammengebissenen Zähnen.
Es war die Witwe, die sich letztlich zu Wort meldete. »Mädchen«, sagte sie. »Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir dankbar sind für eure Bemühungen, unserem Volk zu helfen. Aber es gibt keinerlei Beweise für diesen Wirt der Eriana. Nichts stützt diese Legende und darum haben wir keinen Grund –«
»Wenn wir Unterstützung bekommen und gründlich nachforschen –«, setzte Annith an, aber niemand zeigte auch nur das geringste Interesse.
Mein Vater trommelte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Habt ihr denn schon alle möglichen Quellen erforscht?«
»Die Auswahl in der Bibliothek ist … sehr beschränkt.« Ich rutschte auf dem unbequemen Stuhl herum.
Seit unserer Heimkehr hatten Annith und ich jedes einzelne Buch über die Geschichte von Eriana Kwai gelesen, inklusive Essays, alter Zeitungsartikel aus dem Archiv, einem Buch über die Pilze der Insel und sogar einem Bilderbuch namens Ern der Adler lernt fliegen.
»Es gibt bestimmt einiges in unserer Geschichte, das wir nicht wissen«, meinte mein Vater. »Die meisten Legenden wurden nur mündlich weitergegeben und sind dann im Lauf der Zeit verloren gegangen. Ich schlage vor, dass ihr einen Beweis für eure Behauptung findet, und dann –«
»Das spielt keine Rolle«, warf Hassun ein. »Wir müssen weiterkämpfen. Wenn wir die Massaker aussetzen, dann ergeben wir uns.«
»Wir wollen die Massaker beenden und nicht uns ergeben«, entgegnete ich. »Wir wollen trotzdem auf die Rekrutinnen zurückgreifen. Sie müssen uns bei unserer Suche nach dem Wirt unterstützen. Nur schickt sie nicht aufs Meer hinaus. Adaros Armee wird immer stärker und sie werden das Schiff wahrscheinlich in den ersten Tagen versenken.«
Das Schweigen im Raum wurde noch angespannter. Entweder machte ihnen die Vorstellung Angst, oder sie fragten sich, woher ich so viel über Adaros Armee wusste.
»Bis zum nächsten Massaker ist es noch fast ein Jahr hin«, sagte die Witwe schließlich. »Ich schlage vor, dass ihr euch in dieser Zeit alle Mühe bei euren Nachforschungen gebt. Und wenn ihr diesen Wirt bis dahin nicht findet, werden wir mit dem weitermachen, von dem wir wissen, dass es funktioniert.«
»Aber die Massaker funktionieren nicht!« Ich schlug mit einer Hand auf den Tisch. »Sie sind ein Todesurteil! Sobald die Mädchen aufs offene Meer hinaussegeln, ist ihr Schicksal besiegelt.«
»Können wir langsam zum Ende kommen?«, fragte Hassun, während er Dani betrachtete, die ihren Pferdeschwanz richtete.
Ich stand auf. »Nein. Dieses Komitee ist dazu da, unsere Insel zu beschützen, aber ihr ignoriert die echte Lösung für unser Problem.«
»Setz dich wieder hin, Meela«, forderte mein Vater mich auf.
»Wir sollten dieses Meeting beenden, bevor die Gemüter sich zu weit erhitzen«, meinte Mujihi übertrieben ruhig und gelassen.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen. »Alles gut.«
»Nein, das reicht«, meinte Hassun. »Ich muss die Gießerei abschließen.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Unfassbar, was hier gerade passierte.
»Ihr seid also bereit, Mädchen in den Kampf zu schicken, aber nicht, ihnen zuzuhören?«, fragte ich.
»So ist das nicht«, meinte mein Vater, aber von ihm wollte ich das nicht hören. Ich brauchte eine Antwort von den anderen.
»Ihr benutzt uns«, fuhr ich fort. »Ihr bildet uns zwar zu Kriegerinnen aus, damit wir diesen Krieg für euch führen – weil das der einzige Weg ist, gegen die Meeresungeheuer anzukommen. Aber ihr nehmt uns trotzdem nicht ernst. Wir wurden fünf Jahre lang trainiert und haben dann einen Monat auf See verbracht, ständig in Gefahr, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Da haben wir es doch wohl verdient, wie Erwachsene behandelt zu werden.«
Die Witwe erhob sich. »Als Erwachsene wirst du dann wohl verstehen, dass ein Mythos, für den du keinerlei Beweise hast, noch lange keine Grundlage ist, um die Ausbildung einzustellen.«
Ich lehnte mich zurück und ließ den Blick über ihre unbeteiligten Mienen schweifen. In mir brodelte es vor Wut, Enttäuschung und Ärger auf mich selbst: Wie hatte ich nur ernsthaft glauben können, dass sie mir zuhören würden?
»Ich habe noch Unterricht vorzubereiten«, verkündete Mujihi und dann ging er auch schon zusammen mit Anyo und der Witwe zur Tür.
Hassun sprang auf und stellte sich neben Dani. Ich hätte mich übergeben können.
Mein Vater blieb bei Annith und mir am Tisch sitzen.
Während die anderen die Hütte verließen, beugte er sich vor. »Ich verstehe dein Mitgefühl für die Rekrutinnen, Metlaa Gaela. Aber es ist in deinem eigenen Interesse, dem neuen Ausbildungsprogramm eine Chance zu geben.«
Ohne ihn anzusehen, sprang ich auf und stürmte durch die Tür. Annith folgte mir, als ich in den Wald rannte, in die entgegengesetzte Richtung zu der, die die anderen nahmen. Die kalte Abendluft prickelte auf meinen glühend heißen Wangen.
Die Menschen, für die ich gekämpft hatte, glaubten mir nicht. Sie hielten mich für paranoid. Mein eigener Vater setzte sich nicht für mich ein. Und Anyo, der mir seit meiner Ausbildung so nahestand wie ein Onkel, hatte kaum mehr als ein paar wenige Worte gesagt.
Ich trat auf einen dicken Pilz und braunes Pulver stob unter meinem Fuß hervor.
Als wir weit genug von der Hütte entfernt waren, drehte ich mich zu Annith um.
»Wie können sie nur … Wie kommen sie darauf … Wie können sie bloß ignorieren …« Verzweifelt raufte ich mir die Haare. »Ich fasse es nicht, dass niemand uns das mit Anyo erzählt hat. Dabei ist Danis Vater schon seit sechs Wochen Ausbildungsmeister!«
»Unglaublich.« Annith verschränkte die Arme. »Die müssen Anyo gefeuert haben, direkt nachdem wir losgesegelt sind.«
Ich rieb mir über das Gesicht.
»Sie mögen Dani«, sagte ich schwach.
Von allem, was während des Meetings vorgefallen war, verstörte mich das am meisten. Wie konnte es sein, dass Dani an ihren Treffen teilnahm, die anderen mit ihrem falschen Lächeln bezirzte und mit ihnen redete, als hätte ihre Stimme Gewicht? Begriffen sie denn nicht, was Dani während des Massakers getan hatte? Jede Überlebende konnte es bezeugen: Dani war eine Mörderin. Sie hatte Shaena umgebracht. Doch seit unserer Heimkehr war sie dafür noch nicht einmal getadelt worden.
»Das liegt daran, dass Mujihi ihr Vater ist«, flüsterte Annith. »Ich meine, der neue Ausbildungsmeister. Deswegen musste sie sich nicht für ihre Taten verantworten.«
Sprachlos starrte ich zu Boden. Irgendwo über uns rief ein Sägekauz. Die anderen Vögel hatten sich schon zum Schlafen verkrochen und waren still geworden.
»Darum ist Dani auch so dagegen, die Massaker zu beenden«, meinte ich. »Sie wird sich bestimmt in die Ausbildung einmischen.«
»Aber was war mit den anderen los?«
»Sie vertrauen mir nicht«, sagte ich.
»Das stimmt nicht.«
»Doch. Sie wissen, dass ich einer Meerjungfrau vertraut habe.«
Und selbst wenn sie mir vertraut hätten: Sie hatten die Möglichkeit, dass die Meeresungeheuer intelligent waren, komplett abgetan. Die Menschen von Eriana Kwai weigerten sich schon immer, zu glauben, dass Meerjungfrauen so dachten wie wir. Aber das taten sie. Meerjungfrauen kämpften wie Menschen, lachten wie Menschen und liebten wie Menschen.
Immer wieder malte ich mir aus, wie meine Eltern wohl reagierten, wenn ich ihnen erzählte, dass ich Gefühle für Lysi hatte. Meine Mutter würde in Tränen ausbrechen, und mein Vater brüllen, dass ich die Familie und das Andenken an meinen älteren Bruder entehrt hatte. So lange, bis er heiser war.
Es spielte keine Rolle.
Beim bloßen Gedanken an Lysi tat mein Herz weh, als drückte Adaro es mit seiner gewaltigen, flossenartigen Pranke zusammen. Jeder schmerzhafte Herzschlag erinnerte mich daran, wie mühelos er alledem ein Ende bereiten konnte.
Annith legte ihre Hand auf meine Schulter, und ich sah auf.
»Wir bekommen deine Freundin zurück«, sagte sie.
Meine Freundin. Annith wusste zwar von Lysi, aber was genau ich für sie empfand, hatte ich ihr verschwiegen. Annith wusste nicht, dass Lysi mehr als nur eine Freundin war. Genau genommen wusste noch nicht einmal ich selbst, ob Lysi mehr als eine Freundin war, ob sie genauso für mich empfand wie ich für sie. Dieser Gedanke war ganz schön peinlich.
Wenn ich versuchte, Annith meine komplizierten Gefühle zu erklären, würde das unweigerlich extrem unangenehm werden, und das wollte ich nicht. Es war mir ja schon unangenehm, darüber zu reden, wenn jemand in einen Jungen verknallt war. Und das war noch einmal eine ganz andere Hausnummer.
»Und was jetzt?«, fragte Annith. »Sie haben uns kein Wort geglaubt. Hast du gesehen, wie sie uns angeschaut haben? Die halten uns für komplett verrückt.«
Ich runzelte die Stirn. »Gut, dann glauben sie uns eben nicht. Das ändert aber rein gar nichts: Wir müssen Adaro aufhalten.«
Der Kauz rief erneut, und ich ließ den Blick über den Ahornbaum wandern.
Annith stand mir zwar loyal wie eh und je zur Seite, aber ich fühlte mich trotzdem furchtbar allein.
»Dann suchen wir den Wirt eben ohne ihre Unterstützung«, sagte ich. Im stillen Wald kamen mir meine Worte doppelt so laut vor.
Ich rechnete schon damit, dass Annith mir widersprach. Dass sie sich zum Gehen wandte und mich allein ließ. Doch sie nahm die Schultern zurück und betrachtete mich mit einem Funkeln in den Augen.
»Wo fangen wir an?«
Mit einem entschlossenen Lächeln drehte ich mich in Richtung Meer. Es war so still, dass man durch die Bäume hindurch entfernt das Wellenrauschen hören konnte.
Ich dachte schon eine Weile darüber nach, hatte es aber noch nicht angesprochen. Es war gefährlich. Aber das war etwas, das wir ohne die Unterstützung der Rekrutinnen hinbekamen.
»Skaaw Beach.«
Kapitel 2 ~ Lysi
Adaros Gefangene
Wäre ich nicht so hervorragend darin geschult gewesen, anderen die Visage einzuschlagen, wäre mein Ausbruch nicht so gut gelaufen.
Katus stand vornübergebeugt da und hielt sich die Nase. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Ladon konnte sich bestimmt denken, wie er in meine Gefängniszelle gekommen war.
Ich legte die Arme an und schoss mit geschmeidigen Bewegungen und kräftigen Schlägen meines Fischschwanzes auf den Wald aus Seetang zu.
Ein kleines Stück unter mir trieb eine Wolke aus Plankton. Ich tauchte tiefer, erreichte die günstige Strömung und ließ mich von ihr mitziehen.
Natürlich waren auch die Wachen ausgebildete Kämpfer. Außerdem war ihr kräftigerer Körperbau ein Vorteil, wenn sie mich erwischten. Dazu würde es aber nicht kommen. Meermänner mochten über mehr Muskelkraft verfügen, aber nichts reichte an die Geschwindigkeit und Beweglichkeit von Meerjungfrauen heran.
Vor mir lag der Tangwald. Sein schwerer Kräuterduft stieg mir in die Nase. Die Seetangpflanzen erstreckten sich so weit das Auge reichte, bis sie im Blau des Meeres verschwanden. Sie klammerten sich mit ihren Wurzeln an den Felsen am Boden fest, ihre Blätter bildeten ein dichtes Dach über mir. Dieses Dickicht bot das perfekte Versteck. Zwischen den wogenden Pflanzen und den umherziehenden Fischen konnten die Wachen mich nicht finden.
Ich hörte ihre Rufe, wie ein Ölteppich kamen sie näher. Sie waren schon viel zu dicht herangekommen und schwammen sehr schnell.
Trotzdem war ich schneller.
Ich sauste so schnell durch einen Schwarm Heringe, dass sie in alle Richtungen auseinanderjagten und Luftbläschen aufstiegen.
Auch als ich den Wald erreicht hatte, schwamm ich nicht langsamer. Ich passte den Rhythmus meiner Schwanzflossenschläge an, machte jetzt kleine, schnelle Bewegungen, die mich in halsbrecherischem Tempo zwischen den Seetangstängeln hindurchschießen ließen. Riffbarsche flohen vor mir davon wie kleine blaue Blitze, und waren trotzdem längst nicht schnell genug. Wäre ich auf der Jagd, hätten sie keine Chance gehabt.
Die luftgefüllten Bläschen des Tangs streiften mich. Das grüne Dickicht wurde dichter, es wurde dunkler und das Wasser wärmer.
Meine Verfolger waren inzwischen nicht mehr zu hören. Sie wurden langsamer. Nie im Leben kamen sie im Wald so schnell voran wie ich.
Ich tauchte so abrupt ab, dass mein kräftiger Flossenschlag eine Welle erzeugte, die kurz das Blätterdach durcheinanderwirbelte.
Die Dunkelheit nahm zu. Der Wald schirmte alle Geräusche von draußen ab und schloss sich wie eine Höhle um mich. Kurz vor dem felsigen Meeresgrund bremste ich ab.
Wasser gluckste in meinen Ohren. Alles Leben hatte sich verflüchtigt, ich war weit und breit allein.
Mit rasendem Herzschlag wartete ich. Ich versuchte, meine Anspannung abzulegen und meinen Puls zu verlangsamen, damit sie mich nicht aufspüren konnten. Dabei konzentrierte ich mich auf die Vibrationen, die ich über meine Haut wahrnehmen konnte.
Hier gab es nichts als Flossenschläge von Fischen und die Strudel der Rippenquallen.
Von irgendwoher stieg mir der Geruch von Katus’ Blut in die Nase. Sie waren nicht mehr weit weg.
Sobald ich sie abgeschüttelt hatte, wollte ich mithilfe der Strömung im Zickzackkurs zum Golf von Alaska zurückschwimmen. Ich hatte nicht vor, als jämmerliche Geisel in einer Zelle herumzutreiben, während Meela alles tat, um ihren Teil der Abmachung mit Adaro zu erfüllen. Ich musste ihr helfen.
Der Gedanke an zu Hause – an Meela auf Eriana Kwai, an meine Familie in Utopia – schmerzte. Ich war noch nie so weit von ihnen weg gewesen.
Ich spürte kleine Wellenbewegungen. Neben mir erschien ein Kopf.
Überrascht zuckte ich zurück und stieß dabei kleine Luftbläschen aus.
Ein Seelöwe. Seine Verspieltheit reizte meine Sinne ich spürte seine Aura mit den Sinneszellen in meiner Haut. Aus großen schwarzen Augen schaute er mich an, dann machte er mich nach und stieß auch eine Luftblase aus.
Nein, dachte ich. Hau ab.
Er schwamm vor mir auf und ab. Die Pflanzen um uns herum wogten hin und her.
Mit der Schwanzflosse peitschte ich ihm eine Welle entgegen. Es konnte doch nicht sein, dass Katus und Ladon mich wegen eines neugierigen Seelöwen fanden!
Und dann stupste er mich auch noch mit der Schnauze an und schaute weg, als würde er den Unschuldigen spielen.
An jedem anderen Tag hätte ich mich vielleicht auf sein Spiel eingelassen. Jetzt jedoch drohte er mich zu verraten.
Ich knurrte und ließ das Blut in meine Augen steigen und meine Zähne länger und schärfer werden.
Der Seelöwe stoppte und starrte mich aus riesigen Augen an. Mit einem kräftigen Flossenschlag wirbelte er herum und verschwand blitzschnell im Wald.
Als ich ihn nicht mehr spüren konnte, ließ ich mich nach unten auf die Felsen sinken. Ich blieb kampfbereit für den Fall, dass die Wachen seine Bewegungen mitbekommen hatten.
Meine Muskeln waren müde und schmerzten. Meine Lunge brannte. Ich war seit bestimmt drei Stunden nicht mehr aufgetaucht, um Luft zu holen. Jetzt konnte ich das aber erst recht nicht. Noch nicht.
»Da drüben!«
Ich hörte deutlich durch den Seetang hindurch, wie Landon mit Katus sprach. Durch Klicklaute und Pfeiftöne, wie sie auch Delfine benutzen, konnten wir Meermenschen uns unter Wasser genauso unterhalten, wie Menschen es an der Wasseroberfläche mit ihren Worten taten. Ich spannte mich an und suchte nach einem geeigneten Fluchtweg.
»Das ist sie nicht, du Fischgesicht. Das ist ein Seelöwe.«
Entgeistert öffnete ich den Mund. Wie konnte er mich bloß mit so einem fetten, haarigen Viech verwechseln?
»Oh. Bist du sicher, dass nicht sie da herumgezappelt hat?«
»Sie konnte noch nicht Luft holen. Warten wir einfach ab. Irgendwann muss sie auftauchen.«
»Die Zeit haben wir aber nicht. Was glaubst du, was passiert, wenn der König merkt, dass Lysitheas Zelle leer ist?«
Stille. Nach einer kleinen Weile entgegnete Katus mit einem panischen Unterton in der Stimme: »Vielleicht bleibt sie ja unten und wird ohnmächtig.«
Das war gut möglich. Mit jedem Herzschlag ging mir der Sauerstoff weiter aus. Meine Brust brannte. Ich ließ mich regungslos treiben, in dem Versuch, das letzte bisschen Luft in meiner Lunge aufzusparen.
Eine Krabbe kletterte direkt vor meiner Nase an einem Strang Seetang nach oben. Dann stoppte sie und schien einen Moment lang nachzudenken, ehe sie sich wieder auf den Rückweg machte. Vielleicht gefiel es ihr am Meeresgrund doch besser. Was für ein beneidenswert einfaches Leben.
Meine Haut kribbelte in dem warmen Wasser, als wäre ich in eine Ansammlung giftiger Algen geraten. Wo auch immer ich hier war: Es war viel zu heiß. Wahrscheinlich hatten sie mich zu den Erdspalten gebracht – zu der Küste des Landes, das Meela Kalifornien nannte.
Innerlich verfluchte ich Adaro, und das nicht zum ersten Mal. Ich hatte einen Eid geschworen, jahrelang trainiert, in seinem Krieg gegen die Menschen gekämpft – und so dankte er es mir?
Allerdings war es mir sehr leichtgefallen, meinen Eid zu brechen, nachdem ich herausgefunden hatte, dass ausgerechnet Meela auf dem Schiff war, das ich zerstören sollte.
Bei dem Gedanken an Meela zog meine Brust sich schmerzhaft zusammen.
Vielleicht hatte ich ja noch Glück gehabt. Immerhin hatte Adaro mich am Leben gelassen. Allerdings hatte ich so meine Zweifel daran, dass er wie versprochen mit den Menschen Frieden schließen würde. Er wusste, dass Meela bereit war, alles zu tun, um ihr Volk zu retten.
Wenn ich es nach Eriana Kwai schaffte, konnte ich ihr helfen. Dieser sogenannte Wirt musste einem die Macht geben, über das Meer zu herrschen. Warum sollte Adaro ihn sonst haben wollen? Wenn wir diese Macht hatten, konnten wir eine neue Königin oder einen neuen König einsetzen.
Verzweifelt nach Luft ringend blinzelte ich zur Wasseroberfläche hinauf. Die Sonne schien durch das Blätterdach, tauchte manche Algen in warmes grünes Licht und ließ andere im Schatten liegen.
Ich hatte keine Wahl. Wenn ich weiterschwamm, würden sie meine Bewegungen spüren. Außerdem würde ich sofort das letzte bisschen Luft, das ich noch in der Lunge hatte, verbrauchen.
Meine Lunge verkrampfte sich schmerzhaft. Ich hielt es nicht länger aus. Eine Schule Felsenbarsche stob auseinander, als ich nach oben schoss. Ein Otter schaute mir nach.
Ich hatte die Hälfte des Weges geschafft, da fühlte ich etwas über mir.
»Nein!«, flüsterte ich.
Eine Gestalt schob sich vor die Sonne.
Ohne nachzudenken, beugte ich mich vor und tauchte ab – und stoppte. Von unten näherte sich mir eine zweite Gestalt.
Mit einem hölzernen Speer in der Hand schwamm Ladon auf mich zu.
»Diesmal bist du ganz schön weit gekommen«, sagte Katus über mir.
Blindlings wich ich seitwärts aus und verhedderte mich in einem Strang Seetang.
Ladon griff nach mir. Ich rammte ihm mit aller Kraft meinen Fischschwanz gegen die Brust. Mit einem Schwall von Blasen entwich ihm die Luft aus der Lunge.
Ich sah Sterne vor meinen Augen.
Luft.
Mit letzter Kraft pflügte ich durch den Seetang und kämpfte mich hoch zur Oberfläche. Die Welt um mich herum versank im Nebel.
Luft!
Einige verzweifelte Momente lang sah ich nichts als den Lichtschimmer über mir. Dann brach ich endlich durch das Blätterdach hindurch und atmete tief ein.
Die Sonne schien so gleißend hell auf das Meer, dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Ich hustete und keuchte und rang um Atem.
Wellen schlugen gegen mich.
Mein nächster Atemzug war mehr ein Schluchzen. Ich hatte keine Zeit, tief einzuatmen. Ich musste abtauchen – aber es war bereits zu spät. Eine schwimmhautüberzogene Hand packte meine Haare.
Ich schrie und warf mich hin und her.
»Ich hab die Nase voll von diesen Robbenjagden.« Katus zog mich wie einen toten Thunfisch hinter sich her. »Vielleicht können wir ihr ja die Schwanzflosse abhacken.«
Seine Nase hatte aufgehört zu bluten. Ich holte erneut nach ihm aus, aber Ladon packte meinen Arm. Ich drehte mich um und versuchte, die beiden zu beißen.
»Du musst das verstehen, Kleine«, sagte er. »Wenn du abhaust, war’s das für uns.«
Ich wehrte mich mit Händen und Fischschwanz. Aber Adaro hatte die beiden ganz offensichtlich wegen ihrer Größe ausgewählt. Sie waren mindestens doppelt so breit wie ich und zogen mich mühelos in die Tiefe. Und sahen dabei so verdammt selbstgefällig aus. Ich machte mir keine Mühe, zu verbergen, wie unglaublich angewidert ich war.
Während die Oberkörper von Meerjungfrauen üblicherweise denen von Menschenfrauen ähnelten, sahen Meermänner immer so aus, wie der Spitzname Meeresungeheuer andeutete: Sie hatten scharfe, spitze Zähne, lange Ohren, flossenartige Finger, rotglühende Augen und eine Haut wie verrotteter Seetang. Zudem sahen Meermänner reptilienähnlicher aus als Meerjungfrauen – sie waren breiter gebaut und stärker, ihre Haut war schuppig, der Mund ohne Lippen und ihre Nasen gingen wie bei einem ganz gewöhnlichen Fisch fließend in die Wangen über.
Katus und Ladon waren neunzehn Jahre alt, topfit und Paradeexemplare solcher krokodilartigen Muskelprotze. Es gab ja Meerjungfrauen, die auf so was standen. Ich hingegen würde lieber einen Anglerfisch küssen als einen der beiden.
Als sie mich mit sich schleiften, kamen wir aus dem vor Leben nur so strotzenden Tangwald zurück in eine schmutzige, leblose Stadt. Steinerne Säulen ragten neben uns auf, waren in dem trüben Wasser aber nur schemenhaft zu erkennen.
Nachdem Utopia fast fertig war, hatte Adaro begonnen, das südlich davon liegende Gebiet zu kolonisieren. Ein Teil dieses Projekts war diese Stadt. Sie befand sich noch im Bau, das Korallenriff war zertrümmert, die Korallen abgestorben. Weil ständig Dreck und Schlamm aufgewühlt wurden, schmeckte das Wasser hier säuerlich.
Mit dem Speer hielt Ladon die Tür zu meinem Gefängnis auf.
Ich schnappte nach Katus, aber er brachte sich in Sicherheit, bevor ich ihn beißen konnte. Brutal schob er mich zurück in die Höhle.
»Letzte Warnung, Fischgesicht«, sagte er. »Nächstes Mal schlagen wir dich k. o. und zerren dich an deinen hübschen goldenen Haaren zurück.«
Ich blies ihm ein paar Luftbläschen ins Gesicht, bevor sich der Vorhang aus Tentakeln schloss.
Normalerweise machten Quallen mir nichts aus. Sicher, ihre Nesseln taten weh, aber da ich schon in jungen Jahren die Bekanntschaft von brennendem Eisen gemacht hatte, versetzten mich diese weichen, glibberigen Kreaturen nun nicht gerade in Panik.
Diese Quallen jedoch waren anders. Ich wich zurück, als sie auf mich zukamen. Ihre Tentakel waren mehrere Meter lang. Wenn ich den Kopf in den Nacken legte, konnte ich die Eingeweide in ihren pulsierenden, glockenförmigen Körpern sehen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, meine Arme waren zu kurz, um sie zu umfassen, so groß waren sie.
Ich lehnte mich gegen die Felswand. Auch ohne sie zu berühren, meinte ich, die Nesseln der Quallen zu spüren. Ich musste aufpassen, wohin ich trieb, denn mein Gefängnis war sehr klein, man konnte es eigentlich kaum als Höhle bezeichnen. Genau genommen war es mehr eine Einkerbung im Fels. Eine kleine Luftblase im hinteren Teil versorgte mich mit Sauerstoff, aber ich musste den Hals ordentlich verbiegen, um ranzukommen.
Am ersten Tag hatte ich allen Mut zusammengenommen und versucht, durch den Tentakelvorhang zu kommen, bevor jemand es mitbekam. Noch bevor ich die andere Seite erreicht hatte, war ich schon ohnmächtig geworden.
Danach hatte ich einen besseren Weg gefunden, um zu entkommen – zum Beispiel meinen Wächter durch den Vorhang zu locken.
»Es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du endlich aufgibst, Kleine«, meinte Ladon.
Ich fauchte ihn an. »Du kannst gern eine Pause machen, wenn du müde bist.«
»Das ist sein Ernst«, erwiderte Katus. »Wenn du so weitermachst, kommst du noch ins Arbeitslager.«
»Da ist es immer noch besser als hier.«
Sie lachten.
»Du hast wohl noch nie vom Arbeitslager gehört, was, Kleine? Kein Essen. Wenig Luft. Das Ganze ist so tief unten, dass du meinst, deine Augen fliegen dir gleich aus dem Kopf. Die Einzigen, die da unten überleben können, sind die Aasfresser, die die Leichen auffressen.«
»Vergiss die Viperfische nicht«, warf Katus ein. »Die zerreißen dich in Stücke und verspeisen dich zum Frühstück.«
»Klingt immer noch nach besserer Gesellschaft als die hier«, entgegnete ich. Von den beiden ließ ich mich ganz bestimmt nicht einschüchtern.
Ladon zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst, dass es besser ist, im Fels herumzugraben, bis deine Finger bluten, dann bitte. Ich kann gern –«
Plötzlich war Ladons und Katus’ hämisches Grinsen wie weggefegt. Sie wirbelten herum. Ich schmeckte ihre Angst.
»Wenn eine Gefangene wiederholt ausbricht, muss ich dann die Gefangene bestrafen oder nicht eher ihre Wärter?«
Ich war wie erstarrt. Wegen der Tentakel der Quallen konnte ich die Strömung nicht spüren, darum hatte ich nicht gemerkt, dass er gekommen war.
»Wir haben sie unter Kontrolle, Eure Majestät«, sagte Katus.
Wie ein dunkler Geist ließ sich ein weiterer Meermann zwischen die beiden treiben. Er war größer, massiger und weitaus imposanter als Katus und Ladon. Wo er auftauchte, brachte er alles zum Schweigen. Den Meermann mit dem langen, verfilzten schwarzen Haar und der schwarzen Krone auf dem Kopf erkannten alle.
Er fixierte mich mit seinen dunkelroten Augen. Automatisch senkte ich den Blick.
»Aufmachen«, sagte Adaro.
Ladon schob die Tentakel beiseite.
»Eure Majestät«, sagte ich, mein Herz klopfte wild.
»Lysithea. Du hast mich überzeugt.«
Zwei bullige Bodyguards schwebten hinter ihm. In den Händen hielten sie Keulen aus Stein, die mit Seepocken bewachsen waren. Der eine umklammerte außerdem ein zusammengerolltes, schleimverkrustetes Seil.
Ich hatte schon gehört, dass Adaro in letzter Zeit stets Bodyguards bei sich hatte. Man erzählte sich außerdem, dass diese Bodyguards einigen Meerjungfrauen die Arme ausgerissen hatten, als die sich weigerten, ein Segelboot zu versenken. Hoffentlich war das nur ein Gerücht.
»Wovon habe ich Euch überzeugt, Sir?«
»Davon, dich freizulassen.«
Er war zu ruhig. Ich wartete ab.
»Du hast gewisse Fähigkeiten«, sagte er.
»Wenn man es eine Fähigkeit nennen will, dass sie so schlüpfrig ist wie ein Aal«, murmelte Katus.
»Was auch immer es ist, es ermöglicht es ihr, an meinen Wachen vorbeizukommen.« Ein gefährliches Flackern war in Adaros Augen zu erkennen.
Katus verstummte. Er und Ladon warfen einander vielsagende Blicke zu.
»Es wäre doch eine Schande, wenn deine Fähigkeiten verkommen«, fuhr Adaro fort. »Schließlich war deine Ausbildung an der Akademie teuer.«
Mir entging die Drohung nicht, die in seinen Worten mitschwang. »Die Front?«
Adaro bleckte die gelblichen Reißzähne. »Nicht die vor Eriana Kwai. In der Nähe von Menschen kann man dir ganz offensichtlich nicht trauen.«
Ich öffnete den Mund. Ein lautloses Oh entwich mir in einer Luftblase. Er wollte mich zwingen, unter der Wasseroberfläche zu kämpfen.
Er wusste, dass ich gegen Meermänner keine Chance hatte. Meerjungfrauen wurden dazu ausgebildet, über der Oberfläche zu kämpfen, Meermänner hingegen für Kämpfe darunter. Für beides gab es gute Gründe.
»Ist sicher eine Erleichterung, Kleine«, meinte Ladon. »Bei unseren Schlachten brauchst du dir um Eisen keine Sorgen zu machen.«
Stimmt, dachte ich. Das Einzige, weswegen ich mir Sorgen machen muss, ist, dass ein Meermann mir den Schädel einschlägt.
»Was für ein Jammer«, sagte Katus. »Dann kannst du dir nicht noch mehr niedliche Narben einfangen.«
Er streckte die Hand nach meiner Taille und der Narbe aus, das Ergebnis einer Brandwunde durch einen eisernen Bolzen, die ich wegen meiner Freundschaft zu einem Menschen zugefügt bekommen hatte. Die Narbe war meine dauerhafte Erinnerung daran, warum ich gegen Adaros Herrschaft ankämpfen musste.
Bevor Katus mich berühren konnte, packte ich sein Handgelenk und ließ das Blut in meine Augen steigen.
»Fass mich nicht an.«
Kaum hatte ich das gesagt, schlug Ladon mir auch schon den Speer ins Gesicht. Ich ließ los, wich aber nicht zurück.
»Bringt sie zum südlichen Armeestützpunkt«, befahl Adaro. »Sie wird mit dem nächsten Kommando in den Kampf ziehen.«
Damit erstickte er meinen letzten Hoffnungsschimmer, dass er mich vielleicht zu dem Stützpunkt schickte, an dem auch mein Bruder diente.
»In den Süden?«, fragte ich. »Warum dahin? Ich dachte, es geht um Indien?«
Seine gesamte Erscheinung verdüsterte sich, und ich schob eilig noch ein höfliches »Sir« hinterher.
»Wenn ich dir befehle, im Süden zu kämpfen, dann kämpfst du auch im Süden«, sagte er. »Und wenn ich dir befehle, am Boden des Marianengrabens um einen kleinen Vulkan zu kämpfen, dann erwarte ich, dass du auch das tust, so lange, bis du gewonnen hast. Auch wenn es das Letzte ist, was du in deinem Leben tust.«
Ich antwortete nicht.
Nach einer kleinen Weile fügte er grollend hinzu: »Hast du das verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Also, Männer.« Adaro schwamm ein Stück zurück. »Wenn ihr vor Sonnenuntergang ankommen wollt, dann müsst ihr euch jetzt auf den Weg machen.«
Der Bodyguard reichte Katus das schleimige Seil. Ich prallte mit dem Rücken gegen die Felswand meiner Zelle.
»Ihr solltet dafür sorgen, dass ich am Leben bleibe«, sagte ich. »Das ist Teil Eures Deals mit Meela.«
Was auch immer Adaro aus meinem Satz heraushörte, er grinste spöttisch.
»Es liegt nicht in meiner Hand, ob du im Kampf stirbst.«
»Bitte«, sagte ich. »Ich will nicht …« Ich brach ab.
Adaro schaute mich scharf an. »Du willst nicht?«
Die beiden Bodyguards kamen näher heran.
»Das hab ich nicht gemeint.«
Natürlich hatte ich das nicht. In Adaros Krieg zu kämpfen, sollte unser aller einziges Ziel sein. Selbst jetzt als Gefangene empfand ich nichts als die tiefste Loyalität für meinen König.
Ich musste an eine Meerjungfrau denken, mit der ich zur Schule gegangen war. Ihre Familie hatte behauptet, dass sie wegen einer Krankheit den Militärdienst nicht antreten konnte. Einen Tag, nachdem sie sich als kampfuntauglich bezeichnet hatte, war sie verschwunden. Laut ihren Eltern war sie ihrer Krankheit erlegen, aber irgendetwas stimmte danach nicht mehr mit ihnen.
»Ich muss dich hoffentlich nicht daran erinnern, dass du einen Eid geleistet hast«, sagte Adaro.
»Mein ganzes Leben ist Euch gewidmet.«
Er musterte mich, als suchte er hinter meiner Maske nach der Aufrichtigkeit. Aus Angst, was er finden könnte, sagte ich den Eid auf, den ich mit dreizehn geleistet hatte.
»Ich schwöre König Adaro, dem Herrscher des Pazifiks und all der Meermenschen, die darin leben, meine ewige Treue. Ich bin bereit, mein Leben zu geben bei dem Bestreben, alle Ozeane zu einem Königreich zu vereinen, an dessen Spitze König Adaro steht, der rechtmäßige Träger der alleinigen Krone.«
Er zeigte keine Regung.
Als ich weitersprach, fühlten sich meine Lippen taub an.
»Eure Majestät, es wäre mir eine Ehre, in der Armee im Süden zu dienen.«
Nach einer kleinen Ewigkeit wandte der König sich endlich ab. Er nickte seinen Bodyguards zu, woraufhin die ihm in die Tiefen des Meeres folgten.
Noch lange, nachdem sie längst außer Sichtweite waren, spürte ich ihre Präsenz.
Abrupt rissen Katus und Ladon mich aus meinen Gedanken. Sie zerrten mich aus der Zelle und hielten meine Arme hinter meinem Rücken fest. Ob ich wohl fliehen konnte, während sie mich verlegten? Meine Lunge war gerade mit Sauerstoff vollgepumpt, diesmal würde ich es also tiefer in den Tangwald hineinschaffen.
Ladon packte meine Haare mit der Faust und zwang mich so, stillzuhalten.
»Nimm dich vor den Läusen in Acht«, meinte er. »Mich hat im Seetang schon mal eine gebissen.«
Ich rollte mit den Augen. »Kannst du Krabbenhirn dir nicht mal eine neue Beleidigung einfallen lassen?«
Er fesselte mir die Handgelenke und band auch noch meine Unterarme zusammen, damit ich mich auch ja nicht losreißen konnte. Dann zog er das Seil so fest an, dass es mir in die Haut schnitt.
»Er hat da nicht unrecht, Kleine«, meinte Ladon. »Schon mal was von ’nem Kamm gehört? Denk doch auch mal an die Männer dieser Welt.«
Er verschwand, um alles Notwendige für den Weg zu holen, während ich an Katus’ Seil hing wie ein Otter an der Leine.
Ich ignorierte seinen Kommentar. Mein Leben lang hatten andere Meerjungfrauen sich über mich lustig gemacht. Da schockten mich diese Typen auch nicht mehr.
Während andere Meerjungfrauen den lieben langen Tag über ihr Aussehen nachdachten, hatte ich nur deswegen Bänder aus Seetang im Haar, weil ich mal wieder einen Delfin verfolgt hatte. Jahrelang hatten meine Eltern vergeblich versucht, mich dazu zu bewegen, mich mehr um mein Äußeres zu kümmern. Sie schenkten mir das neueste Make-up und die besten Haarpflegeprodukte, mit Seetangpaste, zermahlenen Perlen und Zuchtkaviar. Nachdem ich fast mein ganzes Leben lang keine Freunde gehabt hatte, versuchte ich es eines Tages: Ich stand vor Sonnenaufgang auf, schminkte und frisierte mich lange und ging dann zur Schule. An dem Tag wurde ich nur noch schlimmer gemobbt als sonst, wenn ich mit verfilzten Haaren zum Unterricht kam. Als eine Gruppe von Mädchen mir dann auch noch erklärte, ich hätte eine Stelle ausgelassen und mir Tintenfischtinte ins Gesicht spritzten, war der Tag gelaufen. Zu Hause habe ich das gesamte Make-up weggeworfen – abgesehen von dem Kaviar, den ich gegessen habe. Und dann wurde mir schlecht, weil er offenbar ausschließlich als Kosmetikprodukt gezüchtet wurde und nicht zum Verzehr geeignet war.
Ladon kam mit einem Proviantbeutel und zwei Keulen aus Stein zurück. Katus zog am Seil und zwang mich, ihnen zu folgen. Mit aller Kraft und doch so unauffällig wie möglich zerrte ich an meinen Fesseln. Das Seil knarzte, gab aber nicht nach. Wenn ich es schaffte, es zu lockern, konnte ich mich vielleicht losreißen, eine Keule schnappen und –
»Lass das«, sagte Katus. »Sonst binde ich dich an einen Felsen und lass dich da zurück. Wird dem König nicht auffallen.«
Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, erwiderte aber nichts. Das war ihm durchaus zuzutrauen.
Also folgte ich ihnen an dem Seil hängend. Wir ließen die Stadt hinter uns und schwammen durch die öde Wildnis.
Ich versprach ihnen mehrmals, ganz brav neben ihnen zu bleiben, wenn sie mich nur losmachten. Leider waren sie schlau genug, nicht darauf reinzufallen.
Nachdem wir das erste Mal aufgetaucht waren, um Luft zu holen, versuchte ich wieder unauffällig, mich aus den Fesseln zu winden. Aber sie waren viel zu fest. Schon bald hatte ich mir die Haut aufgescheuert.
Schließlich erreichten wir das offene Meer. Jetzt konnte ich mich nicht mehr wehren. Ich brauchte alle meine Kraft, um mit den beiden mitzuhalten. Den ganzen Tag lang schwammen wir mit Höchstgeschwindigkeit und tauchten alle paar Schwimmzüge auf.
Ich hasste das offene Meer. Weit und breit gab es nichts zu sehen, nichts, rein gar nichts. Wellen und Geräusche wurden hier ewig weit getragen, darum prasselte die ganze Zeit über eine geisterhafte Symphonie auf meine Sinne ein: der lang gedehnte, tiefe Gesang eines Grauwals, die Klicklaute einer Delfinschule, das Brummen eines Tankers und jede Menge weiterer Frequenzen, die ich nicht zuordnen konnte. Es hätten auch Thunfischschwärme, Riesenkalmare oder Menschen sein können.
Einmal kamen wir an zwei Orcas vorbei. Wir machten einen großen Bogen um sie herum. Orcas waren geborene Killer mit einem Faible für große Beutetiere wie Seehunde.
Nur wenige Lebewesen waren in der Lage, einen Meermenschen zu töten. Menschen konnten das nur, indem sie Eisen gegen uns einsetzten. Die Meermenschen schafften es schon seit Jahrtausenden, einander gegenseitig umzubringen. Und von einem Wal oder Hai zerfetzt zu werden, kam auch nicht gerade selten vor.
Ausnahmsweise war ich Katus und Ladon einmal dankbar. Die Wale bemerkten uns und wurden langsamer, als schienen sie darüber nachzudenken, ob sich die Jagd auf uns lohnte. Aber wir waren zu dritt, und auch wenn meine beiden Begleiter nicht viel im Hirn hatten, waren sie doch zu muskelbepackt, um als Walfutter zu taugen.
Wäre ich allein gewesen, wäre diese Begegnung wohl nicht so glimpflich ausgegangen. Ich war zwar schneller als ein Orca, aber gerade in Gruppen jagten sie clever und strategisch und es gelang ihnen weit öfter, Meerjungfrauen zu umzingeln und zu töten, als uns allen lieb war.
Endlich wurde das Wasser seichter und aus dem Sandboden wurde Fels. Es gab Korallen, Seeanemonen und Fische, da schmeckte das Meer gleich viel süßer. Auf der Haut spürte ich einen Oktopus. Die Stadt musste ganz in der Nähe sein.
Ich versuchte, die Anspannung in meinen Schultern zu lockern. Nach unserem Ausflug durchs offene Meer war ich so zappelig wie ein Guppy.
Katus und Ladon bremsten so abrupt ab, dass ich gegen Katus prallte. Ladon drängte mich mit dem Speer zurück.
Ich sah zwischen den beiden hindurch. Eine Wache schwamm aufrecht stehend im Wasser, eine Steinkeule in den Händen. Seitlich von ihr waren noch weitere, außer Sichtweite, aber doch nah genug, dass ich ihre Präsenz spürte. Wir hatten eine Art Grenze erreicht.
Ich versuchte, einen Überblick über die Umgebung zu bekommen. Wachen auf allen Seiten. Das Meer war hier seicht, der Boden felsig. Hinter und vor mir war das offene Meer.
Wie sollte ich es zurück nach Hause schaffen, wenn ich dabei eine militärisch gesicherte Grenze überqueren musste?
Ladon zog eine Rolle aus Tierhaut hervor und drückte die Brust raus.
»Königliche Wachen mit Transportbefehl«, verkündete er.
Konnte ich es riskieren, allein das offene Meer zu durchqueren? Vielleicht nicht, aber wenn ich erst auf der anderen Seite der Grenze war, war eine Flucht erst recht unmöglich. Ich spannte alle Muskeln an und bereitete mich innerlich darauf vor, mich von Katus loszureißen. Wenn ich sie überrumpelte und schnell verschwand und dann vielleicht noch etwas Scharfes fand, womit ich das Seil –
Etwas traf mich hart am Hinterkopf und ein Lichtermeer explodierte vor meinen Augen.
»Ich mein es ernst«, sagte Katus. »Ich schlag dich k. o. und schleif dich hinter mir her.«
Ich knurrte ihn an. Mein Schädel pochte.
Der Wachposten stöhnte. Er schlug Ladon die Rolle gegen die Brust, ohne sie überhaupt zu lesen. Vielleicht konnte er das auch gar nicht.
Dann sah er mich an, als wäre ich ein ungenießbares Abendessen.
»Das ist ein Mädchen.«
Ich war schon versucht, seine scharfsinnige Beobachtungsgabe zu kommentieren, verkniff es mir aber gerade noch.
»Sie soll zukünftig unter der Oberfläche dienen«, meinte Ladon.
Der Wachposten starrte mich finster an.
Ich wäre an seiner Stelle genauso skeptisch, wenn eine Meerjungfrau plötzlich so weit von allen Menschen entfernt postiert wurde. Was die wohl angestellt hatte?
Ich bedachte ihn mit einem hinterhältigen Grinsen und ließ meine Augen rot aufglühen.
Er sah zur Seite und bedeutete uns, weiter zuschwimmen.
