Ich bin Dynamit - Sue Prideaux - E-Book
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Ich bin Dynamit E-Book

Sue Prideaux

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Beschreibung

Wir erleben das kurze, kometengleiche Leben des Friedrich Nietzsche hautnah mit: Von der beschaulich-christlichen Erziehung, überschattet durch den mysteriösen Tod des Vaters, folgen wir Nietzsche nach Basel, in die Einsamkeit der Schweizer Alpen, erleben das Pathos seines Zarathustra, seine Dramatisierung des Nihilismus und seinen Absturz in den Wahnsinn. Ein einzigartiges Leben – begeisternd, originell, erschütternd, berauschend, filmreif erzählt. Nietzsche ist ein philosophisches Ereignis und eine weltgeschichtliche Existenz ohnegleichen. Alle Generationen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat er beeinflusst und geprägt – mehr als Karl Marx. Nietzsche sprengt die Philosophie, die Bildung, das Bürgerliche, das Menschliche-Allzumenschliche, vor allem aber das 19. Jahrhundert in die Luft. Wie Nietzsche von sich selbst sagte, ist er »kein Mensch, sondern Dynamit« und bis heute einer unserer erstaunlichsten und unheimlichsten Zeitgenossen geblieben. Nietzsche, einzigartig und tragisch – so, wie wir ihn noch nie gesehen haben.

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Seitenzahl: 842

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Sue Prideaux

Ich bin Dynamit

Das Leben des Friedrich Nietzsche

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »I am Dynamite! A Life of Friedrich Nietzsche« im Verlag Faber & Faber, London

© Sue Prideaux, 2018

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung einer Abbildung von © Faber & Faber

Lektorat und Korrektorat: Nastasja S. Dresler, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98201-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11609-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1 Ein musikalischer Abend

2 Unser deutsches Athen

3 Werde, der du bist

4 Naxos

5 Die Geburt der Tragödie

6 Das Gifthüttli

7 Begriffsbeben

8 Der letzte und der erste Schüler

9 Freie und nicht so freie Geister

10 Menschliches, Allzumenschliches

11 Der Wanderer und sein Schatten

12 Philosophie und Eros

13 Die Philosophenschülerin

14 Mein Vater Wagner ist tot. Mein Sohn Zarathustra ist geboren

15 Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen

16 Er hat mich überfallen!

17 Der einsame Rufer in der Wüste

18 Lamaland

19 Ich bin Dynamit!

20 Dämmerung in Turin

21 Der Minotauros in der Höhle

22 Ein leerer Insasse möblierter Räume

Aphorismen

Der Abgrund

Kunst

Langeweile

Christentum

Familie

Ruhm und Größe

Gott

Leben und Lebenssinn

Europa, Nationalismus, Brexit

Ehe

Mathematik

Die metaphysische Welt

Ruhm und Größe

Schnurrbärte

Musik

Nationalismus

Philosophie

Lehrer und Schüler

Fotografie

Politik

Besitz

Wahrheit

Reality

TV

Der romantische Held

Wahrheit und Unwahrheit?

Wollust

Der Staat

Reisebeilage

Lohnsklaven

Krieg

Frauen

Schriftsteller

Zeittafel

ANHANG

Dank

Abbildungen

Auswahlbibliographie

Auswahldiskographie

Anmerkungen

1Ein musikalischer Abend

2Unser deutsches Athen

3Werde, der du bist

4Naxos

5Die Geburt der Tragödie

6Das Gifthüttli

7Begriffsbeben

8Der letzte und der erste Schüler

9Freie und nicht so freie Geister

10Menschliches, Allzumenschliches

11Der Wanderer und sein Schatten

12 Philosophie und Eros

13 Die Philosophenschülerin

14 Mein Vater Wagner ist tot. Mein Sohn Zarathustra ist geboren

15 Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen

16 Er hat mich überfallen!

17 Der einsame Rufer in der Wüste

18 Lamaland

19 Ich bin Dynamit!

20Dämmerung in Turin

21Der Minotauros in der Höhle

22Ein leerer Insasse möblierter Räume

Namens- und Ortsregister

Bildteil

Für Georgia, Alice, Mary,

Sam und George

Werdet, die ihr seid,

sobald ihr herausgefunden habt,

was das ist.

1 Ein musikalischer Abend

Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner(1) nötig. Wagner(2) ist das Gegengift gegen alles Deutsche(1) par excellence.

Ecce Homo, »Warum ich so klug bin«, Abschnitt 6

Am 9. November 1868 schrieb der 24-jährige Nietzsche seinem Freund und Kommilitonen an der Universität Leipzig(1), Erwin Rohde(1), die Zusammenfassung einer Komödie.

»Die Akte meiner Komödie«, schrieb er, »heißen:

1. Ein Vereinsabend oder der Unterprofessor.

2. Der herausgeworfene Schneider.

3. Ein Rendezvous mit X.

Einige alte Weiber spielen mit.

Am Donnerstagabend verführte mich Romundt(1) zum Theater, für das meine Gefühle sehr erkalten: wir … saßen wie thronende Götter im Olymp zu Gericht über ein Machwerk, genannt Graf Essex. Natürlich schimpfte ich auf meinen Verführer …

Am Abend war der erste Vortrag unseres philologischen Vereines für dies Semester angesetzt: und man hatte mich sehr höflich ersucht, diesen zu übernehmen. Ich, der ich Gelegenheiten brauche, mich auf akademische Waffen einzupauken, war auch gleich bereit und hatte das Vergnügen, bei meinem Eintritt bei Zaspel eine schwarze Masse von 40 Zuhörern vorzufinden … Ich habe ganz frei gesprochen, bloß mit Zuhilfenahme eines Deminutivzettels … Es wird schon gehen mit dieser akademischen Laufbahn! …

Als ich nach Hause kam, fand ich einen Zettel, an mich adressiert, mit der kurzen Notiz: ›Willst Du Richard Wagner(3) kennen lernen, so komme um ¾ 4 in das Café Théâtre. Windisch‹.

Diese Neuigkeit verwirrte mir etwas den Kopf …, sodass ich die eben gehabte Szene ganz vergaß und in einen ziemlichen Wirbel geriet.

Ich lief natürlich hin, fand unsern Biederfreund, der mir neue Aufschlüsse gab. Wagner(4) war im strengsten Inkognito in Leipzig(2) bei seinen Verwandten: die Presse hatte keinen Wind, und alle Dienstboten Brockhausens waren stumm gemacht wie Gräber in Livree. Nun hatte die Schwester(1) Wagners(5), die Prof. Brockhaus(1),[1] jene bewusste gescheite Frau, auch ihre gute Freundin, die Ritschelin(1), ihrem Bruder vorgeführt: wobei sie den Stolz hatte, vor dem Bruder mit der Freundin und vor der Freundin mit dem Bruder zu renommieren, das glückliche Wesen! Wagner(6) spielt in Gegenwart der Frau Ritschl(2) das Meisterlied [Walthers Preislied aus Wagners(7) jüngster Oper, Die Meistersinger, die einige Monate zuvor Premiere gehabt hatte], das ja auch Dir bekannt ist: und die gute Frau(3) sagt ihm, dass ihr dies Lied schon wohl bekannt sei, mea opera. [Sie hatte das Lied bereits von Nietzsche gespielt und gesungen gehört, auch wenn die Noten dazu erst sehr kurz zuvor veröffentlicht worden waren.] Freude und Verwunderung Wagners(8): gibt allerhöchsten Willen kund, mich inkognito kennen zu lernen … [ich] bekam eine liebenswürdige Einladung für Sonntagabend.

Meine Stimmung war wirklich an diesen Tagen etwas romanhaft; gib mir zu, dass Einleitung dieser Bekanntschaft, bei der großen Unnahbarkeit des Sonderlings, etwas an das Märchen streifte.

In der Meinung, dass eine große Gesellschaft geladen sei, beschloss ich große Toilette zu machen und war froh, dass gerade für den Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug versprochen hatte. Es war ein schrecklicher Regen- und Schneetag, man schauderte, ins Freie zu gehen, und so war ich denn zufrieden, dass mich nachmittags Roscherchen(1)[2] besuchte, mir etwas von den Eleaten erzählte [eine frühe philosophische Schule der (1)griechischen Antike, vermutlich ca. 6. Jhdt. vor Christi(1)] und von dem Gott in der Philosophie … Es dämmerte, der Schneider kam nicht und Roscher(2) ging. Ich begleitete ihn, suchte den Schneider persönlich auf und fand seine Sklaven heftig mit meinem Anzuge beschäftigt: man versprach, in ¾ Stunden ihn zu schicken. Ich ging vergnügter Dinge weg, streifte Kintschy [ein bei Studenten sehr beliebtes Café in Leipzig(3)] las den Kladderadatsch [eine satirische Zeitschrift] und fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, dass Wagner(9) in der Schweiz(1) sei, … während ich wusste, dass ich ihn heute Abend sehen würde und dass gestern ein Brief vom kleinen König [Ludwig II.(1) von Bayern(1)] an ihn angekommen sei, mit der Adr.: ›an den großen deutschen(2) Tondichter Richard Wagner(10).‹

Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider, las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudocia(1),[3] und wurde nur von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewissheit, dass an dem altväterlichen eisernen Gittertor jemand warte: es war verschlossen, ebenso wie die Haustür. Ich schrie über den Garten weg dem Manne zu, er solle in das Naundörfchen kommen: unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu machen. Das Haus geriet in Aufregung, endlich wurde aufgeschlossen, und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war halb 7 Uhr; es war Zeit meine Sachen anzuziehen und Toilette zu machen, da ich sehr weit ab wohne. Richtig, der Mann hat meine Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er präsentiert die Rechnung. Ich akzeptiere höflich: er will bezahlt sein, gleich bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm auseinander, dass ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen Schneider zu tun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehen, der Mann ergreift die Sachen und hindert mich sie anzuziehen: Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Szene. Ich kämpfe im Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehen.

Endlich Aufwand von Würde, feierliche Drohung, Verwünschung meines Schneiders und seines Helfershelfers, Racheschwur: während dem entfernt sich das Männchen mit meinen Sachen. Ende des 2ten Aktes: ich brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock, ob er für Richard gut genug ist.

Draußen gießt der Regen. Ein Viertel auf Acht: um halb acht, habe ich mit Windisch verabredet, wollen wir uns im Theatercafé treffen. Ich stürme in die finstre regnerische Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack …

Wir kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus(2)(2) an: es ist niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard(11) und wir beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte der Verehrung: er erkundigt sich sehr genau, wie ich mit seiner Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Aufführungen seiner Opern … und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester im gemütlichen Tone zurufen: ›meine Herren, jetzt wird’s leidenschaftlich‹, ›Meine Gutsten, noch ein bisschen leidenschaftlicher!‹ …

Vor und nach Tisch spielte Wagner(12) und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer(1): ach, und Du begreifst es, welcher Genuss es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe.«

Schopenhauers(2) Werke waren zu jener Zeit kaum bekannt und nicht sehr hoch angesehen. Die Universitäten wollten ihn gar nicht erst als Philosophen anerkennen, aber Nietzsche, der kurz zuvor durch Zufall Die Welt als Wille und Vorstellung entdeckt hatte war ganz und gar hingerissen von Schopenhauer. Der gleiche Zufall oder, wie er es ausdrückte, »eine Kette von Ereignissen, in denen man Zufälligkeiten des äußern Schicksals sucht, offenbart sich später als ein von der sicher tastenden Hand des Instinktes aufgespürter Weg«,[4] wie jener, der ihn zur Begegnung mit Wagner(13) im Salon des Hauses Brockhaus(3)(3) geführt hatte.

Das erste Glied in dieser Kette war einen Monat vor der Begegnung geschmiedet worden, als Nietzsche die Ouvertüren zu Wagners(14) zwei neuesten Opern gehört hatte, Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg. »Jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir«, schrieb er noch am gleichen Tag und begab sich daran, den Klaviersatz zu üben. Anschließend hatte ihn Ottilie Brockhaus(4) spielen gehört und ihrem Bruder Wagner(15) die Neuigkeit mitgeteilt. Und jetzt das dritte Glied in der Kette: Wagners(16) tiefe Verbundenheit mit dem geheimnisvollen Philosophen, dessen Schriften dem heimatlosen, unglücklichen Nietzsche nach dessen Ankunft in Leipzig(4) drei Jahre zuvor Trost gespendet hatten.

»Ich [Nietzsche] hing damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Beihilfe einsam in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen und ohne eine freundliche Erinnerung … Eines Tages fand ich … im Antiquariat des alten Rohn dies Buch, nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blätterte. Ich weiß nicht welcher Dämon mir zuflüsterte: ›Nimm dir dies Buch mit nach Hause‹. Es geschah jedenfalls wider meine sonstige Gewohnheit, Büchereinkäufe nicht zu überschleunigen. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen Schatze in die Sofaecke und begann jenen energischen düsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier … sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte … hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel.«[5]

Aber an jenem Abend im Salon bei den Brockhausens(4)(5) war keine Zeit, weiter über Schopenhauer(3) zu sprechen. Denn was Nietzsche als das Rätselreiche seiner [Wagners(17)] Kunst beschreibt, ihr Versteckspiel hinter 100 Symbolen, sein Genie der Wolkenbildung, das durch die Lüfte streift und greift, sein Überall und Nirgendswo[6] war hier in vollem Gange.

Der Brief an Erwin Rohde(2) geht wie folgt weiter:

»Nachher las er ein Stück aus seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche Szene aus seinem Leipziger(5) Studienleben, an die ich jetzt noch nicht ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich gewandt und geistreich. – Am Schluss, als wir beide uns zum Fortgehen anschickten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philosophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine Anverwandten mit seiner Musik bekanntzumachen: was ich denn feierlich übernommen habe. – Mehr sollst Du hören, wenn ich diesem Abende etwas objektiver und ferner gegenüberstehe. Heute ein herzliches Lebewohl und beste Wünsche für Deine Gesundheit. FN.«

Auf dem Heimweg von der schön gelegenen, gediegenen Villa des Professor Brockhaus(5) erwarteten Nietzsche an jeder Ecke eisige Windböen und Graupelschauer. In der Lessingstraße 22 hatte er ein großes, kahles Zimmer bei Professor Karl Biedermann(1) gemietet, dem Herausgeber der nationalliberalen Deutschen Allgemeinen Zeitung. Seine Stimmung bezeichnet er als unbeschreibliche Euphorie. Erstmals entdeckt hatte er Wagner(18) noch als Schüler. »Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik«,[7] schrieb er, und der Zauber, den der Komponist auf ihn ausübte, sollte ihn nie wieder loslassen. Wagner(19) ist die Person, die mehr als jede andere in Nietzsches Schriften Erwähnung findet, Christus(2), Sokrates(1) und Goethe(1) eingeschlossen.[8] Sein erstes Buch war Wagner(20) gewidmet. Zwei seiner 14 Bücher tragen den Namen Wagner(21) im Titel. In seinem letzten Buch, Ecce Homo, schrieb Nietzsche, welche Einmaligkeit er in Wagners(22)Tristan sehe: »Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, – ich suche in allen Künsten vergebens.«[9]

Von frühester Jugend an hatte Nietzsche Ambitionen gehegt, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen, aber als herausragend intelligenter Schüler eines herausragenden akademischen Instituts, an dem Worte mehr zählten als Klänge, hatte er sich mit ca. 18 Jahren schweren Herzens von diesem Gedanken verabschiedet. Zum Zeitpunkt dieser Begegnung mit Wagner(23) war er noch kein Philosoph, sondern lediglich Student der klassischen Philologie, der klassischen Sprachwissenschaft und Linguistik an der Universität Leipzig(6).

Er war ein gutmütiger, kultivierter, ernster und etwas steifer junger Mann, untersetzt, aber nicht dick. Auf Fotos wirkt seine Kleidung, als sei sie ausgeliehen; die Ellbogen und Knie sitzen nicht am richtigen Platz, an den geschlossenen Knöpfen erkennt man, dass die Jacken spannen. Nur der sonderbar verstörende Blick bewahrte seine kleine, unauffällige Erscheinung vor gänzlicher Bedeutungslosigkeit. Seine Pupillen waren unterschiedlich groß. Manche beschreiben die Iris als braun, andere als grau-blau. Seine Augen fixierten die verschwommene Welt mit der Unsicherheit des extrem Kurzsichtigen, aber wenn sie einmal auf etwas fokussiert waren, wurde sein Blick als stechend, durchdringend und geradezu beunruhigend beschrieben; die Absichten eines Lügners erstickten sie im Keim.

Heutzutage kennen wir ihn von den Fotos, Büsten und Portraits seiner späteren Jahre, als der mächtige Schnurrbart den Mund und den größten Teil des Kinns gänzlich verdeckte. Fotos mit seinen Kommilitonen aus Leipziger(7) Tagen zeigen jedoch, dass er in einer Zeit, in der man seine Gesichtsbehaarung eindrucksvoll zu kultivieren pflegte, nur einen vergleichsweise bescheidenen Bart trug. Wir erkennen volle und wohlgeformte Lippen, eine Tatsache, die in späteren Phasen seines Lebens von Lou(1) Salomé(2) bestätigt wurde, eine der wenigen Frauen, die ihn küssten, und wir sehen auch ein rundes, festes Kinn. Ebenso wie die vorherige Mode unter Intellektuellen wallende Locken und weiche Halsbinden aus Seide als Ausweis der Romantik vorsahen, demonstrierte Nietzsche seinen post-romantischen Rationalismus durch Betonung der imponierenden Stirn, Heimstatt seines nicht minder imponierenden Gehirns, und durch das Verbergen der sinnlichen Lippen und des entschlossenen Kinns.

Nietzsche wurde mit seinem Dasein als Philologe zusehends unzufrieden. Elf Tage nach der Begegnung mit Wagner(24) beschreibt er sich und seine Philologen-Kollegen in einem Brief recht drastisch: »Jetzt wo ich wieder das wimmelnde Philologengezücht unserer Tage aus der Nähe sehe, wo ich das ganze Maulwurfstreiben, die vollen Backentaschen und die blinden Augen, die Freude ob des erbeuteten Wurms und die Gleichgültigkeit gegen die wahren, ja aufdringlichen Probleme des Lebens täglich beobachten muss …«[10] Sein Pessimismus wurde nicht geringer, als Basel(1) ihm schon bald den Lehrstuhl für Klassische Philologie antrug. Offenbar beherrschte er das von ihm verachtete Maulwurfstreiben allzu gut, was ihn zum jüngsten Professor in der Geschichte dieser Universität werden ließ. Dieser Ruhm hatte sich indes am Abend der Begegnung mit Wagner(25) noch nicht eingestellt, jenem Abend, an dem ihm der große Komponist auf Augenhöhe gegenübertrat und andeutete, er wäre erfreut, die Bekanntschaft fortführen zu können. Es war eine außergewöhnliche Ehre.

Der Komponist, der für alle schlicht »der Meister« hieß, war Mitte 50 und in ganz Europa(1) bekannt. Die Presse folgte ihm auf Schritt und Tritt, wie Nietzsche zuvor am gleichen Abend im Kladderadatsch bei der Café-Lektüre feststellen konnte. Wenn Wagner(26) nach England(1) reiste, gaben sich Königin Victoria(1) und Prinz Albert(1) die Ehre, ihn aufzusuchen. In Paris(1) kümmerte sich Prinzessin Pauline Metternich(1) um alles Notwendige. Für Wagner(27) war König Ludwig(2) von Bayern(2) sein »angebeteter, engelsgleicher Freund«, und dieser wiederum hegte den Plan, die Innenstadt Münchens komplett zu Ehren von Wagners(28) Musik umgestalten zu lassen.

Ludwig(3) starb, bevor diese extravagante Idee zur Umsetzung kommen konnte (ob die Suizid-These zutrifft, von welcher der Volksmund bis heute munkelt – »Der Kini ist ins Wasser gegangen« –, oder der verzweifelte König(4) vielmehr einem Mord zum Opfer fiel, der verhindern sollte, dass seine wilden Bauprojekte wie die märchenhaften Schlösser im bayerischen Umland den Staat in den Ruin treiben, bleibt bis heute ungeklärt). Erhalten haben sich in der Landeshauptstadt die triumphalen Architekturen seiner Vorgänger, die nicht minder wagnerianisch anmuten: eine Prachtstraße, die in das Stadtzentrum mündet, die Isar auf einer edlen Steinbrücke überquert, die an Wotans Regenbogenbrücke nach Walhalla in Wagners(29)Ring erinnert, und an dem riesigen Opernhaus von König Maximilian endet, das aussieht wie ein senkrecht in zwei Hälften geschnittenes Kolosseum, mit zusätzlichen Flügeln an beiden Seiten. Wagners(30) Musik war für König Ludwig(5) »mein schönster, größter, einziger Trost« – eine Empfindung, die auch bei Nietzsche immer wieder anklingt.

Von frühester Kindheit an prägte Nietzsche eine ungewöhnliche Ader für die Musik. In Erinnerungen der Familie an seine Kindheit ist davon die Rede, sie hätte ihm mehr bedeutet als die Sprache: Er war als Kleinkind so wunderbar still, dass sein Vater, Pastor Carl Ludwig(1) Nietzsche(2),[11] außer ihm niemanden in seinem getäfelten Arbeitszimmer duldete, wenn er mit Gemeindearbeit oder dem Verfassen seiner Predigten beschäftigt war. Vater(3) und Sohn verbrachten gesellige Stunden und Tage in geruhsamer Monotonie, aber manchmal wurde Klein-Friedrich, wie so ziemlich jeder Zwei- oder Dreijährige, von heftigen Wutanfällen gepackt. Dann schrie er aus Leibeskräften, schlug und trat wild mit Armen und Beinen um sich. Nichts konnte ihn dann beruhigen, nicht die Mutter(1), nicht seine Spielsachen, nichts Leckeres zu essen oder zu trinken – allein wenn der Vater(4) den Klavierdeckel hochklappte und zu spielen begann, kam der Junge wieder zur Ruhe.

In einem ohnehin musikaffinen Land war der lutherische Pastor Nietzsche ein außergewöhnlich fähiger Pianist; die Menschen reisten kilometerweit, um ihn spielen zu hören, in die Gemeinde Röcken(1), südlich von Leipzig(8) gelegen, wo J. S. Bach(1) 27 Jahre lang bis zu seinem Tod als Thomaskantor gewirkt hatte. Carl Ludwig(5) war berühmt für seine Bach(2)-Abende. Dazu wurde er aber auch für sein außergewöhnliches Improvisationstalent gefeiert, und dieses Talent sollte auch Friedrich vom Vater erben.

Die Vorfahren Nietzsches waren bescheidene Leute aus Sachsen(1), Metzger und Kleinbauern, die in der Gegend um die Domstadt Naumburg(1) ihr Auskommen fanden. Die Priesterweihe von Carl Ludwigs(6) Vater, Friedrich August(1) Nietzsche, bedeutete für die Familie einen Aufstieg auf der gesellschaftlichen Leiter, und durch die Heirat mit Erdmuthe(1) Krause, Tochter eines Erzdiakons, ging es noch weiter nach oben. Erdmuthe(2) war eine Frau von napoleonischer Gesinnung. Sie brachte Nietzsches Vater Carl Ludwig(7) am 10. Oktober 1813 zur Welt, wenige Tage vor der berüchtigten Völkerschlacht bei Leipzig(9), in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schlachtfeld, auf dem Napoleon(1) besiegt wurde. Nietzsche liebte es, diese Geschichte zu erzählen. Er sah in Napoleon(2) den letzten großen Immoralisten, den letzten Machthaber ohne Gewissen, die Synthese aus Superheld und Monster, und aus dieser recht fragilen Verbindung bezog er, wie er sich ausmalte, eine vorgeburtliche physio-psychologische Erklärung seiner Faszination von diesem Helden. Eines der Vorhaben in seinem Leben, das er nie verwirklichen konnte, war eine Reise nach Korsika(1).

Carl Ludwig(8) war selbstredend dafür bestimmt, wie sein Vater den Weg zur Kirche einzuschlagen. Er besuchte die nahegelegene Universität Halle, deren theologische Fakultät schon seit jeher hohes Ansehen genossen hatte. Hier studierte er Theologie, Latein, Griechisch und Französisch, (2)griechische und hebräische Geschichte, klassische Philologie und Bibelexegese. Er(9) war kein überragender Student, aber auch nicht dumm. Er galt nicht als besonders fleißig, gewann jedoch einen Preis für Eloquenz. Als er mit 21 Jahren von der Universität abging, nahm er eine Arbeit als Tutor in der Großstadt Altenburg an, rund 50 Kilometer südlich von Leipzig(10).

Carl Ludwig(10) war Konservativer und Royalist. Diese bodenständigen Qualitäten verschafften ihm die Aufmerksamkeit des Regenten, Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg(1), der ihn mit der Aufgabe betraute, die schulische Erziehung seiner drei Töchter zu beaufsichtigen, Therese(1), Elisabeth(1) und Alexandra(1). Carl Ludwig(11) war noch keine 30 Jahre alt und erledigte die Aufgabe in bewundernswerter Weise und vor allem ohne den Hauch einer romantischen Verstrickung.

Nach sieben Jahren in dieser Lehrtätigkeit bewarb er sich um die Pastorenstelle in der Gemeinde Röcken(2), einer fruchtbaren, aber baumlosen Ebene, rund 25 km südwestlich von Leipzig(11) gelegen. 1842 zog er zusammen mit der inzwischen verwitweten Mutter Erdmuthe(3) ins dortige Pfarrhaus. Das Pfarrhaus stand unmittelbar neben einer der ältesten Kirchen der Provinz Sachsen(2), einer historischen Kirchenburg aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Unter Friedrich Barbarossa(1) hatte der hohe, rechteckige Kirchturm zusätzlich die Funktion eines Beobachtungspostens über die ausgedehnte Ebene, die von den Rittern Kratzsch gehalten wurde. In der Sakristei stand eine überlebensgroße steinerne Statue eines der Ritter, die Nietzsche Angst machte, als er ein kleiner Junge war: wenn das Sonnenlicht in die Augen der Statue fiel, funkelte und glitzerte das eingesetzte Rubinglas auf unheimliche Weise.

Bei einem Besuch in der Nachbargemeinde Pobles fiel dem 29-jährigen Pastor Carl Ludwig(12) die 17-jährige Tochter des örtlichen Priesters ins Auge. Franziska(2) Oehler war wenig gebildet, aber von schlichtem und tiefem christlichen Glauben, und darin, ihrem Gatten Begleiterin auf dem Weg durch das irdische Jammertal zu sein, sah sie ihre einzige bescheidene Bestimmung.

Sie heirateten an seinem 30. Geburtstag, dem 10. Oktober 1843. Carl Ludwig(13) nahm seine Braut mit ins Röckener(3) Pfarrhaus, wo Erdmuthe(4) das Regiment im Haushalt führte. Sie war inzwischen eine entschlossene mater familias von 64 Jahren, die sich mit der strengen Haube und den unechten Schläfenlocken schmückte, wie sie ihre Elterngeneration zu tragen pflegte. Sie vergötterte ihren Sohn, kontrollierte akribisch die Finanzen der Familie und den Haushalt und verbat sich aufgrund ihres(5) »empfindlichen Gehörs« jegliche lauten Geräusche – ein permanentes pianissimo war der vorgeschriebene Pegel.

Die beiden weiteren Mitglieder im Haushalt waren die zwei kränklichen und neurotischen älteren Stiefschwestern des Pastors, Nietzsches Tanten Augusta(1) und Rosalie(1). Tante Augusta(2) war eine Märtyrerin der Häuslichkeit, die der neu eingeheirateten Franziska(3) nicht gestattete, sich in der Küche nützlich zu machen, damit diese nur ja nicht ihr beschwerliches Dasein erträglicher machen konnte. »Lass mir diesen einen Trost«, pflegte Tante Augusta(3) zu sagen, wenn Franziska(4) ihre Hilfe anbot. Tante Rosalie(2) war eher intellektuell veranlagt; sie opferte sich für wohltätige Dinge. Beide Tanten litten unter den damals weit verbreiteten nervlichen Beschwerden und behielten den Arzneischrank stets in Reichweite, ohne diesem jemals etwas wirklich Heilsames entnehmen zu können. Dieses Triumvirat der alten Frauen sorgte dafür, dass Franziska(5), die junge Braut, in ihrem eigenen Heim praktisch zu nichts nütze war. Zum Glück war sie schon einige Monate nach der Hochzeit mit Friedrich schwanger.

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 geboren und in der Kirche zu Röcken(4) von seinem Vater(14) getauft, der ihm den Namen des herrschenden Königs gab, Friedrich Wilhelm IV.(1) von Preußen(1). Zwei Jahre danach kam am 10. Juli 1846 ein Mädchen zur Welt und wurde auf den Namen Therese Elisabeth(1) Alexandra getauft, nach den drei Prinzessinnen aus Altenburg, denen ihr Vater als Hauslehrer gedient hatte. Jeder kannte sie von Anfang an unter dem Namen Elisabeth(2). Zwei weitere Jahre später, im Februar, wurde ein weiterer Sohn geboren, Joseph(1) genannt, nach dem Herzog von Altenburg.

Der Pastor(15) war fromm, patriotisch gesinnt, aber auch er war nicht frei von den nervlichen Störungen, an denen seine Mutter und seine Halbschwestern litten. Oft schloss er(16) sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer ein und weigerte sich, zu essen, zu trinken oder mit irgendjemandem zu sprechen. Viel beunruhigender war, dass er immer wieder von mysteriösen Anfällen geplagt wurde. Dann setzte seine Sprache abrupt mitten im Satz aus, sein Blick ging ins Leere. Franziska(6) eilte zu ihm(17), um ihn wachzurütteln, aber wenn er dann »erwacht« war, hatte er keinerlei Erinnerung an seine Bewusstseinslücken.

Franziska(7) konsultierte Dr. Gutjahr(1), den Arzt der Familie, der »die Nerven« diagnostizierte und Ruhe verschrieb, aber die Symptome verschlimmerten sich so sehr, dass der Pastor(18) letztendlich von seinen Pflichten in der Gemeinde entbunden werden musste. Die mysteriösen Krämpfe wurden als »Gehirnerweichung« diagnostiziert, und monatelang war er Zusammenbrüchen, quälenden Kopfschmerzen und plötzlichem Erbrechen ausgesetzt, seine Sehkraft verschlechterte sich dramatisch bis hin zur zeitweiligen Erblindung. Im Herbst 1848, nur 35 Jahre alt und nach gerade einmal fünf Jahren Ehe, legte er(19) sich ins Bett und sein aktives Leben war im Grunde beendet.

Franziskas(8) Leben erstickte unter der Regie Erdmuthes(6) und der zwei neurotischen Tanten und der zunehmenden Hinfälligkeit ihres Gatten. Finstere Blicke und verborgene Signale wurden zwischen den Erwachsenen im Pfarrhaus ausgetauscht, aber irgendwie schaffte es Franziska(9), die Kinder von der morbiden Atmosphäre abzuschirmen. Kindheitserinnerungen Friedrichs und Elisabeths(3) zeugen von einem freien und unbeschwerten Leben, das Bruder und Schwester(4) auf ihrem scheinbar grenzenlosen Spielplatz genossen, zu dem der große Kirchturm, der Wirtschaftshof, die Obstwiese und der Blumengarten gehörten. Es gab von Weiden überwachsene Teiche, und in den grünen Höhlen der Weiden konnten sich die Kinder verstecken, dem Vogelgezwitscher lauschen und winzige Fische unter der glitzernden Wasseroberfläche umherflitzen sehen. Sie(5) spürten, dass der grasbewachsene Friedhof an der Rückseite des Hauses ein »freundlicher« Ort war, auch wenn sie nicht zwischen den alten Grabsteinen spielten: Die Dachgaube hatte an der Seite des Hauses drei schmale Fensterschlitze, die wie die alles sehenden Augen Gottes auf sie herunterblickten.

Carl Ludwigs(20) Leiden wurde immer schlimmer; er verlor die Sprachfähigkeit und erblindete zuletzt völlig. Am 30. Juli 1849 starb er mit nur 35 Jahren.

»Die Gemeinde hatte das Grab ausmauern lassen … Oh, nie wird sich der dumpfe Klang der Glocken aus meinem Ohr verlieren, nie werde ich die düster rauschende Melodie des Liedes ›Jesu meine Zuversicht‹ vergessen! Durch die Hallen der Kirchen brauste Orgelton«, schrieb der 13-jährige Nietzsche in seinen Kindheitserinnerungen.[12]

»In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbnis. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzen mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Öffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. – Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen(2) unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche(3) wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.«[13]

Die Ursache für Pastor Nietzsches(21) Verfall und frühen Tod wird bis heute umfassend erforscht. Ob der Pastor im Zustand geistiger Umnachtung starb, ist eine Frage von einiger Bedeutung für die Nachwelt. Immerhin litt auch Nietzsche selbst an ähnlichen Symptomen wie sein Vater(22), bevor er plötzlich und auf dramatische Weise im Jahr 1888 in den Wahnsinn verfiel, im Alter von 44 Jahren, und er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1900 in ebenjenem Zustand. Die umfangreiche Literatur zu diesem Thema wächst noch weiter an, aber das erste Buch, Über das Pathologische bei Nietzsche, erschien bereits 1902, nur zwei Jahre nach Nietzsches Tod. Der Autor, Dr. Paul Julius Möbius(1),[14] war ein angesehener, wegweisender Neurologe, der sich seit den 1870er-Jahren auf erbliche Nervenerkrankungen spezialisiert hatte. Freud(1) nannte Möbius einen der Väter der Psychotherapie und, besonders wichtig, Möbius(2) bezog sich direkt auf den Obduktionsbericht zu Pastor Nietzsche(23), in dem Gehirnerweichung diagnostiziert wurde. Dieser Begriff wurde im 19. Jahrhundert oft für ganz verschiedene degenerative Hirnerkrankungen verwendet.

Die moderne Interpretation umfasst eine allgemeine Degeneration, einen Gehirntumor, ein Gehirntuberkulom oder sogar eine schleichende Gehirnblutung, verursacht durch eine Kopfverletzung. Anders als sein Vater(24) wurde Nietzsche nicht obduziert, deshalb war es weder Möbius(3) noch anderen Forschern möglich, einen Post-Mortem-Vergleich der beiden Gehirne anzustellen. Möbius ging allerdings weiter und enthüllte eine Tendenz zu psychischen Problemen auf der mütterlichen Seite des Familienstammbaums. Ein Onkel beging Selbstmord, der den Tod offenbar einer Einweisung in eine geschlossene Irrenanstalt vorgezogen hatte. Väterlicherseits wurden mehrere Geschwister von Nietzsches Großmutter Erdmuthe(7) als »geistig abnormal« beschrieben. Einer beging Selbstmord, bei zwei weiteren bildete sich eine unbestimmte Art von Geisteskrankheit aus, eine davon bedurfte auch psychiatrischer Betreuung.[15]

Bevor wir diesen Bereich der Spekulation endgültig hinter uns lassen, müssen wir noch auf den Tod von Nietzsches Bruder im Kleinkindalter zu sprechen kommen. Joseph(4) litt an Anfällen, bevor er infolge eines schweren Schlaganfalls starb. Eine abschließende Bewertung ist nicht möglich, es steht jedoch außer Zweifel, dass Nietzsches Familie von einer starken Neigung zu geistiger oder neurologischer Instabilität betroffen war.

Carl Ludwig(25) Nietzsche war erst 35, als er starb. Franziska(10) war zu dem Zeitpunkt 23, Friedrich Nietzsche vier und Elisabeth(6) drei Jahre alt. Die Familie musste das Pfarrhaus verlassen, um dem neuen Pastor Platz zu machen. Großmutter Erdmuthe(8) beschloss, nach Naumburg(2) zurückzuziehen, wo sie beste Verbindungen hatte. Ihr Bruder hatte dort als Priester im Dom gedient. Sie mietete eine Erdgeschosswohnung in der Neugasse, eine bescheidene, aber respektable Straße mit mehreren Doppelhaushälften. Erdmuthe(9) bezog das vordere Zimmer und brachte Tante Rosalie(3) und Tante Augusta(4) im Zimmer daneben unter.

Franziska(11) erhielt eine Witwenrente von 90 Talern im Jahr, plus 8 Taler pro Kind. Dazu kam noch eine kleine Pension vom herzoglichen Hof Altenburg, aber auch das genügte in der Summe nicht, um unabhängig leben zu können. Sie und die beiden Kinder wurden in die zwei scheußlichsten Zimmer auf Rückseite des Hauses gesteckt, wo sich Nietzsche und seine Schwester(7) ein Schlafzimmer teilten.

»Es war für uns schrecklich, nachdem wir so lange auf dem Lande gewohnt hatten, in der Stadt zu leben«, schrieb Nietzsche. »Deshalb vermieden wir die düstern Straßen und suchten das Freie, wie ein Vogel, der seinem Käfig entflieht … Die großen Kirchen und Gebäude, der Marktplatz mit Rathaus und Brunnen, die ungewohnte Menge des Volks erregte meine große Bewunderung. Dann erstaunte [ich], wie ich bemerkte, dass die Leute oft miteinander unbekannt waren … Was mir aber mit am unangenehmsten war, waren die langen gepflasterten Straßen.«[16]

Mit seinen 15 000 Einwohnern war Naumburg(3) tatsächlich ein beängstigender Ort für die Kinder aus Röcken(5), dem winzigen Flecken ihrer ersten Jahre. Heute kennen wir Naumburg(4) als romantisches Bilderbuchstädtchen, gleichsam ein Gemälde aus einem mittelalterlichen Stundenbuch, mit schemenhaften Türmen, die zwischen den Mäandern der Saale aufragen. Als die Familie Nietzsche dort hinzog, war die Saale jedoch alles andere als ein Abenteuerspielplatz – eher schon ein massives Bollwerk mit zahlreichen Festungen.

Zwei Jahre, bevor die Familie sich in Naumburg(5) niedergelassen hatte, hatten die Revolutionen der Jahre 1848/49 ganz Europa(2) in diversen freiheitlichen Aufständen durchgerüttelt, zum Schrecken von Nietzsches sterbendem monarchistischen Vater(26). Richard Wagner(31) wiederum hatte die revolutionäre Ära aus vollem Herzen begrüßt. Er erwartete sich davon eine vollständige Renaissance von Kunst, Gesellschaft und Religion. Wagner(32) kämpfte an der Seite des russischen Anarchisten Michail Bakunin(1) auf den Barrikaden im Dresdner(1) Maiaufstand von 1849, er finanzierte Handgranaten für die Rebellen. Als dies bekannt wurde, wurde er ins Exil geschickt, was erklärt, dass er zum Zeitpunkt der Begegnung mit Nietzsche in der Schweiz(2) lebte.

Deutschland(3) in den 1850er-Jahren war das Land des Deutschen Bundes (1815–66), einem Zusammenschluss von Staaten, der gebildet wurde, als auf dem Wiener Kongress in der Folge der Niederlage Napoleons(3) die Ländergrenzen Europas(3) neu gezogen wurden. Der Bund umfasste 39 autonome deutsche(4) Einzelstaaten, in denen Prinzen, Herzöge, Bischöfe, Kurfürsten und dergleichen mehr das Sagen hatten. Diese Zerstückelung in kleine – und kleinkarierte – Einzelstaaten bedeutete, dass es keine nationale Armee gab, keine einheitliche Steuerstruktur, keine übergeordnete Wirtschaftspolitik und keine echte politische Autorität. Diverse Despoten zogen gegeneinander zu Felde, zu kurzsichtig, um die Vorteile einer Vereinigung zu erkennen. Zusätzlich kompliziert wurde die Angelegenheit, weil dem Bund auch Tschechen in Böhmen, Dänen in Holstein und Italiener in Tirol angehörten. Hannover(1) wurde bis 1837 vom englischen(2) König regiert, Holstein vom dänischen(1) König, und Luxemburg(1) unterstand dem niederländischen(1) König. Im Jahr 1815, als der Deutsche(5) Bund gebildet wurde, war Österreich(1) das dominante Mitglied dieser Konföderation, aber im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, als die Macht von Österreichs(2) Kanzler Metternich(1) schwand, wurde der große und rohstoffreiche Staat Preußen(2) unter Kanzler Otto von Bismarck(1) immer wohlhabender und trat kriegerischer auf.

Die Stadt Naumburg(6), in der Provinz Sachsen(3) gelegen, gehörte dem preußischen(3) König. Der Festungscharakter der Stadt, an den sich Nietzsche erinnert, ist nicht nur den Spannungen innerhalb des Bundes geschuldet, sondern geht auch auf die Tage der Bedrohung durch Frankreich(1) zurück. Nachts schützten fünf schwere Tore die Stadt vor Eindringlingen. Selbst die Einheimischen kamen nur mittels lauten Klingelns – und Bestechung der Nachtwache – wieder hinein. Nietzsche und seine Schwester(8) genossen Ausflüge in die Umgebung Naumburgs(7) mit ihren Bergen, Flusstälern, Herrenhäusern und Schlössen, wobei sie stets auf die Stadtglocke achten mussten (später, im Zarathustra(1), machte er daraus »jene alte Glocke es mir ins Ohr sagt, … die mehr erlebt hat als Ein Mensch: welche schon eurer Väter Herzens-Schmerzens-Schläge abzählte«[17]), wollten sie nicht den gleichen Schrecken erleben wie Hänsel und Gretel und die Nacht vor verschlossenen Stadttoren verbringen müssen.

Rund um Naumburg(8) erstreckte sich finster und bedrohlich der Thüringer(1) Wald: Deutschlands(6) Ur-Wald mit seinen Grabmälern antiker Helden, Drachenhöhlen, Hünengräbern und dunklen Schluchten aus den frühesten Tagen deutscher Mythen, die symbolhaft für die Irrationalität und Unberechenbarkeit des deutschen(7) Unterbewussten standen. Wagner(33) sollte diese Umgebung für Wotans geistige Reise in Richtung des Chaos vereinnahmen, das in der Zerstörung der bestehenden Ordnung durch den Tod der Götter und den Bruch mit allen althergebrachten Kontrakten mündet. Nietzsche sollte dies zunächst als dämonisch, später dann als dionysisch(1) charakterisieren.

Nichts konnte apollonischer(1), zwingender und logischer sein als die Stadt Naumburg(9) selbst. Der Fluss Saale transportierte geradezu Vernunft, Wohlstand und eine Neigung zum romantischen Konservatismus. Ursprünglich war die Stadt ein Handelszentrum, ein lebendiger Hort des Friedens zwischen altertümlichen, sich bekriegenden Stämmen. Über die Jahre hatte sich Naumburg(10) zu einem mittelalterlichen Zentrum der Handwerks- und Handelszünfte entwickelt. Seit der Grundsteinlegung des Doms im Jahr 1028 waren Kirche und Staat über die Jahrhunderte leidlich harmonisch zusammengewachsen, vor allem in den protestantischen Jahrhunderten. Zu Nietzsches Zeit war Naumburg(11) zu einer großen Stadt stocksoliden Bürgertums geworden, ein Ort, an dem man gediegen leben konnte. Ihre zauberhafte Zwillingsarchitektur in der Gestalt des Doms und des nicht minder großartigen Rathauses zeigte, wie gut Kirche und Staat als Allianz florieren konnten, wenn man religiöser und bürgerlicher Tugend gestattete, durch harmonische Verbindung innerhalb einer materiell abgesicherten, rückwärtsgewandten Gesellschaft quasi nicht mehr unterscheidbar zusammenzuwachsen.

Zu Zeiten von Großmutter Erdmuthes(10) Jugend in Naumburg(12) waren die religiösen Kreise dort beherrscht von den reinen lutherischen Idealen von Pflichterfüllung, Bescheidenheit, Einfachheit und Selbstbeschränkung. Ihre Rückkehr in die Stadt fiel dagegen zusammen mit der Erweckungsbewegung, in der Leidenschaft und hehre Offenbarung wichtiger waren als rationaler Glaube. Die Leute erklärten sich zu Wiedergeborenen. Sie denunzierten sich selbst in der Öffentlichkeit als verzweifelte Sünder. Dieses neuartige Verhalten passte den Damen im Hause Nietzsche überhaupt nicht, und während es nicht das kleinste Abrücken von der Absicht gab, Friedrich zum Nachfolger von Vater(27) und Großvater(2) im Schoß der Kirche zu erziehen, stand es auch außer Frage, dass die Familie keinesfalls zu einem Teil dieser offenen geistlichen Kreise werden würde. Vielmehr fanden sie ihre Freundinnen unter den Gemahlinnen der Funktionsträger bei Hofe und unter Richtergattinnen, mithin unter den Wohlhabenden und Mächtigen der provinziellen Gesellschaft, ungetrübt durch zweifelhafte innovative Ideen.

Innerhalb der Trägheit einer konservativen Gesellschaft, die sich – wenn überhaupt – nur im Schneckentempo entwickelte, passten sich die beiden Pastorenwitwen Erdmuthe(11) und Franziska(12) mit ihren beständigen, wenn auch nicht übermäßig wohlhabenden Lebensverhältnissen in akzeptabler Weise in ihre Stellung als vornehme Damen ein, die für die alte Garde der etablierten Gesellschaft von Nutzen sein konnten, im Tausch gegen diskrete Patronage. Nietzsche war weit davon entfernt, sich an dieser eingebildeten Konvention zu reiben, was er reumütig zugibt, wenn er sein kindliches Wesen zu Naumburger(13) Zeiten so beschreibt, dass er sich stets mit der Würde eines gründlichen kleinen Philisters benahm. Sein Bericht über den Besuch des Königs in Naumburg(14), den er im Alter von zehn Jahren verfasste, verrät vielleicht noch kein frühreifes politisches Denken, sehr wohl aber ein frühreifes literarisches Talent:

»Unser lieber König(2) beehrte Naumburg(15) (1854) mit einem Besuch. Große Vorbereitungen wurden hierzu getroffen. Die ganze Schuljugend war mit schwarzen und weißen Schleifen geschmückt und harrte sehnlich des Landesvaters und war von früh 11 Uhr auf dem Marktplatz aufgestellt. Allmählich trübte sich der Himmel, es ergoss sich ein Regen über uns all – der König wollte nicht kommen. Es schlug 12 – der König kam nicht; bei vielen Kindern stellte sich Hunger ein. Es regnete von neuem, alle Straßen wurden in Schmutz verwandelt; es schlug 1 – die Ungeduld stieg aufs höchste. Endlich um 2 begannen plötzlich alle Glocken zu läuten, der Himmel lächelte mit Tränen im Blick nieder auf die freudig wogende Menge. Da hörten wir die Wagen rasseln, ein tobendes ›Hurra‹ durchbrauste die Stadt, jauchzend schwangen wir die Mützen und brüllten nach Vermögen unserer Kehlen mit. Ein lustiger Wind setzte die unzähligen Fahnen, die von den Dächern herabwinkten, in Bewegung, die gesamten Glocken brummten, die mächtige Menschenmasse schrie und tobte und schob förmlich die Wagen nach dem Dome zu. Dort waren in den Kirchennischen eine große Anzahl kleiner Mädchen in weißen Kleidern und mit Blumenkränzen im Haar pyramidal aufgestellt. Der König(3) stieg hier aus …«[18]

Im gleichen Jahr, 1854, erwachte in Nietzsche ein leidenschaftliches Interesse am Krimkrieg. Jahrhundertelang war die strategisch bedeutende Halbinsel, die ins Schwarze Meer hineinragte, ein Zankapfel zwischen Russland(1) und der Türkei gewesen. Gegenwärtig war sie im Besitz Russlands, und die Truppen von Zar Nikolaus I.(1) kämpften gegen die Streitkräfte des Osmanischen Reichs und dessen Verbündete, England(3) und Frankreich(2). Es war der erste Krieg, über den auch Fotografen berichten konnten. Dank elektrischer Telegrafie trafen die Berichte von der Front fast ohne Verzug in der Heimat ein. Nietzsche und seine Schulfreunde Wilhelm Pinder(1) und Gustav Krug(1) verfolgten die Kämpfe mit großem Eifer. Von ihrem Taschengeld kauften sie Zinnsoldaten, sie brüteten über Landkarten und bastelten Modelle von Schlachtschiffen, bauten gar einen kleinen Teich, um den Hafen von Sewastopol(1) nachzustellen, und errichteten ganze Marineflotten aus Papierschiffchen. Sie simulierten sogar Bombardements mit Kügelchen aus Wachs und Salpeter, die sie in Brand setzten und über ihren Modellen abwarfen. Es war mächtig aufregend zu sehen, wie diese kleinen Feuerbälle durch die Luft zischten, ein Ziel trafen und eine Mini-Explosion auslösten. Eines Tages aber tauchte Gustav mit einem traurigen Blick am Spielzeug-Schlachtfeld auf. Sewastopol war gefallen, berichtete er; der Krieg war vorbei. Die Jungs ließen ihre Wut und Enttäuschung an der Mini-Krim aus und gaben das Spiel auf. Schon bald darauf hatten sie ein neues Betätigungsfeld gefunden und widmeten sich den Trojanischen Kriegen.

Gräkophilie stand damals in Deutschland(8) hoch im Kurs. Die vielen Kleinstaaten malten sich, jeder für sich, eine Zukunft in Glanz und Größe aus, ähnlich wie sie einst die (3)griechischen Stadtstaaten erlangt hatten. »Wir wurden zu derart begeisterten kleinen Griechen(4)«, schrieb Elisabeth(9), »wir warfen sogar Lanzen und hölzerne Disken, übten Hochsprung und machten Wettrennen.« Nietzsche schrieb zwei Stücke, Die Götter vom Olymp und Die Eroberung Trojas, die er vor der Familie aufführte. Mit etwas Überredungskunst brachte er seine Schulkameraden Wilhelm Pinder(2), Gustav Krug(2) und seine Schwester(10) Elisabeth(11) dazu, die anderen Rollen zu übernehmen.

Seine Mutter(13) hatte ihn Lesen und Schreiben gelehrt, als er fünf Jahre alt war. Die schulische Erziehung von Jungen begann mit sechs Jahren, und im Jahr 1850 wurde er in die städtische Schule geschickt, die die Kinder der Armen besuchten. Seine statusbewusste Schwester Elisabeth(12) schreibt in ihrer Biographie des Bruders, Grund dafür sei eine Theorie von Großmutter Erdmuthe(12) gewesen: »Bis zum achten oder zehnten Jahre sollten alle Kinder der verschiedensten Stände zusammen unterrichtet werden; die Kinder aus den höheren Klassen würden dadurch ein besseres Verständnis für die Anschauungsweise der niederen Stände gewinnen.«[19] Glaubt man jedoch ihrer Mutter(14), ist das Unsinn. Er war schlicht und einfach dort, weil die Familie arm war.

Mit seiner Frühreife, seinem Hang zum Pathos, der Präzision seiner Gedanken und Äußerungen, gepaart mit extremer Kurzsichtigkeit, die dazu führte, dass seine Augen ständig den Dienst versagten, wenn er versuchte, den Blick auf physische Objekte zu fokussieren, wurde Nietzsche unabweisbar zu einem Außenseiter. Man nannte ihn »der kleine Pastor«, und er wurde gehänselt.

An Ostern 1854, im Alter von neun Jahren, kam er auf eine andere Schule mit dem ziemlich umständlichen Namen »Institut zum Zwecke gründlicher Vorbereitung für Gymnasien und andere höhere Lehranstalten«, eine private Paukschule, die von der versammelten Horde der Söhne seiner eigenen, ehrgeizigen Klasse besucht wurde. Gesellschaftlich fühlte er sich hier viel besser aufgehoben, aber die Schule wurde ihren langatmigen akademischen Versprechungen nicht im Entferntesten gerecht. Mit zehn Jahren wechselte er zusammen mit Wilhelm Pinder(3) und Gustav Krug(3) aufs Domgymnasium(1). Hier mussten sie besonders hart arbeiten, um die verlorene Zeit aufzuholen, weshalb Friedrich nicht mehr als fünf oder sechs Stunden Schlaf pro Nacht blieben. Seine Beschreibungen dieser Zeit greifen, wie so viele selbstanalytische Passagen, ganz charakteristisch auf den Tod des Vaters(28) zurück. Immer wieder kommt Nietzsche in seinen autobiographischen Schriften aus der Kindheit – und selbst noch im letzten Jahr seines geistig gesunden Lebens – auf den Tod seines Vaters(29) zu sprechen.

»Aber schon damals [als wir nach Naumburg(16) zogen] fing mein Charakter an, sich zu zeigen. Ich hatte in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und Betrübnis gesehen und war deshalb nicht ganz so lustig und wild, wie Kinder zu sein pflegen. Meine Mitschüler waren gewohnt, mich wegen dieses Ernstes zu necken. Aber dies geschah nicht allein in der Bürgerschule, nein auch später im Institut und sogar im Gymnasium. Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit und fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte. Und dies war gewöhnlich im freien Tempel der Natur, und die wahrsten Freuden fand ich hierbei. So hat auf mich stets ein Gewitter den schönsten Eindruck gemacht; der weithin krachende Donner und die hell aufzuckenden Blitze vermehrten nur meine Ehrfucht gegen Gott.«[20]

Während der vier Jahre am Domgymnasium(2) ragte er in den Fächern heraus, die ihn interessierten: deutsche(9) Dichtkunst, Hebräisch, Latein und schließlich auch Griechisch, das ihm zunächst sehr schwerfiel. Mathematik fand er langweilig. In seiner Freizeit begann er, an einer Novelle mit dem Titel Tod und Verderben zu schreiben, er komponierte einige Musikstücke, schrieb mindestens 46 Gedichte und nahm sogar Unterricht in der edlen Kunst des Fechtens, für das er körperlich denkbar ungeeignet war, das aber seine gesellschaftliche Stellung verlangte.

»Ich schrieb Gedichte und Trauerspiele, schauervoll und zum Entsetzen langweilig, quälte mich damit ab, vollständige Orchestermusiken zu komponieren, und hatte mich so in die Idee, mir ein Universalwissen und -können anzueignen, hineingelebt, dass ich in Gefahr war, ein rechter Wirrkopf und Phantast zu werden.«[21]

Hier jedoch unterschätzt sich der 14-jährige im Rückblick auf sein bisheriges Leben. Im gleichen Schriftwerk fährt er nämlich mit einer scharfen kritischen Analyse seiner eigenen Dichtung fort, die er bereits im Alter von acht Jahren begann. Die Kritik seiner eigenen Jugendwerke nimmt interessanterweise die Stimmung der symbolistischen Poesie vorweg, die er keinesfalls gekannt haben konnte – schließlich begann Baudelaire(1) in Paris(2) gerade erst damit, diese zu komponieren.

»Waren meine ersten Poesien an Form und Inhalt unbeholfen und schwer, so versuchte ich in der zweiten in geschmückter und strahlender Sprache zu reden. Aber aus der Zierlichkeit wurde Ziererei, und die schillernde Sprache zu phrasenhafter Verblümung. Und bei diesen allen fehlte noch die Hauptsache, die Gedanken … Ein gedankenleeres Gedicht, das mit Phrasen und Bildern überdeckt ist, gleicht einem rotwangigen Apfel, der im Innern den Wurm hat … Man muss überhaupt bei dem Schreiben eines Werks vorzüglich die Gedanken berücksichtigen. Eine Nachlässigkeit im Stil verzeiht man eher als eine verwirrte Idee … Die Jugend, der noch eigene Gedanken fehlen, sucht ihre Ideenleere hinter einem schillernden, glänzenden Stil zu verbergen. Gleicht hierin die Poesie nicht der modernen Musik? Ebenso wird hieraus alsbald eine Zukunftspoesie werden. Man wird in den eigentümlichsten Bildern reden; man wird wirre Gedanken mit dunklen, aber erhaben klingenden Beweisen belegen, man wird kurzum Werke im Stil des Faust(1) (zweiter Teil) schreiben, nur dass eben die Gedanken dieses Stücks fehlen. Dixi.«[22]

Sein Bestreben, sich universelles Wissen und universelle Fähigkeiten anzueignen, war zweifellos inspiriert durch das Vorbild Fausts(2), aber auch durch Universalgenies wie Goethe(2) und Alexander von Humboldt(1). Genau wie diese befasste er sich auch mit der Naturgeschichte. »Lisbeth«, sagte er eines Tages im Alter von neun Jahren zu seiner Schwester(13), »rede nicht solchen Unsinn mit dem Storch. Der Mensch ist ein Säugetier, als solches bringt er lebendige Junge zur Welt.«[23] Sein Buch über Naturgeschichte hatte ihn noch andere Dinge gelehrt: »Das Lama(14) ist ein erstaunliches Tier; es trägt klaglos die schwersten Lasten, aber wenn es nicht weiter will, wendet es sein Haupt und spuckt dem Reiter seinen Speichel, der von unangenehmem Geruch ist, mitten ins Gesicht. Wird es gezwungen oder schlecht behandelt, verweigert es die Nahrung und legt sich zum Sterben in den Staub.« Er hatte das Gefühl, dass diese Beschreibung perfekt auf seine Schwester(15) Elisabeth(16) passte, und für den Rest ihres Lebens hatte sie, in Briefen wie im Gespräch, ihren Spitznamen weg: Er nannte sie stets »Lama(17)« oder auch »treues Lama«. Elisabeth(18) ihrerseits liebte den vertrauten Spitznamen und zitierte dessen Ursprung bei jeder Gelegenheit, allerdings ließ sie den Teil mit dem übelriechenden Speichel lieber weg.

Gustav Krugs(4) Vater besaß einen »wunderbaren Flügel«, der Nietzsche enorm faszinierte. Franziska(15) kaufte ihm ein Klavier und brachte sich selbst das Spielen bei, um ihm Unterricht geben zu können. Krug war mit dem Komponisten Felix Mendelssohn(1) eng befreundet. Immer wenn angesehene Musiker in der Stadt waren, kamen sie in seinem Haus zusammen, um zu musizieren. Durch die Fenster war der Klang der Musik bestens auf der Straße zu vernehmen, wo Nietzsche stehen und lauschen konnte, solange er wollte. Und so lernte er schon als Kind die romantische Musik jener Zeit recht gut kennen – genau die Musik, gegen die Wagner(34) aufbegehrte. Bei diesen »Fensterkonzerten« wurde Beethoven(1) zu Nietzsches erstem musikalischen Helden, aber es war Händel(1), der ihn zu seiner ersten eigenen Komposition inspirierte. Im Alter von neun Jahren komponierte er, inspiriert durch Händels »Halleluja«, ein Oratorium. »Mir war, als sollte ich mit einstimmen, deuchte mir doch, es sei der Jubelgesang der Engel, unter dessen Brausen Jesus(3) Christus(4) gen Himmel führe. Alsbald fasste ich den ernstlichen Entschluss, etwas Ähnliches zu komponieren.«[24]

Viel von seiner Musik aus der Kindheit hat die Zeit überdauert, dank seiner Mutter(16) und seiner Schwester(19), die jeden Schnipsel aus der Feder ihres vergötterten Jungen aufbewahrten. Seine musikalischen Kompositionen hatten den Zweck, leidenschaftliche Liebe zu Gott zum Ausdruck zu bringen, die den ganzen, emotional aufgeladenen Haushalt durchdrang, eine Liebe, die mit der düsteren Erinnerung an den Vater(30) untrennbar verbunden war, dessen Geist nach ihrer Überzeugung über die Familie wachte. Dies wiederum war nicht von seiner Erwartung zu trennen, er selbst würde dereinst wie sein Vater werden: »… bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzu frühen Tode(31).«[25]

Mutter(17) und Schwester(20) beteten ihn geradezu an; er war ihr ein und alles. Elisabeth(21) war überaus intelligent, aber da sie als Mädchen geboren wurde, war ihre Bildung keine Sache der Wissenschaft, eher ging es um das Erlernen bestimmter Fähigkeiten. Dabei brachte man ihr durchaus Lesen und Schreiben bei, auch ein wenig Arithmetik, genug Französisch für die höfliche Konversation, Tanz, Zeichnen und eine große Portion Betragen. In ihrer Untergebenheit beglückten sie und ihre Mutter(18) die Unterwerfung des Weiblichen unter das starke Geschlecht geradewegs und Friedrich gedieh zu dem überlegenen kleinen Mann, den sie in ihm zu sehen wünschten. Zu Hause, wenn auch nicht in der Schule, hatte er ein ausgeprägtes Gefühl für seine eigene Bedeutung. Als Elisabeth(22) noch nicht das Lama(23) oder das treue Lama(24) war, war sie stets »das kleine Mädchen«, das zu verteidigen und zu schützen ihm oblag. Wenn er mit der Mutter(19) oder der Schwester(25) spazieren ging, war er stets fünf Schritte voraus, um »Gefahren« wie Matsch oder Pfützen von ihnen fernzuhalten, aber auch »Ungeheuer« wie Pferde oder Hunde, vor denen sich zu fürchten sie vorgaben.

Die Berichte aus dem Domgymnasium(3) zeigten ihn als eifrigen Schüler. Seine Mutter(20) war sich sicher, er würde ihren Traum erfüllen und in die Fußstapfen seines Vaters(32) treten, mithin ein Mann der Kirche werden. Seine Hingabe zur Theologie brachte ihm Bestnoten in diesem Fach ein. Als leidenschaftlich religiöser Zwölfjähriger hatte er eine Vision von Gott in all seinem Glanz und Ruhm. Und diese ließ ihn auch tatsächlich die Entscheidung treffen, sein Leben Gott zu widmen.

»In allem«, schrieb er, »hat mich Gott sicher geleitet wie ein Vater sein schwaches Kindlein … Ich habe es fest in mir beschlossen, mich seinem Dienste auf immer zu widmen. Gebe der liebe Herr mir Kraft und Stärke zu meinen Vorhaben und behüte mich auf meinem Lebenswege. Kindlich vertraue ich auf seine Gnade: Er wird uns insgesamt bewahren, auf dass kein Unfall uns betrübe. Aber sein heiliger Wille geschehe! Alles was er gibt, will ich freudig hinnehmen, Glück und Unglück, Armut und Reichtum und kühn selbst dem Tod ins Auge schauen der uns alle einstmals vereinen wird zu ewiger Freude und Seligkeit. Ja, lieber Herr, lass dein Antlitz über uns leuchten ewiglich! Amen!!«[26] Doch selbst in den Fesseln dieses recht konventionellen religiösen Enthusiasmus pflegte er, wenn auch im Verborgenen, ein ebenso prägendes wie für die damalige Zeit ungewöhnlich ketzerisches Denken.

Es ist ein Grundpfeiler des christlichen Glaubens, dass die Heilige Dreifaltigkeit aus Gott dem Vater, Gott dem Sohn (Jesus(5) Christus(6)) und Gott dem Heiligen Geist besteht. Aber schon dem zwölfjährigen Nietzsche war die Irrationalität dieses Konstrukts unerträglich. Seine Schlussfolgerungen brachten eine ganz andere Heilige Dreifaltigkeit hervor.

»Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit: Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluss war, dass Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf: dass aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken musste, also schaffen musste. – Damit fing ich an, zu philosophieren.«[27]

2 Unser deutsches Athen(1)(1)

Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.

Ecce Homo, Vorwort, Abschnitt 4

Als Nietzsche elf Jahre alt war, starb seine Großmutter(13), und endlich konnte seine Mutter(21) im eigenen Haushalt schalten und walten. Nach einigen gescheiterten Versuchen kamen Franziska(22) und die zwei Kinder in einem Eckhaus der Weingarten-Straße unter, einer respektablen und unauffälligen Straße in Naumburg(17). Nietzsche hatte jetzt sein eigenes Schlafzimmer. Er verfiel rasch in die Angewohnheit, bis um Mitternacht zu arbeiten und um fünf Uhr morgens aufzustehen, um dort weiterzumachen, wo er die Nacht zuvor aufgehört hatte. Es war der Beginn eines Lebens voller Selbstüberwindung, wie er es nannte. Dieses wichtige Prinzip sollte er später metaphysisch weiter vertiefen, vorerst jedoch musste er erst einmal seinen miserablen Gesundheitszustand überwinden. Qualvolle Phasen mit Kopfschmerzen, Erbrechen und extremen Augenschmerzen konnten eine ganze Woche anhalten. Dann konnte er nur bei geschlossenen Vorhängen in einem abgedunkelten Raum liegen. Der kleinste Lichtstrahl schmerzte in den Augen. Lesen, Schreiben und selbst längeres logisches Nachdenken kamen absolut nicht in Frage. Zwischen Ostern 1854 und Ostern 1855 fehlte er beispielsweise sechs Wochen und fünf Tage in der Schule. Wenn er gesundheitlich auf dem Damm war, holte er mit jener »hohen Majestät des Willens« so viel nach, dass er sogar seine Klassenkameraden überholte. Naumburgs(18) Domgymnasium(4) war alles andere als schulische Provinz, aber Nietzsche hegte den enormen Ehrgeiz, es irgendwie nach Schulpforta(1) zu schaffen, das führende klassische Internat im gesamten Deutschen Bund.

»Pforta(2), Pforta, ich träume nur noch von Pforta«, schrieb er im Alter von zehn Jahren. Pforta nannten die Insider die Schule, und schon seine anmaßende Verwendung dieses Kurznamens drückt aus, wie sehr er sich nach dieser Schule sehnte.

Pforta(3) bildete 200 Jungen im Alter von 14 bis 20 Jahren aus, vorzugsweise Söhne von Vätern, die, wie Nietzsches Vater(33), im Dienste Preußens oder der Kirche gestorben waren. Der Auswahlprozess der Kandidaten erinnerte an das Märchen von Aschenputtel, in dem die Botschafter des Prinzen kreuz und quer durchs Land reisten, um herauszufinden, wessen Fuß wohl in Aschenputtels Schuh passen würde. Das Auswahlkomitee der Schule kam nach Naumburg(19), als Nietzsche 13 Jahre alt war, und sie waren trotz seiner heiklen Noten im Fach Mathematik so beeindruckt, dass sie ihm für den kommenden Herbst einen Platz im Internat anboten.

»Ich, das arme Lama(26)«, schrieb Elisabeth(27) mit ihrem üblichen Pathos, »fühlte mich vom Schicksal immer schlechter behandelt. Ich aß nicht mehr und legte mich in den Staub, um zu sterben.« Ihr Niedergang war nicht etwa dem Neid auf die anstehende erstklassige Schulausbildung des Bruders geschuldet; sie beklagte, dass er nun monatelang von zu Hause weg sein würde. Auch Nietzsche selbst war nicht frei von Bedenken. Als der Tag des Abschieds nahte, berichtete seine Mutter(23) von tränennassen Kissen, tagsüber jedoch schaffte er es, seine männliche Tapferkeit zur Schau zu tragen.

»Es war an einem Dienstag Morgen, als ich aus den Toren der Stadt Naumburg(20) herausfuhr … Die Schrecken der bangen Nacht umlagerten mich und ahnungsvoll lag vor mir die Zukunft in grauen Schleier gehüllt. Zum ersten Male sollte ich mich von dem elterlichen Hause auf eine lange, lange Dauer entfernen … der Abschied hatte mich bang gemacht und ich zitterte im Gedanken an meine Zukunft … Dazu bedrängte mich der Gedanke, … von nun an niemals mich meinen eigenen Gedanken übergeben zu können, sondern immer von Schulgenossen fortgezogen zu werden, von meinen Lieblingsbeschäftigungen, ungemein … jede Minute wurde mir schrecklicher, ja als ich Pforta(4) hervorschimmern sah, glaubte ich in ihr mehr ein Gefängnis als eine alma mater zu erkennen. Ich fuhr durch das Tor. Mein Herz wallte über von heiligen Empfindungen: Ich wurde empor gehoben zu Gott in stillem Gebet und tiefe Ruhe kam über mein Gemüt. Ja Herr, segne meinen Eingang und behüte mich auch in dieser Pflanzstätte(5) des heiligen Geistes in leiblich und geistig. Sende deinen Engel, dass er mich siegreich durch die Anfechtungen, denen ich entgegengehe, führe … Das hilf, Herr! Amen.«[1]

Pfortas(6) gefängnisartige Optik geht auf den Ursprung des Internats zurück: Einst war es ein Zisterzienserkloster. Gelegen in einem abgelegenen Tal an einer Verzweigung der Saale, rund sechs Kilometer südlich von Naumburg(21), war es von zwölf Fuß hohen und zweieinhalb Fuß dicken Mauern umgeben. Hinter diesen Mauern lagen knapp drei Hektar fruchtbaren Landes mit Einsprengseln typisch klösterlicher Prägung: Karpfenteich, Brauhaus, Weingarten, Heuwiesen, urbare Felder und Weideland, Scheunen und Stallungen, Molkerei, Schmiede, steinerne Kreuzgänge und jede Menge eindrucksvoller Gebäude im gotischen Stil. Pforta(7) sah ein wenig aus wie eine größere Version von Röcken(6), der Heimat seiner Kindheit. Als geistliche Festung war sie darauf ausgelegt, politische Wirren außen vor zu halten, deren bedeutendste für Pforta(8) die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts gewesen waren. Als die Kämpfe abebbten und der Katholizismus Roms(1) über Bord geworfen wurde, erklärte der Kurfürst von Sachsen(4), der Martin Luther(1) unterstützt hatte, Pforta(9) zur Prinzenschule. Es war eine der führenden Lateinschulen, die 1528 von Philipp Schwarzerd(1) (gräzisiert: Melanchthon) gegründet wurden.[2] Dieser hatte Luther bei der Bibelübersetzung ins Deutsche(10) unterstützt. Schwarzerd(2) fügte auch noch die Lehre des Hebräischen zu Latein und Griechisch hinzu, die bereits die Grundlage für die höhere Bildung waren. So konnten die Gelehrten die großen hebräischen Texte aus erster Hand studieren, anstatt mit Übersetzungen zu arbeiten, die nicht selten politisch oder theologisch verzerrt waren. Das war ein mutiger Schritt gegen viele Jahrhunderte kirchlicher Zensur, denn so bekam jeder Gelehrte die Möglichkeit zur eigenständigen Textexegese.

(10)Bei Nietzsches Aufnahme war das Schulsystem von Wilhelm von Humboldt(1)[3], dem Bruder des berühmten Entdeckers, Geografen und Wissenschaftlers Alexander(2), geringfügig verändert worden. Humboldt(2) war mit Schiller(1) und Goethe(3) befreundet und aufgrund seiner Ankunft in Paris(3) kurz nach dem Sturm auf die Bastille stark politisch beeinflusst worden. Bemerkenswert reif für einen jungen Mann von 22 Jahren beschrieb er seinen Überdruss an Frankreich(3) im Allgemeinen und Paris im Besonderen. Er(3) zog daraus den besonnenen Schluss, Zeuge der unvermeidlichen Geburtswehen einer neuen Rationalität zu sein – die Menschheit hatte unter einem Extrem gelitten und fühlte sich nun verpflichtet, im anderen Extrem Erlösung zu finden.

In den Jahren 1809 bis 1812 war von Humboldt(4) mit der Aufgabe betraut, das deutsche(11) Bildungssystem völlig neu zu ordnen. Dabei verband er eine vorbildliche Rationalität im Hinblick auf die Zeitereignisse mit seinen eigenen Erfahrungen mit dem klassischen Erbe, die er sich als Preußens Botschafter im Vatikan verschaffen konnte. Ihm schwebte eine Zukunft für den Deutschen Bund nach dem strukturellen Vorbild des antiken Griechenlands vor: ein System von Kleinstaaten, die nebeneinander vielfältig und kreativ innerhalb einer künstlerischen und geistigen Einheit existieren. Seine(5) Theorie führte er in seinen Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen aus, ein Buch, das John Stuart Mills Über die Freiheit beeinflusste. Von Humboldts(6) Leitmotiv war, dass die maximale Freiheit in Erziehung, Bildung und Religion innerhalb eines minimal eingreifenden Staates herrschen sollte – innerhalb eines Staates, in dem das Individuum, ergo Bildung alles ist. Ziel der Bildung war letztendlich die Befolgung des Prinzips »Der wahre Zweck des Menschen … ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«.[4]