Ice Massacre - Tiana Warner - E-Book

Ice Massacre E-Book

Tiana Warner

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Beschreibung

Mutige Kriegerinnen und tödliche Meerjungfrauen. Eine sapphische Friends-to-Enemies-to-Lovers-Fantasy voller dunkler Geheimnisse, spannender Action und intensiver Gefühle. Auf der Insel Eriana Kwai sind Meerjungfrauen der Feind. Sie belagern die Küste und bringen Tod und Verzweiflung über die Inselbewohner. Jedes Jahr ziehen Krieger in ein blutiges Massaker, doch keiner kehrt zurück. Nun sollen Kriegerinnen ihr Glück versuchen – immun gegen die tödlichen Verlockungen des Meeres. Die achtzehnjährige Meela hat ihren Bruder bereits an das Massaker verloren und ist eine der Kriegerinnen. Von Rachedurst getrieben, stellt sie sich dem Kampf, doch sie hütet ein gefährliches Geheimnis: Als Kind war sie mit einer Meerjungfrau befreundet. Als sich ihre Wege während des Massakers kreuzen, verschwimmen die Grenzen zwischen Feind und Freund auf schmerzhafte Weise. Kann Meela ihrem Herzen folgen, selbst wenn es bedeutet, alles zu riskieren, woran sie jemals geglaubt hat? In einer Welt voller Hass und dunkler Geheimnisse muss sie sich entscheiden: Kämpfen oder Vertrauen? Ihre Wahl wird nicht nur ihr Schicksal bestimmen, sondern das der ganzen Insel. Inhaltswarnung:Ice Massacre: Im Schatten der Tiefe enthält Themen und Szenen, die im Kontext eines fiktiven Krieges stehen. Diese Darstellungen können emotional belastend wirken. Auf der Buchdetailseite des Verlages findet ihr eine detaillierte Inhaltswarnung.

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Inhaltswarnung

Über Tiana Warner

Von Tiana Warner außerdem lieferbar

 

Prolog: Irgendwo auf dem Pazifik

Kapitel 1: Morgen

Acht Jahre zuvor

Kapitel 2: Geheime Treffen

Kapitel 3: Tiefe Gewässer

Kapitel 4: Heimkehr

Kapitel 5: Konsequenzen

Kapitel 6: Die Verwüstung

Kapitel 7: Eine mitternächtliche Begegnung

Kapitel 8: Strategiewechsel

Das Massaker

Kapitel 9: Die Bloodhound

Kapitel 10: Mormeln

Kapitel 11: Blut und Fleischfresserinnen

Kapitel 12: Piratendemokratie

Kapitel 13: Kyaano

Kapitel 14: Captain Dani

Kapitel 15: Anniths Loyalität

Kapitel 16: Der Geheimplan

Kapitel 17: Tanz der flackernden Lichter

Kapitel 18: Ins Netz gegangen

Kapitel 19: Anarchie

Kapitel 20: Das schwarze Mahl

Kapitel 21: In die Tiefe

Kapitel 22: Die Zelle

Kapitel 23: Von der Zelle in die Traufe

Kapitel 24: Adaros Forderung

Kapitel 25: Gaawhist

 

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

 

Über das Buch

Mutige Kriegerinnen und tödliche Meerjungfrauen. Eine sapphische Friends-to-Enemies-to-Lovers-Fantasy voller dunkler Geheimnisse, spannender Action und intensiver Gefühle.

Auf der Insel Eriana Kwai sind Meerjungfrauen der Feind. Sie belagern die Küste und bringen Tod und Verzweiflung über die Inselbewohner. Jedes Jahr ziehen Krieger in ein blutiges Massaker, doch keiner kehrt zurück. Nun sollen Kriegerinnen ihr Glück versuchen – immun gegen die tödlichen Verlockungen des Meeres.

Die achtzehnjährige Meela hat ihren Bruder bereits an das Massaker verloren und ist eine der Kriegerinnen. Von Rachedurst getrieben, stellt sie sich dem Kampf, doch sie hütet ein gefährliches Geheimnis: Als Kind war sie mit einer Meerjungfrau befreundet.

Als sich ihre Wege während des Massakers kreuzen, verschwimmen die Grenzen zwischen Feind und Freund auf schmerzhafte Weise. Kann Meela ihrem Herzen folgen, selbst wenn es bedeutet, alles zu riskieren, woran sie jemals geglaubt hat? In einer Welt voller Hass und dunkler Geheimnisse muss sie sich entscheiden: Kämpfen oder Vertrauen?

Ihre Wahl wird nicht nur ihr Schicksal bestimmen, sondern das der ganzen Insel.

Inhaltswarnung: Ice Massacre: Im Schatten der Tiefe enthält Themen und Szenen, die im Kontext eines fiktiven Krieges stehen. Diese Darstellungen können emotional belastend wirken. Auf der Buchdetailseite des Verlages findet ihr eine detaillierte Inhaltswarnung.

 

Inhaltswarnung

Ice Massacre: Im Schatten der Tiefe enthält Themen und Szenen, die im Kontext eines fiktiven Krieges stehen. Diese Darstellungen können emotional belastend wirken.

 

Über Tiana Warner

Tiana Warner wohnt in British Columbia (Kanada).

Bekannt wurde die Schriftstellerin durch ihre Trilogie „Mermaids of Eriana Kwai“, die sie auch als Comic-Adaption veröffentlicht hat.

Tiana ist ein Outdoor-Fan und reitet schon seit frühester Kindheit. Außerdem ist sie eine engagierte Unterstützerin von Tierrettungsinitiativen. Sie hat einen Abschluss in Informatik und hat lange als Programmiererin gearbeitet.

Von Tiana Warner außerdem lieferbar

Zusammen unterwegs: Die Roadtrip-Vereinbarung

Küsse am Set

Die Meerjungfrauen von Eriana Kwai

Ice Massacre: Im Schatten der Tiefe

Ice Crypt: Der Ruf der Macht

Ice Kingdom: Die Bestimmung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag, e.Kfr.

ISBN (E-Book): 978-3-69006-063-9

ISBN (PDF): 978-3-69006-064-6

Dieser Titel ist als Taschenbuch und E-Book erschienen.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Copyright © der Originalausgabe 2014 bei Rogue Cannon Publishing

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Übersetzerin: Charlotte Herbst

Übersetzungslektorat: Kati Kürger

Korrektorat: Tanja Eggerth

Satz & Layout: Ylva Verlag e.Kfr.

Grafiken vermittelt durch Freepik

Coverdesign: Ronja Forleo

Kontakt:

Ylva Verlag, e.Kfr.

Inhaberin: Astrid Ohletz

Am Kirschgarten 2

65830 Kriftel

Tel: 06192/9615540

Fax: 06192/8076010

www.ylva-verlag.de

[email protected]

Amtsgericht Frankfurt am Main HRA 46713

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Prolog

Irgendwo auf dem Pazifik

Mit zusammengekniffenen Augen ließ der junge Mann seinen Blick über die Wasseroberfläche schweifen. Der Zeigefinger lag am Abzug seiner Armbrust. Sobald etwas Ungewöhnliches aufblitzte, würde er einen eisernen Bolzen abfeuern. Er war bereit.

»Sir«, rief er. »Hätten wir nicht schon längst was sehen müssen?«

Mit angespannter Miene stemmte der Captain sich gegen den salzigen Wind. »Sie wissen, dass wir da sind.«

»Worauf warten sie dann noch?«

Er folgte dem Blick des Captains. Um sie herum erstreckten sich das endlose Meer und der leere graue Horizont. Das sanfte Plätschern der Wellen war weit und breit das einzige Geräusch.

Der Captain hob seine Waffe. »Sie schmieden einen Plan.«

Einer nach dem anderen begaben sich alle zwanzig Krieger in Position, bis auch der letzte Mann am Heck die Armbrust auf die Wasseroberfläche richtete.

»Bereithalten!«, rief der Captain. »Kleine Wellen auf Backbord.«

An mehreren Stellen kräuselte sich die Wasseroberfläche, als lauerte darunter etwas in der Tiefe.

Und dann passierte es. Fünfzig, vielleicht auch sechzig Meeresungeheuer stürzten sich aus den Wellen und warfen sich gegen das Schiff. Sie schlugen Steine und Muscheln in das Holz und hangelten sich am Schiffsrumpf empor.

Sofort eröffnete die Crew das Feuer.

Er schoss Bolzen um Bolzen ab und ein Ungeheuer nach dem anderen fiel getroffen zurück in die Tiefe. Das Wasser färbte sich blutrot. Doch es waren so viele. Die Ungeheuer waren ihnen zahlenmäßig haushoch überlegen. Schon hatten die ersten Kreaturen die Reling erreicht. Sie ließen sich auf das Deck fallen und zogen sich mit ihren knochigen Armen vorwärts.

Hinter ihm hörte er Kratzgeräusche, die bedrohlich näher kamen. Mit der schussbereiten Armbrust in der Hand fuhr er herum – und sah direkt in die glühenden Augen eines dieser Wesen. Das Nächste, was er bemerkte, waren die gebleckten Reißzähne, die nur darauf warteten, sich in seine Haut zu schlagen. Er ergriff den Abzug, spürte die gespannte Sehne …

Und plötzlich starrte er in die weit aufgerissenen Augen eines Mädchens in seinem Alter. Erschrocken schrie er auf und riss den Arm nach oben. Der Bolzen streifte ihre Haare und trennte eine feuchte blonde Locke ab.

Er atmete tief durch.

In der Hand hatte das Mädchen eine schwarze Muschel mit mörderisch scharfen Kanten. Doch sie erhob sie nicht gegen ihn. Sie sah ihn nur an. Das Haar fiel ihr schwer über die Schultern. Wasser perlte über ihre nackte Brust und ihren Bauch und sammelte sich dort, wo ihr Oberkörper in einen Fischschwanz überging.

Er blinzelte. Zu einer anderen Regung war er gar nicht fähig. Wo ihr Oberkörper in einen Fischschwanz überging. Tatsächlich: Fischschuppen und Menschenhaut trafen sich an dieser Stelle wie in einem überirdischen Sonnenuntergang, der sich in Grün- und Brauntönen über den Himmel ergoss.

Sie zog sich näher an ihn heran.

»Bleib weg!«, rief er, und versuchte, sich daran zu erinnern, warum er sie eben noch hatte töten wollen.

Ihre Augen schimmerten smaragdgrün und perlweiß – aber hatten sie nicht gerade noch feuerrot geglüht? Ihre Lippen waren rosig und wirkten so weich. Von Reißzähnen war nichts mehr zu sehen. Hatte ihre Haut eben noch die Farbe von Seetang gehabt, so war sie jetzt oliv und trotz des eisigen Windes glatt und samtig.

»Hanu aii«, flüsterte sie in seiner Sprache. Hab keine Angst.

Ohne den Blick abzuwenden, lockerte er den Griff um seine Waffe.

In einer eleganten Bewegung hob sie eine Hand, strich sich die Haare aus den Augen und bedeutete ihm, zu ihr zu kommen.

Sie war so schön. Sein Herz schlug schneller.

»Hanu aii«, wiederholte sie mit ihrer warmen, melodischen Stimme.

Ehe er wusste, wie ihm geschah, kniete er vor ihr. Jetzt konnte er ihr direkt in diese wunderschön funkelnden Augen sehen. Die Geräusche um ihn herum verstummten, bis es nur noch das Schnurren gab, das tief aus ihrer Kehle zu kommen schien.

Sie legte ihm eine Hand auf die Wange. Ihre Haut war weich und feucht und kälter als das eisige Meerwasser um sie herum. Langsam und doch entschlossen strich sie über seinen Kopf nach hinten und zog ihn an sich heran. Er sog ihren süßen Duft in sich auf.

»Nein!«

Er zuckte zusammen und sah zur Seite.

Der Captain rannte auf sie zu, die Armbrust im Anschlag, und zielte auf das Mädchen.

Blinzelnd wurde er sich seiner Umgebung bewusst. Das Schiff war leer. Waffen und Fässer trieben auf den Wellen. Das Deck war voller Blut und auch das Hauptsegel war blutverschmiert.

Der Schuss des Captains ging daneben. Noch bevor dieser nachladen konnte, umfasste das Meeresungeheuer sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen.

Ihre Augen glühten rot. Ihre Haut nahm wieder die Farbe von verrottetem Seetang an. Ihre Ohren wurden lang und spitz wie Korallen. Sie öffnete den Mund und zeigte ihre tödlichen Zähne.

Er schrie.

Mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte, zog sie ihn an sich, packte ihn und stürzte sich kopfüber mit ihm von Bord.

Gemeinsam verschwanden sie in den blutroten Wellen.

Kapitel 1

Morgen

Eine Meerjungfrauenjägerin musste aggressiv und mutig sein und vor allem flink auf den Beinen – denn ihre Beine waren ihr einziger Vorteil.

Ihre Beine und ihre eiserne Waffe.

»Noch mal«, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich zog den Spannhebel, legte einen Bolzen ein und hob die Armbrust routiniert an die Schulter.

Annith stand vornübergebeugt da und stützte sich auf den Knien ab. Ihr krauses Haar klebte ihr im Gesicht. »Können wir kurz Pause machen?«

Ich knirschte mit den Zähnen. Nein, das konnten wir nicht. Nicht, wenn ich nicht morgen auf dem blutgetränkten Schiffsdeck meinen letzten Atemzug tun wollte, während ich einem Ungeheuer dabei zusah, wie es meine Eingeweide auffraß.

Annith schien meinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten, denn sie rappelte sich auf und machte sich für eine weitere Runde bereit.

Es war jetzt fünf Jahre her, dass ich meine Ausbildung begonnen hatte. Noch vor dem Wechsel auf die Highschool waren ich und neunzehn andere Mädchen von der Schule genommen worden. Jeden einzelnen Tag dieser fünf Jahre hatte ich – statt mich mit Mathe, Naturwissenschaften und Literatur zu beschäftigen – damit verbracht, zu lernen, wie man segelte, wie man tötete und wie man überlebte.

Und jeden Frühling waren in diesen fünf Jahren zwanzig junge Männer zur See geschickt worden und nicht zurückgekehrt.

Jetzt war ich an der Reihe. Und dieses Mal würde es anders laufen.

Heute war der letzte Tag unserer Ausbildung und ich trainierte zusammen mit Annith auf der Enticer, einem ehemaligen Kriegsschiff, das schon seit einer Ewigkeit im Wald vor sich hin rottete. Es war das berühmteste Wahrzeichen der Insel – so man denn überhaupt irgendetwas auf Eriana Kwai als berühmt bezeichnen konnte. Das Steuerruder war besonders kunstvoll geschnitzt, und zu seiner Zeit war das Schiff bestimmt wunderschön gewesen. Als vor fast dreißig Jahren die Massaker begonnen hatten, hatte man die verfallenen Teile zusammengeflickt, und seither wurde das Schiff für die Ausbildung genutzt.

Nur wer im fünften Jahr der Ausbildung und damit achtzehn war, durfte auf die Enticer. Die Jüngeren trainierten auf dem nahe gelegenen Campingplatz. Die ehemaligen Wohnhütten waren zu Klassenzimmern geworden, in denen jetzt Erste Hilfe, Überlebenstechniken, die theoretischen Grundlagen des Segelns sowie Strategie und Taktik unterrichtet wurden. Im geräumten Speisesaal fand das Nahkampftraining statt. Eine Lichtung, auf der früher Lagerfeuer brannten und Spiele gespielt worden waren, hatte man systematisch verwüstet und so zu einem Fitnessparcours umgewandelt. Die Bogenschießanlage erwies sich als perfekt für das Training mit Dolchen und Armbrüsten. Der Pool wurde für Schwimmtrainings genutzt, auch wenn das reichlich optimistisch gedacht war. Sollte jemand vom Schiff fallen und im Wasser landen, endete diese Person unweigerlich als Mahlzeit.

Annith warf mit Bohnen gefüllte Säckchen nach mir, während ich auf die Holzfiguren in Meerjungfrauenform schoss, die auf dem Schiffsdeck verteilt waren. Zehnmal traf ich direkt ins Herz, während ich genauso vielen Beanbags auswich.

»Meela, dein Zeugnis«, rief Anyo, der Ausbildungsmeister.

Annith atmete merklich erleichtert auf.

»Du bist so was von bereit«, stieß sie keuchend hervor. »Spar dir deine Energie für morgen.«

Ich war bis in die letzte Faser angespannt und sah das dementsprechend anders.

Annith und ich sprangen von dem Schiff und kamen auf dem sumpfigen Waldboden auf. Ich zog das Haargummi aus meinem Pferdeschwanz und entwirrte mit den Fingern meine verschwitzte, fast schon verfilzte Mähne, bevor ich sie zu einem hohen Knoten zusammenband.

Anyo reichte uns beiden ein Blatt Papier.

Als man uns im ersten Jahr unsere Zeugnisse überreicht hatte, hatte ich das noch für einen schlechten Scherz gehalten. Wie kamen sie nur auf die Idee, uns zu benoten? Reichte es nicht, dass sie uns nach dem Abschluss unserer Ausbildung aufs Meer hinausschickten, was wir nicht überlebten, wenn wir im Unterricht nicht aufgepasst hatten?

Ich überflog mein Zeugnis. In fast allen Fächern hatte ich eine Eins, nur in Erster Hilfe eine Zwei. Zwei wie zweitklassig vorbereitet. Wann immer es im Unterricht um blutige Wunden oder Knochenbrüche gegangen war, war mir übel geworden.

»Wir sind das perfekte Team«, meinte Annith, die ebenfalls auf mein Zeugnis schaute. »Ich habe in Erster Hilfe eine Eins. In Segelkunde habe ich nur eine Drei.«

Eine Drei stand für dramatisch gefährdet.

Auf meinem Zeugnis stand in diesem Fach eine 1+. Was sollte mir das sagen? Dass ich mit dem Schiff zwar klarkam, mich dabei aber besser nicht verletzen sollte?

»Ich hab hundert Prozent in Gefechtsführung!« Eine laute Stimme schallte über die Lichtung.

Dani redete garantiert extralaut, damit auch ja alle sie hörten. Sie warf ihre glänzende Mähne zurück und posierte, als würde gleich jemand herbeigeeilt kommen, um ihren Triumph mit einem Foto festzuhalten.

»Damit haben wir es schwarz auf weiß, dass man dir nicht begegnen will, wenn du einen scharfen Gegenstand in der Hand hast«, murmelte ich so leise, dass sie mich nicht hören konnte.

Annith drehte Dani den Rücken zu. »Kein Wunder, dass sie eine Eins hat. Ich habe es gehasst, mit ihr zu trainieren. Jedes Mal dachte ich, sie bringt mich gleich um.«

»Hätte sie bestimmt, wenn Anyo nicht zugesehen hätte.«

»Was hast du denn bekommen, Meela?«, rief Dani und fixierte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Für deine Eltern will ich hoffen, dass du wenigstens alles bestanden hast. Wäre doch furchtbar, wenn sie noch ein Kind verlieren.«

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. »Und für deine Eltern will ich hoffen, dass du gefressen wirst, wenn –«

»Meela!«, zischte Annith. »Ignorier sie einfach.”

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich meine Waffe fester umklammerte.

Dani schnaubte hochmütig und wandte sich wieder Shaena, Texas und Akirra zu – den Speichelleckerinnen, die sie als ihre Freundinnen bezeichnete. Lautstark verkündete sie, dass sie es nicht erwarten konnte, ihre Fähigkeiten an ›echter Beute‹ unter Beweis zu stellen.

»Hast du denn auch mit den Dolchen trainiert?«, fragte Texas, die ihren Spitznamen daher hatte, dass ihr Vater für die Rinder der Insel zuständig war, und sie das einzige Mädchen auf Eriana Kwai war, das eine Kuh vom Pferderücken aus mit einem Lasso einfangen konnte.

»Natürlich. So sticht man am besten zu«, dröhnte Dani und tat so, als würde sie Shaena einen Dolch in den Bauch rammen. »Das hat mir mein Vater schon vor Jahren beigebracht. Er sagt, wenn man sie direkt in den Bauch treffen kann …«, sie fasste den Griff des imaginären Dolchs mit beiden Händen, »… und den Dolch dann so dreht, wird man sie direkt aufschlitzen.« Sie biss die Zähne aufeinander und tat so, als würde sie mit ihrer Waffe durch Knochen stoßen wollen.

Annith und ich warfen uns einen angewiderten Blick zu, als Dani das Ganze auch noch bei Texas nachmachte.

»So, Kriegerinnen!«, rief Anyo und beendete damit das gespielte Gemetzel. »Nehmt Aufstellung für eure Abzeichen.«

Ich wollte gerade meine Trainingsausrüstung zum letzten Mal aufräumen, als mir etwas ins Auge fiel. Ein fetter Hase hoppelte aus dem Gebüsch und schnüffelte am Gras.

»Mach Platz«, flüsterte ich Annith zu.

Sie gehorchte.

Ich legte einen Bolzen ein und hob die Armbrust. Routiniert atmete ich aus und visierte den Hasen an. Ich legte den Finger an den Abzug, aber nur leicht und nicht genug, um den Pfeil abzufeuern.

Abschalten, befahl ich mir, genau wie der Ausbildungsmeister es mir seit meinem dreizehnten Lebensjahr eingebläut hatte. Ich stellte mir vor, wie schwarzer Teer sich um mein Herz legte und sämtliche Gefühle darin einschloss.

Dann biss ich die Zähne zusammen und schoss. Meinem Zielobjekt blieb noch nicht einmal genug Zeit, um loszuhoppeln, da fiel es schon tot um. Ein Bolzen, der so dick war wie seine Vorderpfoten, steckte in seiner Seite.

Ich wandte mich Annith zu und lächelte. »Abendessen.«

»Gut gemacht, Meela!«, rief Anyo. Er war ganz offensichtlich stolz auf das Mädchen, das vor fünf Jahren noch nicht einmal eine Spinne töten konnte.

Eyrin – ein zierliches Mädchen, das, seit ich es kannte, kaum ein Wort gesagt hatte – stand vor Anyo und wusste offenbar nicht, ob sie angewidert oder beeindruckt sein sollte. Ich hatte da auf mehr Begeisterung gehofft.

Ich drehte den anderen den Rücken zu, packte den Hasen an den Hinterläufen und hob ihn hoch. Ansehen konnte ich ihn dabei nicht. Der schwarze Teer tropfte von meinem Herzen.

»Kann deine Familie den brauchen?«, fragte ich Annith und hielt ihr das Tier entgegen.

»Nein. Mein Vater hat vor drei Tagen einen Hirsch geschossen. Das reicht für eine Weile.«

»Oh«, sagte ich beeindruckt und auch etwas neidisch.

Ich hängte die Armbrust an den Ständer, ging aber nicht gleich zu den anderen. Ich brauchte noch etwas Zeit für mich. Wie fühlte es sich wohl an, auf einem brandneuen Schiff mit einer brandneuen Waffe zu schießen und nicht mehr mit den vertrauten, abgenutzten Modellen? Der Waldboden hatte nichts gemeinsam mit den eisigen Tiefen des Golfs von Alaska. Was, wenn das Trainingsprogramm uns nicht ausreichend auf das vorbereitet hatte, was uns dort draußen erwartete?

Doch es war sinnlos, jetzt in Panik zu verfallen. Unsere Vorbereitungszeit war vorüber.

Wir versammelten uns vor Anyo, um unsere Abzeichen entgegenzunehmen.

»Noch nie hatte ich mehr Vertrauen in eine Gruppe von Kriegern«, sagte er. »Ich danke den Göttern jeden Tag aufs Neue für das Privileg, euch ausbilden zu dürfen.«

Das Komitee hatte ihn eigentlich entlassen wollen, nachdem seine Taktik vor einigen Jahren so furchtbar gescheitert war. Aber er hatte schon sein eigenes Massaker aus purer Sturheit überlebt. Und auch jetzt weigerte er sich, zurückzutreten.

»Als Frauen habt ihr einen gewissen Vorteil, mit dem der Feind nicht rechnen wird. Ohne die Macht ihres Zaubers sind die Meerjungfrauen allein auf ihre Kampffähigkeiten angewiesen. Und eure sind herausragend, das habt ihr unter Beweis gestellt.«

»Meint ihr, sie werden Meermänner schicken, wenn sie merken, dass wir Mädchen sind?«, fragte Annith.

Texas sah sie spöttisch an. »Natürlich nicht. Die Ungeheuer bilden ihre Männer nicht im Kampf aus.«

Anyo nickte. »Das stimmt, soweit wir wissen. Den Meermännern fehlt der Zauber, mit dem sie Menschen ins Meer locken – oder der Jagdtrieb.«

»Die sind wie Löwen«, meinte Shaena. »Bei denen machen auch die Frauen die ganze Arbeit. Alles, was die Männer tun, ist fressen und Kinder zeugen.«

Lautes Gelächter antwortete ihr.

Anyo errötete. »Korrekt. Nun gut, schaut euch noch einmal eure Notizen an, bevor ihr heute ins Bett geht. Vergesst nicht, morgen euer Abzeichen auf der Uniform zu tragen. Und esst ein ordentliches Frühstück.«

»Und dann werden wir endlich Meerjungfrauenblut vergießen!«, rief Shaena.

Ich atmete tief durch. Anspannung und Aufregung lieferten sich einen heftigen Kampf in mir. Ich wollte daran glauben, dass dieses Massaker anders verlief. Vielleicht hatten zwanzig junge Frauen ja tatsächlich bessere Chancen auf Erfolg als all die Männer, die wir bisher jedes Jahr aufs Meer hinausgeschickt hatten.

Ich ließ den Blick über die Kriegerinnen schweifen, die in den vergangenen fünf Jahren zu meiner Familie geworden waren. Wir waren bereit. So bereit es eben ging.

Vielleicht schafften wir es, Eriana Kwai endlich zu befreien. Dann konnten wir wieder Fische fangen und vielleicht würden wir sogar genug erwischen, um den Überschuss zu exportieren. So wie damals, bevor ich geboren wurde. Wir wären wieder ein eigenständiger Staat, der sich selbst versorgen konnte, und nicht bloß ein erbärmlicher Steinhaufen, der auf die Mildtätigkeit der paar Kanadier und Amerikaner angewiesen war, die noch wussten, dass es uns gab.

Dani stand in der Schlange ganz vorne und steckte sich als Erste das Abzeichen an die Jacke. Dann drehte sie sich breit strahlend zu Texas um. Als Nächstes fiel ihr Blick auf den Hasen in meiner Hand und sie rümpfte die Nase. Statt einen sarkastischen Kommentar abzugeben, wie ich es eigentlich erwartet hatte, schwieg sie jedoch. Was es bei ihrer Familie heute Abend wohl zu essen gab?

Der Ausbildungsmeister überreichte mir ein kupfernes Abzeichen, in das jemand kunstvoll einen Sägekauz – eine kleine Eule – eingraviert hatte.

Mein Volk hatte so viel Zeit, Mühe und Vertrauen in mich gesteckt. Zu viel. Die Kehle schnürte sich mir zu, als hätten die Schmetterlinge, die eben noch in meinem Bauch herumgeflattert waren, versucht, die Flucht zu ergreifen und wären dabei stecken geblieben.

Anyo drückte meine Schulter und ich sah auf. Ein ernster Ausdruck lag in seinen dunklen Augen und selbst im Zwielicht zeichneten sich die Falten in seinem Gesicht deutlich ab. Er wirkte älter, als er tatsächlich war, strahlte aber auch eine unglaubliche Energie aus. Narben auf seinem Kopf und an seinem Ohr zeugten davon, dass eine Meerjungfrau ihn einst fast skalpiert hätte.

»Denk dran, deine Gefühle abzuschalten, dann bist du unbesiegbar.« Er sprach so leise, dass nur ich ihn hören konnte. »Ich sollte dir das nicht sagen, aber du bist noch fähiger als dein Bruder. Nilus wäre stolz auf dich.«

Mein Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an Nilus – und daran, dass jemand stolz auf mich sein sollte –, und Schuldgefühle stiegen in mir hoch. Trotzdem brachte ich ein angespanntes Nicken zustande. Dann wartete ich, bis auch Annith ihr Abzeichen erhalten hatte. Als sie schließlich zu mir kam, war sie ganz fahrig vor Nervosität.

»Ich sollte den hier rechtzeitig zum Abendessen heimbringen«, sagte ich und fügte zögernd hinzu: »Bis morgen.«

Sie machte noch nicht einmal den Mund auf. Wahrscheinlich aus Angst, sich sonst zu übergeben.

Auf dem Heimweg sog ich den Duft des Waldes in mich auf und gab mir alle Mühe, die in mir nagenden Gefühle beiseitezudrängen. Das Massaker war ein Privileg. Man hatte mir die Möglichkeit gegeben, meiner Familie und meinem Volk Ehre zu erweisen und die Monster abzuschlachten, die so viele unschuldige Männer getötet hatten. Ich würde ihre Herzen genauso mit Eisen durchbohren, wie ich es mit dem Hasen getan hatte – mit dem einen Unterschied, dass die Ungeheuer es auch tatsächlich verdient hatten.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich. Ich schaffte es immer noch nicht, den Hasen anzuschauen.

Die unbefestigte Straße endete in einer Sackgasse, an deren Ende die Einfahrt zu meinem Elternhaus lag. Meine Eltern und ich lebten sicher im Landesinneren. Die Häuser an der Küste waren aufgegeben worden, nachdem die Meerjungfrauen vom Atlantik hierhergekommen waren.

Unser Haus begrüßte mich mit einer freundlichen Rauchwolke, die aus dem Schornstein aufstieg. Neben den Riesenlebensbäumen, die es umringten, sah es winzig aus. Durch das Geäst der gewaltigen Bäume drang nur wenig Sonnenlicht auf unsere moosbewachsene Lichtung. Nicht, dass es auf Eriana Kwai sonderlich viel Sonnenschein gab. Bei den Queen Charlotte Mountains stießen die Wolken auf ein unüberwindliches Hindernis, darum regneten sie sich immer über uns ab.

Gaawhist stand auf dem Schild an unserer Haustür. Home, sweet home. Ich setzte einen Fuß auf die Verandatreppe, zögerte dann aber und entschied mich, um das Haus herum in den Garten zu gehen. Als könnte ich die Zeit anhalten, wenn ich mich nur langsam genug bewegte.

Am Rand der Klippe ließ ich mich bäuchlings ins Gras fallen. Unter mir lag der felsige Pfad, der zum Strand führte. In der Ferne tauchten kurz zwei Orcas auf und noch weiter entfernt lag die winzige Insel Haida Gwaii.

Wir waren isoliert auf Eriana Kwai. Niemand kam her, niemand ging weg, und solange ich denken konnte, hatten nur wenige Schiffe sich derartig weit in den Nordpazifik hinausgewagt.

Während ich zwei Möwen beobachtete, die unter mir durch die Lüfte schwebten, krampfte sich meine Brust wehmütig zusammen. Ich krümmte die Zehen. Alles in mir sehnte sich danach, die Kieselsteine unter meinen bloßen Füßen zu fühlen und nicht die harte Ledersohle schwerer Stiefel. Ich wollte das Salz spüren, das meine Haare verklebte, und sogar den schleimigen Seetang, der mir um die Beine strich. All das war so rein und klar und beruhigend.

Hinter mir hörte ich Schritte rascheln.

Ich presste das Gesicht in das Gras. Nicht jetzt.

Tanuu legte sich neben mich. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass er die Arme verschränkte, sich darauf abstützte und sich mir zuwandte. Das Weiß seiner Augen hob sich von seiner dunklen Haut und den noch dunkleren Haaren ab.

Widerwillig rollte ich mich auf die Seite.

»Das ging jetzt wirklich schnell«, sagte er leise.

»Tat es nicht. Ich warte darauf, seit ich zehn bin.«

Und ich fühle mich bei dem Gedanken daran, aufs Meer hinauszufahren, noch genauso schlecht wie damals.

Er musste meinen bitteren Tonfall falsch verstanden haben, denn er erwiderte: »Du wirst zurückkehren. Das weiß ich. Du bist dafür ausgebildet. In der Zeit, die du brauchst, um eine Krähe abzuschießen, schaffe ich es noch nicht einmal, die Armbrust scharf zu machen.«

Ich stützte mein Kinn auf den Armen ab und schaute auf den sich verdunkelnden Horizont hinaus.

»Weißt du«, begann Tanuu. »Ich finde es nicht gut, dass du das machen musst. Ich hätte ausgewählt werden sollen, und Haden und die anderen Jungs, die nächsten Monat ihren Schulabschluss machen. Hätten sie das Trainingsprogramm nicht verändert, würde ich ins Massaker ziehen.«

Das stimmte. Wenn ich nicht losmüsste, wäre er an meiner Stelle, und genau deshalb war es das wert. Meine Überlebenschance war viel höher als seine. Ich verzog die Lippen zu einem Beinahe-Lächeln, um ihn zu beruhigen.

»Hier«, sagte er.

Er hielt mir ein Kleeblatt hin. Ich schaute zwischen dem Pflänzchen und seinen Augen hin und her, ehe ich es nahm. Vier Blätter.

»Wünsch dir was.«

Ich drehte das Kleeblatt zwischen den Fingern. Wenn ich mir wünschte, dass das Massaker gut ausging, brachte das nur Unglück.

»Meela, ich möchte, dass du weißt, dass ich genau hier auf deine Rückkehr warten werde.« Seine Stimme war tief, als würde er sich bemühen, romantisch zu klingen.

Ich seufzte. »Wo solltest du auch sonst sein? Du wirst ja wohl kaum zum Festland schwimmen.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Nicht wirklich.« Ja, ich stellte mich stur. Aber er benahm sich auch extrem nervig.

»Ich werde nie etwas mit einem anderen Mädchen anfangen.«

Ich starrte auf das Kleeblatt. Warum konnte er nicht einfach den Mund halten?

Dann legte er auch noch eine Hand auf meine und hauchte: »Ich liebe dich.«

Wie von einer Wespe gestochen fuhr ich hoch. »Du tust was?«

»Tu doch nicht so überrascht.« Er stand ebenfalls auf und nahm erneut meine Hand. »Du weißt, dass ich dich liebe. Und ich glaube, du liebst mich auch. Du gibst es nur nicht zu.«

Ich schüttelte den Kopf, riss mich von ihm los und machte einen Schritt in Richtung des Hauses. »Du liebst mich nicht, Tanuu. Sag so was nicht.«

Er trat auf mich zu, doch ich wich ihm wieder aus.

»Mit mir musst du dir nie wieder Sorgen machen, Meela. Ich habe ein Haus, einen Job und sogar Ersparnisse. Du und ich … Wir könnten zusammen eine Familie gründen.«

»Hör auf!« Ich wandte mich von ihm ab und einen Moment lang wünschte ich, ich hätte meine Armbrust dabei.

Er schwieg.

Schließlich drehte ich mich wieder zu ihm um.

Tanuu hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Mit den zusammengezogenen Augenbrauen erinnerte er mich an eine hilflose Babyrobbe mit ihren riesigen, unschuldigen Augen.

Ich öffnete den Mund, doch die Antwort blieb mir im Hals stecken. »Du solltest gehen«, brachte ich schließlich heraus. »Wir sehen uns dann morgen bei der Abschiedszeremonie.«

Er nickte und sah dabei noch immer so furchtbar mitleiderregend und verliebt aus. »Bis dann.«

Ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, ging er weg.

Sobald er das Haus umrundete, wandte ich mich wieder dem Meer zu.

Ich wusste, dass er mich liebte. Es war offensichtlich. Und es sprach auch nichts gegen Tanuu. Er war klug, attraktiv, und es stimmte wahrscheinlich, dass ich mir keine Sorgen machen musste, wenn ich mit ihm eine Familie gründen wollte. Es wäre nur logisch, wenn ich seine Gefühle erwiderte.

Ich senkte den Blick auf das Kleeblatt, das ich immer noch zwischen den Fingerspitzen hielt, und biss mir auf die Unterlippe. Laut Annith wusste man einfach, wenn man in jemanden verliebt war. Sie meinte, das Herz war einem dann übervoll und man konnte nicht aufhören, an ihn zu denken und sich zu fragen, ob man je zuvor so glücklich gewesen war.

Nun, mein Herz fühlte sich nicht anders an als sonst auch und es fiel mir erschreckend leicht, nicht an Tanuu zu denken. Er war ein enger Freund – und streng genommen wahrscheinlich auch mein fester Freund –, aber ich wusste einfach, dass ich anders für ihn empfand als er für mich.

Ich streckte die Hand flach aus und der Wind ließ die dünnen Kleeblätter flattern.

Die Nacht brach langsam herein. Das Meer war inzwischen schon eine schwarze Fläche und der erste Stern funkelte am Himmel.

»Ich wünsche mir, dass Eriana Kwai wieder frei ist.« Ich atmete tief ein und pustete.

Das Kleeblatt erhob sich in die Lüfte und schwebte langsam über die Klippe. Der Wind ergriff es und trug es fort, hob es mal höher hinauf und ließ es dann wieder nach unten sinken, bis es schließlich verschwand. Das Schicksal würde darüber entscheiden, wo es landete – und ob es seine Reise im Meer beendete, oder ob es den Weg zurück an Land fand.

Als ich das Haus betrat, zog meine Mutter mich so plötzlich in eine Umarmung, dass ich mich unweigerlich fragte, ob sie an der Tür auf mich gewartet hatte. Sie roch nach Ahornsirup und Bannock-Brot. Die Umarmung dauerte länger als sonst, und als sie mich schließlich losließ, waren ihre Augen gerötet und glänzten. Auch meine brannten schon und ich senkte den Blick. Zum Glück war mein Vater noch nicht daheim.

»Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie. Doch der Ausdruck in ihren Augen sagte etwas anderes. Vielleicht sehe ich dich morgen zum letzten Mal.

»Brauchst du Hilfe beim Kochen?« Meine Stimme zitterte.

Sie schüttelte den Kopf und nahm mir den Hasen ab. »Ich mach den schnell. Du wirst sehen, das Essen ist ratzfatz fertig. Magst du dich inzwischen umziehen?«

Sie trat ans Spülbecken. Unter ihrer abgetragenen Bluse zeichneten sich ihre Schulterknochen ab, und als ich sie vorhin umarmt hatte, hatte ich ihre Wirbelsäule und ihre Rippen deutlich gespürt. Ihretwegen war ich froh, dass ich den Hasen getötet hatte.

»Mama?«

»Hm?«

Ich zögerte. Sollte ich es besser auf sich beruhen lassen? Aber dies war meine letzte Chance, auszusprechen, was so lange schon an mir nagte. »Ich sollte nicht ins Massaker ziehen«, wisperte ich also.

Meine Mutter ließ den halb gehäuteten Hasen ins Spülbecken fallen. Sekunden verstrichen. Sie sah mich nicht an. »Du findest es falsch, Frauen zu schicken«, sagte sie schließlich und widmete sich erneut dem Hasen, diesmal jedoch deutlich energischer als vorhin.

»Nein. Das hab ich nicht gemeint.« Ich atmete tief ein. »Die Teilnahme am Massaker soll die höchste Ehre sein. Das sagen alle: Papa, der Ausbildungsmeister, die Überlebenden. Aber ich verdiene das nicht. Nicht nachdem … nachdem …«

Meine Stimme brach. Seit Jahren hatte ich nicht mehr über dieses Thema geredet.

Sie drehte sich zu mir um. »Jeder Krieger von Eriana Kwai hat diese Ehre verdient.«

»Ich bin aber kein Krieger«, erwiderte ich. »Ich bin zur Kriegerin ausgebildet worden, ja, aber ich fühle mich nicht wie eine.«

»Schon als du noch ein Kind warst, wusste ich, dass du die geborene Kämpferin bist, Meela. Es ist ein Segen für unser Volk, dass eine so tapfere Frau wie du für unsere Freiheit kämpft.«

»Das Volk, das ich betrogen habe?« Bittere Galle stieg in mir hoch.

Sie runzelte die Stirn. »Du hast als Kind einen Fehler begangen, aber auch nur, weil du so anständig bist. Du hast alles riskiert, um das zu verteidigen, was du für richtig gehalten hast. Das ist ein Zeichen deiner Tapferkeit.«

Ich schaute sie ungläubig an. Wie konnte sie nur von einem Fehler sprechen?

»Nilus wäre st–«

»Nein«, unterbrach ich sie. »Alle sagen das ständig, aber es stimmt nicht. Nilus wäre nicht stolz auf mich.«

Sie riss die Augen auf. »Meela, Schatz …«

Doch der Damm war gebrochen und ich konnte die Worte nicht mehr zurückhalten. »Was, wenn ich schuld bin an seinem Tod? Was, wenn sie der Grund dafür ist, dass in den letzten Jahren so viele Krieger verschwunden sind?«

Eine ganze Weile sah meine Mutter mich einfach nur an. Meine Worte hingen über uns und ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Schließlich legte sie mir die Hände auf die Schultern und sah mich entschlossen an. »Meela, der Ausbildungsmeister sagt, dass du mit der Armbrust genauso gut umgehst wie dein Vater.«

»Und?«

»So etwas kann man nicht lernen. Es ist eine Gabe. Die Götter haben dir diese Fähigkeit geschenkt. Nimm dein Schicksal an«, sagte sie. »Lass deinen Schmerz dich antreiben. Räch den Tod deines Bruders.«

Der Wunsch nach Vergeltung schien durch ihre Berührung in mich überzugehen.

Mir stockte der Atem. Sie hatte recht. Alles in meinem Leben – all der Schmerz, all die Reue, jede einzelne unbeantwortete Frage – lief auf diesen einen Punkt hinaus. Meine Bestimmung war eindeutig: Ich musste in diese Schlacht ziehen.

Vom Erfolg meines Massakers hing es ab, ob die Menschen auf Eriana Kwai weiter leiden würden oder endlich einen Neuanfang bekamen. Meine Eltern, Tanuu und der Rest der Inselbewohner hatten so viel Vertrauen in mich gelegt. Für sie – und für Nilus – würde ich Rache nehmen. Ich würde dafür sorgen, dass die Ungeheuer den Tag verfluchten, an dem sie in den Pazifik eingefallen waren.

Acht Jahre zuvor

Kapitel 2

Geheime Treffen

Wellen breiteten sich kreisförmig von der Stelle aus, wo der Kopf der Meerjungfrau untergetaucht war. Ihr kupferblondes Haar jedoch verriet, wo sie war – wenn auch nur gerade so. Hätte ich sie nicht eben noch gesehen, hätte ich die Strähnen auch für Seetang halten können.

Langsam schälte ich mich aus dem Gebüsch und kroch zum Strand hinunter, immer darauf bedacht, mich gegen den grauen Sand und die Felsen zu ducken. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne, das machte es einfacher, mit meiner Umgebung zu verschmelzen.

Eine Meerjungfrauenjägerin musste lautlos sein und flink.

Mit einem leisen Plätschern verschwand sie ganz.

Ich hielt inne und versuchte, mit meinen bloßen Füßen auf zwei Steinen das Gleichgewicht zu halten.

Ein kleines Stück von jener Stelle entfernt, an der sie eben noch gewesen war, kräuselte sich wieder die Wasseroberfläche. Diesmal schwappten die Wellen bis ans Ufer.

Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich. Das Gezeitenbecken war seicht – es ging mir nur etwa bis zu den Oberschenkeln. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich im Vorteil war.

Kein Kieselstein kam ins Rollen, als ich mich näher heranpirschte. Nach Monaten der Übung konnte ich mich inzwischen lautlos und geschmeidig bewegen wie ein Puma.

Ihre Stirn tauchte aus dem Wasser auf. Ihre blauen Augen glänzten wie Saphire. Sie waren unmenschlich groß und perfekt, um im dunklen Nordpazifik auf Beutejagd zu gehen.

Meine Lautlosigkeit nutzte mir nichts. Sie entdeckte mich sofort.

Mit einem Kriegsschrei stürzte ich mich auf sie. Platschend landete ich auf ihr und die Wellen schlugen über mir zusammen. Es spritzte bis ans Ufer.

Sie wand sich mühelos aus meinem Griff. Nur kurz kniete ich auf allen vieren am Rand des Gezeitenbeckens, dann umfasste sie mit starken Armen meine Taille und zog mich an Land.

Mit eisigen Händen drückte sie mich auf den Rücken.

»Ergib dich, Schwächling!«

Ich warf mich hin und her im Versuch, mich so weit zu befreien, dass ich sie von mir schieben konnte. »Das ist unfair! Du bist stärker als ich, Lysi.«

Sie setzte sich auf meinen Bauch und verschränkte die Arme. Ihr Fischschwanz zuckte hin und her und erzeugte so seine eigene Meeresströmung. »Mein Bruder sagt, Meerjungfrauen sind stärker als Menschen.«

Stöhnend drehte ich mich auf den Bauch und zwang Lysi so, auf die nassen Felsen zu rutschen.

»Ich weiß.«

Sie grinste schief und strich ihr verknotetes, von Seetang durchwirktes Haar glatt. »Wetten, dass ich schon stärker bin als dein Papa?«

Ich sprang in die Hocke. »Eine Zehnjährige? Nie im Leben, du lahme Ente!«

Ich stürzte mich auf sie und warf sie um. Platschend und kichernd landeten wir im Wasser und versuchten, einander unterzutauchen.

»Ich … hab dir … was gebastelt«, stieß sie hervor und fixierte mich erneut unter sich.

Ich brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. »Was denn?«

Lysi schob sich von mir herunter, griff unter die Wasseroberfläche und holte etwas hervor.

Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte – auch wenn ich keine Ahnung hatte, was es war. Sie musste meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn ein breites Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten geradezu.

»Das trägt man um den Hals. Es soll einen vor dem Zorn des Meeresgottes bewahren, oder so. Außerdem ist es hübsch.«

»Eine Halskette«, sagte ich ehrfürchtig.

»Halskette.« Sie wiederholte das Wort ein paarmal und prägte es sich so ein. Sie hatte einen lustigen Akzent, wenn sie meine Sprache sprach, aber das machte mir nichts, denn ihre Stimme war so schön und melodisch.

Vorsichtig nahm ich die Kette. Sie bestand aus Muscheln, die sich an einem gedrehten Band aus Seetang aneinanderreihten. Im Tageslicht schimmerten sie in den schönsten Pastelltönen – in blassem Blau und Grün und Violett.

»Es hat Monate gedauert, um alle Farben zu finden. Ich hab gleich zwei gemacht.« Wieder griff sie ins Wasser, holte eine zweite Kette heraus, die beinahe genauso aussah wie meine, und streifte sie sich über den Kopf. »Jetzt können wir beide sie tragen und dabei aneinander denken.«

Ich legte mir meine Kette um den Hals. Hoffentlich sah sie an mir auch nur halb so hübsch aus wie an Lysi.

»Danke, Lysi«, sagte ich und strich über eine Muschel. Sie fühlte sich so glatt an.

Lysi strahlte mich an und die Sonne schien hinter den Wolken hervorzukommen.

»Wie sind denn die Fische so? Sind die so schön wie die Muscheln?«

Neben Lysis Fischschwanz klammerte sich ein verlassener Seestern ans Ufer.

»Ich wünschte, ich könnte sie dir zeigen«, erwiderte sie. »Neben meinem Zuhause gibt es da diesen Felsen … Nein, keinen Felsen. Ich weiß nicht, wie man auf Eriana dazu sagt. Sie haben alle möglichen Farben und Fische leben darin und auch der Fels selbst lebt. Manchmal lasse ich mich dort treiben und beobachte die Fische.«

»Ich glaube, du meinst eine Koralle«, sagte ich, während ich jede einzelne Muschel an meiner Kette genau inspizierte.

»Koralle. Koralle. Koralle.«, wiederholte sie und verwandelte das Wort in eine Melodie.

Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus und ich zog die Beine an. Lysi hatte wirklich Glück. Ihr wurde nie kalt.

»Ich möchte die Fische und Korallen aus der Nähe sehen. Irgendwann mal.« Ich ließ den Blick über das Meer schweifen, das ruhig vor uns lag. Gar nicht weit entfernt ließen sich zwei Möwen auf den Wellen treiben.

Lysi wandte sich mir aufgeregt zu. »Vielleicht kannst du das ja.«

»Was kann ich?«

»Sehen, was sich unter der Meeresoberfläche befindet.«

Ich machte große Augen. »Wie?«

»Du kannst mit mir zur Meerjungfrau werden.«

Ich blinzelte sie an, lachte und ließ mich zurück auf den Kiesstrand sinken. Dicke, warme Regentropfen fielen aus den Wolken und mir ins Gesicht. »Das wäre sicher lustig.«

»Du könntest bei mir wohnen!«

»Kann ich dann alle deine Cousins und Cousinen kennenlernen?«

Sie nickte. »Das geht wirklich. Ich habe es gesehen.«

Mir stockte der Atem. »Du hast gesehen, wie ein Mensch sich in eine Meerjungfrau verwandelt hat?«

»Na ja, ich kenne Meermänner, die früher Menschen waren. Ich kann meinen Bruder fragen, wie sie das angestellt haben. Er erzählt es mir bestimmt.«

»Wenn ich eine Meerjungfrau wäre, könnte ich ihn kennenlernen«, meinte ich. Sie sprach oft von ihm und jedes Mal, wenn sie das tat, vermisste ich meinen eigenen großen Bruder umso heftiger.

Lysi lächelte. »Du würdest ihn mögen. Ich glaube, er ist so ähnlich, wie Nilus war.«

»Wie Nilus ist, nicht wie er war«, korrigierte ich sie. »Er kann immer noch heimkommen.«

Lysi ergriff meine Hand. Ihre eisige Berührung sog das letzte bisschen Wärme aus meinem Körper. »Natürlich wird er heimkommen.«

Das würde er. Bevor er in sein Massaker gezogen war, hatte ich ihm nämlich meinen Onyx-Ring als Glücksbringer gegeben. Den hatte er mir eines Tages geschenkt, nachdem er vom Training heimgekommen war. Er hatte behauptet, dass er den Ring in einem Baumstamm gefunden hatte, dabei hatte er ihn wahrscheinlich gekauft – aber wir glaubten beide manchmal gern an Magie.

»Meela!«

Ich ließ Lysis Hand los und sprang auf. Von jenseits des Waldes trug der Wind Mamas Stimme herüber.

Als ich mich wieder umdrehte, um mich von Lysi zu verabschieden, war sie schon weg. Wellen gingen von der Stelle aus, an der sie untergetaucht war. Inzwischen regnete es stärker und Regentropfen prasselten auf die Wasseroberfläche und liefen an meiner Nase herunter. Schon bald waren Lysis Wellen verschwunden. Niedergeschlagen stopfte ich meine Gummistiefel in den Rucksack und schulterte ihn.

Ich nahm den Weg durchs Gebüsch, damit es so aussah, als käme ich von der Straße. Mich durch Brombeerranken zu kämpfen war immer noch besser, als dass Mama und Papa merkten, dass ich am Strand gewesen war.

Rauchschwaden stiegen träge aus dem Schornstein auf. Ich konnte es nicht erwarten, am warmen Feuer zu sitzen, darum legte ich den Rest des Weges rennend zurück.

Die Haustür klemmte und ging erst auf, als ich mich mit dem ganzen Gewicht dagegenstemmte.

»Du bist eine richtige kleine Streunerin«, meinte Mama. »Immer treibst du dich irgendwo herum. Und nie weiß ich, wo du bist.«

»Ach, Mama. Wo sollte ich denn groß hinlaufen?«

Es roch merkwürdig, ein bisschen nach Gemüsesuppe. Mama sah auf, als ich die Küche betrat, und sofort fiel ihr Blick auf die Muscheln, die ich um den Hals trug. Die Schöpfkelle fiel ihr aus der Hand und landete klappernd auf der Arbeitsplatte. »Wo hast du das her?«

Ich lugte an ihr vorbei in den dampfenden Topf, der auf dem Herd stand. »Was gibt’s zum Essen?«

»Brennnesselsuppe. Woher hast du diese Kette, Meela?«

Ich legte meine Hand auf eine Muschel und rieb über ihre glatte Unterseite. Hätte ich die Kette besser verstecken sollen? »Ich hab sie gefunden.«

Sie wischte die Hände an ihrem Kleid ab und trat auf mich zu. »Du weißt doch, dass du nicht an den Strand gehen darfst, Meela. Ich muss dir verbieten, allein rauszugehen, wenn du –«

»Ich hab sie nicht am Strand gefunden. Sie lag auf der Wiese. Mach dir keine Sorgen.«

Sie seufzte, griff nach einer Muschel und drehte sie um. »Die Kette ist sehr hübsch. Versteck sie gut. Dein Vater darf sie auf keinen Fall finden.«

Lächelnd umarmte ich sie und kuschelte mich an ihren weichen Bauch, den sie unattraktiv fand, ich hingegen wunderbar gemütlich. Sie war so viel wärmer als Lysi. »Mach ich.«

Mama drückte mich an sich, ehe sie mich ein Stück wegschob und meine Füße musterte. »Es gibt da diese großartige Erfindung namens Schuhe. Na los, wasch dich und komm zum Essen.«

Ich hatte noch keine zwei Schritte gemacht, da fügte sie hinzu: »Und kämm dir die Haare. Die sehen aus wie ein Vogelnest.«

Ich strich mir eine verfilzte Strähne aus dem Gesicht. Warum konnten meine Haare nicht so glänzen wie Lysis? Selbst wenn Seetang darin steckte, waren sie noch schön.

Ich fuhr mit den Fingern durch die wilden Locken und duckte mich durch den Perlenvorhang an meiner Zimmertür. Mama mochte ihn nicht, weil er sie immer beim Putzen störte, aber ich liebte ihn. Die meeresblauen Perlen gaben mir das Gefühl, in einer Grotte zu leben. Den Rest des Zimmers hatte ich passend dekoriert. An mehreren Stellen hatte ich grüne Bänder angebunden, die Seetang sein sollten. Natürlich hatte ich das Mama und Papa nie erzählt – ihnen gefielen solche Fantasien nicht.

Ich versteckte meine Kette ganz unten im Schrank. Der Großteil meiner Kleidung hing nämlich nicht auf den Bügeln, sondern lag auf dem Schrankboden.

»Verrat es niemandem«, sagte ich zu Charlotte, die mich – reglos und unbeteiligt wie eh und je – von ihrem Platz am Fenster aus beobachtete.

Ich hatte mich über Charlottes plötzliches Auftauchen nicht sonderlich gefreut, aber mein Fenster bot ihr den perfekten Platz, um Fliegen zu fangen, also hatte ich ihr erlaubt, zu bleiben und ihr Netz zu spinnen. Sie sollte nicht meinetwegen hungern müssen. Das war jetzt schon einige Wochen her. Als sie keine Anstalten gemacht hatte, wieder zu verschwinden, hatte ich sie nach einer Figur aus einem amerikanischen Buch benannt, das Mama mir einmal vorgelesen hatte. Ich mochte die Geschichte. Es ging darin um Freundschaft und Loyalität und darum, dass Freundschaft keine Grenzen kennt – auch dann nicht, wenn die Freundin eine Spinne ist und gern Insekten tötet und frisst.

Ich beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie im Wind schaukelte. Dann war ich endlich hungrig genug für Brennnesselsuppe.

Die Haustür knarrte. Papa war da. Ich beeilte mich, mir in der Badewanne die Füße zu waschen. Zum Abtrocknen schlurfte ich über die Badematte.

Als ich die Küche betrat, hatte Papa mir den breiten Rücken zugewandt. Riesig ragte er über Mama auf. Der Geruch nach Petroleum und Holzspänen, der an ihm haftete, überdeckte den Brennnesselgeruch der Suppe.

»… schlechtes Gefühl dabei«, grollte er. Als ich mir einen Stuhl heranzog, drehte er sich mit zusammengekniffenen Augen zu mir um. »Schön, dass du dir auch die Ehre gibst, Metlaa Gaela.«

Lautlos setzte ich mich. Papa nannte mich meistens bei meinem vollen Namen. Er und Mama hatten mich nach der Erde und einer Art Muttergottheit benannt, was ich furchtbar fand. Das Meer war mir lieber als die Erde, und ich würde mich eher um eine Schnecke kümmern als um ein Baby.

»Wie war dein Tag, Papa?«, fragte ich, den Blick auf meine Hände gerichtet. Sie waren immer noch schmutzig.

»Im Laden war nichts los«, knurrte er. »Den Leuten sitzt das Geld alles andere als locker.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also hielt ich den Blick weiter gesenkt und nickte.

Mama trat an den Tisch und stellte unsere größte Schüssel, die voll war mit dampfender Suppe, vor Papa.

»Ein Mann braucht Fisch«, meinte Papa und musterte die Schüssel stirnrunzelnd.

»Ich weiß, Schatz.« Mama wirkte besorgt.

»Ich nehme Milch dazu.«

Mama eilte zum Kühlschrank und schenkte ihm ein Glas ein. Papa stürzte es hinunter und hielt es ihr dann entgegen, damit sie es erneut füllte. Er nahm noch einen Schluck, dann stellte er das Glas ab und widmete sich seiner Suppe. Mama brachte mir eine viel kleinere Schüssel und ein Glas Wasser.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, fragte Papa und warf einen bedeutungsvollen Blick auf meinen vollgepackten Rucksack, der neben der Tür stand.

Ich rührte in meiner Suppe herum. »Noch nicht.«

»Warum nicht?«

Ich zuckte mit einer Schulter.

Er schaute demonstrativ auf die alte, handgemachte Uhr an der Wand. »Es ist fünf. Du hättest das gleich nach der Schule erledigen sollen. Ich will keine faule –«

»Ich war bei Annith«, sagte ich leise, während ich immer noch in der Suppe rührte.

»Was?«

Mama setzte sich zu uns. »Sie war bei einer Freundin.«

Das war fast nicht gelogen. Ich war nach der Schule eine ganze Stunde bei Annith gewesen, bevor ich mich mit Lysi getroffen hatte.

»Unter der Woche?«, fragte Papa.

»Sie ist erst zehn. In dem Alter haben sie noch nicht so viele Hausaufgaben«, sagte meine Mutter.

»Dann gib ihr was im Haushalt zu tun, Hana. Sonst wird sie noch faul.«

Darauf erwiderte Mama nichts, doch ich wusste, dass sie ihm nicht zustimmte. Ich half ihr immer, wenn sie mich darum bat.

Während Papa sich wieder seiner Suppe widmete, schenkte Mama mir unauffällig ein aufmunterndes Lächeln. Ich fühlte mich gleich etwas besser.

Ich hob den Löffel an die Lippen und kostete vorsichtig, weil ich damit rechnete, dass die Suppe grasig und bitter schmeckte. Aber sie war voller Aromen. Ich strahlte Mama an. Es war so beeindruckend, wie sie es immer wieder schaffte, aus Unkraut und Resten etwas Köstliches zu zaubern.

»Das schmeckt super!« Ich hob die Schüssel an den Mund, um sie schnell leer zu trinken.

»Mit Fleisch wäre es besser«, meinte Papa.

Mama gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das so etwas wie Zustimmung oder Bedauern ausdrücken sollte. Den Rest der Mahlzeit verbrachten wir schweigend. Ich lauschte dem lauten Ticken der Uhr, dann einem plötzlichen Regenguss, der gegen das Fenster prasselte, und dann wieder der Uhr. Ich dachte an die Kette, die in meinem Schrank lag, bunt und glänzend. Ich musste sie in die Schule schmuggeln und Annith zeigen.

»Es gibt heute gute Neuigkeiten«, sagte Mama, nachdem sie aufgegessen hatte.

Ich sah auf. »Vom Massaker?«

»Es heißt, dass der Leuchtturm eine Sichtung gemeldet hat.«

»Nilus’ Schiff?«

Sie legte eine Hand auf meine. »Nein, Liebes. Das von diesem Jahr.«

»Oh.«

Sie schaute zu Papa, der weiter stur seine Schüssel fixierte.

»Das ist trotzdem eine gute Nachricht, oder?«, fragte ich.

»Natürlich ist es das. Elaila wird außer sich sein vor Freude, ihren Mann wiederzusehen.«

Unsere Nachbarin Elaila hatte mit siebzehn ihren Freund geheiratet, kurz bevor der ins Massaker gezogen war.

Papa legte seinen Löffel ab. »Wenn sie Erfolg gehabt hätten, wüssten wir das. Dann würden wir nicht ständig Meerjungfrauen sichten, dann wäre das Ungeziefer nämlich ausgerottet.«

Mama zischte: »Nicht vor …« Mit dem Kopf deutete sie auf mich.

Ich runzelte die Stirn. »Ich komm schon damit klar. Ihr glaubt nicht, dass sie überleben werden, oder?«

Papa zog vielsagend die Augenbrauen hoch und fixierte Mama.

Ich senkte den Blick auf meine leere Schüssel. Warum gab es jeden Frühling ein Massaker, wenn die doch nichts brachten? Jedes Jahr fingen wir weniger Fisch, den wir brauchten, um Handel zu betreiben. Darum kamen auch kaum noch Waren in unseren Hafen. Jedes Jahr mussten mehr Boote im Hafen liegen bleiben, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis die Meerjungfrauen die Nase voll hatten und ein weiteres unserer Schiffe im Golf von Alaska sank. Und es wurde immer schlimmer. Obwohl wir versuchten, die Situation in den Griff zu bekommen, gingen jedes Jahr nur noch mehr junge Männer auf See verschollen.

»Ob sie nun zurückkommen oder nicht: Für unsere Insel sind sie Helden«, meinte Papa. »Eriana Kwai wählt nur die besten Jungs aus, um ins Massaker zu ziehen. Und ich bin überzeugt davon, dass sie mit allem, was sie haben, für unsere Freiheit gekämpft haben.«

»Also halt morgen die Ohren offen, damit du die Heimkehrglocke hörst, Meela«, sagte Mama.

Ich kratzte an den Resten in meiner Schüssel herum. »Mach ich.«

Nur zur Zeit des Massakers durften wir uns in der Nähe des Meeres aufhalten – am ersten Mai, um den Kriegern bei ihrer Abfahrt Glück zu wünschen, und dann mit Glück noch einmal ein paar Wochen später, wenn sie die Meeresungeheuer vertrieben hatten. Kurz bevor das Schiff anlegte, läutete der Junge im Ausguck eine große, rostige Glocke, und dann eilten alle zum Hafen, um sie zu begrüßen.

Vor zwei Jahren war mein Bruder zusammen mit neunzehn anderen Jungs weggesegelt. Seit drei Jahren hatte die Heimkehrglocke nicht mehr geläutet.

Kapitel 3

Tiefe Gewässer

»Unglaublich! Wo hast du die her? Hast du die selbst gemacht? Wie viele Muscheln sind das? Wow, ist das Seetang? Wissen deine Eltern, dass du die hast? Darfst du sie behalten?«

Annith war völlig aus dem Häuschen, als ich ihr in der Pause die Halskette zeigte. Neben Lysi war sie meine beste Freundin – wobei sie dachte, dass sie meine einzige beste Freundin war. Sie wusste nämlich nichts von Lysi.

»Ich hab sie am … in der Nähe vom Strand gefunden«, sagte ich und streifte mir die Kette über den Kopf. »Es sind zwölf Muscheln und ja, Mama weiß von der Kette. Sie findet sie sehr hübsch.«

Annith starrte mich aus großen grünbraunen Augen an. Sie schob einen ihrer Ärmel hoch und streckte die Hand aus, um eine Muschel zu berühren. Wie meistens trug sie auch heute ein Kleid, das früher ihrer Schwester gehört hatte und in dem sie winzig und zerbrechlich aussah.

»Vielleicht hat eine Meerjungfrau die Kette gemacht«, hauchte sie.

»Vielleicht.« Ich gab mir alle Mühe, nicht zu begeistert zu klingen.

Sie beugte sich vor und redete noch leiser. »Glaubst du, die tragen auch Schmuck?«

Eine laute, missbilligende Stimme unterbrach uns. »Was ist das?«

Wir drehten uns gleichzeitig um.

Dani stand vor uns.

Als wir nicht sofort antworteten, stemmte sie die Hände in die Hüften. Sie starrte uns aus zusammengekniffenen Augen an, was ihr Gesicht noch spitzer und hagerer wirken ließ. Dani war der fieseste Mensch, den ich kannte, seit wir uns im Kindergarten kennengelernt hatten. Sie hatte die Klassenzimmertür zugeworfen und meine Finger eingequetscht und dann laut gelacht, als ich in Tränen ausbrach.

»Hat dir dein Bruder das vom Meeresgrund geschickt?«, höhnte sie.

Ich schloss den Reißverschluss meiner Jacke, um die Kette vor ihr zu verbergen. »Pass auf, was du sagst.«

Sie lachte unbeeindruckt.

»Das ist mein Ernst!« Hitze stieg mir in die Wangen. »Wenn du so weitermachst, wird noch jemand dich vom Meeresgrund heimschicken müssen.«

Annith keuchte auf. »Meela!«

Dani straffte die Schultern und verzog das Gesicht. »Du solltest keine Muscheln haben. Außer du willst der ganzen Insel zeigen, dass du auf der Seite der Menschenfresser stehst.«

»Nennst du sie etwa gerade eine Verräterin?«, fragte Annith.

Dani ignorierte sie. »Muscheln bringen Unglück, und das weißt du auch. Wirf sie weg, sonst –«

»Sonst?«, wiederholte ich. »Was willst du sonst machen?«

Sie ließ die Arme sinken und ballte die Hände zu Fäusten.

Annith schob sich beschwichtigend zwischen uns. »Vielleicht sollten wir –«

»Halt du dich da raus, Hasenzahn.«

Ich drängte mich energisch an Annith vorbei. »Red nicht so mit meiner Freundin!«

Annith drehte sich zu mir um, stemmte beide Hände gegen meine Brust und schob mich zurück, bevor ich reagieren konnte. »Gehen wir einfach.«

Sie nahm meine Hand und zog mich weg. Ich sah noch einmal über meine Schulter nach hinten. Dani marschierte schon zurück zu ihren Freunden, den drei Jungs, die immer miteinander darum stritten, wer im Sportunterricht ihr Partner sein durfte. Sie hatten unsere Auseinandersetzung aus einiger Entfernung beobachtet.

»Ignorier sie einfach«, sagte Annith und zog meine Aufmerksamkeit so wieder auf sich. »Ständig lässt du dich von ihr provozieren.«

»Sie soll sich nicht immer in Sachen einmischen, die sie nichts angehen.«

»Ich weiß.«

Ich schnaubte. »Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt irgendwelche Freunde hat. Keine Ahnung, wie die Jungs es aushalten, mit so einem Stachelschwein abzuhängen.«

»Jungs ist es egal, ob ein Mädchen fies ist. Hauptsache, sie ist hübsch.«

Dani hatte ultralange Beine, ultrawelliges Haar und ultravolle Lippen und die Jungs schmachteten sie geradezu an. Annith hatte recht.

Wir stapften durch die schlammige Wiese hinter der Schule. Erst als wir den Erianengraben erreichten, wagte Annith es, meine Hand loszulassen.

Auf diesem Feld befand sich der größte Tümpel der Insel. Er war so groß, dass niemand wusste, wie tief er in der Mitte war. Vor einer Weile hatten ihm ein paar Jugendliche den Namen Erianengraben gegeben. Manchmal versuchte jemand, bis zur Mitte vorzudringen – meistens als Mutprobe. Aber niemand hatte es je weiter als hüfttief hineingeschafft, bevor ein Lehrer heranstürmte und wir alle Ärger bekamen. Die meisten Kinder spielten in den Pausen am Tümpel, ließen Papierboote darin treiben und stellten Wetten an, welches am längsten durchhielt. Der Boden des Tümpels war inzwischen bestimmt ein Papierbootfriedhof.

»Vielleicht solltest du die Kette verstecken«, meinte Annith. »Dani ist bestimmt nicht die Einzige, die findet –«

»Mann über Bord!«, rief ich und deutete auf den Tümpel.

Annith kniff suchend die Augen zusammen, verstand aber ganz offensichtlich nicht, was ich meinte.

»Eine Hummel. Sie ertrinkt.« Ich deutete auf das Insekt, das hilflos im Wasser strampelte. »Wir müssen sie retten!«

Schweigend beobachtete Annith, wie ich den Boden nach etwas absuchte, womit ich der Hummel helfen konnte.

»Meine große Schwester meint, dass uns bald eine Hungersnot bevorsteht«, sagte sie nach einer Weile.

Ich nahm ein vollgesogenes Ahornblatt vom Boden. »Das ist doch Quatsch.«

»Ist es nicht. Sie meint, es ist zu gefährlich, fischen zu gehen. Außerdem haben die Meerjungfrauen sowieso alles weggefressen.«

»Deshalb bekommen wir ja auch Nahrungsmittel vom Festland.« Ich warf das Blatt beiseite und griff nach einem schlammigen Ast.

»Aber sie greifen die Schiffe an, die uns die Nahrungsmittel bringen.«