Ich bin dann mal nackt - Marc Engelhardt - E-Book

Ich bin dann mal nackt E-Book

Marc Engelhardt

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Beschreibung

Splitternackt ins Meer springen, nahtlos Sonne tanken und mit den Kleidern alle Zwänge des Alltags ablegen: Lange waren solche kleinen Freiheiten nicht mehr so wertvoll wie heute, und so beliebt. Nacktsein liegt im Trend. Das gilt für die Nude Cruise auf dem Kreuzfahrtschiff genauso wie für Nackt-Yoga-Sessions oder Wandern barfuß bis zum Hals in der Natur. Mit dem Abwerfen der Kleidung entkommen wireiner Welt, in der Körper zur Ware geworden sind. Und so beschließt der Journalist Marc Engelhardt, der neuen Faszination des Nacktseins nachzugehen. In bester Reportertradition begibt er sich auf eine Reise um die Welt – natürlich unbekleidet. So läuft er in Japan hüllenlos durch den Wintersturm, um mit hundert anderen das Glück zu suchen, geht bei 35° Grad im Schatten in der Stadt der Nackten am Cap d’Agde auf Schaufensterbummel und findet in Marokko heraus, warum Nacktheit in der arabischen Welt ebenso wichtig ist wie Verhüllung. Eine unterhaltsame und hochspannende Kulturgeschichte über die ganze Welt des Nacktseins.

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Seitenzahl: 334

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Das Buch

Immer mehr Menschen lassen am Strand die Hüllen fallen, wandern unbekleidet durch Wälder oder nehmen an Nackt-Yoga-Sessions teil. Warum ist das so, und wie hat sich unser heutiges Verhältnis zum nackten Körper überhaupt entwickelt? Über Fragen wie diese denkt der preisgekrönte Journalist Marc Engelhardt nach, als er badehosenlos in einem lauschigen Waldsee schwimmt. Und fasst den Entschluss, einmal um die Welt zu reisen und verschiedene Nacktkulturen kennenzulernen. Was er dabei erlebt hat, erlaubt überraschende Einblicke in Gesellschaften und Lebensweisen. »Ich bin dann mal nackt« ist also nicht nur eine unterhaltsame Lektüre, sondern auch eine hochspannende Kulturgeschichte, die die Freiheit und Gleichheit aller Menschen betont: Unter unserer Kleidung sind wir schließlich alle nackt.

Der Autor

Marc Engelhardt, Jahrgang 1971, ist Autor und freier Auslandskorrespondent. Seit gut zwei Jahrzehnten berichtet er unter anderem für den Deutschlandfunk und die ARD, zunächst aus Nairobi und inzwischen aus Genf. Er ist Mitglied des Korrespondentennetzwerks Weltreporter, war fünf Jahre lang dessen Vorsitzender und hat mehrere gemeinsame Bücher herausgegeben. Im Sommer trifft man ihn am Ostseestrand auf Rügen – ohne Badehose, versteht sich.

Marc Engelhardt

Eine Reise zu den unverhüllten Kulturen unserer Welt

Dieses Sachbuch schildert meine persönliche Geschichte und beruht auf Erfahrungen, Erlebnissen, Recherchen und Aufzeichnungen. Ich gebe hier meine persönliche Sicht wieder, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Alle Informationen und Angaben in diesem Buch wurden von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe August 2021 Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2021 by Marc Engelhardt

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Fotos von © FinePic®, München

Umschlaginnenseiten: © Marc Engelhardt

Bildinnenteil: © Marc Engelhardt, sofern nicht anders vermerkt

Redaktion: René Stein

MP · Herstellung: CF

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.goldmann-verlag.de

978-3-641-26228-0 

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Reisepläne

Schaabe, Rügen

Nackt und frei am Ostseestrand

Ísla Roatán, Honduras

Ablegen, bitte!

Marrakesch, Marokko

Unverhüllt in der Medina

Konomiya, Japan

Hüllenlos durch die Nacht

Wipperfürth, Deutschland

Das Wandern ist des Nackten Lust

Bodø, Norwegen

Nackt im Wind

Tvärminne, Finnland

Mit Motorsäge, Birkenzweigen und einer Flasche Bier

Lindlar, Deutschland

Naturismus mit Bart

Cap d’Agde, Frankreich

Rien-à-porter

Musée Villa Vauban, Luxemburg

Nackt(s) im Museum

Troisdorf, Deutschland

An der Schwelle zum Paradies

New York, USA

Nackte Katze, Kuh und Krieger

Kiew, Ukraine

Busen gegen Diktatoren

Monte Verità, Schweiz

Nackt für eine bessere Welt?

Adressen, Quellen, Literatur

Reiselektüre

Danksagung

Bildteil

Vorwort

Reisepläne

Kennen Sie den Traum, in dem Sie morgens aus dem Haus gehen, auf der Straße einer Gruppe von Passanten begegnen und dann auf einmal merken: Sie haben gar nichts an? Dieses mulmige Gefühl, dass Sie in der Sauna unvermutet einen entfernten Bekannten treffen könnten, der Ihnen hocherfreut und splitternackt die Hand schüttelt? Oder den Rat, Sie sollten sich im Fall von drohendem Lampenfieber auf der Bühne einfach vorstellen, das Publikum sei nackt? Ich habe den Traum gelebt, die Hand geschüttelt und auch den Rat befolgt. Nur war das Publikum tatsächlich nackt. Denn das war schließlich die Idee: einmal nackt die Welt zu bereisen, den unverhüllten Kulturen und Traditionen auf dem Globus hinterher.

Die Idee entstand, als ich entspannt an einem Waldsee saß und die Sonne durch die Äste schimmerte. Das Wasser lag ruhig da, die dichten Nadelbäume spiegelten sich in ihm. In der Luft lag der Geruch nach Harz und Hochsommer. Ich war allein, und mir war heiß. Ich zog das T-Shirt über den Kopf, ließ die Hose fallen und rannte über den Steg. Die Luft war warm und umhüllte meinen Körper. Das Holz knarzte, ich lief über die morschen Bohlen bis ans Ende und hob ab. Und tauchte jauchzend ein in das eisige Wasser, genoss die Gänsehaut am ganzen Körper. Prustend kam ich nach oben und meinte, jeden einzelnen Sonnenstrahl auf der Haut spüren zu können. Ich legte mich auf den Rücken und ließ mich treiben, den Blick in den tiefblauen Himmel gerichtet. So würde ich gerne einmal um die Welt reisen, dachte ich. Und begann noch am selben Abend mit der Reiseplanung.

Als Erstes stellte ich fest: Wenn Sie Menschen erzählen, dass Sie nackt verreisen wollen, reagieren sie doch sehr unterschiedlich. Die einen sind begeistert, die anderen entsetzt. Nur kalt lässt es keinen. In meiner Kindheit fand ich nichts dabei, nackt am Strand zu liegen. Wenn wir nach zwölf Stunden Fahrt im blauen Volvo das dänische Ebeltoft erreichten, führte mich der erste Weg ohne alles in die Ostsee. An meine Eltern erinnere ich mich in diesen Sommern der frühen 1980er-Jahre als Abbilder von Alain Delon und Jean Seberg in französischen Spielfilmen, die vor allem eines erzählen: wie eine Generation gegen alle Widerstände und Konventionen die Freiheit erobert hatte. Badetextilien hatten in diesem Kampf nichts verloren.

Heute hingegen scheint es mir selbst an Stränden manchmal so, als sei Nacktbaden für manche zur Mutprobe geworden: der eigene Körper zur Herausforderung, der der anderen zur Zumutung. Haben wir uns so sehr an die Photoshop-Versionen perfekter Kurven gewöhnt, dass wir uns unserer Echtheit schämen? Hat uns die Werbung für Edelbademoden oder Schönheitschirurgie, die Prüderie sozialer Medien und US-Fernsehserien oder eine immer rückschrittlichere Auslegung von Religion und vermeintlicher Tradition von Natur und Normalität entfremdet?

Doch je mehr ich recherchierte, desto bunter wurde das Bild. Immer mehr Menschen haben das Nacktsein in den vergangenen Jahren wiederentdeckt. In Australien verbreiteten Tausende Millennials »Selfies ohne« beim Sport oder an Ausflugsorten, um die Vielfalt des menschlichen Körpers jenseits von Bodyshaming zu feiern. Junge Familien entstauben vertrutschte FKK-Anlagen, werfen mit ihren Kleidern die Sorgen des Alltags ab und drücken den Escape-Button, um einer immer komplizierteren Welt zu entkommen. Nackt zu sein, so schien es mir, ist für viele auch ein Stück Widerstand gegen den Konsum und andere gesellschaftliche Zwänge, die vielleicht kleinstmögliche Utopie. Wie spannend wäre es, mehr darüber herauszufinden. Meine Reiseplanung wurde immer umfangreicher.

Mit jeder neuen Seite, die ich in meinem Notizbuch füllte, wurde mir klarer: Nackt sein, das ist ein globaler Trend. Doch was dahintersteckt, ist überall anders. In manchen Ländern wird Nacktheit seit Jahrhunderten zelebriert, woanders ist sie Lebenskunst, dann wieder gehört sie zur Protestkultur oder ist schlicht Teil des Alltags – selbst da, wo man es nicht oder kaum erwarten würde. Meine nackte Reise in die Welt wurde zur spannendsten, unterhaltsamsten und lustigsten, die ich in meinen mehr als zwanzig Jahren als Reporter unternommen habe. Ich habe nackt auf einem Kreuzfahrtschiff die Karibik durchquert, in Marokko die Geheimnisse der Hammams erkundet und bin in Japan hüllenlos durch den Wintersturm gelaufen, um mein Glück zu finden. Ich erfuhr, warum Busen Diktatoren einschüchtern und römische Statuen kleine Nasen haben. Ich habe viel gelernt, auch über mich. Manchmal kam die Pandemie dazwischen, und ich musste meine Pläne ändern. Die Reise fand deshalb in vielen Etappen statt und nicht am Stück. Doch meine Neugier wurde dadurch nur befeuert.

Folgen Sie mir auf eine Reise, die Sie so noch nie erlebt haben. Auf geht’s! Ich bin dann mal nackt.

Schaabe, Rügen

Nackt und frei am Ostseestrand

Vor mir die Brandung. Über mir der blaue Himmel. Rechts und links der strahlend weiße Sand. So muss das Paradies aussehen. Und was trägt man im Paradies? Nichts. Also runter mit den Klamotten und rein in die erfrischend kalte Ostsee! An der Schaabe, Rügens längstem Sandstrand, hat das Nacktbaden Tradition. Viele kommen in zweiter oder dritter Generation hierher und haben noch nie eine Badehose, einen Badeanzug besessen. Besonders beliebt wurde das Baden ohne, als die Staats- und Parteiführung der DDR es vorübergehend verbot. Als die SED merkte, dass das niemanden interessierte, im Gegenteil Nacktbaden zu einer subversiven Protestform mutierte – da machte sie das Beste draus und erklärte nacktes Baden kurzerhand zum DDR-Kulturgut. Das galt vorübergehend als bedroht, als nach der Wende die Wessis kamen und jede Menge Textil mitbrachten. Inzwischen aber tummeln sich die Nackten und die Liebhaber von Bademoden gemeinsam an der Schaabe, und es herrscht ein Burgfrieden im »Unterhosenkrieg«, wie die britische Presse den Kulturkampf an ostdeutschen Ostseestränden taufte. Wo also könnte ich besser meine erste nackte Reiseetappe entlang der Ostseeküste beginnen als an meinem Lieblingsort auf Rügen?

Im Sommer richten sich viele langjährige Badegäste an der Schaabe häuslich ein. Sie kommen früh an jedem Morgen, ziehen sich als Erstes aus und bauen dann am Fuß der Dünen, jeweils an der immer gleichen Stelle, ihren Windschutz auf. Dort verbringen sie den Tag, unterbrochen nur vom regelmäßigen Bad in der Ostsee und einem Rostocker Pils oder Rotkäppchen aus der Kühltasche mit Freunden. Immer mal wieder erhebt sich auch einer der Männer – es sind ausschließlich Männer – von seiner Strandmatte, schüttelt alle Körperteile aus und sucht stehend von seiner leicht erhöhten Position in den Dünen von links nach rechts den Strand ab. Seine Körperhaltung erinnert dabei an die eines Erdmännchens, das vor seinem Bau stehend nach Feinden Ausschau hält. Nach Feinden sucht der gemeine Strandmann sicher nicht, aber neue Strandgäste werden von ihm genauso registriert wie das Nahen eines der elektrobetriebenen Strandbuggys, die den Strand während der Saison mit Bockwurst, Eis und Kaffee versorgen. Die Fahrerinnen und Fahrer, die meisten von ihnen Studierende aus dem nahen Polen, blinzeln inzwischen nicht mal mehr, wenn sich vor ihrem Wagen eine lange Schlange von Badegästen bildet, die außer ihrem Portemonnaie nichts am Leib tragen. Dabei wäre Vergleichbares an der polnischen Ostsee undenkbar. »Natürlich gibt es auch bei uns in Polen FKK-Strände«, sagt mir Pavel, einer der Fahrer. »Aber so locker und sorglos wie hier, wo die Leute nackt den Strand entlanglaufen oder sich ein Eis kaufen, das haben wir nicht – da ist die katholische Kirche vor.«

Durch ihre Standorttreue ist es leicht, mit den Schaabeveteraninnen und -veteranen Bekanntschaft zu schließen. Es reicht, ausgezogen nach einem Gummihammer zu fragen, ohne den sich der eigene Windschutz unmöglich aufstellen lässt. Erfahrene Strandgäste haben immer einen dabei. Bald ist man im Gespräch und grüßt sich dann, wenn man sich wiedersieht. Birgit, die ich auf diese Weise kennenlerne, erzählt mir von ihrem Urlaub auf der Schaabe zu DDR-Zeiten. »Wir hatten auf dem Zeltplatz in Glowe endlich einen Platz ergattert und sind dann mit unserem Trabant von Halle aus angereist – der Bastei-Wohnwagen, den wir zugewiesen bekamen, stand ein Stück zurückgesetzt, sodass wir morgens dann erst mal über den halben Acker und die Hauptverkehrsstraße mussten, bevor wir endlich am Meer waren.« Trotzdem habe sie sich schon am ersten Tag in die Schaabe verliebt und sei immer weiter die kilometerlange Nehrung entlanggelaufen, um die schönste Stelle zu finden. »Da musste man früh unterwegs sein, weil es irgendwann voll wurde – wenn wir nette Leute trafen oder einfach eine schöne Stelle, dann haben wir eine Sandburg in den Strand gegraben und uns niedergelassen. Und dann kamen im Lauf des Morgens andere dazu, die uns kannten oder auch nicht, und am Mittag war die Laune dann schon richtig gut.« Der Strandfunk unter den Ferienbekanntschaften half dabei, das Essen zu organisieren, außer Sonne und Strand das Wichtigste beim Ostseeurlaub. »Wenn die Nachricht kam: Im Konsum sind Milch oder Eier eingetroffen, dann musste einer los und sich anstellen, denn abends war nichts mehr da.« Oft gab es nur Konservenkost, aber das sei auch in Ordnung gewesen. »Einmal haben wir versucht, Fisch essen zu gehen: Der Speisesaal war voll, wir mussten anstehen und warten, und als wir gegen acht dann endlich reinkonnten, war der frische Fisch aus, es gab nur noch Rollmops.« Heute, sagt Birgit, kann sie darüber lachen. Manchmal schaue sie sogar ein bisschen nostalgisch zurück. »Wir waren tatsächlich eine verschworene Gemeinschaft hier am Strand, jeder hat dem anderen geholfen, wenn es ging – einmal haben wir sogar jemand kennengelernt, der uns später zu Hause einen Ersatzreifen für unseren Wagen besorgt hat. Dafür hatten wir noch ein paar Säcke Zement, die er brauchen konnte. So lief das damals.« Und wer überhaupt auf Rügen einen Urlaubsplatz bekommen habe, der sei bereits so glücklich gewesen, dass nur Regen, Wind und anderweitig schlechtes Wetter das Glück auf Dauer trüben konnten.

Wie unterschiedlich der Urlaub auf Rügen ausfallen konnte, zeigen die Postkarten, die ich aus alten Schuhkartons in einem Antiquariat in Lietzow fische. »Liebe Omi«, heißt es auf einer farbigen Panoramapostkarte vom August 1966, die das Binzer Kurhaus zeigt. »Wir essen hier im Kurhaus, es gibt Wahlessen, einen Strandkorb haben wir auch bekommen. Hier werden wir ganz schön genudelt, Moritz ist jetzt schon alles zu eng.« Von Hiddensee kommen im Juli 1985 ganz andere Töne: »Haben ein bescheidenes Quartier: zwar sauber, aber ohne fließend Wasser. Wir müssen über die Wiese zum Plumpsklo (Bretterverschlag). Unsere Wirtin hat unten ein modern eingerichtetes Bad, mit Wasserklo!« Und der offenbar noch junge Dieter schreibt aus dem Ferienlager in Glowe im Sommer 1984 an seine Eltern: »Wir können im Lager Süßigkeiten kaufen, zu Glowe drin dürfen wir nicht in die Geschäfte. Wir ernähren uns nur von Brötchen und Süßigkeiten. Das Essen schmeckt überhaupt nicht.« Das Verhältnis zwischen Feriengästen und Rügenern war oft angespannt. Von der anderen Seite der Theke schreibt Hanne an Tante und Onkel in Bernburg: »Man hat gar keine Lust, am Feierabend noch was zu machen. Die Urlauber können einen schaffen. Die haben immer Hunger! Aber wehe, wenn nichts da ist.« Die glücklichsten Sätze auf den Postkarten aus der Vergangenheit handeln immer vom Strand. »Am FKK haben wir viel Platz, Wetter ist ideal«, schreibt eine Leipziger Familie 1975 nach Hause. Und die Winklers aus Berlin haben im August 1969 am Strand so viel Spaß am Volleyball, dass der Vater schon darüber nachdenkt, eine Betriebssportmannschaft zu gründen. »Wir sind am FKK-Strand eine dufte Truppe.«

In Nina Hagens Lied von 1974 über Michael, der den Farbfilm vergessen hatte, stand der Sanddorn hoch am Strand von Hiddensee: »Ich im Bikini und ich am FKK – Ich frech im Mini – Landschaft ist auch da – ja.« Heute ist der Strand von Hiddensee noch so einsam wie damals, jedenfalls wenn man sich von Neuendorf im Süden auf den Weg in Richtung des Leuchtturms am Gellen macht. Wer hier an den Dünen liegen möchte, bringt im Rucksack oder auf dem Fahrradgepäckträger nur das Nötigste mit. Private Autos gibt es nicht auf Hiddensee. Während ich zwischen Strandhafer und blauem Himmel im Sand liege und mich von der Sonne wärmen lasse, kann ich mir gut vorstellen, warum die ersten Nacktbadenden Hiddensee schon vor mehr als einhundert Jahren zu ihrem Revier machten. Da galt anderswo in Deutschland noch der »Zwickelerlass«, die Pflicht zum zusätzlichen Stück Stoff im Schritt, das Bademode wirklich blickdicht machen sollte. 1932 ging der Zwickel in die preußische Badeverordnung ein, Nacktbaden wurde generell verboten. Ein Verbot, das die Nazis 1942 wieder aufhoben, nachdem sie zuvor allerdings die arbeiternahen und fortschrittlichen FKK-Vereine geschlossen hatten.

Die junge DDR sah sich vor einem Dilemma, denn FKK war von der Geschichte her eigentlich überwiegend links, aber undogmatisch, reformorientiert oder, noch schlimmer, sozialdemokratisch. Dazu kam der Körperkult der Nazis, wie ihn Leni Riefenstahl verewigt hatte. Man entschied sich fürs Verbot, und Benno Pludra schreibt in seiner Erzählung Haik und Paul, die 1956 im Verlag Neues Leben erschien, über Paul aus der Lausitz, der am Strand von Hiddensee auf die Hamburger Kaufmannstochter Haik trifft, die Ferien bei der Oma macht. Der Arbeiter muss heftig um sie kämpfen, seine Konkurrenten sind ein Tänzer, ein Journalist, ein Maler, also Intelligenzler, die natürlich »weiter hinten, am Südstrand« der Inselhauptstadt Vitte sonnenbaden, wo man keinen Stoff am Leibe trug. Pludra, der 1966 und 1981 den Nationalpreis erhielt, war DDR-Autor, und so ist die Skepsis des Arbeiterjungen Paul gegenüber dem Nacktbaden wohl auch die des jungen Staats. Der schickt nicht nur in Pludras Buch die berittene Volkspolizei aus, um die unzüchtigen Nacktbadenden aufzuscheuchen, die sich mit einem Kampfschrei gegenseitig warnen. »Im Kral der Nudisten scheint ein Wirbelwind zu tanzen. Der Strand wird leer in Blitzesschnelle, und aus dem Wasser jagt ein wildes Völkchen, hopst und planscht mit ängstlichen Gebärden. Badehosen fliegen, Brusttücher flattern, und was nicht nackt sein darf, wird atemlos flink bedeckt.« Später, als die Vopos weg sind, sieht Paul zwei Mädchen, sie »werfen im Rennen die Bademäntel ab, haben nichts mehr auf der Haut und stürzen rudernd in die See, die Brüste hüpfen wie harte Bällchen«. Als er sich schließlich mit Haik nackt in die Fluten wagt, wir sind schon auf Seite 140, hat er keine Wahl: Haik springt in eine Kuhle am Strand, zieht sich ohne Hemmung aus, und das verblüfft Paul so sehr, dass er nicht mal verschämt weggucken kann. »Sie ist eine schmalhüftige Indianerin, ein Mädchen, das baden will und nicht weiß, wozu die Menschen Badesachen erfunden haben. Alles an ihr ist gelöst, sauber, ist selbstverständlich wie die Luft, die sie atmet. Ihr biegsamer Rücken glänzt von silbernen Wasserperlen.« Am Ende der Erzählung ist es übrigens ein militanter Nudist, der Paul und Haik aus der Klemme hilft. Vielleicht schimmert ja doch mehr Sympathie für die Nacktbadenden auf Hiddensee durch, als Benno Pludra 1956 zeigen durfte.

Wie ernst es manchem SED-Funktionär mit dem Nacktbadeverbot war, zeigt eine Anekdote, die mir auf dem Darß erzählt wird: In Ahrenshoop, das ebenso wie Hiddensee als Urlaubsort der Intellektuellen und Kulturschaffenden galt, sprach die Gemeinde im Mai 1954 ein Nacktbadeverbot aus, und wie es heißt, lief der damalige Kulturminister Johannes R. Becher daraufhin zufrieden am Strand entlang. Der Expressionist Becher, Gründungspräsident des Kulturbundes der DDR, hatte 1949 den Text zur Hymne Auferstanden aus Ruinen geschrieben, den Hanns Eisler dann vertonte. Ansonsten war er ein leidenschaftlicher Gegner der Nacktbadenden an Seen und Küsten. Ihm wird zugeschrieben, an sie den Aufruf gerichtet zu haben: »Habt Mitleid! Zeigt Erbarmen! Schont die Augen der Nation!« Als er nun im Mai den Strand entlanglief, sah er plötzlich eine ältere Frau am Strand liegen, die nur über dem Gesicht etwas trug, nämlich eine Ausgabe des Zentralorgans Neues Deutschland. Der Kulturminister geriet außer sich und ging die Nackte mit den Worten an: »Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?« Die Frau hob die Zeitung vom Gesicht, und hervor kam das Antlitz von Anna Seghers, der Schriftstellerin, die wegen ihrer jüdischen Herkunft von der Gestapo verhaftet wurde, den Nazis dann durch ihre Flucht über die Schweiz bis nach Mexiko entkam und mit Das siebte Kreuz ein Stück Weltliteratur schrieb. Wenige Wochen später sahen sich die beiden wieder, auch sie angezogen diesmal, als der Kulturminister Anna Seghers den Nationalpreis der DDR überreichen sollte. »Liebe Anna«, begann er seine Rede, doch da unterbrach die Geehrte ihn bereits: »Für dich immer noch die alte Sau!« Der Volkskundler Lutz Thormann will übrigens herausgefunden haben, dass Becher selbst ein begeisterter Nacktbader war, eben dort, in Ahrenshoop. Nur erwischen ließ er sich dabei offenbar nicht. Die Pioniere der Freien Deutschen Jugend FDJ, die im Sommer 1954 in Ahrenshoop das Nacktbadeverbot kontrollierten, erteilten ihm – anders als anderen – jedenfalls nicht die versprochene »Abreibung«.

Nur ein paar Kilometer von Ahrenshoop entfernt liegt Prerow, dessen Ostseezeltplatz unter DDR-Nudisten legendär war. Der Zeltplatz, der sich weit in die Dünen hinein erstreckte, galt als Zentrale des zivilen Ungehorsams gegen die nacktfeindliche Staatsgewalt, denn ab August 1954 herrschte in der ganzen DDR ein Nacktbadeverbot. Die Strategie der Gegner bestand vor allem darin, die DDR-Behörden lächerlich zu machen. Manche Nacktbadende banden sich eine Krawatte um den Hals und erklärten den verblüfften Volkspolizisten bei der Kontrolle, sie seien nun ja nicht mehr nackt. Andere vereinbarten Alarmsignale, wenn eine Kontrolle im Anmarsch war. 1955 wurden in Ahrenshoop zweihundertfünfzig Nacktbadende gezählt, pro Tag. Bußgelder wurden verhängt, doch der letztlich harmlose Protest ging weiter. Was für die Staats- und Parteiführung besonders peinlich war: Unter den Nackten befanden sich auch hochrangige Parteimitglieder. Es half alles nichts: 1956 wurde das Nacktbadeverbot kassiert. Die Nackten hatten der repressiven Staatsführung eine kleine Freiheit abgetrotzt und nahmen sich jetzt immer mehr heraus in einem Land, in dem Freiheiten ansonsten Mangelware waren. Nacktbaden, das war auf einmal die prickelnde Mischung aus Freiheit und subversivem Widerstand – und machte auch noch Spaß. Die Strände in der DDR wurden in der Folge immer nackter. Auch ein letztes Aufbäumen der Prüden in der SED-Führung, das Nacktbaden auf wenige Strandabschnitte zu begrenzen, scheiterte. Anfang 1965 bewarben sich 45.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger für ein Plätzchen auf dem Zeltplatz von Prerow, fast dreimal mehr, als für die ganze Saison zur Verfügung standen.

Als ich fünfundfünfzig Jahre später den Campingplatz besuche, ist vom anarchischen Charme, von dem mir immer wieder erzählt wurde, nicht viel zu spüren. Der Zeltplatz ist geordnet, Verbots- und Gebotsschilder überall, nackt ist niemand. Und auch am fünf Kilometer langen Strand sehe ich nur wenige Nacktbadende, und wo sie doch mal liegen, wirkt es, als würden sie allenfalls toleriert. Die übergroße Mehrheit trägt Bademode, meist knapp und bunt. Den offiziellen Nacktbadestrand von Prerow trennt vom großen Textilstrand der für Hunde, eine Eigenart, die in immer mehr Ostseebädern um sich greift. Warum eigentlich?, frage ich mich. Und mir wird klar, dass Nacktbaden vielleicht kein Mannschaftssport ist, aber doch eine Gruppenaktivität, die gemeinsam Spaß macht. Von hier würde heute jedenfalls wohl niemand schreiben: »Wir sind am FKK-Strand eine dufte Truppe.« Stattdessen werden neben einer Strandbar Surfbretter verliehen und Kurse für Stand-up-Paddler angeboten. Geschäfte, die vermutlich besser laufen, wenn der Kunde Badekleidung oder Neopren trägt – was er im Übrigen in vielen Farben, Formen und Marken gleich hier erstehen kann. Der Nacktbadende dagegen braucht nicht viel und ist entsprechend ökonomisch uninteressant. Außer man ist Karikaturist. Mario Lars, so sein Künstlername, treffe ich am Rande der jährlichen Cartoon-Ausstellung, die in Prerow unter freiem Himmel stattfindet. Er hat gerade ein Buch mit seinen FKK-Cartoons veröffentlicht, Die nackte Wahrheit heißt es. Darin sitzt etwa ein nacktes Paar am Strand und blickt gemeinsam in den Sonnenuntergang. Sie sagt: »Imposant«, er antwortet: »Ich auch.« Das Thema FKK sei ihm leichtgefallen, sagt Lars. »In der DDR war Badehose gar kein Thema, jetzt merke ich hier in Prerow schon, dass Badekleidung verbreiteter ist.« Er glaubt, das könne an den Smartphones liegen. Mit denen ließen sich heute viel schneller und unauffälliger Fotos schießen, die dann rund um die Welt und auf alle Ewigkeit zu sehen sind. Trotzdem glaubt er, dass das Nacktbaden nach Prerow zurückkommen wird, »das geht in Wellen, in fünf, zehn Jahren gehen wir alle wieder nackt ins Wasser«. Und bis dahin? Lars schaut verschwörerisch. »Frühmorgens und am Abend, wenn die Einheimischen alleine sind, geht hier auch heute noch jeder nackig baden.«

Und tatsächlich: Morgens um sieben ist am Strandabgang von Hagens Düne die Welt noch in Ordnung. Im goldenen Licht der aufgehenden Sonne joggt eine Familie mit kleinem Hund den Strand entlang, dann bleiben alle vier stehen, streifen die Jogginganzüge ab und waschen sich den Schweiß im Meer ab. Der Hund rennt kläffend in der Brandung hin und her. Nicht weit von mir macht sich ein Mann zum Morgenbad bereit. Er sieht so aus, als pflegte er dieses Ritual schon seit mehr als siebzig Jahren. »Nicht ganz so lange«, lächelt er, als ich ihn frage. »Aber mehr als fünfzig Jahre sind es sicher schon, die ich hier morgens ins Wasser renne, egal, wie warm oder kalt es ist.« Besitzt er eine Badehose? »Nein.« Kurz und knapp. Dann laufe auch ich ins Wasser, in vollem Tempo, und werfe mich in den ersten Brecher, der mir entgegenkommt. Es ist herrlich. Die Luft ist sommerlich angewärmt, das Licht noch sanft, das Meerwasser eiskalt von der Nacht. Ich schwimme zum Horizont, irgendwann sind die anderen Badenden nur noch kleine bronzene Köpfe in einem Meer aus Gold, mit dem ich mit jedem Schwimmzug zu verschmelzen scheine. Ich muss mich fast zwingen, das Wasser wieder zu verlassen.

Später, die Straßen sind belebt und der Strand prall gefüllt, treffe ich Antje Hückstädt, die das kleine Darß-Museum leitet. Die Geschichte von Prerow, und damit auch die des Zeltplatzes, kennt sie so gut wie kaum jemand sonst. »In den 1920er-Jahren haben die Ersten hier gezeltet, ab 1948 ist die Zahl der Gäste dokumentiert«, sagt sie. 1948, der Zweite Weltkrieg war gerade drei Jahre zu Ende, zählte die Gemeinde dreizehn Urlauber. Damals erteilte der Revierförster gegen eine kleine Gebühr die Genehmigung, das Zelt aufzuschlagen. 1953 kamen bereits mehr als 3.000 Camper, sodass die Gemeinde den Zeltplatz übernahm. Die Plätze wurden zentral in Stralsund vergeben. »Vielen ist es nie gelungen, einen Zeltplatz zu bekommen«, weiß Hückstädt, auch weil manche Kombinate feste Kontingente hatten. In den 1950er-Jahren begannen zudem die umstrittenen »Kamerun-Feste«, bei denen nackte Urlauber mit Körperbemalung, Muschelketten und Strohröcken fiktive Stammesfeste am Strand feierten. »Eine Schmähung der Sitten und Gebräuche« schwarzer Völker nannte das damals DDR-Innenminister Karl Maron, der SED war zudem die Anspielung an die koloniale Vergangenheit des deutschen Kaiserreichs höchst unangenehm. Antje Hückstädt dagegen glaubt, dass die tatsächlichen Motive für die Feste, die vor allem junge Urlauber feierten, viel simpler waren: »Die Leute wollten Spaß haben.« Und vielleicht auch der tristen Welt des realen Sozialismus entfliehen. Während die »Kamerun-Feste« bald aufhörten, wuchs der Zeltplatz immer weiter, dabei gab es in Prerow bis 1969 nicht einmal fließend Wasser. Tanklaster mussten die Urlauber versorgen, während die Bewohner bräunliches Wasser (»da war der Tee schon mit drin, hat man gesagt«) aus eigenen Brunnen schöpften. Mit dem Wasser kamen auch der Strom und die deutsche Post. 1973 mussten sich mehr als 22.000 Sommergäste die einzige Telefonzelle teilen. Und trotzdem wollten jedes Jahr mehr Urlauber nach Prerow kommen.

»Die Gäste haben die Freiheit, die Unbeschwertheit und die Lebensfreude geschätzt, es gab praktisch keine Reglementierung«, erinnert sich Hückstädt. Nackt konnten sie nicht zuletzt aus den vielen Arbeitsuniformen fliehen, die die DDR bereithielt. »Wenn der Schlips ausgezogen war, dann stand da der Fließbandarbeiter neben der Verkäuferin oder dem Betriebsleiter in der Schlange vor dem Eiswagen, da waren alle gleich – und beschwert hat sich niemand.« Heute ist das anders, das sieht auch Hückstädt so. Im Sommer gehe sie kaum noch zum Zeltplatz und dem Strand davor. »Seit den 1990er-Jahren hat es angefangen, dass die Leute mit großen Wohnmobilen oder Anhängern angereist sind – die Ausstattung ist eine andere, man will heute nicht mehr auf den Fernseher oder den Kühlschrank verzichten.« Und auch nicht auf Internet und Handyempfang. »Ich vermute, dass das Gemeinschaftsgefühl nicht mehr so groß ist – damals hat man zusammengehalten, heute blickt jeder für sich auf sein Smartphone.«

Es waren tatsächlich noch andere Zeiten, als DDR-Starreporter Hans-Joachim Wolle einmal pro Jahr, immer im Sommer, nur mit dem Aufnahmegerät bekleidet, an den FFK-Strand ging und den anderen Nackten für die beliebte Sendung Außenseiter – Spitzenreiter Fragen stellte. Mal wollte er wissen, wie man sich verhalten solle, wenn man den Chef am Nacktbadestrand treffe, mal, wem eigentlich die Strandburg gehört: dem, der sie gebaut, oder dem, der darin sein Handtuch abgelegt und sie damit erobert hat? Am kultigsten ist vermutlich die Folge von 1978, die erst im Winter ausgestrahlt wurde. Entsprechend wollte Wolle von den Nacktbadenden wissen: »Haben Sie schon Weihnachtsgeschenke eingekauft?« Eine Badende versicherte: »Ich fang bald an«, aber die meisten anderen sagten einfach: »Nö.« Als der ausdauernde Wolle noch eine der Ostsee entsteigende Nackte fragt, ob sie wohl schon etwas für ihren Mann hat, sagt die: »Na klar.« »Geh’n Sie mal weg«, befiehlt Wolle dem Gatten und will dann wissen: »Na was denn?« Und die Frau antwortet: »Wenn Sie mich genau anschauen, dann sehen Sie’s.« Und tatsächlich brachte die Dresdnerin kurz vor Weihnachten eine gesunde Tochter zur Welt. Zum Schluss ließ Reporter Wolle die versammelten Nackten vor der Kamera antreten. Sicher zweihundert sangen: »Morgen Kinder, wird’s was geben.« Als Wolle den gleichen Coup 2006 noch einmal versuchte, bekam er nach eigenem Bekunden gerade einmal sechs Bekannte zusammen.

In ihrer Studie Liebe, Sex und Sozialismus zitiert die Historikerin Josie McLellan aus einer Studie, bei der zwei Sozialwissenschaftler im Sommer 1966 mehr als 1.000 Nacktbadende an den Ostseestränden der DDR nach ihren Motiven befragten. Demnach bezeichneten sich die meisten von ihnen als Sozialisten und fanden sich oft progressiver als die SED-Staats- und Parteiführung, der sie Prüderie vorwarfen. Nur neunzehn Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen gaben an, zur Arbeiterklasse zu gehören, gut die Hälfte stammte aber aus Arbeiterfamilien. Die deutliche Mehrheit gab außerdem an, zufällig zum Nacktbaden gekommen und wegen der guten Atmosphäre geblieben zu sein. Und dann gab es womöglich noch einen weiteren, profaneren Grund: Badeanzüge und Badehosen waren in der DDR schwer zu kriegen, und wenn, dann waren sie teuer. Ein Bikini kostete der Studie von einst zufolge um die neunzig, ein Einteiler gar einhundertfünfzig DDR-Mark. Die Alternative, nämlich selbstgestrickte Bademode, war nicht nur unbequem, sondern brauchte Ewigkeiten, um zu trocknen. Besser, man verzichtete darauf.

Museumschefin Hückstädt hingegen glaubt, dass es tatsächlich das Lebensgefühl war, das die Nackedeis im Osten von denen im Westen unterschied. »Es gab nicht diese Vereinskultur wie im Westen, alles war völlig zwanglos.« Als 1989 die Mauer fiel und im Sommer 1990 die ersten Westdeutschen an die Strände von Rügen, Hiddensee oder dem Darß drängten, wurde die Nacktkörperkultur am Strand zum sichtbarsten Unterscheidungsmerkmal zwischen denen von hier und jenen von drüben. Seither ist die Nacktheit an ostdeutschen Stränden und Baggerseen geradezu mystifiziert worden: Im Osten sieht man in ihr den Beweis dafür, dass die ehemaligen DDR-Bürger viel unverklemmter waren als die Bundesdeutschen. Im Westen dagegen gelten die Nacktbadestrände im Osten geradezu als exotisch, und nicht nur dort. Als meine Rügener Freundin Petra in Afrika unterwegs war und erzählte, dass sie von Rügen komme, bekam sie umgehend zurück: »Ah, Rügen – ist das nicht da, wo man nackt badet?« Das wäre, meint Petra, doch ein guter Werbespruch für Deutschlands größte Insel: »Rügen. Da, wo man nackt badet.« Aus ihr und mir unerfindlichen Gründen hat man sich stattdessen für »Wir sind Insel« entschieden. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Nach einer dreistündigen Autofahrt von Prerow biege ich auf den Parkplatz des FKK-Campingplatzes am Rosenfelder Strand ein. Er ist die letzte Station meiner Ostseetour und auch die einzige im früheren Westen. Kurz vor Lübeck habe ich die Landesgrenze überquert und bin jetzt in Schleswig-Holstein, eine halbe Stunde von Fehmarn und der Fähre aufs dänische Lolland entfernt. 1963 wurde die 165.000 Quadratmeter große Anlage direkt an der Ostsee vom Deutschen Verband für Freikörperkultur, kurz DFK, »DFK-Familiengelände Erhard Wächtler« getauft – nach einem Lebensreformler, der 1927 die »Liga für freie Lebensgestaltung« gründete. Lange waren die fünfhundert Zeltplätze und zwanzig Mietbungalows ausschließlich für Vereinsmitglieder zugänglich, wobei »die Mitgliedschaft auf dem Gelände selbst erworben werden kann«, wie es im bundesdeutschen FKK-Führer von 1974 heißt. Damit war der Zeltplatz quasi das westdeutsche Gegenmodell zum wilden Campen in den Dünen von Prerow. Heute steht der Campingplatz auch Nichtmitgliedern offen, aber die Bande zum Verband der bundesdeutschen Naturisten sind immer noch eng. Deshalb bin ich auch hier: Denn um 13 Uhr wird DFK-Sportwart Rüdiger Feddern den Startschuss zum 11. Internationalen Naturistenlauf geben, unter dem Motto: »1, 2, 3, laufe nackt und fühl dich frei«. Ich wandere etwas orientierungslos über den gepflegten Platz mit seinem kurzgemähten Rasen und wohnwagenbestandenen Sackgassen und muss mich durchfragen, bis ich den Stand für die Startnummernvergabe finde. Das Gelände ist weitläufiger und die beiden Pavillons zur Anmeldung sind kleiner, als ich dachte. Als ich an den Tresen trete, um mir meine Startnummer 718 mit rotem Stift auf die nackte Brust schreiben zu lassen, bin ich schon spät dran. Ausgedruckte Startnummern gibt es nicht, schließlich können die Läuferinnen und Läufer die Sicherheitsnadeln nirgends feststecken, und Startnummernbänder gibt es auch nicht. Den Tracker binde ich mir um die linke Fessel, direkt über die Turnschuhe. Außer Sonnenhüten sind sie die einzigen erwünschten Kleidungsstücke. Schnell stelle ich mich zu den anderen Wartenden hinter dem rot-weiß gestreiften Flatterband vor der Wasserrutsche.

»Das ist nicht direkt der Boston-Marathon«, spricht Julian mich an. Er muss es wissen. Schließlich ist er ihn bereits gelaufen, bevor er für das Studium aus Kanada nach Deutschland gekommen ist. Der hochgewachsene, durchtrainierte Mittzwanziger mit der blonden Kurzhaarfrisur und dem ganz kurz gestutzten Vollbart schaut sich um und lacht. »Sowas gibt es echt nur in Deutschland!« Und damit meint er, dass sich jetzt doch mehrere Dutzend Nackte, unter ihnen ganze Familien, aus allen Himmelsrichtungen nähern, um gleich mitzulaufen. Julian hat schon eine Nacht auf dem Campingplatz verbracht, die familiäre Atmosphäre hat ihm gut gefallen. »Der Deutsche ist gestresst, until he is undressed«, reimt er und grinst. Gestern ist er die 5.000 Meter lange Strecke schon dreimal abgelaufen, dreimal mehr als ich. Ich würde gerne sagen, dass es die Hitze der vergangenen Wochen war, derentwegen ich nicht trainiert habe. Aber mir wäre auch ein anderer Grund eingefallen. Allerdings, heiß ist es schon. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel. Ein Start um 13 Uhr Sommerzeit, wenn die Sonne am höchsten steht, erscheint mir nicht ideal. Aber Dabeisein ist ja bekanntlich alles. Ich schaue mich verstohlen um und muss zugeben, dass ich auf ein älteres und deutlich untrainierteres Feld gehofft hatte. Aber die, die sich jetzt warm machen für den Naturistenlauf, sind überwiegend in meinem Alter oder jünger, gut drauf und außerdem allem Anschein nach gut in Form.

Vielleicht hat Wilfried Blaschke ja recht mit seiner These, dass der Sport die FKK-Vereinslandschaft verjüngen kann. Mit dem DFK-Präsidenten unterhalte ich mich am Rande des Laufgeschehens. Sein Heimatclub in Frankfurt am Main hat rund vierhundert Mitglieder, in den vergangenen Jahren sind viele neue dazugekommen. »Andere Vereine haben sich lange verschanzt, die Tore dichtgemacht und niemanden reingelassen«, sagt er. Wenn die Altmitglieder dann irgendwann nicht mehr da seien, sterbe der Verein und damit das Naturistenleben in einer Region. Doch es gebe ein Gegenmittel. »Sport ist der Schlüssel zur Zukunft, das sehen wir gerade in den Städten: Schwimmen, da trainieren wir auf nationaler Ebene schon eine richtige Auswahl für die europäischen Meisterschaften; Pétanque, Ringtennis, Indiaca und vielleicht ja bald auch verstärkt Beachvolleyball.« Ringtennis und Indiaca sind Rückschlagspiele, die im DFK eine lange Tradition haben. Auch Volleyball wurde früher von Naturisten gerne gespielt. Wenn Blaschke von Sport spricht, dann spricht er nicht von Leistungssport, im Gegenteil. »Da gibt es zum Beispiel einen älteren Läufer, der von Beginn an bei uns mitmacht – und alle wissen, dass er eine Stunde länger für die Strecke braucht als alle anderen. Aber das macht nichts, alle akzeptieren ihn so, wie er ist, und feuern ihn an.« Ein wenig sei das wie am Nacktbadestrand: »Der ist immer ruhiger als der Textilstrand, die Leute sind toleranter, nehmen mehr Rücksicht.« Das klingt ganz ähnlich wie das, was ich in Prerow, auf Hiddensee und Rügen gehört habe. Vielleicht ist der größte Unterschied zwischen Naturisten in West und Ost ja doch nur der, dass Vereine in der DDR verboten waren, sodass nacktes Baden fast zwangsläufig zur Volksbewegung werden musste. Im Westen war es weitestgehend umgekehrt: Im Verein war erlaubt, was anderswo nicht geduldet wurde. Für den DFK, der ein gesamtdeutscher Verband sein will, ist das bis heute ein Problem. In Ostdeutschland gibt es ganze drei Vereine.

Julian macht noch ein Foto von mir, dann gehen wir in Position. Gut fünfzig Männer und Frauen warten auf das Startsignal. Und los geht’s. Vom Start weg läuft es zunächst gut für mich, ich überhole gleich einmal vier Läufer vor mir. Die wissen schon, was ich erst lernen muss: 5.000 Meter sind keine Sprintdistanz, man muss sich die Kraft einteilen. Während ich versuche, einen Rhythmus für Beine und Atem zu finden, schaue ich mich um. Wir laufen eine Art Parade über den Campingplatz, vorbei an denen, die sich zum Anfeuern an die Strecke gestellt haben, und denen, die in einem Gartenstuhl vor ihrem Camper sitzen und wie zufällig der Gruppe zuwinken. Am Anfang juble ich noch zurück, dann ist vor lauter Schnaufen keine Zeit mehr dafür. Ich schwitze, doch ohne Sportzeug kühlt der Schweiß mich ab. Das allerdings ist die einzige gute Nachricht. Ich atme immer unregelmäßiger, die Sonne brennt mir auf den Schädel, und als ich das erste Etappenschild sehe, bin ich entsetzt, dass erst fünfhundert Meter hinter mir liegen. Am Horizont leuchtet die Ostsee. Die Schafe auf dem Deich schauen etwas verstört, als unsere Herde an ihnen vorbeiläuft. Am Ende schaffen es immerhin vierzig der gut fünfzig Teilnehmer durchs Ziel. Ich gehöre nicht dazu. Nach 3.000 Metern habe ich aufgegeben, mit einem Krampf in der linken Wade und zu viel Sonne auf dem Kopf. Bei der Preisverleihung schaut mich dennoch niemand schief an. Julian, der es unter die ersten fünfundzwanzig geschafft hat, zwinkert mir zu. »Mach’s gut, Marc, wir sehen uns dann nächstes Jahr.« Bis dahin werde ich auf jeden Fall trainieren, diesmal wirklich, Ehrensache. Zum Abschied springe ich noch einmal in die Ostsee und schaue zum Horizont. Im nächsten Kapitel werde ich die Küste hinter mir lassen und weit aufs Meer hinaus ziehen. Ich freue mich darauf.

Ísla Roatán, Honduras

Ablegen, bitte!

Noch liegt das Meer bleigrau unter dem mondlosen Nachthimmel, doch am östlichen Horizont schimmert bereits die aufgehende Sonne. Es ist Dienstagfrüh, 6:46 Uhr. Ich kreuze auf einem Schiff durch die Karibik, irgendwo zwischen Key West und der mexikanischen Halbinsel Yucatán. Heute ist Seetag, das heißt: Ich werde den ganzen Tag an Bord und auf dem Meer verbringen, ohne Landgang. Ich und 2.058 andere Nackte.

Als die Sonne acht Minuten später mit ihren ersten Strahlen das Meer türkis färbt, kommt langsam Leben in die zwölf Decks der Carnival Legend. Das 2001 von Judi Dench getaufte Kreuzfahrtschiff ist ausgebucht. Als »Big Nude Boat« fährt die Legend schließlich nur einmal im Jahr, und in diesem feiert der Veranstalter sein 30. Jubiläum. Nicht wenige an Bord sind von Anfang an dabei gewesen. Die ersten Handtücher landen auf den Sonnenliegen, ein Jogger dreht auf dem Sportdeck seine Runden, im Fitnessstudio treten Sportler auf die Stepper. So weit, so üblich. Allerdings trägt der Jogger nur eine Baseballkappe, bei den Fitnessfans sieht man noch Airpods. Im Restaurant lassen Frühaufsteher einen ersten heißen Kaffee in die Kehle rinnen, bevor sie an die Reling treten. Eine junge Frau ordert beim philippinischen Kellner zwei Spiegeleier, sunny side up. Er ist blau livriert, trägt eine weiße Haube und lässt die gusseiserne Pfanne auf der Gasflamme tanzen. Sie trägt ein Lächeln im Gesicht. Ihre vollen Brüste wippen im Takt der Musik, bis der Koch die Spiegeleier auf einen Teller gleiten lässt und herüberreicht – mit breitem Servicelächeln, wie der verstorbene Kolumnist David Foster-Wallace den Gesichtsausdruck des Frühstückskochs wohl genannt hätte in seiner Abrechnung mit der Kreuzfahrtindustrie und auch sich selbst, die zum Bestseller wurde. Dieses professionelle Lächeln fällt der – ausnahmslos bekleideten – Crew der gecharterten Carnival Legend scheinbar nie aus dem Gesicht, auch wenn einige verschämt zu Boden schauen bei all dem bloßen Fleisch, das sie von früh bis spät zu sehen kriegen. Gestern sind erst gegen zwei Uhr nachts die letzten Partywütigen aus der Borddisco »Hort der Medusa« zu ihren Kojen hinaufgestiegen. Jetzt sind viele von ihnen schon wieder auf den Beinen, denn Seetage sind die Höhepunkte der Reise. Im Hafen müssen T-Shirts, Wickelröcke oder Bermudas übergeworfen werden, das schreibt die Gesetzeslage vor. In den USA, in Mexiko und in Honduras – den drei Destinationen dieser Kreuzfahrt – gilt Nacktsein in der Öffentlichkeit sogar als strafbar. Aber sobald die Durchsage des Käpt’ns erschallt, die Bekleidung sei ab sofort freiwillig – clothing optional –, wird an Bord abgelegt, und zwar ratzfatz. Von optional kann keine Rede sein, auch wenn ein kalter Wind weht und die Karibik sich in diesem Februar unerwartet kühl zeigt. Sogar Regen ist vorhergesagt, doch davon lässt sich niemand schrecken, auch nicht zur frühen Morgenstunde. Und je höher die Sonne steigt, desto bunter wird die nackte Party.

An dieser Stelle des Buchs wird es die Leserin, den Leser nicht überraschen, dass das »nackt« in Nacktkreuzfahrt mich nicht ganz so sehr geschreckt hat, der zweite Teil des Kompositums – die »Kreuzfahrt« – hingegen schon. Das Big Nude Boat