Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart - Hubert Fichte - E-Book

Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart E-Book

Hubert Fichte

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Beschreibung

Anfang der Sechzigerjahre lernten sie sich kennen: Hubert Fichte, der junge und ambitionierte Schriftsteller, der seine Homosexualität zum Programm erhob. Und die Architektur-Fotografin Leonore Mau, die das bürgerliche Familienleben satt hatte. Es entstand eine außergewöhnliche Liebesbeziehung und produktive künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die bis zu Fichtes Tod 1986 anhielt. Die rund achtzig erhaltenen Briefe Fichtes an Leonore Mau zeugen von einem schonungslosen Umgang, vom Ringen um Autonomie innerhalb der Beziehung und von dem unbedingten Willen, ihre gemeinsame Kunst durchzusetzen. Sie überraschen aber auch durch Fürsorge und das tiefe Vertrauen, auf dem diese offene und doch innige Partnerschaft beruhte.

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Seitenzahl: 190

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Hubert Fichte

Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart

Briefe an Leonore Mau

Herausgegeben von Peter Braun

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoEinleitungMontjustinZettel, Kurzbriefe, Postkarten und ein TelegrammRom, Agadir, SyltLibanon, Tunesien, TansaniaIstanbul, London, New York, BizertaAgadir und zwei letzte BriefeAbb. 27: Leonore Mau im [...]Nachwort1.2.3.4.5.6.7.8.9.HinweiseDank

Ein Brief bezeichnet dauerhaft einen Augenblick, und kein Augenblick hat Dauer.

 

Adelbert von Chamisso an Rosa Maria Varnhagen

Einleitung

Hubert Fichtes Briefe an Leonore Mau sind rare Dokumente. Kurz vor seinem Tod hat der Schriftsteller alle Materialien sortiert und verfügt, was nachgelassen und was vernichtet werden sollte. Alles Private, vor allem seine Tagebücher und Briefe, sollten entsorgt werden, übrig bleiben nur, was zum Umfeld seines literarischen Werks zählte: recherchierte Dokumente, Manuskripte, Rezeptionszeugnisse. Leonore Mau hielt sich an die Verfügung. Nur von den Briefen, Postkarten und Zetteln, die Hubert Fichte an sie geschrieben hatte, konnte sie sich nicht trennen.

Die Schriftstücke fanden sich als unsortiertes Bündel in den Hinterlassenschaften von Leonore Mau, als sie im September 2013 im Alter von 97 Jahren verstarb. In einigen Fällen waren die Briefe noch den Umschlägen zugeordnet, in denen sie verschickt worden waren. In anderen Fällen waren sie voneinander getrennt und in separaten Stapeln abgelegt worden. Dazwischen hatten sich einige Postkarten und eine Reihe von kurzen Nachrichten und Notizen geschoben.

Schnell zeigte sich, dass die erhaltenen Briefe die gesamte Zeit von Anfang der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre umfassten, die Leonore Mau und Hubert Fichte gemeinsam verbracht hatten. Erste Stichproben förderten aufschlussreiche und anrührende Passagen zutage. Auf Anhieb fesselten die Briefe, die Hubert Fichte in den ersten Monaten des Jahres 1962 aus Montjustin geschrieben hatte. Es war die Zeit des Anfangs, als sich ein gemeinsames Leben gerade erst abzeichnete und Hubert Fichte noch vorsichtig und zugleich emphatisch von »Freundschaft« zwischen ihnen sprach. Schwierige Situationen wurden in den Briefen beschrieben, die existentielle Entscheidungen erzwangen, aber auch grundlegende Regeln für ein gemeinsames Leben aushandelten. Bei einer anderen Stichprobe erwies sich ein Brief aus Agadir, Anfang April 1970 geschrieben, als biographisches Pendent zu jenem existentiellen Augenblick der Angst, aus dem heraus Hubert Fichte seinen formal anspruchsvollsten Roman Der Platz der Gehenkten gestaltet hat.

Überraschenderweise entpuppte sich eines der Schriftstücke als Entwurf, der aus der Hand von Leonore Mau stammte. Da ihre Briefe als verloren gelten müssen – vermutlich befanden sie sich unter den vernichteten Dokumenten –, bildet dieser Entwurf das einzige Zeugnis ihres Teils des Briefwechsels.

Viele Gründe sprachen also dafür, sich der Schriftstücke anzunehmen, sie zu transkribieren und zu ordnen. Diese Aufgabe war jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Die erste bot die Handschrift Fichtes. Der Schriftzug ist eher klein und zudem unregelmäßig. Manchmal dehnt er Silben mit weiten Abständen zwischen den Buchstaben in die Länge; ein anderes Mal rafft er sie und schiebt die Buchstaben ineinander. Einzelne Wörter sind zudem oftmals nicht zusammengeschrieben. Stattdessen sind sie unterbrochen und setzen, nach einem kleinen Leerraum, mit dem nächsten Buchstaben neu an. Auch Rechtschreibung und Zeichensetzung sind flüchtig, fehlerhaft und inkonsequent. Stärker noch als bei seinen literarischen Arbeiten gilt hier, dass nicht jeder Flüchtigkeitsfehler schriftstellerischer Ausdruckswille ist. Deshalb sind die Briefe in Rechtschreibung und Zeichensetzung vereinheitlicht und behutsam an die zur Entstehungszeit gültigen Regeln angepasst worden, ohne ihren grundlegenden Charakter zu verändern.

Auch versah Hubert Fichte seine Briefe nur selten mit Ort und Datum. Die Chronologie der Briefe musste demnach in vielen Fällen aus den Inhalten geschlossen werden. Bei anderen wiederum gelang es, sie den Umschlägen zuzuordnen, die sich erhalten haben. Nicht immer ist darauf allerdings der Poststempel zu entziffern, so dass nur ungefähre Angaben gemacht werden können. In einigen wenigen Fällen schließlich konnte eine Zuordnung aufgrund des Briefpapiers und der Form des Umschlags erfolgen.

Ferner galt, nicht allein auf die philologische Sorgfalt zu achten. Zwar hatte die richtige zeitliche Einordnung immer Vorrang. Zugleich sollte sich aus der zeitlichen Abfolge jedoch auch ein nachvollziehbarer und in sich stimmiger Aufbau ergeben – eine Dramaturgie der Dokumente. Denn im Idealfall fügt sich eine Briefedition schließlich zu einem lesbaren Gesamttext, der, wenn auch gebrochen und lückenhaft, eine Geschichte erzählt.

Eine weitere Schwierigkeit bereiteten die teilweise großen Lücken zwischen den Briefen. Hubert Fichte schrieb an Leonore Mau immer nur in den Zeiten, in denen sie nicht an einem Ort lebten oder gemeinsam auf Reisen waren. Und auch selbst in diesen Zeiten benutzten sie, neben Briefen, immer auch das Telefon, um miteinander in Kontakt zu bleiben. Manche Briefe erwecken sogar den Anschein, als dienten sie vor allem dazu, sich für das nächste Telefongespräch zu verabreden. Diese Zeiten jedoch wurden immer weniger. Vor allem in den 1970er und frühen 1980er Jahren unternahmen sie ihre großen und zeitlich langen, sich manches Mal über ein ganzes Jahr hinstreckenden Forschungsreisen gemeinsam. Nur gelegentlich, mit Vorliebe in den grauen Monaten zu Beginn eines Jahres, zog sich Hubert Fichte gerne für einige Wochen zum Schreiben in den Süden zurück, meist in den Mittelmeerraum nach Marokko, Tunesien oder auch in den Libanon. Durch seine mehrfachen schweren Erkrankungen an Hepatitis litt er an einer hohen Kälteempfindlichkeit, die ihn physisch und psychisch stark einschränkte.

Um den punktuellen Charakter der Briefe nicht zu verdecken und zugleich den damit verbundenen Verständnisschwierigkeiten zu begegnen, sind die Briefe in zeitliche Abschnitte eingeteilt. Jedem dieser Abschnitte, die Kapiteln ähneln, ist eine kurze Einführung vorangestellt. Darin werden sowohl die jeweilige biographische Situation als auch die Bedingungen und Absichten ihrer gerade verfolgten gemeinsamen Arbeit skizziert. Hinzu kommen die direkt unter die Briefe gesetzten Anmerkungen. Sie klären, wo es zum Verständnis notwendig ist, über Namen oder Sachverhalte auf, und verweisen, wo es dem Verständnis dient, auf die literarischen Texte Hubert Fichtes oder auf die gemeinsamen Arbeiten mit Leonore Mau.

Im Nachwort schließlich wird der Versuch unternommen, Hubert Fichtes Briefe an Leonore Mau im Zusammenhang mit den übrigen Briefen zu sehen, die sich von ihm erhalten haben. Ferner werden die Briefe darin als Zeugnisse des Alltags genommen, die Aufschluss über die Art ihres Zusammenlebens und deren Entwicklung geben. Zuletzt wird angedeutet, welche Konsequenzen sich aus den Briefen für die Wahrnehmung des literarischen Werks von Hubert Fichte ergeben. Es endet mit einem Plädoyer, die Figur der Irma – die literarische Stellvertreterin von Leonore Mau – aufzuwerten und deren Perspektive gerade für Die Geschichte der Empfindlichkeit fruchtbar zu machen.

Doch bildet das alles nur den Rahmen für die Lektüre der Briefe, Postkarten und Zettel. Das Übrige bleibt der Empathie der Lesenden und ihrer sprachlichen Empfindlichkeit überlassen, die sich ja lange nicht in den Inhalten erschöpft. Welchem Duktus die Briefe folgen, welchen Tonfall und Rhythmus sie anschlagen, welche Gesten sie vollführen, was zwischen den Zeilen steht, was nur angedeutet oder sogar mit Kalkül nicht geschrieben worden ist – das alles bringen Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft in den Akt des Lesens ein.

Diese Briefedition erscheint zum 1. August 2016. Es wäre der 100. Geburtstag von Leonore Mau gewesen. Das Datum bietet einen würdigen Anlass, diese seltenen, privaten Schriftstücke zu veröffentlichen. Sie geben Einblick in das Leben eines außergewöhnlichen Künstlerpaares, das neue, weltoffene Wege in der Literatur und in der Fotografie beschritten hat. Sie erzählen von einer letztlich wohl ›glücklichen Liebe‹, die ihre Kraft und Produktivität daraus bezog, dass sie sich sowohl gegen die Werte und Normen der bürgerlichen Welt stellte, als auch gegen jene der sich gerade öffentlich zeigenden und ausbildenden Gegenkultur der Homosexuellen.

Die Briefe sind Zeugnisse des Augenblicks, aus ihm entstanden und an ihn gebunden. Sie sind von einer gr0ßen Offenheit geprägt. Freimütig spricht Fichte seine Gefühle und sein sexuelles Verlangen an, ist stets um Unabhängigkeit und Freiräume bedacht, als schwuler Mann ebenso wie als Schriftsteller. Die Briefe belegen aber auch eine große Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit für Leonore Mau, stecken voller Fürsorge und Mitgefühl. Nicht zuletzt bezeugen sie eine große Achtung Hubert Fichtes gegenüber der fotografischen Arbeit von Leonore Mau und sprühen vor Ideen für gemeinsame Projekte.

Abb. 1: Das erste Porträt, das Leonore Mau von Hubert Fichte aufgenommen hat. Es ist 1957 bei einem der Besuche Fichtes im Haus des Ehepaars Mau in Hamburg-Blankenese entstanden.

Montjustin

Januar bis März 1962

Im Jahr 1950 kam der fünfzehnjährige Hubert Fichte an der Seite des Schauspielers und Regisseurs Alexander Hunzinger in das Haus des Ehepaars Mau in Blankenese. Dort traf er auf die zwanzig Jahre ältere Leonore Mau, die zusammen mit ihrem Ehemann Ludwig, einem Architekten mit literarischer Neigung, gelegentlich Freunde und Literaturinteressierte zu einem Sonntagnachmittagsgespräch einlud. Ein erster Kontakt, der noch ganz in getrennten Sphären verlief, war gestiftet. Danach verloren sie sich wieder aus den Augen.

Hubert Fichte zog es in den folgenden Jahren immer wieder nach Frankreich. 1952 wurde ihm ein Stipendium für einen Sommersprachkurs Französisch an der Universität von Poitiers zugesprochen. Im Anschluss reiste er auf den Spuren Hans Henny Jahnns durch den Südwesten Frankreichs, um sich die romanischen Kirchen und Klöster anzusehen. 1953 trampte er erneut durch Frankreich. 1954 schließlich lebte er für einige Zeit in Paris auf einem Hausboot auf der Seine und arbeitete in der Obdachlosenorganisation des Abbé Pierre mit. Dort infizierte er sich mit einer schweren Hepatitis und musste nach Hamburg zurückkehren.

Nach einem halben Jahr Rekonvaleszenz begann Hubert Fichte 1955 eine Landwirtschaftslehre in Süderholm bei Heide in Norddeutschland, die er 1957 mit der Gesellenprüfung beendete. Von dort aus besuchte er gelegentlich das Ehepaar Mau in Hamburg. Aus dieser Zeit stammt auch das erste Porträtfoto, das Leonore Mau von Hubert Fichte aufgenommen hat. (Abb. 1) In einem Gespräch aus dem Jahre 2006 fragt die in Hamburg lebende Filmemacherin Nathalie David, die Leonore Mau in ihren letzten Lebensjahren begleitet hat, nach diesem ersten Foto: »Du hast damals, 1957, Hubert Fichte fotografiert. War das ein Wunsch von dir oder von ihm?« Darauf antwortet Leonore Mau: »O Gott, das kann ich nicht beantworten. Das entstand einfach so.« Worauf Nathalie David weiterfragt: »Und, hast du dich durch das Objektiv verliebt, als du ihn fotografiert hast?« Die Antwort: »Nein, nein – ohne Objektiv.«

Die Frage ist berechtigt. Denn für die zwanzig Jahre ältere Leonore Mau standen die 1950er Jahre ganz im Zeichen der Fotografie. Sie ermöglichte ihr ein ›zweites Leben‹. Aufgewachsen in Leipzig, hatte Leonore Mau zunächst ab 1934 an der dortigen Kunstgewerbeschule Bühnenbild studiert und 1937 mit gerade zwanzig Jahren Ludwig Mau geheiratet. In demselben Jahr war auch ihr Sohn Michael geboren worden, einige Jahre später folgte ihre Tochter Ulrike. Das Kriegsende hatte die Familie schließlich nach Hamburg verschlagen.

Michael zeigte bald eine hohe Begabung für das Zeichnen. Früh durfte er die Hochschule für Bildende Künste in Hamburg besuchen und wurde dort von Alfred Mahlau unterrichtet. Er galt als Wunderkind. Angesteckt durch die Leidenschaft ihres Sohnes, entdeckte Leonore Mau die Fotografie für sich. Sie wandte sich zunächst an Alfred Mahlau, der sie ermutigte und ihr eine erste Veröffentlichung vermittelte. Bei dem Fotografen Wolfgang Etzold ging sie daraufhin in die Lehre. Von ihm erwarb sie auch ihre erste eigene Leica-Kamera, die sie in Raten abbezahlte. Die Aufträge mehrten sich, und nach und nach erweiterte sie ihre Fotoausrüstung und richtete sich eine eigene Dunkelkammer ein. So wurde die Fotografie, schon Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kunst, die auch Frauen offenstand, für sie zu einem Medium der Emanzipation. Sie ging einer eigenen Arbeit nach, reiste alleine und sicherte sich, wenn auch in bescheidenem Maß, eine finanzielle Unabhängigkeit. Langsam löste sie sich aus ihrer Ehe.

Hubert Fichte ging indessen, nachdem er als letzten Teil seiner Ausbildung ein Praktikum auf einer Pferdezucht bei Hannover absolviert hatte, 1958 nach Schweden. In Järna übernahm er den landwirtschaftlichen Bereich in einem anthroposophisch orientierten Kinderheim, der Sålta Arbetsskola. Dort fing er, der als Kind und Jugendlicher in einer Reihe von Inszenierungen als Schauspieler mitgewirkt hatte, selbst an, eigene Theaterstücke zu verfassen. Auch inszenierte er mit den behinderten Kindern und den Betreuern ein Theaterstück: Ödipus, in der Fassung von Sophokles. Im Herbst 1959 kehrte er schließlich in die Provence zurück – nach Montjustin. Dort nahm ihn die Familie Fiorio auf.

Seit den späten 1940er Jahren hatten die Fiorios das verlassene Bergdorf Montjustin, in der Nähe von Reillanne – dieser Name steht auch auf dem Poststempel der meisten Briefe Fichtes aus der Provence – zu neuem Leben erweckt. Sie betrieben dort Landwirtschaft, mit Schafen und Schweinen, mit Oliven und Obstbäumen. Beeinflusst waren sie durch die Ideen des Schriftstellers Jean Giono, mit dem sie auch familiär verwandt waren. Dieser hatte in seinen Büchern die bäuerliche Kultur und das Leben auf dem Land verherrlicht und zu einem gemeinschaftlichen, einfachen Leben aufgerufen, zu dem auch künstlerisches Arbeiten gehörte.

Bereits auf seiner zweiten Reise durch Frankreich im Sommer 1953 hatte auch Hubert Fichte Jean Giono besucht. Darüber hatte er Aldo Fiorio kennengelernt, sich in ihn verliebt und ihn ein Jahr später in Montjustin besucht. Dort begegnete er auch Aldos Bruder Serge, der Bilder im naiven Stil malte. Im Herbst 1959 war es nun Serge, der Fichte aufforderte, in Montjustin zu bleiben. Die eine Hälfte des Tages könne er schreiben, die andere in der Landwirtschaft mitarbeiten, so lautete sein Angebot. Serge, bereits fünfzig Jahre alt, hatte seine homosexuelle Neigung bis dahin unterdrückt und suchte nun auch sexuellen Kontakt. Fichte ließ sich darauf ein. Was er schon mehrfach suchte und versuchte, hier schien es sich zu erfüllen: eine feste schwule Lebensgemeinschaft mit einem Mann, die zugleich durch die Landwirtschaft geerdet und künstlerisch produktiv ist: der eine malt, der andere schreibt.

Doch das Lebensgefüge in Montjustin stand unter latenter Dauerspannung. Gelegentlich flackerte noch das alte Begehren nach Aldo auf, was wiederum zu Eifersucht auf Seiten von Serge führte. Schwerwiegender jedoch war, dass Serge die Beziehung zu Hubert Fichte unter allen Umständen geheim halten wollte. In der engen Dorfgemeinschaft zögerte er, sich öffentlich zu ihrem Zusammensein zu bekennen, was Fichte wiederum missfiel. Doch trotz ihres Streits gelang es Serge immer wieder, Fichte zum Bleiben zu überreden.

1961 verfolgte Fichte, der bereits angefangen hatte, ein Werkverzeichnis für seinen Freund anzulegen, einen Plan, der neuen Schwung in ihre angespannte Beziehung brachte. Er organisierte eine Verkaufsausstellung in verschiedenen Städten in Deutschland. Sie begann im September 1961 in der Kunsthalle Worpswede, vermittelt durch Fichtes väterlichen Freund Hans Hermann Rief, den Archivar der ehemaligen Künstlerkolonie. Die weiteren Stationen waren die Galerie Brusberg in Hannover, der Hamburger Künstlerclub die insel, das Institut Français in Köln – alle drei noch im Jahr 1961 –, schließlich folgten ab April 1962 das Kulturamt Charlottenburg in Berlin und das Institut Français Stuttgart. In einem Brief an den Jugendfreund und Maler Peter Hinrik Boll, im Sommer 1961 aus Montjustin geschrieben, heißt es euphorisch: »Ich werde also ab dem 10. August mit einer deux chevaux und 50 Bildern in Westdeutschland unterwegs sein, Vorträge halten und Artikel schreiben – wenn alles gut geht, um Serge Fiorio in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen.« (Briefwechsel Peter Hinrik Boll/Hubert Fichte, Staatsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg)

Durch diese Initiative kehrte Hubert Fichte wieder nach Deutschland zurück. Sofern er nicht im Zusammenhang mit der Ausstellung unterwegs war, lebte er in Hamburg – bei seiner Mutter in Lokstedt. In diesen Monaten entdeckte er das Kellerlokal Die Palette, wo sich bei Beatmusik die junge Hamburger Bohème traf. In dieser Zeit sah er auch Leonore Mau wieder. Sie kamen sich schnell näher und verbrachten viel Zeit miteinander. Fichte besuchte sie täglich. Ihre fotografische Arbeit faszinierte ihn, und er fing an, aus ihren Fotografien Collagen zu fertigen – als Illustration zu seinen Dramen, die er immer wieder an Verlage schickte. Es gibt eine Reihe von Fotografien Leonore Maus, auf denen die Stimmung dieser Zeit, die Zartheit des Anfangs festgehalten ist. (Abb. 2)

Anfang 1962 jedoch, die Ausstellung würde erst im Mai weitergehen, brach Hubert Fichte erneut nach Montjustin auf. In den darauffolgenden beiden Monaten schrieb er sehr häufig an Leonore Mau – im Rhythmus von zwei, drei Tagen, bis sie ihn schließlich Mitte März dort besuchte. Aus diesem Zeitraum stammen die nachfolgenden Briefe.

Abb. 2: Hubert Fichte, aufgenommen von Leonore Mau in Hamburg, im Herbst 1961, die Zeit ihres gemeinsamen Anfangs.

 

Dokument 1: Brief

Liebe Lore!

 

Mir ist natürlich wieder speiübel geworden nach unserem Abschied. Ich hätte nie gedacht, daß ich so an Dir hängen könnte. Wie hast Du die Fahrt überstanden? Ich bin für eine Nacht dort zu meinen Heidelberger Freunden geflüchtet – um eine kleine Atempause vor meiner Wiederbegegnung mit Serge zu haben.

In meinem Kopf sah es aus wie in einem Schlangennest. Das Problem, eventuell ein Kind zu haben, brachte mich auf und nieder. Zwei Möglichkeiten schienen mir: Entweder mit Dir einen Hausstand gründen – ohne zu schreiben – oder schreiben und alles geht weiter wie zuvor – ohne Kind.

Dann sah ich Serge. Ich erzählte ihm von uns. Wir verstanden uns wie eh und lachten oft.

Doch mein Hang, in Hamburg sein zu wollen, überdüsterte alles. Und ich war oft drauf und drann zu sagen: Ich komme nie nach Montjustin zurück.

Heute waren wir zusammen in Colmar und haben den Isenheimer Altar gesehen.

Auf der Rückfahrt sagte er mir, daß Montjustin für mich ein Ruhepunkt sein sollte, wohin ich zum Arbeiten kommen könne. Plötzlich ist alles richtig. Ich kann wieder atmen und die Würfel sind also gefallen – gegen das Kind. Ich will schreiben und nach Klärung all dieser Probleme kann ich auch schreiben.

Wir fahren jetzt ein paar Tage in die Schweiz, um Dinge für Serge zu erledigen. Dann fange ich in Montjustin ein neues Theaterstück an.

Ich glaube, daß ich Dich nicht bitten dürfte, ein Kind nicht zu gebären – ein Kind aber ohne Vater und Mutter ist ein Verbrechen. In einer Familiengemeinschaft der Erziehung eines Kindes leben, kann ich nur unter Aufgabe der Kunst.

Hoffen wir also. Ich möchte Dir gerne etwas Zartes sagen. Eine Rose aus Worten. Doch ich bin so unbegabt zum Briefeschreiben und die Gegenwart ist so nahe und ich denke so viel an das, was ich schreiben will – in Deinem grünen Pullover.

Ich freue mich auf das Frühjahr, wenn Du nach Montjustin kommst.

Schreibe mir. Ich erhalte gerne lange Briefe. Und in Deinen Schriftzügen bist Du da!

Vergiß nicht, an Bender die Fotos zu schicken. Ich kann vielleicht jemanden im »Rheinischen Merkur« für Dich interessieren. Wir sprechen noch davon.

Ciao für heute. Umarme Manfred mit aller meiner und deiner Zartheit, er bedarf ihrer. Wildkatzen sind böse und selten. Zwischen mir und Serge herrscht im Augenblick ein zärtliches Einverständnis. Auch das ist viel und das hilft dauern.

Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart

wohin.

 

Dein Hubert.

Anmerkungen:

Isenheimer Altar:

Ein komplexes Altargemälde mit mehreren Schauseiten, Anfang des 16. Jahrhunderts von Matthias Grünewald für das Antoniterkloster in Isenheim gestaltet. Heute ist es im Unterlinden-Museum in Colmar zu sehen. Die einzelnen Gemälde sind in einem schonungslosen Realismus gehalten, als wollte Grünewald ein Gegenprogramm zur italienischen Renaissance entwerfen. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in einem der Seitenflügel, auf dem der Heilige Antonius von Dämonen und Monstern heimgesucht wird.

 

Hans Bender:

Hans Friedrich Bender (1919–2015), Redakteur bei der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung und, zusammen mit Walter Höllerer, Herausgeber der in den 1950er und 1960er Jahren wichtigen Literaturzeitschrift Akzente. Ab 1962 war Hans Bender auch Chefredakteur der im DuMont Verlag erscheinenden Zeitschrift magnum. Die Zeitschrift für modernes Leben. Mit Hans Bender verband Fichte eine lange und herzliche Freundschaft. Hans Bender veröffentlichte im September 1961 mit der Provençalischen Klatschgeschichte und im Dezember 1961 mit Devotionalien und Paramente, jeweils in der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung, die ersten beiden Texte von Hubert Fichte, die in einer überregionalen Zeitung erschienen sind. Auch in den folgenden Jahren druckte er immer wieder Texte von Fichte, vor allem Kunstkritiken.

 

Manfred Schönfelder:

Ein Stammgast in der Palette, Vorlage für die Figur Jürgen im gleichnamigen Roman Die Palette. Für den von Thomas Beckermann herausgegebenen Band Materialien zu Leben und Werk, der zu Hubert Fichtes 50. Geburtstag erschienen ist und den er selbst mitgestaltete, plante er, ein Porträt Manfreds von Leonore Mau mit aufzunehmen. Das unterstreicht dessen Wichtigkeit für Hubert Fichte.

Dokument 2: Brief

[Poststempel: Taninges, Haute Savoi, 22. Januar 1962]

 

Liebe Lore!

 

Es bedrückt mich, daß Du so lange ohne Zeile von mir bliebst. Wie geht es Dir?

Diese letzten Tage waren mit Reisen durch die Schweiz angefüllt und ich hatte keine Lust zum Schreiben. Ich kann Dir kaum alles mitteilen, was alles in meinem Kopf und in meinen Drüsen vorgeht. Kurz angedeutet: Ich weiß genau, was ich will: keinerlei familiäre Bindungen. Ich will frei leben – als Sohn Pans – wenn Du willst und ich will schreiben.

Mein Verhältnis zu Serge rückt sich unmerklich – und wie ich hoffe ohne allzu große Schmerzen auf den richtigen Platz. Wir verstehen uns sehr gut und doch wird mir ganz klar, daß eine einseitige Bindung auch dorthin unmöglich ist.

Morgen bin ich in Montjustin. Dort hoffe ich einen Brief von Dir vorzufinden.

 

Nun einiges Technische:

 

1.) Hast Du die Bilder an Bender gesandt,

2.) sind dabei einige Collagen?

3.) Warst Du bei der WELT bei Hans Dieter Sander

mit meiner Kurzgeschichte.

4.) Wie sind die Bilder von Manfred geworden?

Möchtest Du mir einige kleine Abzüge

schicken?

 

Zum Abschluß möchte ich Dich noch fragen, wie es der roten Rose von Mainz geht.

Grüße Deinen Gatten von mir ohne Anzüglichkeit – grüße Deinen Sohn von mir mit aller Dir zur Verfügung stehenden Anzüglichkeit. Mit Courtoisie sei Deiner höfischen Mutter gedacht.

 

Für Dich alle sechs Finger

 

Hubert

 

Ich lege einen Zettel für Manfred bei.

[Beilage zum Brief an Leonore Mau:]

Lieber Manfred!

Wie geht es Dir? Hast Du inzwischen eine eigene Adresse, wohin man Dir schreiben kann? Ich denke oft an Dich – wenn meine hölzernen Worte – ich bin nicht begabt für Liebesbriefe – davon auch nur wenig verraten.

Vielleicht schreibst Du mir auch einmal nach Montjustin, was Du treibst. Ich würde mich sehr freuen.

Für heute nur zwischen Anreise und Abreise in Savoyen diese knappen Zeilen – mit allen guten Wünschen, mit meinen herzlichsten und sonstigen Grüßen

 

Herzlich Hubert

Anmerkungen:

Sohn Pans:

Pan, wörtliche Bedeutung Schafhirte, gilt in der griechischen Mythologie als Gott des Weidelands, besonders der Schaf- und Ziegenweide. Fichte spielt damit – ironisch – auf seine Tätigkeit in Montjustin an. Einen möglichen Bezug zu seiner Biographie könnte Fichte darin gesehen haben, dass Pan ohne Vater und Mutter bei den Nymphen aufwuchs. Während als Vater eine Reihe von Göttern genannt wird, soll seine Mutter ihn verlassen haben, nachdem sie ihr Baby sah. Ihm wuchsen nämlich Bocksfüße und auf dem Kopf kleine Hörner.

 

Collagen:

Gerade in der Zeit, als sich Leonore Mau und Hubert Fichte nähergekommen sind – im September bis Dezember 1961 – hat Hubert Fichte eine Vielzahl von Collagen aus Fotoabzügen von Leonore Mau geschnitten. Sie waren vor allem für sein Theaterstück Ödipus auf Håknäss bestimmt. Davon zeugt der berühmte Anfang von Fichtes Roman Hotel Garni und mithin der Anfang seines nachgelassenen Großwerks Die Geschichte der Empfindlichkeit.

 

Hans Dieter Sander:

Feuilleton-Redakteur bei der Welt, verantwortlich für das Ressort Literatur. Am 7. Mai 1962 erschien in der Welt die Kurzgeschichte Der Kutscher fuhr leer zurück. Am