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Ein Van, ein Bett, und Gefühle, die keiner erwartet hat... Als digitale Nomadin träumt Carol Lavoie davon, ihr Leben ausschließlich durch Einnahmen aus ihren abenteuerlustigen, chaotischen Videos zu finanzieren, doch dafür muss sie dringend mehr Zuschauer auf ihren Kanal ziehen. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an die erfolgreiche Vloggerin Ruby Hayashi – und erhält wider Erwarten eine Zusage für einen gemeinsamen Roadtrip. Ruby, eine durchorganisierte Minimalistin, und ihr treuer Hund Calvin könnten ebenfalls frischen Wind auf ihrem Kanal gebrauchen, da es trotz über einer Million Follower auch bei ihnen nicht rund läuft. Was als Chance auf neuen Content beginnt, verwandelt sich jedoch schnell in unerwartet knisternde Anziehung zwischen Carol und Ruby – die auch ihrem Publikum nicht verborgen bleibt. Dass sie in einem Van mit nur einem Bett unterwegs sind, heizt die Spekulationen noch weiter an – was Carol und Ruby auf die Idee einer Fake-Beziehung bringt, mit der sie innerhalb kürzester Zeit viral gehen könnten. Doch als ihre Gefühle füreinander immer stärker werden, müssen sich Carol und Ruby entscheiden, ob sie ihre Fans, aber auch sich selbst wirklich belügen können. Denn ihre Beziehung ist schon jetzt so viel mehr als eine einfache Roadtrip-Vereinbarung …
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Inhaltsverzeichnis
Von Tiana Warner außerdem lieferbar
Danksagung
Kapitel 1: Coral
Kapitel 2: Ruby
Kapitel 3: Coral
Kapitel 4: Ruby
Kapitel 5: Coral
Kapitel 6: Ruby
Kapitel 7: Coral
Kapitel 8: Ruby
Kapitel 9: Coral
Kapitel 10: Ruby
Kapitel 11: Coral
Kapitel 12: Ruby
Kapitel 13: Coral
Kapitel 14: Ruby
Kapitel 15: Coral
Kapitel 16: Ruby
Kapitel 17: Coral
Kapitel 18: Ruby
Kapitel 19: Coral
Kapitel 20: Ruby
Kapitel 21: Coral
Kapitel 22: Ruby
Kapitel 23: Coral
Kapitel 24: Ruby
Kapitel 25: Coral
Kapitel 26: Ruby
Kapitel 27: Coral
Kapitel 28: Ruby
Kapitel 29: Coral
Kapitel 30: Ruby
Kapitel 31: Coral
Kapitel 32: Ruby
Kapitel 33: Coral
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Tiana Warner
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Von Tiana Warner außerdem lieferbar
Küsse am Set
Danksagung
Vielen Dank, Toshi, dass du mir dabei geholfen hast, Rubys Figur Leben einzuhauchen. Danke für die vielen Gespräche, Brainstormings, dein Wissen, Feedback und für die schöne Zeit, die wir auf unserem Roadtrip entlang der Küste von Oregon hatten und der mich zu dieser Geschichte inspiriert hat. Ohne dich hätte ich sie nie schreiben können.
Ein besonderer Dank geht auch an Laurel Greer für ihr Feedback, das Team und die Lektorinnen vom Ylva Verlag und meine wundervolle Familie und Freunde für eure endlose Liebe und Unterstützung.
Kapitel 1
Coral
»Hier gäbe es doch irgendwo ein Schild, wenn schon Leute dabei gestorben wären, oder?«, fragte Coral.
Das rote Lämpchen der neben ihr aufgestellten Kamera blinkte.
Eigentlich hatte heute kein Sprung in einen Fluss auf dem Plan gestanden, aber jetzt befand sie sich nun mal an diesem schlammigen Ufer und es ging immerhin um ihre Karriere, also blieb ihr gar nichts anderes übrig. Wobei Karriere ein recht dehnbarer Begriff für diese Aktion war. Sie verdiente zwar als YouTuberin Geld, aber ihre Eltern ließen keine Gelegenheit aus, sie darauf hinzuweisen, dass das kein richtiger Job war, und es kam auch definitiv nicht genug dabei herum, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Noch nicht.
Nach einem ganzen Jahr mit täglichen Video-Posts wiesen die gesammelten Daten eindeutig darauf hin, dass Abenteuer-Content die meisten Klicks bekam. Das hier war nicht nur ein bisschen Seilschwingen – es war eine Chance.
»Macht das ja nicht zu Hause nach«, machte sie noch den üblichen Hinweis, um sich rechtlich abzusichern. »Wasser kann wirklich gefährlich sein. Egal, wie schön und harmlos es aussieht, unter der Oberfläche kann alles Mögliche lauern – Felsen, Baumstämme, Strömungen …«
Hinter ihr rauschte der eiskalte Gletscherfluss dröhnend in die Tiefe, nah genug, dass sie den feinen Sprühnebel auf der Haut spürte. Zu ihrer eigenen Sicherheit schnappte sie sich einen Ast und warf ihn über den Rand der Klippe. Er fiel viel zu lange, bevor er in dem natürlichen Wasserbecken auftraf und unterging. Einen Moment später kam er wieder an die Oberfläche und trieb dann gemütlich weiter.
»Es scheint keine Sogströmung zu geben und ich habe alles gründlich nach Felsen abgesucht, bevor ich hier hochgeklettert bin.« Ihre Stimme klang gelassen und sie schenkte der Kamera ihr schönstes Lächeln – aber ihr Puls raste. »Wagen wir zusammen den Sprung?«
Coral griff nach ihrer GoPro, um zusätzliches Point-of-View-Material zu bekommen. Nachdem sie die kleine Kamera sicher in einem wasserdichten Case verstaut und sich den Selfie-Stick ein bisschen umständlich zwischen die Finger geklemmt hatte, legte sie die Hände um das Seil. Es war dreckig und rau und roch nach dem Schweiß unzähliger Angeber.
Noch einmal atmete sie tief durch, dann nahm sie so weit Anlauf, wie das Seil es zuließ. Ihre Handflächen waren feucht und sie griff etwas fester zu, bevor sie noch einmal überprüfte, ob beide Kameras auch wirklich aufzeichneten.
Dann stieß sie sich kräftig vom Boden ab und schwang sich hinaus übers Wasser. Das Gefühl ultimativer Freiheit ließ sie wie auf Wolken schweben, als sie schwerelos durch die Luft segelte.
Sie stieß einen begeisterten Jubelschrei aus. Deswegen hatte sie sich für dieses Leben entschieden. Es war Mittwochmittag und eine ganze Menge Leute saßen genau in diesem Moment irgendwo in einem tristen Büro, während sie sich in einer kleinen Naturoase im Pazifischen Nordwesten dem freien Fall hingab.
Dann stach das Wasser mit tausend Nadeln gleichzeitig in ihre Haut, so kalt, dass es wehtat. Als sie keuchend wieder an die Oberfläche kam, applaudierten ihr ein Vater und seine Tochter, die am Flussufer picknickten.
Coral lachte. »Danke.«
Sie war wirklich dankbar für die Anwesenheit der beiden. Wäre sie allein gewesen, wäre sie nicht gesprungen. Abenteuer waren ihr Leben, Leichtsinnigkeit nicht – meistens zumindest.
Eine Weile später saß sie zitternd mit einem Handtuch um die Schultern am Fluss.
»Das war unglaublich.« Sie lächelte etwas breiter für die Kamera. »Das Wasser kann man auch gut als Eisbad benutzen, wenn man drauf steht. Meine GPS-Koordinaten stelle ich euch natürlich auf Patreon zur Verfügung.«
Sie löste ihren Zopf und schüttelte ihre blonden Haare aus, um sie von der warmen Frühsommersonne trocknen zu lassen. Dann drehte sie die Kamera im Kreis, um die herrliche Landschaft einzufangen. »Seht euch das an. Ist es nicht fantastisch, dass das hier unser Zuhause für heute ist?«
Alles war grün und zugewuchert, von den riesigen Nadelbäumen, die über ihr aufragten, bis hin zu den moosbedeckten Steinen, die den Wasserfall säumten. Kühler Nebel reinigte die Luft, was sie in vollen Atemzügen genoss. Hoffentlich fing das Mikrofon trotz des lauten Wasserrauschens auch das Vogelgezwitscher ein.
Warum verstanden ihre Eltern einfach nicht, wie wichtig ihr dieser Lebensstil war? Das hier war mehr als ein Job. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, und dabei jeden Tag neue Dinge ausprobieren. Ihr Leben mit der Kamera einzufangen und mit anderen Menschen zu teilen, machte Spaß, und dass die Leute sie dafür auch noch bezahlten, war ein Bonus. Auf keinen Fall wollte sie ein Rädchen im Getriebe einer Gesellschaft werden, die aus Kapitalismus, 40-Stunden-Wochen und Arbeiten bis zum Umfallen bestand.
Nur wurde alles immer kostspieliger und Vancouver war eine der teuersten Städte der Welt. Sie wollte nicht von ihrer Schwester und ihren Freunden weg, aber je länger sie sich so durchschlug, desto schwieriger wurde es, genug Geld für Essen und Benzin zusammenzukratzen. Vielleicht hatten ihre Eltern gar nicht so unrecht, aber sie wollte noch nicht aufgeben. Tante Nina lebte schließlich auch ihren großen Traum – sie war gerade in Costa Rica und rauschte eine Zipline mit einem Faultier im Arm runter oder machte irgendwas anderes Spektakuläres –, und wenn sie das schaffte, konnte Coral es auch.
Sie lächelte erneut. »Dann packen wir mal zusammen und gehen zurück zum Van. Auf mich wartet eine leckere Pizza im Slow-Cooker.«
Sie schaltete die Kamera aus und zog sich für den Rückweg ihre Laufhose und ein Kompressions-Tanktop über den noch feuchten Bikini. Als sie wieder hochschaute, merkte sie, dass das Picknick-Mädchen sie beobachtete. Ihr Vater suchte irgendwas in der Kühlbox. Sie schätzte die Kleine auf irgendwas zwischen dreizehn und sechzehn.
Coral schulterte ihren Rucksack. »Na, Lust auf den Sprung bekommen?«
»Machst du YouTube?«, fragte das Mädchen.
»Ja.«
Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihrem Vater einen bedeutungsvollen Blick zu. »Siehst du, Dad?«
Er öffnete den Mund, als wollte er sofort dagegenhalten, schenkte dann aber nur Coral einen missbilligenden Blick. »Ja, Avery, aber sie studiert wahrscheinlich und macht das nur zum Spaß.«
Avery wirkte verzweifelt, und das kam Coral nur allzu bekannt vor.
»Ich studiere nicht«, erwiderte sie. »Und meine Eltern wollten auch nicht, dass ich das mache. Also haben wir einen Deal miteinander. Auf welches Thema willst du dich denn spezialisieren, Avery?«
Der Vater rutschte unruhig auf der Decke herum und schaute zwischen ihnen hin und her. Aber Coral betrieb ihren Kanal, um sich selbst und den Leuten da draußen zu beweisen, dass man nicht nach den Vorstellungen anderer Menschen leben musste. Wenn Avery Content-Creatorin werden wollte, sollte sie es versuchen.
»Hm, Fashion.« Avery wurde rot. »Ich nähe meine Klamotten selbst.«
»Echt?« Coral musterte ihr wirklich hübsches, hellviolettes Tanktop. Auf dem Rücken hatte es eine große Schleife. »Das hast du selbst gemacht?«
Avery nickte, schielte dabei aber nervös zu ihrem Vater.
»Sieht richtig gut aus.« Allerdings wollte sie nicht die blöde Kuh sein, die elterliche Autorität untergrub, also fügte sie an den Vater gewandt hinzu: »Man muss eine Menge Arbeit reinstecken, um genug Zuschauer für sich zu gewinnen, aber Sie wären überrascht, wie viel man online verdienen kann. Auch mit Kunst kann man eine ordentliche Karriere machen.«
Der Vater zog die Augenbrauen zusammen. »Was für eine Abmachung haben Sie mit Ihren Eltern getroffen?«
Coral spielte mit dem Tragegurt ihrer Kamera. »Ich lebe das ganze Jahr über in einem umgebauten Van, den sie mir als Startkapital gekauft haben. Vorher habe ich einen Businessplan aufgestellt und wir haben vereinbart, dass ich dreißigtausend pro Jahr verdienen muss, bis ich vierundzwanzig bin. Wenn nicht, verkaufe ich den Van und arbeite für meine Eltern.«
»Dreißigtausend?« Er klang ungläubig. »Sie verdienen damit dreißigtausend Dollar pro Jahr?«
Corals Magen krampfte sich in einer Mischung aus Panik und Scham zusammen. »Noch nicht.«
Ein widerlich selbstgefälliges Lächeln umspielte seine Lippen. »Die Erwartungen Ihrer Eltern sind hoch.«
»Sie betreiben eine Autowerkstattkette und meine große Schwester studiert Betriebswirtschaft.«
»Und Sie wollten nicht ins Familiengeschäft einsteigen?«
Coral schüttelte den Kopf. Sie hatte ihr Leben lang mitangesehen, wie ihre Eltern bis zur Erschöpfung schufteten. Und Farrah war an ihrer Business School auf dem besten Weg, genauso zu enden. Sie hatte bereits eine Marketingagentur ins Auge gefasst und dort schon ein Praktikum gemacht, bei dem sie jeden Freitag bis spät abends im Büro blieb. Was sollte daran erstrebenswert sein?
»Wann wirst du vierundzwanzig?«, fragte Avery.
Coral lief ein kalter Schauer über den Rücken. »In einem Monat.«
»Meinst du, du schaffst es noch?«
Bei Averys hoffnungsvollem Ton wurde ihr ganz warm ums Herz, aber es war unwahrscheinlich. Sie würde ihr Bestes geben, angefangen mit dem spektakulären Wander-Video heute, aber im Moment verdiente sie gerade mal vierhundert Dollar im Monat. Wie man es auch drehte und wendete, sie war noch so weit von den dreißigtausend entfernt, dass sie ein Wunder brauchte, um den Deal einzuhalten.
»Hat Ihr Vater Ihnen den Van über seine Firma umbauen lassen?«, fragte der Mann.
Coral richtete sich kerzengerade auf. »Meine Eltern haben mir ein günstiges Fahrzeug über ihre gemeinsame Firma besorgt. Ich habe dann ein neues Getriebe und die komplette Inneneinrichtung selbst eingebaut.«
»Oh.« Der Mann schaute zu seiner Tochter und sein Gesicht lief rot an. »Schön für Sie. Das ist wirklich schön.«
»Danke.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und Coral nutzte die Gelegenheit, um sich wieder abmarschbereit zu machen.
»Wie heißt dein Kanal?«, fragte Avery.
Coral lächelte. »Coral Lavoies Abenteuer. Und ich halte mal die Augen nach Fashion by Avery auf?«
Avery grinste breit.
Selbst ihr Vater schmunzelte ein bisschen. »Schauen wir mal, auf was für einen Deal wir uns einigen.«
Als Carol zwei Stunden später den Parkplatz erreichte, winkte sie den Frauen zu, die ihr gegenüber in ihrem Faltcaravan campten. Sie hatten ein Stativ aufgestellt und machten offensichtlich gerade Fotos.
»Schöne Wanderung gehabt?«, fragte eine der beiden.
Coral wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Grandios! Da oben kann man sich mit einem Seil ins Wasser schwingen.«
»Ooh!« Sie tauschten einen begeisterten Blick miteinander und schmiedeten sofort Pläne, um die Tour später auch noch zu machen.
Coral war inzwischen ganz zittrig vor Hunger, also räumte sie schnell ihre vollgestellte Anrichte so weit frei, dass sie die Kamera aufstellen konnte, und filmte sich, wie sie die Pizza aus dem Slow-Cooker holte. Pesto, Ziegenkäse, Paprika, Grünkohl, Artischocken, sonnengetrocknete Tomaten und verschiedene Pilze. Lecker.
»Hmm, das sieht hervorragend aus und riecht auch so.« Sie biss vom ersten Stück ab und musste sich beherrschen, um nicht genießerisch aufzustöhnen und den Rest wie ein Höhlenmensch hinunterzuschlingen. »Wow. Das ist unglaublich lecker. Den Link zum Rezept findet ihr unten in der Info-Box. Sagt mir Bescheid, wenn ihr es ausprobiert.«
Sie aß hastig noch ein paar Bissen, die wenigen Sekunden konnte sie hinterher aus dem Video rausschneiden. Die Wanderung hatte länger gedauert als erwartet, und sie bekam es bis heute nicht hin, ihren Rucksack ordentlich zu packen.
»So, das war’s für heute. Morgen hole ich die Klimaanlage ab, die ich online bestellt habe. Die wird mir in der nächsten Zeit gute Dienste leisten. Vielen Dank, dass ihr wieder dabei wart, und ein großes Dankeschön an meine Unterstützenden auf Patreon. Wenn euch dieses Video gefallen hat, lasst mir gerne ein Like da und abonniert meinen Kanal. Bis morgen bei unserem nächsten Abenteuer!«
Sie schaltete die Kamera aus und stopfte sich ein unanständig großes Stück Pizza in den Mund. Käse und Pesto liefen ihr über die Finger und einen Moment lang war sie rundum zufrieden. Und dann wartete Arbeit auf sie, weil das Tagesmaterial noch geschnitten werden wollte.
Dieses Video musste bessere Zahlen liefern. Auch wenn sie nur ungern darauf zurückgriff, sollte sie wahrscheinlich einen Screenshot als Thumbnail nutzen, der sie im Bikini zeigte. Im Video war sie nur ein paar Minuten lang so zu sehen, aber ihr lief die Zeit davon und sie musste mit allen Tricks arbeiten, um mehr Abonnenten zu gewinnen.
Hatte sie wirklich nur noch einen Monat, bevor sie ihren Eltern einen Finanzbericht vorlegen musste? Argh. Noch dreißig Videos – das kam ihr auf einmal viel zu wenig vor. Wie sollte sie aus ihrem Zwanzigtausend-Abonnentenpool innerhalb dieser kurzen Zeit mehr Einkommen generieren? Den Deal mit ihren Eltern und damit auch ihren Van zu verlieren, war keine Option.
Sie streifte sich die Wanderstiefel von den Füßen und lehnte sich auf ihrer Sitzbank zurück, nachdem sie Kleiderstapel und Decke aus dem Weg geschoben hatte. Dieser Van war ihr Anker, ihr Zuhause, ihr Leben. Ihn zu verkaufen wäre, als würde sie eine Freundschaft beenden.
Es musste doch einen Weg geben, mehr Follower zu bekommen, mehr Klicks und mehr zahlende Abonnenten. Sollte sie sich auf die Suche nach interessanteren Kulissen machen? Was Gefährliches tun? Drama produzieren?
Die Antwort versteckte sich irgendwo. So oder so, sie würde einen Weg finden, um ihren Traum weiterzuleben.
Kapitel 2
Ruby
»Willkommen bei Achtsam leben mit Ruby Hayashi«, sagte Ruby in dem ruhigen, gelassenen Tonfall, den sie speziell vor der Kamera einsetzte. »Heute kochen wir einen veganen Kichererbseneintopf mit Kokosreis, und das Ganze servieren wir mit frischem Knoblauch-Naanbrot, das ich im Pike Place Market gekauft habe.«
Ruby stand in der Küchenecke ihres Campingbusses und bereitete sorgfältig die Zutaten des Gerichts vor, wobei sie darauf achtete, dass jede Kameraeinstellung perfekt war, bevor sie zum nächsten Schritt überging. Das Mikrofon war so positioniert, dass es jedes noch so kleine Geräusch einfing, und die Kamera so nah, dass sie den Ellenbogen beim Schneiden fest an den Körper drücken musste. Drei Ringlichter sorgten für eine gute Ausleuchtung aus jeder Perspektive.
Als Zwiebeln, Knoblauch, Ingwer, Kurkuma und Chiliflocken schließlich zusammen mit den Kichererbsen in ihrem roségoldenen Suppentopf vor sich hin dünsteten, hielt Ruby die Kamera so dicht wie möglich darüber, um Ton und Bild des Holzlöffels einzufangen, mit dem sie die Kichererbsen zerdrückte.
»Die Kokosmilch hinzufügen …« Das klang zu hastig, also atmete sie tief durch, trank einen Schluck Wasser und setzte in einem ruhigeren, wärmeren Tonfall noch einmal an. »Als Nächstes mit Kokosmilch und Gemüsebrühe ablöschen und das Ganze lassen wir köcheln, bis es eine dickere Konsistenz hat. Das sollte etwa dreißig Minuten dauern.«
Während das Curry auf dem Herd blubberte, machte sie ein paar Nahaufnahmen von ihrem Zuhause. Sie besprühte ihren Kräutergarten und filmte die Pflanzen, die sich in der Brise wiegten, die durchs geöffnete Fenster strich. Dann nahm sie Calvin auf, der zusammengerollt auf dem Bett lag, und sorgte für eine Extraportion Niedlichkeit, indem sie seine Ohren ein wenig anders hinschob. Calvin rührte sich nicht, er war es gewohnt, dass sie an ihm herumzupfte. Den Preis musste er eben dafür zahlen, dass er mit seinem hellbeigen Fell und den großen, ausdrucksvollen Augen fast schon absurd fotogen war. Sein wuchtiger Kopf und der stämmige Körperbau deuteten auf einen Pitbull-Labrador-Mix hin, aber ohne einen dieser Hunde-DNA-Tests konnte Ruby sich da nicht sicher sein.
Sie richtete die Kamera durch die geöffnete Tür und justierte die Belichtung neu, was ihr einen herrlichen Shot der Skyline von Seattle auf der anderen Seite des Wassers einbrachte. Der Wind strich durch die Baumkronen und in der Ferne hörte man andere Camper lachen. Der Abend war perfekt.
Perfekt, aber nicht gut genug, schoss ihr durch den Kopf, als wäre ihr eine nervige Stechmücke ins Ohr geflogen.
Ihr Magen krampfte sich angespannt zusammen und sie wandte sich wieder dem Herd zu. Ihr Publikum hatte sich schon beschwert, dass sie die ganze Woche über am gleichen Standort gefilmt hatte, aber sie würde sicher nicht öffentlich erklären, warum sie den Bus nicht vom Fleck bewegt hatte. Die Leute schauten ihre Videos, um sich zu entspannen und abzuschalten.
In einem oder zwei Monaten hatte sie bestimmt wieder genug Geld, um das Getriebe reparieren zu lassen. Sie musste ihre Abonnenten nur so lange bei der Stange halten.
Sie kümmerte sich um Calvins Abendessen und filmte ihn beim Fressen. Seine königlichen Mahlzeiten bestanden aus rohem, ethisch vertretbarem tierischem Protein, frischem Obst und Gemüse und Vitaminpulver. Er fraß langsam und schien sein Futter immer zu genießen – und war damit Ruby sehr ähnlich. Als er fertig war, folgte sie ihm mit der Kamera auf seiner Schnüffelrunde über den Campingplatz. Ihre Zielgruppe bestand darauf, dass er in jedem Video mindestens ein paar Minuten lang zu sehen war, und wenn sie ihn nicht lange oder oft genug zeigte, löste das gerne mal eine Revolte in ihren Kommentaren aus.
Dass die Leute ihren besten Freund so liebten, ging ihr runter wie Öl. Er hatte seinen persönlichen Fanklub wirklich verdient. Als sie mit zweiundzwanzig in den umgebauten Van gezogen war, hatte sie Calvin aus einem Tierheim adoptiert – das war auch schon wieder drei Jahre her. So viel Loyalität wie von ihm hatte sie noch nie erlebt. Er kuschelte und spielte gerne, war klug und ein hervorragender Bodyguard, der perfekt in ihr Leben als Einzelgängerin passte. Über seine Vergangenheit war nichts bekannt, aber er schreckte bei plötzlichen Bewegungen zusammen und mied Fremde, was Ruby sagte, dass er keine guten Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte. Vom ersten Tag an war sie fest entschlossen gewesen, das doppelt und dreifach bei ihm wiedergutzumachen. Was machte es schon, wenn er fremden Leuten gegenüber misstrauisch war und Männer gerne mal anknurrte? Letztere gab es in Rubys Leben nicht und würde es wahrscheinlich auch nie geben, und ihr war es nur recht, wenn sich keine Fremden in ihrer Nähe herumtrieben. Calvin und sie waren Seelengefährten, so viel stand fest.
Sie widmete sich wieder ihrem köchelnden Kichererbsen-Eintopf, der inzwischen so gut roch, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Kurz vor Ende der Kochzeit fügte sie noch frischen Spinat hinzu und wartete, bis er zusammengefallen war, bevor sie das Ganze auf dampfendem Reis mit dem Naan anrichtete.
Dann brauchte sie noch ein paar Minuten, um die Beleuchtung für das Thumbnail-Foto zu perfektionieren. Als sie sich das Essen schließlich schmecken lassen konnte, war es immer noch heiß, was bei Weitem nicht immer der Fall war. Und es schmeckte so gut, wie es roch.
»Das war ein voller Erfolg«, sagte sie in die Kamera. »Vielen Dank fürs Zuschauen und schaut gerne auf meiner Patreon-Page vorbei, wenn euch das Rezept interessiert oder ihr Interesse an zusätzlichem Content habt. Hat euch dieses Video gefallen? Dann lasst mir gerne ein Like da und abonniert den Kanal. Und wie immer: Schreibt mir in die Kommentare, wenn ihr ein tolles Rezept findet, das ich ausprobieren soll. Lebt weiter achtsam und wir sehen uns beim nächsten Mal.«
Sie lächelte und schaltete die Kamera ab, bevor sie zu Calvin schaute. »Danke, dass du so ein lieber Junge warst, während ich gefilmt habe. Möchtest du Nachtisch?«
Sie griff nach Calvins Keksdose, als der Hund seine großen, glänzenden Augen auf sie richtete. In ihnen spiegelten sich die Lichterketten, die an der Decke hingen. Wenn er sie so voller Ehrfurcht ansah, stellte sie sich immer vor, dass er sich opponierbare Daumen wünschte, damit er die Keksdose selbst öffnen konnte.
Nach dem Essen filmte sie noch das Aufräumen und ging dann mit ihrem Journal, Stativ und Calvin hinunter zum Strand, um ein paar Aufnahmen von den Wellen zu machen, die ans Ufer rollten.
Annie und Parm waren da, zwei befreundete YouTuber, die den Campingplatz auf ihre Empfehlung hin ausprobierten. Sie waren Ende zwanzig und lebten als Paar gemeinsam in einem umgebauten Rettungswagen. Seit Ruby ihnen im vergangenen Jahr dabei geholfen hatte, ihr Fahrzeug aus dem Tiefschnee auszugraben, wurde sie die beiden nicht mehr los.
Sich ab uns zu mit ihnen zu treffen, war schon in Ordnung. Eigentlich war Ruby lieber allein unterwegs, aber es war auch schön, sich mit anderen Leuten aus der Vanlife-Community auszutauschen.
»Was geht, Rubes?«, fragte Parm.
»Wahrscheinlich das Gleiche wie bei euch.« Sie hielt ihr Stativ hoch. »Geh spielen, Calvin.«
Der Hund trottete bis zur Brust ins Wasser und hielt nach Fischen Ausschau.
Annie zog einen imaginären Reißverschluss über ihrem Mund zu und bedeutete Ruby, ihr Video zu machen.
»Schon okay. Ich habe Zeit.« Seufzend ließ Ruby sich neben den beiden auf dem Stück Treibholz nieder, auf dem sie saßen.
Manchmal war es wirklich anstrengend, den ganzen Tag über zu filmen. Deswegen hatte sie irgendwann umgestellt und drehte jetzt nur noch abends, um den Rest des Tages die Kamera weglegen und einfach leben zu können. Trotzdem ertappte sie sich immer wieder dabei, auch dann über interessante Shots nachzudenken.
»Habt ihr heute gefilmt?«, fragte sie.
Annie nickte. »Wir haben den neuen Kühlschrank nicht richtig eingebaut und uns sind deswegen ein Haufen Lebensmittel schlecht geworden.«
»Und eine Maus ist durch ein Loch im Boden reingekommen, das mussten wir auch noch flicken«, fügte Parm hinzu.
»Mist«, erwiderte Ruby. »Das tut mir leid.«
»Schon okay«, meinte Annie gut gelaunt. »Hat Drama ins Video gebracht.«
Annie und Parm schienen Katastrophen magisch anzuziehen. Für gewöhnlich komplett vermeidbare Katastrophen. Ruby hatte letzten Winter aufhören müssen, ihren Kanal zu verfolgen, weil es ihrem Stresslevel nicht gutgetan hatte, als die beiden ein Video gepostet hatten, in dem sie in einem Schneesturm festsaßen, ohne Winterreifen, Schneeketten, eine Schaufel oder auch nur vernünftige Isolierung in ihrem Van.
Aber das hatte ihnen eine Menge Klicks eingebracht, und dass die beiden das alles auf einer öffentlichen Plattform mit der Welt teilten, beeindruckte Ruby jedes Mal wieder.
Sie lächelte. »Manchmal frage ich mich, ob ich mit meinem Videostil vielleicht ein bisschen in eure Richtung gehen sollte.«
»Was, von einem Unglück ins nächste stolpern?«, fragte Parm.
»Einfach … offen. Ehrlich«
Rubys Stil kam offensichtlich gut an – sie betrieb einen der beliebtesten Vanlife-Kanäle auf YouTube und hatte schon Preise dafür bekommen –, aber ab und zu fühlte es sich an, als würde sie ihre Zuschauer belügen. Sie konnte nicht über ihren kaputten Bus oder die Geldsorgen sprechen, weil das das perfekte Image ruinieren würde, das sie sich aufgebaut hatte. Sie hatte so hart gearbeitet, um all ihre Videos mit der japanischen Herangehensweise zu filmen, die sie früher immer mit ihrem Vater konsumiert hatte – einfach, minimalistisch, ästhetisch ansprechend, mit langen Pausen, damit die Leute Zeit hatten, die visuellen Eindrücke zu genießen. Auf ihrem Kanal konnten die Leute dem Alltag entfliehen, sich in einem Campingbus mit einem niedlichen Tierschutz-Hund und ethisch einwandfreiem, leckerem Essen einkuscheln. Chaos und Technikversagen hatte hier keinen Platz. Nicht in ihrem Van, nicht auf ihrem Kanal, nicht in ihrem Kopf.
»Ach Rubes, ich glaube nicht, dass irgendwer online komplett ehrlich ist«, meinte Parm. »Bei dir sind die Alltagsprobleme des Aussteigerlebens kein Thema, aber wir machen ständig aus einer Mücke einen Elefanten, um mehr Klicks zu bekommen. Niemand auf Social Media zeigt immer alles. So läuft das halt.«
»Stimmt schon.«
Aber Annies und Parms Abonnentenzahlen waren nicht rückläufig. Und sie bekamen auch keine Kommentare, in denen ihre Videos als eintönig bezeichnet wurden.
Ruby erzählte immer nur die halbe Wahrheit und vielleicht funktionierte das langsam nicht mehr? Sollte sie etwas an ihrer Herangehensweise ändern?
Annie kniff die Augen ein wenig zusammen. »Hast du eine Online-Identitätskrise?«
»Ein bisschen vielleicht.« Ruby rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Werden meine Videos langweilig?«
Ihre Freunde starrten sie mit offenen Mündern an.
»Schatz, du hast fast eine Million Abonnenten«, sagte Annie. »Niemand findet dich langweilig.«
»Aber ich poste seit drei Jahren jeden Tag die gleiche Art Videos. Sollte ich mal was Neues ausprobieren?«
»Nicht, wenn es funktioniert«, sagte Parm.
»Hm.« Genau das war das Problem. Es funktionierte nicht mehr. Ihr Kanal zog keine neuen Zuschauer an, was essenziell war, weil er ihre einzige Einnahmequelle darstellte. Und nachdem das Getriebe des Vans aktuell klang, als hätte man einen Schraubenzieher in einen Mixer geworfen, brauchte sie dringend mehr Einnahmen.
Aber wie sollte sie mehr Abonnenten und Klicks generieren? Sollte sie damit anfangen, ihre Probleme bei ihrem Publikum abzuladen und das als spannend zu verkaufen?
Nein. Sie war noch nicht bereit, ihr Privatleben vor der Kamera auszubreiten. Die unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrer Zielgruppe war gut.
Vielleicht sollte sie einfach eine neue Richtung einschlagen. Es musste doch noch mehr geben, das sie in ihren Videos umsetzen konnte, oder?
»Wir müssen uns noch was zu essen machen, also überlassen wir dich jetzt mal deinem Video, bevor es zu dunkel wird«, sagte Annie und klopfte ihrem Freund aufs Knie.
»Ja und dazu muss ich erst die Bratpfanne reparieren«, meinte Parm. »Der Griff ist heute Morgen abgebrochen.«
»Oh. Das hatte ich ganz vergessen.«
Sie standen auf.
»Viel Spaß«, sagte Ruby.
»Ach, bevor ich’s vergesse: Wir fahren morgen mit den Kajaks raus, komm gerne mit, wenn du Lust hast«, sagte Annie. »Hier in der Gegend soll sich eine Gruppe Orcas herumtreiben, nach denen wollen wir Ausschau halten.«
»Aus sicherer Entfernung«, schob Parm hinterher.
Ruby lächelte. »Danke. Ich schau mal, ob mir morgen danach ist.«
Das war unwahrscheinlich – und die beiden wussten das wohl auch. Sie konnte nicht besonders gut schwimmen und war noch nie jemand gewesen, der sich in ein Kajak setzte und mit der Kamera Killerwale jagte. Außerdem: Wer sagte ihr, dass die Kajaks nicht auch Löcher hatten?
Als die beiden sich zu ihrem Camper aufmachten, drehte Calvin sich zu Ruby um und senkte den Kopf, während er langsam mit dem Schwanz wedelte.
»Oh, den Blick kenne ich.« Ruby erhob sich, ließ die Kamera aber auf dem Boden liegen. »Du willst dich mit mir anlegen?«
Calvin senkte verspielt den Oberkörper auf den Boden, und einen Moment lang starrten sie sich in die Augen. Dann ging Ruby abrupt in die Hocke, was Calvin enthusiastisch am Ufer entlangsprinten ließ.
Lachend schaute sie dabei zu, wie ihr Hund bellend im Kreis rannte, immer schneller, bis er nur noch ein verschwommener Blitz aus Pfoten, heraushängender Zunge und flatternden Ohren war.
Das war das Leben, das sie führen wollte, und sie konnte es nicht aufgeben. Sie hatte Calvin, Freunde, die Natur und konnte ihr Haus abstellen, wo immer sie wollte.
Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, ihren Kanal am Leben zu halten, damit sie dieses Leben weiterführen konnte.
Kapitel 3
Coral
Coral stellte ihren Van um die Mittagszeit in Kitsilano ab. Der Strand war voller Menschen und an verschiedenen Stellen wurde Volleyball gespielt. Sie öffnete die Schiebetür an der Seite und ließ ihre Zuschauer an jedem ihrer Schritte teilhaben.
»Ich treffe mich mit meiner Schwester Farrah und verbringe heute ein bisschen Zeit mit ihr am Strand. Die studiert an der UBC, deswegen ist Kits Beach unser Lieblingsspot.« Sie drehte die Kamera um, um ihrem Publikum den von zahlreichen Menschen bevölkerten Grasstreifen, den Weg und den Sandstrand dahinter zu zeigen.
»Coral!«
Sie drehte sich um und entdeckte Farrah, die gerade aus dem Starbucks auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam.
Coral winkte ihr zu. »Da ist sie!«
Farrah wackelte mit den beiden Iced Coffees und führte auf dem Fußgängerüberweg einen kleinen Freudentanz auf. Sie trug Jeansshorts und ein weißes Shirt aus so dünnem Stoff, dass man das neongrüne Bikini-Oberteil darunter sah. Ihre blonden Haare hatte sie in einem Pferdeschwanz zusammengefasst und der Ansatz musste ganz dringend nachgefärbt werden – sie hatte in ihrem Abschlussjahr nicht viel Zeit für Dinge wie Friseurbesuche und Selfcare.
»Ich wollte die für uns besorgen«, meinte Coral, als sie ihren Kaffeebecher entgegennahm.
»Schon okay. Ich habe letztes Wochenende bei einer Benefizveranstaltung meiner Fakultät einen Gutschein gewonnen.«
»Cool. Danke.«
»Du willst also meinen Rat? Komm, ich teile meine genialen Erkenntnisse aus dem Business-Studium mit dir, alle Weisheiten und …«
»Okay, immer mit der Ruhe«, neckte Coral sie. Sie schaltete die Kamera aus, weil sie den wahren Grund für das Treffen mit ihrer Schwester nicht öffentlich machen wollte. Sie verbrachten den Nachmittag miteinander, mehr mussten ihre Zuschauer nicht wissen.
Nachdem sie einen freien Platz im Gras gefunden hatten, breiteten sie eine Decke aus und machten es sich darauf bequem. Coral zog sich das Top aus und legte sich im Bikinioberteil auf den Bauch. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie auch multitasken und an ihrer Sonnenbräune arbeiten. Farrah tat es ihr gleich, jammerte aber darüber, wie blass sie im Vergleich zu Coral war, weil sie kaum Zeit draußen verbringen konnte. Um sie herum wurde gegrillt und der Geruch umfing sie genau wie die Musik, die überall gespielt wurde. Ein paar Jungs spielten gefährlich nah über den Köpfen der Leute mit einem Baseball.
Ein Besuch in der Stadt war nett, aber manchmal fühlte sich hier alles ein bisschen zu eng und zu voll an. Noch eine Bestätigung für Corals Entschluss, ihr Leben auf vier Rädern zu verbringen.
»Okay.« Coral klappte ihren Laptop auf. »Hilfe. Ich brauche bis Ende des Monats Geld, sonst schulde ich Mom und Dad einen Van.«
»Dann gefällt dir das Leben als Nomadin immer noch?« Farrah schob sich die Sonnenbrille in die Haare und gab so den Blick auf ihre Augenringe frei. Jedes Mal, wenn Coral sie sah, wirkte sie noch erschöpfter – aber zum Glück hatte der Studienstress ihrer strahlenden Persönlichkeit nichts anhaben können.
»Aber so was von.«
»Überrascht mich nicht. Weiß du noch, als du dieses Wochenende im Baumhaus verbracht hast?«
Coral lachte. »Weißt du noch, als du dein Zimmer in einen Laden verwandelt hast und wir alle Süßigkeiten und Bücher von dir kaufen mussten?«
»Wir wussten damals schon, wozu wir bestimmt sind.«
Coral ließ den Kopf nach vorn sinken und drückte die Nase gegen die Decke. »Wenn ich jetzt nur noch genug Geld verdienen würde, um meine Bestimmung zu finanzieren.«
Farrah zog den Laptop zu sich. »Ich kann mir deine Finanzen anschauen und dir beim Marketing helfen, aber ich weiß ehrlich nicht, wie viel dir das bringt. Einen Hashtag Vanlife-Kurs gibt es in meinem Studiengang leider nicht.«
Coral hob den Kopf. »Schon okay. Ich brauche nur jemanden zum Brainstormen.«
»Womit verdienst du im Moment Geld?«
»YouTube, Patreon, Affiliate-Links, Merchandise, Werbeeinnahmen …«
»Kannst du mir mal zeigen, was andere Vanlifer so machen? Wer kommt am besten an?«
Da gab es ein paar, aber ein Name fiel ihr sofort ein. Diese Frau hatte Coral schon seit einer Weile im Auge, sie war gleichzeitig ihr Idol und ihre Erzfeindin, je nach Tagesform – manchmal war Coral inspiriert und manchmal einfach nur neidisch.
»Ruby Hayashis Kanal läuft richtig gut.« Coral klickte sich zu ihrer YouTube-Seite durch. »Sie fährt ein ganz anderes Konzept als ich und konzentriert sich auf einen sehr minimalistischen Ansatz. Ich glaube nicht, dass ich sie schon mal wandern gesehen habe.«
Sie wählte das erste Video der Übersicht aus und Rubys wunderschönes Gesicht tauchte auf dem Bildschirm auf. Corals Magen zog sich in einer merkwürdigen Mischung aus Bewunderung und Neid zusammen, die ihr inzwischen sehr vertraut war. Ruby war nicht nur wahnsinnig hübsch, sondern auch ein Genie in der Gestaltung ihrer Online-Präsenz. Außerdem machte sie interessante Videos, war humorvoll und offensichtlich auch noch eine tolle Köchin. Was konnte diese Frau eigentlich nicht?
Farrah drehte die Helligkeit des Laptops ein wenig höher. »Ach du Schande, schau dir diesen Bus an.«
»Ich weiß«, grummelte Coral.
Rubys Van war ihrem recht ähnlich – ein Bett im hinteren Teil, die Küche auf einer Seite, eine Essecke mit Bank auf der anderen, ein Haufen Schränke und Schubladen für optimalen Stauraum. Da sie Rubys Van-Tour gesehen hatte, wusste Coral außerdem, dass es unter dem Bett einen Toiletteneimer gab – ein Luxus, den man sich gönnen sollte – und keine Dusche, also war sie für ihre Körperpflege ebenfalls auf Campingplätze und Fitnessstudios angewiesen. Da endeten jedoch die Ähnlichkeiten ihrer Busse auch schon wieder. Der Aufbau war spiegelverkehrt, weswegen Coral von der Seitentür aus auf die Bank schaute, und Ruby auf die Küche. Auch ihre Inneneinrichtung unterschied sich sehr voneinander. Coral war praktisch veranlagt, hatte überall Wanderausrüstung herumliegen und schätzte den Dachständer für ihr Paddleboard sehr. Rubys Geschmack war durch und durch ästhetisch, sie hatte alles in Cremetönen mit Holzakzenten gestaltet, hübsche Sukkulenten an der Wand und ein Obstnetz. Ihre Ausrüstung verstaute sie in Flechtkörben, ihre Schubladen hatten roségoldene Griffe, es gab Lichterketten und die Bettwäsche war weiß mit einem schicken schwarzen, geometrischen Muster.
»Soll ich meinen Van mehr in ihre Richtung gestalten?«, fragte Coral, auch wenn sie schon allein die Vorstellung an einen Umbau frustrierte.
Farrah neigte den Kopf zur Seite. »Du kennst den Markt besser als ich, aber so wie du dich positioniert hast, mögen deine Zuschauer deine praktische Ader wohl lieber als ästhetisch ansprechende Gestaltung.«
»Ja. Das stimmt. Aber wenn es nicht an der Ästhetik liegt, was hat Ruby Hayashi dann, das mir fehlt?«
Farrah klickte auf Rubys Kanalinfo und deutete auf das Datum. »Also zum einen macht sie das schon länger als du.«
»Aber tägliche Videos postet sie erst seit Kurzem. Ich produziere mehr Content als sie.«
Farrah klickte auf das neueste Video. »Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass sie deutlich mehr Finesse hat als du.«
Coral wollte protestieren, aber es ließ sich nicht leugnen. Rubys Videos waren absolut perfekt. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt – das Licht, das Geschirr, ihre Musikauswahl, der Schnitt und unzählige andere Dinge.
»Welche Software sie wohl benutzt?«, überlegte Coral.
»Das ist vielleicht gar nicht so sehr von Bedeutung. Sie hat eine Blaupause für Erfolg. Schau dir mal an, wie sie sich bewegt. Selbst das ist ansprechend fürs Auge.«
Da hatte sie absolut recht. Ruby sah mit ihren vollen Lippen, den hohen Wangenknochen, dunklen Augen und den seidig schwarzen Haaren aus, als wäre sie für ein Leben vor der Kamera geboren. Sie war schlank und elegant und bewegte sich in ihrer kleinen Küchenecke mit der Grazie einer Ballerina. Ihre Stimme klang wie flüssiger Honig und wahrscheinlich hatte sie dafür professionellen Sprechunterricht genommen.
»Und sie hat einen süßen Hund«, fuhr Farrah fort. »Ist das ein niedliches Knutschgesicht.«
»Calvin.« Coral seufzte sehnsüchtig. Der Hund zog die Leute in Scharen zu ihrem Kanal. Beim Anblick seiner riesigen Augen, den kleinen Schlappohren und dem breiten Grinsen vermisste sie jedes Mal Oliver, den Labrador, mit dem sie aufgewachsen war.
»Ich könnte ja mal versuchen, Rubys Ideen nachzumachen«, sagte Coral, war aber selbst von der Idee nicht überzeugt. »Es ist wohl eine Kombination aus all diesen Elementen, die sie so erfolgreich macht, oder? Helles Licht, Roségold und Holz, Pflanzen, beruhigende Stimme, süßer Hund, künstlerische Nahaufnahmen …«
»Aber das bist nicht du. Ich glaube, du musst dir selbst treu bleiben.«
»Und was soll ich dann machen? Wie kriege ich so viele Follower …« Sie deutete auf die Zahl auf dem Bildschirm. »… mit dem Leben in meinem Van und auf Wanderungen, ohne perfekt aussehende Sachen zu kochen?«
Sie schwiegen eine Weile, während die Leute um sie herum sich Baseballs zuwarfen und nervige Mini-Partys an ihren Grills feierten. Inmitten so vieler Menschen, die ihr alle viel zu nah auf die Pelle rückten, fiel ihr das Denken schwer.
Sie öffnete einen neuen Tab. »Ich zeig dir mal noch ein paar andere Kanäle, vielleicht erkennen wir ja ein Muster.«
Sie schauten noch ein paar Videos, fanden aber keinen offensichtlichen gemeinsamen Nenner und schließlich suchte Farrah einen anderen Ansatz. »Ich habe eine Idee. Weißt du noch, als Mom und Dad eine Marketingagentur ins Boot geholt haben, um das Unternehmen bekannter zu machen? Vielleicht könntest du einen Teil deiner Einnahmen in was Ähnliches investieren. In Werbung und Publicity.«
Coral brummte nachdenklich. »Ich weiß nicht, ob Werbung schalten wirklich was bringt.«
»Wie promoten denn andere ihre Kanäle? Kommst du vielleicht in einen Podcast rein?«
Coral setzte sich im Schneidersitz auf, als Farrahs Fragen sie auf eine Idee brachten. »Hey, wie wäre es, wenn ich mich mit jemandem zusammentue, der größere Reichweite hat? Andere Creator machen so was manchmal. Sie tauchen wechselseitig in Videos auf, machen zusammen Roadtrips, bewerben die Kanäle der anderen … Ich könnte mir jemanden für eine Cross-Promotion suchen.«
Farrah zog die Augenbrauen nach oben. »Ooh, das klingt gut.«
»Die Frage ist nur: Wer? Ich sollte mir jemanden suchen, der die gleiche Zielgruppe hat wie ich, oder?«
»Oder genau das Gegenteil.«
Coral kniff die Augen ein wenig zusammen. »Ach ja? Warum?«
»Du steckst in deiner Nische in einer Sackgasse, also musst du dir eine neue suchen. Du brauchst neue Zuschauer.«
»Okay. Siehst du, genau dafür brauche ich dich.« Coral klickte sich durch die Dutzenden von offenen Tabs in ihrem Browser. Eine YouTuberin hob sich von allen anderen ab, wie sie es schon immer getan hatte. Sie war besser als die anderen, charismatisch, schön und ja, beliebter. Eine Partnerschaft mit ihr wäre ein Traum für jeden Creator.
Corals Puls beschleunigte sich bei der Vorstellung, ihr eine E-Mail zu schreiben. Es war schon echt unwahrscheinlich, dass das klappte.
»Ich frage mal bei Ruby an.« Hitze stieg ihr in die Wangen, weil sie sich dabei so dreist vorkam.
»Ruby? Dieser Ruby?« Farrah deutete auf den Bildschirm. Ihre Überraschung war nicht gerade ein Boost für Corals Selbstbewusstsein.
Ja, mir ist schon klar, dass sie weit außerhalb meiner Liga spielt. Aber fragen kann man ja mal?
»Mir ist schon klar, dass sie ablehnen wird«, gab Coral zu. »Aber ich muss ja irgendwo anfangen, oder?«
»Eine Zusammenarbeit mit ihr wäre definitiv gute Werbung …« Farrah zog ein Gesicht, das eher auf Skepsis hindeutete.
Plötzlich trat jemand zu ihnen. Sie verstummten abrupt.
»Hi, habt ihr vielleicht Lust, mit uns zu grillen?« Neben ihnen stand ein großer Asiate mit breiten Schultern und mehr Bauchmuskeln als physiologisch möglich schien. Auf seiner Brust war nirgendwo auch nur ein Haar zu entdecken. Er deutete hinter sich, wo etwa ein Dutzend Männer und zwei Frauen Mitte zwanzig um einen Campingtisch mit Essen saßen.
»H-hi«, gab Farrah atemlos zurück, schien dann jedoch zu merken, was sie da machte. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und schenkte ihm ein freches Lächeln. »Leg noch was zu trinken drauf und ich bin dabei.«
Er richtete sich grinsend ein bisschen mehr auf. »Cool.«
Coral hüstelte leise, woraufhin Farrah ihr einen schuldbewussten Blick zuwarf.
»Ich meine … wir haben gerade noch was zu tun, aber wir können ja nachher zu euch rüberkommen?«
Der Kerl nickte. »Klar, gerne. Wir sind noch eine Weile da.«
Farrah schaute ihm sehnsüchtig hinterher.
»Du sabberst«, murmelte Coral und klickte auf Rubys Kanalinfo.
»Total okay, wenn du nicht mitkommst. Ich will dich ja nicht foltern.«
»Vielleicht hat ja einer von denen eine lesbische Schwester.«
»Mit der Frage können wir uns ja dann vorstellen.«
Coral lachte. Auf Rubys Infoseite angekommen hielt sie mit wild klopfendem Herzen kurz inne.
»Da wäre noch eine Frage«, sagte Farrah. »Ich verstehe, wie es deinem Kanal hilft, wenn du mit Ruby Hayashi zusammenarbeitest. Aber was hat sie davon? Wie willst du ihr die Sache schmackhaft machen?«
Coral zupfte einen losen Faden aus der Decke. »Es … macht Spaß?«
Farrah drehte sich auf den Rücken, damit ihre Vorderseite auch noch ein bisschen Farbe abbekam, und setzte sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase. »Du kannst viele Sachen richtig gut und Geschäftsideen verkaufen ist eine davon. Deswegen bist du jetzt hier und nicht an der Uni, wie Mom und Dad für dich geplant hatten.«
»Du meinst, ich soll es als professionelles Angebot formulieren?«
»Sie ist offensichtlich intelligent und gut in dem, was sie tut. Wahrscheinlich erregst du ihre Aufmerksamkeit am ehesten, indem du deinen Wert für sie unter Beweis stellst.«
Coral nickte. »Okay. Das ist eine gute Idee.«
Ihr Blick blieb an Rubys E-Mail-Adresse hängen.
Für geschäftliche Anfragen.
Das traf hier wohl zu.
Farrah drehte Coral das Gesicht zu und öffnete die Augen. »Ich habe vollstes Vertrauen in dich, Schwesterchen, und ich weiß, dass du einen Weg finden wirst, um weiter in einem Van zu wohnen, wenn es das ist, was du willst. Aber nehmen wir mal an …« Sie verstummte und suchte offenbar nach den richtigen Worten.
»Du fragst dich, was ich mache, wenn ich nicht genug Geld verdienen kann.«
»Ja.« Farrah schürzte die Lippen und schien ein schlechtes Gewissen zu bekommen. »Hast du einen Plan B?«
»Darüber denke ich nach, wenn es nicht zeitnah besser läuft.« Coral musterte das Gesicht ihrer Schwester. Nachdem sie Farrahs Studium hautnah mitbekam, hatte sie noch weniger Lust, das selbst zu durchlaufen.
»Du musst dir ja nicht gleich einen Beruf aussuchen, den du bis in alle Ewigkeit weitermachst. Mach das, was sich jetzt richtig für dich anfühlt, bis sich ein neuer Job für dich ergibt.«
Coral nickte. »Gerade mag ich mein Leben sehr. Ich bin vielleicht ein bisschen pleite, aber sehr zufrieden. Ich habe meine Freiheit. Ich kann jeden Tag ein anderes Abenteuer erleben. Das ist mir gerade mehr wert als alles andere.«
»Und wie wäre es mit einem Nebenjob? Als Freelancerin arbeiten? Etwas Handgemachtes auf Etsy verkaufen?«
Coral schüttelte den Kopf. Andere Einkommensquellen hatte sie schon geprüft, aber alles nahm ihr wertvolle Zeit weg, die sie darauf verwenden konnte, ihre Vanlife-Präsenz weiter auszubauen. »Ich will alle Zeit und Energie in meinen Kanal stecken. Dieser Job ist genau das, was ich mit meinem Leben anfangen will.«
Farrah zögerte kurz. »Okay.«
Coral stutzte, weil sie nicht wusste, wie sie das Zögern interpretieren sollte. Glaubte Farrah wirklich an sie oder sagte sie das nur so?
»Die Uni zahlt sich am Ende echt aus«, sagte Farrah. »Es sind ein paar Jahre richtig harte Arbeit, aber dann bekommst du damit einen guten Job mit gutem Gehalt.«
»In einem Büro.«
»Bürojobs haben auch ihre Vorteile und viele Pluspunkte.«
»Ich will nicht …« Coral schnaufte genervt, versuchte aber, den bissigen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich denk drüber nach.«
Farrah atmete erleichtert auf. Sie verteidigten beide ihre Zukunftspläne – und vielleicht hatte sich Coral in der Vergangenheit auch schon mal negativ über die ihrer Schwester geäußert.
»Du könntest ein Handwerk lernen«, meinte Farrah.
»Lass es gut sein, okay? Im Moment konzentriere ich mich voll und ganz auf das hier. Einen Plan B kann ich mir später immer noch überlegen.«
Farrah schwieg und schloss die Augen, um noch ein bisschen an ihrer Bräune zu arbeiten.
Coral kopierte Rubys E-Mail-Adresse aus der Infoübersicht.
»Du kannst gerne zu diesen Kerlen rübergehen«, sagte Coral. »Ich komme gleich nach.«
Farrah setzte sich auf und strich sich die Haare glatt. »Klingt gut. Sehe ich okay aus?«
Coral tat, als würde sie entsetzt vor ihrem Anblick zurückzucken. »Iih. Reagierst du gerade auf irgendwas allergisch?«
Farrah versetzte ihr einen kleinen Stoß mit dem Ellenbogen und stand auf. Während sie zu der Gruppe rüberschlenderte, öffnete Coral eine leere E-Mail. In ihrer Brust breitete sich ein nervöses Kribbeln aus, während sie Rubys Adresse ins Empfängerfeld einfügte und dann die Nachricht tippte.
Kapitel 4
Ruby
Schweißgebadet schleppte Ruby ihren mit Einkäufen gefüllten Rucksack nach Hause und das war der Moment, in dem sie einsehen musste, dass ihr nicht fahrbarer Van ein Problem auf mehreren Ebenen darstellte. Das kaputte Getriebe gefährdete ihr Zuhause, ihr Transportmittel und ihr Einkommen.
Im Moment war die größte Schwierigkeit jedoch die fehlende Mobilität. Ihr Van war nicht gerade an einem günstigen Ort liegen geblieben. Ja, sie stand auf einem Campingplatz, brauchte zu Fuß aber eine Stunde bis zum nächsten Supermarkt und dafür zahlte ihr Rücken gerade den Preis.
Zurück bei ihrem Bus fing Calvin drinnen an zu bellen, als er ihre Schritte auf dem Kies hörte.
»Hey Kumpel. Ich bin’s nur.«
Sie ließ ihn nicht gerne hier zurück, aber ihn vor einem Supermarkt anzubinden, wäre noch schlimmer. Der Van besaß immerhin eine Klimaanlage, und der Hund hatte es bequem.
Sie öffnete die Tür und er begrüßte sie begeistert winselnd und sprang an ihr hoch, als hätte er sie eine Woche lang nicht gesehen.
»Hi, hi, hi! Ich hab dich auch vermisst.« Sie stellte den Rucksack und die Taschen ab und kraulte ihm mit beiden Händen den kräftigen Hals, während sich sein ganzer Körper beim Schwanzwedeln mitbewegte. »Ich habe die Erdnussbutter mitgebracht.«
Sie verräumte die Einkäufe und ließ sich dann aufs Bett sinken. Calvin sprang zu ihr hoch, begeistert von der spontanen Gelegenheit zum Kuscheln.
»Hmpf.« Sie drückte den Hund fest an sich und schmiegte das Gesicht an seinen Hals. »Ich glaube, wir müssen den Van woanders hinbringen, Calvin.«
Theoretisch fuhr er noch, aber das Automatikgetriebe hatte sich im ersten Gang festgefressen, was bedeutete, dass sie nur mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf dem Seitenstreifen entlangrollen konnte. Würde sie dafür einen Strafzettel kassieren?
Das Risiko würde sie wohl eingehen müssen. Einen Abschleppdienst konnte sie sich nicht leisten.
