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Die AfD ist in Ostdeutschland auf dem Vormarsch. In Umfragen ist sie oftmals die stärkste Partei, und liegt in einigen Bundesländern gar bei 35 Prozent. Doch das heißt: zwei Drittel der Ostdeutschen wählen nicht AfD. Susan Arndt gibt dieser oft übersehenen Mehrheit in ihrem sehr persönlichen Buch eine Stimme und zeigt, dass es auch ein anderes Ostdeutschland gibt und die AfD ein gesamtdeutsches Problem ist. Bei manchen Berichten kann der Eindruck entstehen, als wäre Ostdeutschland fest in der Hand der AfD. Und tatsächlich ist es erschreckend, auf welch fruchtbaren Boden die AfD dort mit ihrer Propaganda trifft. Doch es führt kein zwangsläufiger Weg von ostdeutschen Frustrationen in die Arme einer rechtsradikalen Partei, die für Rassismus, Sexismus und Autokratie steht. Susan Arndt erzählt ihre eigene Geschichte und zeigt, wie ein ostdeutscher Weg auch eine ganz andere Richtung nehmen konnte. Sie erzählt von ihren Gesprächen im Freundes- und Bekanntenkreis, in dem sich AfD-Sprech breit gemacht hat, berichtet aber auch von ihren Erfahrungen als Ostdeutsche seit 1989/1990 und als Person, die gegen Rassismus und Sexismus kämpft. Sie macht die Frustrationen verständlich, die durch westliche Überheblichkeit begünstigt wurden. Vor allem aber fragt sie, wie ein Miteinander gegen Diskriminierungen und Ausgrenzungen gestaltet werden kann. Ein Buch, das die Mitte gegen die AfD mobilisieren will – in Ostdeutschland und deutschlandweit.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Susan Arndt
Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD
Eine Intervention
C.H.Beck
Die AfD ist in Ostdeutschland auf dem Vormarsch. In Umfragen ist sie oftmals die stärkste Partei, und liegt in einigen Bundesländern gar bei 35 Prozent. Doch das heißt: zwei Drittel der Ostdeutschen wählen nicht AfD. Susan Arndt gibt dieser oft übersehenen Mehrheit in ihrem sehr persönlichen Buch eine Stimme und zeigt, dass es auch ein anderes Ostdeutschland gibt und die AfD ein gesamtdeutsches Problem ist.
Bei manchen Berichten kann der Eindruck entstehen, als wäre Ostdeutschland fest in der Hand der AfD. Und tatsächlich ist es erschreckend, auf welch fruchtbaren Boden die AfD dort mit ihrer Propaganda trifft. Doch es führt kein zwangsläufiger Weg von ostdeutschen Frustrationen in die Arme einer rechtsradikalen Partei, die für Rassismus, Sexismus und Autokratie steht. Susan Arndt erzählt ihre eigene Geschichte und zeigt, wie ein ostdeutscher Weg auch eine ganz andere Richtung nehmen konnte. Sie erzählt von ihren Gesprächen im Freundes- und Bekanntenkreis, in dem sich AfD-Sprech breit gemacht hat, berichtet aber auch von ihren Erfahrungen als Ostdeutsche seit 1989/1990 und als Person, die gegen Rassismus und Sexismus kämpft. Sie macht die Frustrationen verständlich, die durch westliche Überheblichkeit begünstigt wurden. Vor allem aber fragt sie, wie ein Miteinander gegen Diskriminierungen und Ausgrenzungen gestaltet werden kann. Ein Buch, das die Mitte gegen die AfD mobilisieren will — in Ostdeutschland und deutschlandweit.
Susan Arndt lehrt Englische Literaturwissenschaft und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth. Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: «Die 101 wichtigsten Fragen Rassismus» (6. Auflage 2020), «Sexismus» (2020), «Rassismus begreifen» (2021).
1. Einleitung
Von Mauern und Horizonten: Über dieses Buch
Mit der AfD am Küchentisch: Gespräch mit Udo und Beate
2. Leben als Ostdeutschlands Andere Deutsche – vor und nach 1989
Überlegenheitsnarrative in West und Ost
Aufwachsen in der DDR
In den Westen reisen – ohne anzukommen
Revolution!
Transformationsjahre sind keine Herrenjahre
Der Westen als Gravitationsmagnet und Erfinder des Ostens
Was also meint «ostdeutsch»?
3. Wie ich lernte, Diskriminierung zu sehen
Wie afrikanischer Feminismus mich sensibilisierte
Wie ich in London meinem Rassismus begegnete
Wie ich an der Humboldt-Universität Rassismuskritik begegnete
Was nun ist Rassismus?
Wissenschaft als politische Akteurin
4. Im Wahlkampf gegen die AfD
Von der Leitkultur zur Identitätskrise
Wer AfD wählt, wählt Rassismus und Sexismus
Kann die AfD unsere Demokratie unterwandern?
Lügen: Populistische Alternative für Deutschland
Die AfD ist keine ostdeutsche Partei
Was macht die «Mitte der Gesellschaft» gegen ihren Rechtsruck?
5. Schluss damit …
… und mehr Diskriminierungssensibilität wagen
Statt eines Nachworts: Ohne die AfD am Küchentisch, aber mit der Box, die noch mal ganz neu befüllt werden kann
Als Kind glaubte ich meinen Eltern alles. Sie erzählten mir, dass die Erde von einer Hautschicht umgeben sei, die wie ein Trommelfell wirke. Sie schütze uns davor, vom All gefressen zu werden. Deswegen schalle sie, die Schallmauer, wie grollender Donner, wenn ein Flugzeug durch sie hindurchfliege. Sie erzählten mir auch, dass die DDR von einer Betonmauer umzogen sei, die wie ein Wall gegen den Faschismus wirke. Sie schütze uns davor, uns zu verlaufen. Deswegen komme aus der Mauer, die antifaschistischer Schutzwall heiße, Gewehrfeuer, wenn ein Mensch über sie hinweg wolle. Das mit der Schallmauer hatten sie selbst falsch gelernt und deswegen so verwirrend an mich weitergegeben; das mit der Mauer wussten sie besser und brachten es mir doch mit Absicht falsch bei. Als ängstliche opportunistische Menschen glaubten sie, mich so am besten für ein Leben in der Diktatur wappnen zu können. Als ich älter wurde, weihten sie mich in die Rezeptur ihres Lebensmodus ein: So tun, als ob, und hinter verschlossener Tür sein, wer du bist. Dort sangen wir manchmal zusammen sogar das Lied «Die Gedanken sind frei … / Kein Mensch kann sie wissen/ Kein Jäger erschießen». Doch wer hinter verschlossenen Mauern lebt und die Freiheit nur heimlich besingt, kann am Ende eben doch weder frei denken noch leben. Wenn kein anderer Mensch diese Gedanken kennt, dann bleiben sie eingemauert, und nichts ändert sich.
Als die ostdeutsche Revolution 1989 dann doch auf statt vor der Mauer tanzte, hatte ich die wichtigste Lektion meines Lebens gelernt. Nie wieder werde ich glauben, dass es sich hinter verschlossenen Türen gut leben oder hinter vorgehaltener Hand gut sprechen lässt. Nie wieder werde ich glauben, dass sich etwas nicht ändern lässt, nur weil es gerade so ist. Die ostdeutsche Revolution von 1989 hat mich für immer politisiert. Sie rief mir zu: Wenn du etwas ändern willst, dann musst du das tun. Wenn du Berge versetzen willst, dann lauf los. Schau dir nicht den ganzen Koloss an, gehe einfach den ersten Schritt. Und dann den nächsten. Und den nächsten. Horizonte sind zum Loslaufen da. Auch wenn du ihn nicht erreichst, weil es hinter ihm immer weiter geht, wird der Weg zum Ziel. Horizonte nähren Träume, und sie leben davon, dass sie geträumt werden.
Wovon ich, politisiert durch die Freiheitsrevolution, träume? Von Menschen, die einander beschützend begegnen statt einander weh zu tun. Im Großen wie im Kleinen. Investieren milliardenschwere Traumfabriken nicht in Filme, die Gewalt betrauern und Liebe besingen? Doch warum fühlen sich genau diese Menschen, die Milliarden von Dollar für diese Traumfabrik ausgeben, dann doch viel zu oft wohl dabei, andere Menschen zu verletzen oder auszubeuten? Wir können Teleskope bauen, um uns entfernte Galaxien anzuschauen, und doch können wir das uns Naheliegendste nicht sehen: Wer nur auf seine eigenen Füße blickt, kann nicht siegen. «Wer möchte nicht in Frieden leben, die Sonne und den Mond besehen?» Dieses Kinderlied liebte ich am meisten. Es hatte in der DDR meine Träume gefüttert; und das tut es auch jetzt.
1989 waren meine Träume voller Chagall. Ich lief nicht nur, ich flog, getragen von meinen neuen Möglichkeiten und Eva Strittmatters «Chagall»: «Alles kann man, was man will, und man kann die Welt besiegen… Man bemalt sich einen Schimmel mit zwei Rosen. Und hinauf springt man in den grünen Himmel. Und der Himmel ist schon auf.» Es fühlte sich nach «machen können» an. Klang aber leichter als gedacht. Zwar geschieht nichts, was nicht gemacht wurde. Und was wir uns ersehnen, prägt, was geschehen kann. Und wofür wir uns einsetzen, macht aus, wer wir sein können. Doch das war ebenso wahr wie trügerisch. Denn zwar suchen wir uns unsere Lieder selbst. Doch am Ende singt die Macht im Kanon am lautesten.
Ostdeutsche Stimmen hatten die Revolution von 1989 in die Welt getragen, doch schnell wurden sie umgestimmt, überstimmt, verstimmt. Die 1990er Jahre klangen nach Aufbruch, bis sie sich in Resignation verloren. Am Anfang war Euphorie, Freiheit und ganz viel WOW. Dann kam Enttäuschung dazu. Diese nährte Frust und liebte Wut, obwohl der Wut beste Freundin noch immer die Traurigkeit ist. Ich glaube, Ostdeutschland fühlte das alles auf einmal, während alle auseinander strömten. Manche kamen bei sich an. Andere verloren sich an sich selbst oder an das, was sie nicht finden konnten. Ich beobachtete mich von der Überholspur aus, um den Schmerz aushalten zu können, der mich überrannte, als ich verstand: Nicht nur der Drang nach Freiheit ist es, der Menschen im Innersten zusammenhält – sondern auch die Gleichgültigkeit gegenüber allem, das in ihrer kleinen Welt keinen Wert hat. Viele wollten, dass es ihnen besser geht, und verirrten sich im Glauben daran, dass es helfen wird, anderen weniger zu gönnen.
Am leichtesten ist es immer noch, denen alles wegzunehmen, die ohnehin schon wenig haben. So macht das auch die AfD. Doch ohne die Wahlstimmen derer, die sie betrügt, ist sie ein Nichts. Deswegen schürt sie, Vampiren gleich, den Schmerz, aus dem sie sich zu nähren weiß. So liegt sie da, auf der Lauer: «Auf der Mauer, auf der Lauer liegt ne kleine Wanze.» Auch dieses Kinderlied sang ich mit meinen Eltern. Mir gefiel, wie die Wanze, vor der ich mich ekelte, Buchstabe für Buchstabe verschwand. «Auf der Mauer, auf der Lauer liegt ne kleine Wanz… Auf der Mauer, auf der Lauer liegt ne kleine Wan…» Und schließlich: «Auf der Mauer, auf der Lauer liegt ne kleine …» Vorbei. So stelle ich mir das auch mit der AfD vor. Denn sonst macht die AfD umgekehrt sämtliche emanzipativen Errungenschaften der letzten Dekaden zunichte. Die Visionen der AfD stellen Frauen an den Herd, unterwerfen Geschlechterdiversität Normierungstherapien, vertreiben Schwarze, muslimische und jüdische Menschen, beenden die Asylgesetzgebung, grenzen behinderte Menschen aus und eskalieren die Armut. Das allein macht mir schon Angst. Beängstigender aber noch finde ich, dass sich die AfD darauf versteht, populistische Nebelkerzen so zu werfen, dass viel zu viele dennoch keine Angst vor ihr haben. Nicht mal jene, die selbst Nachteile haben würden. Nichts steht dafür so symptomatisch, wie dass die AfD auch bei Frauen gut ankommt. Bei den Landtagswahlen in Hessen im September 2023 erreichte die AfD insgesamt 18 Prozent – bei Frauen nicht ganz so viel, aber immerhin noch ganze 14 Prozent. Geringverdienende und Bürgergeldempfangene glauben, dass die AfD ihre Interessen vertreten würde. Doch selbst wenn gar keine Geflüchteten mehr Asyl finden würden, ginge es ihnen nicht besser – sondern im AfD-Neoliberalismus nur noch schlechter.
Angst kann furchterregend sein und eine Schreckstarre verursachen. Meine Angst aber schreckt mich auf. Sie treibt mich an. Nicht verstecken werde ich mich, sondern mich der AfD sichtbar in den Weg stellen. Nicht wegschauen werde ich, sondern hinschauen. Nicht schweigen werde ich, sondern sprechen – notfalls auch schreien.
Ich lasse mich von der AfD weder einschüchtern noch meine Revolution von 1989 wegnehmen. Weder meine Freiheit noch meine Träume von einer gerechten Welt, die sich dem Kampf gegen Diskriminierung stellt, wird sie mir nehmen. Diskriminierung ist eine der katastrophalsten Mauern, welche Menschen je bauten. Die AfD lebt von diesen Mauern, und ich möchte ohne sie leben.
Die nächsten Wahlen werden nicht erst an den Wahlurnen entschieden werden. Sie werden überall dort entschieden, wo der AfD widersprochen wird. Ob die AfD die Zukunft dieses Landes nachhaltig zu bestimmen vermag, wird nicht nur von denen abhängen, die AfD wählen, sondern auch von denen, die dies nicht tun. Und von denen, die diese fehlenden Wahlstimmen erkämpfen.
Die Zukunft der AfD entscheidet sich in der «Mitte der Gesellschaft». Derzeit lässt sich dort ein Rechtsruck beobachten. Viel zu oft wird sich über den Genderstern mehr empört als über die AfD. Wer den Genderstern nicht mag, soll ihn nicht benutzen. Doch wer ihn beschimpft oder gar verbietet, als hänge Wohl oder Wehe unserer Gesellschaft davon ab, der gießt der AfD Wasser auf ihre Mühlen. Das machen auch Politiker wie Friedrich Merz (CDU), Markus Söder (CSU) oder Hubert Aiwanger (Freie Wähler), wenn sie gezielt «volksnah» rassistische Aussagen schwingen. Viele sehen solche als passende realpolitische Strategie an, der AfD Stimmen abzuwerben. Zum einen glaube ich nicht, dass ein Aiwanger oder Merz nicht wirklich so denkt, wie er spricht. Zum anderen zeigen viele Studien, dass Wähler*innen rechtsextremer Parteien letztlich lieber das Original als die Kopie wählen – und sich durch Äußerungen aus der «demokratischen Mitte» darin nur noch bestärkt sehen. Schlimmer noch: diese Versuche zementieren auch den Rechtsruck der Mitte. Deswegen ist dies ein Appell an alle, die sich in ihrer Komfortzone einmauern und von dort aus mit dem Zeigefinger auf die AfD zeigen, um dann nichts weiter unternehmen zu müssen. «Wehret den Anfängen» geht nicht aus dem Schaukelstuhl heraus. Und Zukunft geschieht nicht. Zukunft wird gestaltet. Was sein wird, ergibt sich aus dem, was wir aus der Vergangenheit machen, um die Gegenwart zu gestalten. Nichts geschieht. Alles wird gemacht. Das ist ein beruhigender Gedanke. Wer nichts macht, überlässt zwar anderen die Zukunft. Aber wer sie gestalten will, der wird mehr als ein Wörtchen dabei mitreden, wo die AfD im Herbst 2024 und in allen Jahren danach liegen wird. Wir sind viele. Zusammen können wir Brandmauern bauen und Gräben ausheben, um den braunen Sumpf auszutrocknen.
Eigentlich liebe ich Alternativen. Und bisher dachte ich, dass nichts alternativlos ist. Doch eine klare Abkehr von der Alternative für Deutschland halte ich für alternativlos. Und deswegen schreibe ich dieses Buch.
Die AfD als ein vor allem ostdeutsches Phänomen zu betrachten, ist kontraproduktiv. Die AfD wirkt auch im Westen – und ist letztlich nur Teil einer viel zu langen Diskriminierungsgeschichte. Die ostdeutsche Erfahrung, als «Andere Deutsche» diskriminiert zu werden, spielt aber schon eine Rolle. Entsprechend muss, wer der AfD das Wasser abgraben will, auch den Graben zwischen Ost und West zuschütten.
Entlang dieser These folgt das Buch seinem Titel: «Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD». Zunächst erzähle ich, wie ich zur Ostdeutschen wurde, in der DDR und in den Transformationsjahren – und was es heißt, ostdeutsch zu sein, inmitten der deutsch-deutschen Geschichte voller Hierarchien und Überlegenheitserzählungen. Dabei gehe ich auf Überlegenheitsnarrative der Bundesrepublik und der DDR ein und führe aus, wie Ostdeutsche durch diese erst zu Ostdeutschen wurden, wie sie eine ostdeutsche Identität maßgeblich mitprägten. Im darauffolgenden Kapitel konzentriere ich mich auf das «gegen» im Titel des Buches: Wie ist der Kampf zu Diskriminierung zu dem geworden, was mich ausmacht – zu dem, was meinem Leben die Zielmarke steckt. Anschließend gehe ich auf die AfD als Bollwerk der Neuen Rechten ein und darauf, wie Ziele in populistische Lügen gekleidet werden, die Paradoxe nicht scheut, sondern als Nebelkerzen einzusetzen weiß. Dabei konzentriere ich mich insbesondere auf die Diskriminierungsagenda der AfD (als deren Kernanliegen) und frage, ob und wie sie die bundesdeutsche Demokratie unterwandern könnte. Das Kapitel endet damit zu zeigen, dass ostdeutsche Wut der AfD zwar einen besonderen Resonanzraum verschafft, die AfD aber kein ostdeutscher Sonderweg ist. Dabei streife ich die Frage, wie ostdeutsche Erfahrungen in der DDR und in den Transformationsjahren dazu beitrugen, dass Ostdeutsche (mehr als Westdeutsche) die AfD wählen. Vor allem aber geht es um die Frage, warum es letztlich nicht nur falsch, sondern auch problematisch ist, die AfD als vor allem ostdeutsches Problem abzutun. Am Ende ist die AfD ebenso wie Diskriminierung allgemein ein gesamtdeutsches Problem, dem sich die «Mitte der Gesellschaft» ebenso stellen muss wie ihrem eigenen Rechtsruck. Zum Schluss frage ich, wie die «Mitte» sich selbst kritisch befragen könnte. Über all diese Fragen spreche in am Anfang und Schluss des Buches mit meinem Freund Udo und Beate von der AfD. Sie vertreten Ansichten und sagen Sätze, denen ich in den letzten Jahrzehnten immer wieder begegnete.
«Sag mal, wie findest du eigentlich dieses Gemecker über Wolfgang Koeppen, über diesen Roman Tauben im Gras? Die eine Lehrerin will es ja nicht mehr unterrichten, weil da mal eines dieser neuen Woke-Unwörter vorkommt. Wie findest du das?» Aus irgendeinem Grund, wohl weil ich Literaturprofessorin und Rassismusforscherin bin, war mir diese Frage ab April 2023 häufiger gestellt worden. Entsprechend gewappnet fühle ich mich auf dieser Magdeburger Party im August 2023, diese Frage schnell hinter mich zu bringen: «Naja, ich finde diese Entscheidung von Jasmin Blunt total nachvollziehbar. Immerhin steht das N-Wort da an die 100 Mal drin. Es ist auch super sexistisch …» Weiter komme ich allerdings mit meiner Antwort erst mal nicht. Denn Udo unterbricht mich sichtbar aufgebrachter als zuvor: «Ach das ist doch Quatsch. Das geht einfach zu weit.» Intuitiv frage ich: «Hast du den Roman eigentlich gelesen?» Die Antwort fällt ebenso knapp wie fade aus: «Natürlich nicht!» Ich schaue wie ein Fragezeichen, und Udo fährt fort: «Nee, gelesen habe ich den nicht.» Und weil Angriff wohl die beste Verteidigung ist, fährt er fort: «Winnetou willst du mir auch noch wegnehmen, oder? Ich finde deine Cancel Culture einfach unerträglich. Bücherverbrennungen hatten wir schon. Zensur auch.» Ich verstehe, dass Udo nichts von Zensur hält. Geht mir genauso. Aber Abi-Kommissionen treffen ja immer Entscheidungen darüber, welches Buch in den Lehrplan kommt. Das ist keine Zensur, sondern Kanonbildung. Deswegen sage ich: «Mann, Udo. Autoren wie Koeppen, das ist doch die Normalität. Doch wenn einer der alten Platzhirsche mal ausgetauscht werden soll, jaulen alle auf. Jahrtausendelang saßen auf allen Bühnen und in allen Lehrbüchern einfach nur weiße Männer wie Karl May oder dein Koeppen.» Udo ist aufgebracht: «Ja, klar. Gab ja auch keine Frauen in der Zeit.» Was er damit meint, kann ich nur ahnen. Denn ohne Frauen geht nichts: «Das ist ja genau mein Punkt. All die Jahrhunderte lang standen Leute wie du als Gate Keeper da und haben dafür gesorgt, dass Räume weißen Männern vorbehalten blieben. Frauen oder Schwarze wurden nicht mal gecancelt. Denn sie hatten ja nicht mal einen Platz, der ihnen weggenommen werden konnte. Es gab sie, aber sie kamen gar nicht rein – in den Kanon, auf die Theaterbühne oder in den Lehrplan. Das war und das ist die Normalität. Deswegen kann ruhig mal aufgefrischt werden, was im Abi gelesen wird.» Udo zeigt sich wenig beeindruckt von meinem Argument: «Ich weiß nicht. Ich sehe das einfach komplett anders.» Ich bin müde und mürbe. Aber ich möchte auch, dass Udo meine Perspektive versteht. Davon, dass Wissen immer gesellschaftlich normiert ist und jedes Wissen daher auch situiert ist, möchte ich jetzt nicht anfangen. Das wäre viel zu akademisch. Daher sage ich: «Naja, solche Kommissionen bestehen aus Menschen mit Biografien und Meinungen.» «Ja, und Wissen», unterbricht mich Udo. «Die wissen schon, was sie tun.» Ja, und Verantwortung haben sie auch. «Es gibt so wenig Pflichtlektüre im Abi», fahre ich fort: «Wieso sollte die Kommission dann unbedingt ein Buch beibehalten, das rassistisch und sexistisch ist?» Udo antwortet knapp: «Dann kann man doch super drüber reden.» Drüber reden finde ich auch toll. Aber wie? «Eignet sich dafür ein Roman, in dem Rassismus einfach reproduziert wird? Du stellst ja dann den ganzen Mist ins Klassenzimmer. Dafür aber bräuchtest du dann zumindest Leute, die das kompetent aufbrechen können. Aber wer bitteschön ist schon entsprechend ausgebildet? Da ist es doch eigentlich für alle Beteiligten leichter, im Abi einen rassismuskritischen Roman zu lesen als einen rassistischen.» Udo scheint nachdenklich, und ich knüpfe da an: «Weißt du, es ist doch auch aus einem anderen Grund wichtig, nicht nur weiße Männer in einen Abikanon aufzunehmen.» Ich scheue mich ein wenig. Jetzt wird es doch akademisch. Denn ich will was von Diversität und Repräsentation sagen: «Stell dir mal vor, was das für einen Unterschied für eine afrodeutsche Schülerin macht, ob sie nur tote weiße Männer liest oder auch einen Roman von einer Autorin of Color, in dem die Charaktere der Diversität der Gesellschaft entsprechen. Da fühlt sie sich doch gleich abgeholt, gesehen, repräsentiert und damit zugehöriger, sicherer.» In abgemilderter Weise kenne ich das von mir selbst, sage ich und erkläre: «Ständig muss ich an so dämlichen Ahnengalerien vorbeilaufen, in denen Fotos aller bisherigen Präsidenten der Uni, aller Bürgermeister der Stadt oder aller EU-Ratspräsidenten hängen. Das sind dann immer fast nur Männer. Weiße Männer. Und die eine Frau ist so gut wie immer weiß und meist so eine Thatcher. Ich meine eine Frau, die zwar vom Feminismus profitierte, den aber selbst nicht vertritt. Weißt du, wie diese Bilder auf mich wirken? Sie rufen mir zu: Du gehörst hier nicht rein. An der School of Oriental and African Studies der University of London, wo ich studierte, haben sie das besser gelöst. Da hängen die wichtigsten Absolvent*innen statt der früheren Präsidenten; und darunter sind viele Frauen of Color.»
Udo unterbricht mich: «Sag doch einfach Farbige.» Nein. «Farbige ist ein rassistisches Wort. Es kommt aus Zeiten tiefster Kolonisierung. Als Weiße sich als Norm setzten und alle ‹Anderen› davon als ‹farbig› (im Sinne von ‹nicht weiß› absetzten). People of Color aber wendet dies …» Weiter komme ich nicht. Udo unterbricht mich. «Ich bin Deutscher. Ich spreche kein Englisch.» Ich muss schmunzeln. «Wie hast du dein Segelboot noch mal genannt?» Udo weiß, was ich meine, und sagt etwas leiser als zuvor: «Blue Seabird. Aber das ist was anderes.» «Ist es nicht. Du sprichst doch auch von Boostern oder Shutdown. Hast einen Computer und telefonierst mit deinem Handy (obwohl das auf Englisch mobile heißt). Entweder du benutzt keine englischen Wörter, oder du machst das eben da, wo sich solche Trends durchsetzen. Es ist einfach eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.» «Udo schnauft. «Ich meine ‹Farbige› doch nicht rassistisch.» Ich entgegne: «So einfach ist es leider nicht. Weder du noch ich haben die Macht, den Gehalt eines Wortes einfach so zu ändern. Kannst du mir mal die Wasserflasche reichen bitte?» Ich bin gemein. Denn als mir Udo die Wasserflasche gibt, sage ich: «Nee, ich meinte doch den Salzstreuer.» Zum Glück lässt er mir das durchgehen. Wir lachen etwas auf, bis Udo sagt: «Ich will einfach so sprechen, wie ich spreche. Am Ende kann man sonst ja gar nichts mehr sagen.» Du, so schlimm ist es nicht, denke ich, und sage: «Dafür, dass MANN gar nichts mehr sagen darfst, hast du das eben aber ganz schön laut gesagt. Außerdem: Jede deutschsprachige Person hat etwa 50.000 Wörter im Wortschatz, davon rund 15.000 in aktiver Benutzung. Ein paar diskriminierende Wörter weniger wirst du schon verkraften. Für dich ist es ein kleiner Schritt, aber für rassistisch diskriminierte Menschen ist das ein Quantensprung.»
Beate, die sich gerade zu uns an den Küchentisch gesetzt hat, schlägt einen neuen Ton an. «Udo hat voll recht, Susan. Du siehst echt keine klaren Bilder mehr. Die kommen hierher und arbeiten nicht, bekommen Puderzucker in den Hintern geblasen und nehmen uns noch alles weg. Sogar unsere Sprache.» Oha, denke ich. Jetzt wird es heftig. Ich möchte sagen, dass ich das total rassistisch finde, frage aber: «Was genau wurde dir weggenommen?» Beate schnappt nach Luft: «Mir nicht. Ich hatte Glück, weil ich das Haus meiner Großeltern habe. Aber meine Nachbarin, die ist Supermarkt-Verkäuferin, und die schuftet den ganzen Tag für nichts. Und die Ausländer müssen nicht mal Miete zahlen.» Woher sie das wissen will, weiß ich nicht. Doch während mich das ärgert, sagt Beate: «Deine Verbotspartei will mir jetzt auch noch den letzten Cent klauen und mir vorschreiben, wie ich hier in meinem Haus heizen soll.» Sie meint wohl die Grünen und hält mich für deren Wählerin. «Wenn die Grünen an die Macht kommen, haue ich aber so was von ab.» Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es fast schon lustig. Weiß sie denn nicht, dass die Grünen gerade Teil der Regierung sind? Aber ich muss mich konzentrieren, weil sie weiterredet: «… Wir können einfach keine neuen Flüchtlinge verkraften, auch keine aus der Ukraine, die uns ja jetzt eh schon alles kostet. Hier leben die auf unsere Kosten, dann muss ich wegen denen noch für alles mehr bezahlen, und dort bezahlen wir deren Waffen. Alles von meinen Steuergeldern. Und jetzt soll ich noch diesen ganzen Regenbogenterror mitmachen.» Mir fällt nicht viel ein dazu, außer: «Lieber grüne Wiesen als blaue Flecken.» Beate antwortet: «Na, wenigstens versteht mich die AfD. Wer denkt denn sonst noch an uns Ossis. Die Linkspartei kannst du vergessen. Sonst wäre ja diese Wagenknecht da nicht abgehauen. Jetzt sind alle sauer auf die, bloß weil die mal auf den Punkt bringt, dass Deutschland keine Melkmaschine für Ausländer ist. Meinungsfreiheit? Von wegen! Nichts sagen, das darf ich. Aber Hauptsache, diese durchgeknallten Lesben schützen, die meine Stadt tyrannisieren.» Ich kann das nicht mehr ertragen. Aber wegzusehen ist auch keine Lösung: «Meinst du die Demo vor dem AfD-Parteitag in der Magdeburger Messehalle gerade?» Beate nickt: «Ja, das waren ein paar Hanseln mit Regenbogenfahnen. Und die Lügenpresse sprach dann von 2000 Leuten.» Ich versuche, mich auf die Demoebene zu konzentrieren: «Aber genau das ist doch die von dir verlangte Meinungsfreiheit. Die Leute haben gegen die AfD demonstriert. Und weil diese krasse homophobe Positionen vertritt, gehörten Regenbogenfahnen zum Demobild.»
Udo schüttelt den Kopf. «Beate meint ja nur, dass wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen müssen. Das ist viel konkreter als deine abstrakten Vorstellungen von Diskriminierung hier und Repräsentation dort.» Ich ahne schon, welche Menschen er meint. Menschen wie Beate und «ihre» Lidl-Verkäuferin, die es vermutlich auch in Beates Leben gar nicht gibt.