Rassistisches Erbe - Susan Arndt - E-Book

Rassistisches Erbe E-Book

Susan Arndt

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Beschreibung

Bei der aufgeheizten politischen Debatte um sprachliche Grenzen und diskriminierende Wortverwendungen, stellt sich die Frage, welche Wörter man benutzen darf. Wo liegen beispielsweise die Unterschiede zwischen "Farbiger" und "Person of Color"? Wie problematisch ist das Wort "entdecken"? Dieses Buch liefert erstaunliche Begriffsgeschichten und erläutert, wie manche Wörter der deutschen Sprache an überkommenes Denken aus der Kolonialzeit anknüpfen. Die Kulturwissenschaftlerin Susan Arndt setzt sich entlang konkreter Wörter mit dem kolonialen Erbe in unserer Sprache auseinander. Manche, etwa "Tropenmedizin", dürften dabei überraschen. Darüber hinaus diskutiert sie die Zusammenhänge zwischen Sprache und Macht und zwischen Rassismus und Kolonialismus. Sie zeigt dabei, welche Möglichkeiten wir haben, mit den kolonialen Vergangenheit in unserer Sprache umzugehen und wie neuere Begriffe und neue Begriffsverwendungen, wie "Indigene Menschen" oder "weiß" sich etablieren und versuchen Alternativen zu liefern.

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Diese Arbeit entstand im Rahmen des Exzellenzclusters Africa Multiple an der Universität Bayreuth, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2052/1 – 390713894.

© Duden 2022

Bibliographisches Institut GmbH, Mecklenburgische Straße 53, 14197Berlin

Redaktion Dr. Laura Neuhaus

Herstellung Alfred Trinnes

Layout Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin

Satz L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde

Umschlaggestaltung 2issue, München

Umschlagabbildung picture-alliance/dp/dpaweb/Bernd Settnik

ISBN 978-3-411-91423-4 (E-Book)

ISBN 978-3-411-75678-0 (Buch)

www.duden.de

INHALTSVERZEICHNIS

Kolonialistische Gewalt, Rassismus und die deutsche Sprache

Über dieses Buch und seine Sprache

Eine kurze Geschichte des Kolonialismus

Ein Euphemismus für ökonomischen Raubbau und ideologische Selbsterhöhung

Anfangsphasen des europäischen Kolonialismus

Die Zäsur von 1492

Die Maafa-Jahrhunderte

Widerstand gegen die Maafa

Imperialismus und ein neuer Euphemismus

Zwischen antikolonialen Unabhängigkeitserklärungen und Neokolonialismus

Rassismus als ideologisches Schwert von Kolonialismus

Othering: Norm, Normalität und das entsprechende ‚Andere‘

‚Rassentheorien‘ und die Kartierung körperlicher Unterschiede

Natur versus Kultur, Vernunft versus Emotion, gut versus böse

‚Hautfarbe‘ zwischen Antike und christlicher Farbsymbolik

Gesichtsformen und Knochen als rassistische Marker

Vom Sozialdarwinismus zum Nationalsozialismus

Rassismus nach 1945 – und die Rückkehr von ‚Hautfarbe‘

Rassismus – auf den Punkt gebracht

Rassismen: Strömungen

Rassismus. Strukturell-institutionell sowie in Wissen und Moral

Strukturell-institutioneller Rassismus

Rassismus durch Wissen und Moral

Alltagsrassismus und Mikroaggressionen

Kolonialismus, Rassismus, Sprache

Wie Kolonialismus sein eigenes Sprechen über BIPoC prägte

Rassismus und dessen Verleugnung am Beispiel des ‚N-Wortes‘

„Man kann ja gar nichts mehr sagen“ und andere Abwehrmechanismen

Weil wir sind, was wir uns wie sagen

Rassistische Sprache: mehr als Wörter

Rassistische Wörter aufgeben: Regeln und Angebote

Woran erkenne ich rassistische Wörter?

Ein A–Z Kolonialer Begriffsgeschichten – Fallbeispiele rassistischer Wörter

‚Aborigine‘

‚Buschmann‘

‚Dunkelhäutig‘

‚Entdecken‘

‚Eskimo‘

‚Farbige‘

‚Häuptling‘

‚Hautfarbe‘

‚Indianer‘

‚Kannibale‘

‚Lateinamerika‘ und ‚Amerika‘

‚Mischling‘

‚Mohr‘

‚Mulatte‘

‚Naturvolk‘

‚Neger‘

‚Neue Welt‘

‚Orient‘

‚Rasse‘

‚Schwarzafrika‘

‚Stamm‘

‚Transatlantischer Sklavenhandel‘

‚Tropenmedizin‘

‚Volk‘

‚Wild(e)‘

‚Zigeuner‘

Mit Wörtern Rassismus widersprechen: Widerstands- und Selbstbezeichnungen und Weißsein als soziale Position

Diaspora

Schwarze

Afrodeutsche und Schwarze Deutsche/Österreicher*innen/Schweizer*innen

Passing

People of Color

Indigene Menschen

Jüdinnen*Juden

Rom*nja und Sinti*zze

BIPoC

Weiße

Rassistisch nennen, was rassistisch ist

Begreifen und besprechen

Rassismus im Wörterbuch

Liste weiterer rassistischer Begriffe

KOLONIALISTISCHE GEWALT, RASSISMUS UND DIE DEUTSCHE SPRACHE

Worte seien „winzige Arsendosen“, schreibt der Philologe und Politiker Victor Klemperer über die Sprache des Nationalsozialismus: „Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“1 Das gilt für alle Wörter, die aus diskriminierenden Ideologien heraus den Wortschatz vergiften – auch für jene, die etwa aus dem Kolonialismus heraus bis heute mehr als ein Wörtchen im deutschsprachigen Alltag mitreden.

Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Gegenwart aber kann immer wieder neu gestaltet werden. Das prägt Zukünfte. Um diese neu zu gestalten, muss Rassismus in seinen aktuellen Manifestationen erkannt und dazu auch aus seiner eigenen Geschichte heraus verstanden werden. Geschichte lehrt nicht unbedingt, wie etwas anders oder besser gemacht werden könnte. Sie hilft aber zu begreifen, dass die Gegenwart mehr als einen bloßen Fingerschnips benötigt, um es anders zu machen.

Kolonialismus ist Geschichte. Meinen viele. Doch er hat ein Erbe hinterlassen. Narben zum einen. Aber auch viele offene Wunden. Diese bedürfen eines verantwortungsvollen Augenmerks – in der Gegenwart und für deren Einfluss auf die Zukunft. Aktuelle Weltmarktkonstellationen etwa sind aus dem Raubbau des Kolonialismus heraus errichtet und befestigt worden. Und Rassismus, als ideologische Waffe des Kolonialismus, baute Strukturen, die weiße Personen mit Privilegien ausstatten und BIPoC (kurz für Black, Indigenous und People of Color) dafür zahlen lassen. Mit weiß bzw. Weiße wird hier eine soziale Position benannt und nicht eine biologische Gegebenheit. Deswegen wird das Adjektiv kursiv geschrieben, auch wenn die Kursivierung sonst gemeinhin für Sprachbeispiele und die metasprachliche Reflexion gebräuchlich ist.

Als Geschöpf politischer und ökonomischer Interessen hat Rassismus in Kunst, Literatur oder Wissenschaft aktive Fürsprecher*innen gefunden, auch wenn sie Rassismus dabei nicht stets explizit beim Namen nannten und nennen. Ob Medien, Schulbücher oder Universitäten, Apotheken, Straßennamen oder Lebensmittel, Gesetze oder politische Reden, Strukturen oder Institutionen – Rassismus ist überall aktiv. Er ist systemisch. Es gibt keinen Ort, an dem Rassismus nicht ausgeräumt werden müsste und könnte. Das ist möglich etwa durch neue Curricula oder lernwillige Lehrer*innen, geschulte Journalist*innen oder fragende Wissenschaftler*innen, Antidiskriminierungsgesetze oder Diversity-Mainstreaming,2 was bedeutet, dass sozialer Ungleichheit durch Chancengleichheit Paroli geboten wird.

Wir erzählen uns, wer wir sind – und werden, was wir uns erzählen. Alles, was ich weiß, habe ich gelernt und was ich lerne, entscheidet auch darüber, was ich nicht weiß. Hier müssen Reflexionsprozesse ansetzen, die Argumente prüfen, evaluieren oder völlig neu komponieren, um eingreifen zu können. Diese Arbeit wurde in den vergangenen Jahrhunderten vor allem von BIPoC geleistet. Gezwungenermaßen. Rassismus ließ ihnen noch nie eine andere Wahl. Doch Weiße müssen ebenso Rassismus reflektieren und ihm widersprechen. Dazu gehört ein Lernprozess, der auf Verlernen fußt. Dieses Lernen und Verlernen ist unverzichtbar, um eigene Handlungsweisen zu revidieren und dies von anderen einzufordern. Das aber setzt voraus, zu verstehen, worin sich Rassismus äußert – und wie er dies warum tut.

Zum Warum gehört, dass Menschen einen Hang dazu haben, selbst die grässlichsten Taten als richtig darzustellen. Der europäische Kolonialismus3 beraubte Kolonisierte ihrer Leben und Länder und war doch daran interessiert, begleitende Gräueltaten als legitimes Handeln darzustellen. Entsprechend war es den weißen kolonialen Gesellschaften, so die Antirassismusautorin Noah Sow, ein Anliegen, „Eindringen und gewaltsame Landnahmen als friedlich und ‚erwünscht‘ “ sowie als „gute Taten“ zu interpretieren. Sow weist hier auf einen zentralen Punkt hin, der bis heute als „irrige Überzeugung“ oder „Kolonialverharmlosung“ wirkt: „Weiße hätten Länder und Güter ‚geschenkt‘ oder freiwillig/rechtmäßig übergeben bekommen.“4 Dabei spielten Sprache und Sprechen und konkret auch kolonialistisch geprägte rassistische Begriffe eine zentrale Rolle. Entsprechend ergründet dieses Buch Wörter, die im Kolonialismus geprägt wurden, um aus Rassismus heraus Unrecht als Recht erscheinen zu lassen. Dabei wird die kritische Auseinandersetzung immer auch um Ausführungen zu alternativen Selbst- oder Widerstandsbezeichnungen ergänzt. Zudem gibt es ein eigenständiges Kapitel, in dem exemplarisch Eigenbezeichnungen bzw. übergreifende aktuelle Begriffe vorgestellt werden, die aus antirassistischen Bewegungen heraus geprägt wurden. Um die Begriffseinträge zu rahmen, wird zunächst diskutiert, wie im Buch das kritische Sprechen über Rassismus gerahmt wird. Dann folgt ein kurzer historischer Abriss der Geschichte des Kolonialismus, der zeigt, warum und wie Kolonialismus überhaupt Rassismus generiert hat und wie sich dieser Rassismus bis heute manifestiert. Daran anschließend werden Grundstrukturen rassistischer Wörter hergeleitet. Insofern die anschließenden Begriffsanalysen an diesen einführenden Ausführungen ansetzen (ohne sie jedes Mal detailreich argumentativ entblättern zu können), ist es hilfreich, die im Folgenden ausgeführten Grundlagen zu kennen und entsprechend zunächst die Einleitung zu lesen.

ÜBER DIESES BUCH UND SEINE SPRACHE

Das Buch hat zum Ziel, über Rassismus zu sprechen, ohne ihn zu reproduzieren. Dafür sind verschiedene Strategien unverzichtbar. Zunächst einmal ist es wichtig, die eigene Position im Rassismus als prägend dafür wahrzunehmen, wie ich über Rassismus spreche – und sprechen kann. Ich wurde vom Rassismus als weiße Person sozialisiert. 1967 in der DDR geboren, beinhaltet das auch, dass ich viele Jahre meines Lebens viele der in diesem Buch genannten rassistischen Begriffe selbst aktiv verwendete – oder mich nicht daran störte, wenn ich sie las oder hörte. Damit bin ich diskriminierender Teil des systemischen Rassismus und seiner Sprache. Das Privileg, von diesen Begriffen selbst nicht diskriminiert oder traumatisiert worden zu sein, wirkt sich darauf aus, wie ich hier über diese Begriffe schreibe und schreiben kann.

Zum diskriminierungskritischen Schreiben über Rassismus gehört es zudem, immer zum Ausdruck zu bringen, dass Rassismus eine Handlung ist und nicht einfach geschieht. Entsprechend sollen Weiße wie ich als Subjekte in Sätzen erscheinen und nicht in der Anonymität von Passivsätzen verschwinden. Es heißt also nicht „Im Kolonialismus wurden ‚Rassen‘ erfunden“, sondern „Es waren Weiße, die diese erfanden“. Kolonialismus als System wird hier ebenso als agierend verstanden wie jene, die ihn als konkret Handelnde umsetzten – und das schließt das Profitieren von Privilegien ein.

Weiterhin setze ich vor und nach gewaltvollen Zitaten eine Triggerwarnung und zwar durch diesen Warnblitz: . Denn rassistische Zitate üben Gewalt aus und sie lösen Verletzungen aus, das heißt, sie triggern diese. Und zwar auch dann, wenn sie nicht meine eigene Meinung wiedergeben, sondern zitiert werden, um rassistische Debatten abzubilden.

Das gilt genauso auch für jedes einzelne rassistische Wort. Diese werden in diesem Buch typografisch gebrochen, um deutlich zu machen, dass sie die Existenz von ‚Rassen‘ bejahen und entsprechend gewaltvoll Rassismus im Wort führen. In anderen Publikationen setze ich die Strategie um, rassistische Wörter bei Ersterwähnungen durchzustreichen und tiefer zu stellen – und sie in anderen Kontexten komplett abzukürzen. Dabei stehen sie immer in einfachen Anführungszeichen. Auch in diesem Buch werden rassistische Wörter immer in Anführungszeichen geschrieben und dabei möglichst oft abgekürzt, sobald der Kontext dessen Langversion klarzustellen vermag. Andernfalls wird mit Durchstreichungen operiert. Wörter, die in diesem Buch in einem eigenen Kapitel diskutiert werden, werden nach dem ersten oder zweiten Buchstaben durchgestrichen. Das ermöglicht es, im restlichen Buch auf diese Abkürzungen zurückzugreifen und das Inhaltsverzeichnis kann dafür als Legende dienen. Verweispfeile () – die in den einzelnen Kapiteln immer wieder gesetzt werden – geben Hinweise darauf, dass es zu diesem Wort ein eigenes Kapitel gibt. Alle anderen rassistischen Wörter werden, in einfachen Anführungszeichen geschrieben, komplett durchgestrichen. Das Prinzip der Durchstreichung wird auch in Zitaten umgesetzt. In Literaturnachweisen wird jedoch für die Nachvollziehbarkeit auf dieses Verfahren verzichtet.

Begriffe, die per se nicht rassistisch sind, wohl aber konzeptuell zu dessen Handwerkzeug gehören, werden ebenfalls in einfache Anführungszeichen gesetzt. Das gilt etwa für das Konzept ‚Natur‘ als Gegensatz zu ‚Kultur‘ oder ‚christlich‘, wenn es um kulturelle und politische Perspektiven anstelle von wirklich religiösen oder moralischen geht. Dabei sind die Grenzen zu rassistischen Wörtern sehr fließend und daher oft auch nur einen Steinwurf voneinander entfernt, wobei die Grenzziehung dem Wissensstand dieses Buches folgt. Einfache Anführungszeichen werden zudem verwendet, um Distanz aufzubauen. So etwa, um die vermeintliche Wissenschaftlichkeit von ‚Rassentheorien‘ als pseudowissenschaftlich zu verorten.

Diese sprachlichen Wege mögen manche irritieren. Solche Irritationen aber sind gewollt. Denn sie können Reflexionen erzeugen. Letztlich aber muss ich mich der Verantwortung stellen, dass rassistische Gewalt auch durch Durchstreichungen und trotz der Triggerblitze oder einfacher Anführungszeichen nicht vollauf aufgehoben ist.

Analog zum Anspruch, so über Rassismus zu sprechen, dass er fragmentiert werden kann, soll auch Sexismus durch die hier gewählte geschlechtergerechte Sprache widersprochen werden. In Absprache mit dem Dudenverlag verwende ich daher den Genderstern, allerdings nur im Plural, um deutlich zu machen, dass ein Begriff Menschen aller Geschlechter meint. Die Verwendung des Gendersterns entspricht zwar nicht den Regeln des Rats für deutsche Rechtschreibung, setzt sich aber zunehmend durch und entspricht der Haltung dieses Buches, eine Sprache zu finden, in der alle Menschen gerecht berücksichtigt werden. Dabei mache ich eine Ausnahme: Die hier diskutierten rassistischen Begriffe sind nicht ins Jetzt ‚übersetzbar‘. Für solche Versuche steht etwa die Wortprägung ‚Buschmannfrau‘. Deswegen wird die heteronormativ-sexistische Ausrichtung der kolonialistisch-rassistischen Neologismen und Bedeutungserweiterungen, die immer dem patriarchalischen Maskulinum verpflichtet sind, nicht geschlechtergerecht geschrieben – sondern unverändert der typografischen Fragmentierung dieser Begriffe überantwortet.

EINE KURZE GESCHICHTE DES KOLONIALISMUS

Ein Euphemismus für ökonomischen Raubbau und ideologische Selbsterhöhung

Kolonialismus ist ebenso alt wie vielgesichtig. Er ging vom heutigen Europa aus und das auch schon in der griechischen Antike und im Römischen Reich und jenseits davon auch von anderen Großmächten der Weltgeschichte, sei es China oder Äthiopien. Dabei wurden koloniale Gebiete unterschiedlich behandelt, teilweise dem Kerngebiet mehr oder minder gleichgestellt, oft aber auch vollständig ausgebeutet und unterdrückt. Kolonisierte Menschen auch zu versklaven, war dabei eine gängige Praxis. Nicht alle eroberten Gebiete wurden zu ‚Kolonien‘, sondern teilweise dem eigenen Staatsgebiet angegliedert, und nicht alle kolonialisierten Gebiete auch ‚Kolonien‘ benannt.

Genau genommen ist das Wort Kolonialismus ein verharmlosender Euphemismus. Denn es geht nicht um ‚Farm‘ oder ‚Siedlung‘ (für lateinisch colonia) oder ‚bewirtschaften‘, ‚kultivieren‘ oder ‚gestalten‘, wie beim lateinischen colere, im Sinne von ‚(be)wohnen‘, ‚(be)bauen‘, ‚veredeln‘ oder ‚pflegen‘ (nach dem lateinischen cultura), weil all dies an den allermeisten kolonialisierten Orten bereits vor der Ankunft der Kolonisierenden stattgefunden hatte. Im Kern meint Kolonialismus immer, fremde Gebiete zu erobern und dort Herrschafts- und häufig auch Neubesiedelungsstrukturen zu etablieren.5

Dabei führen ökonomische und politische Interessen das Zepter. Es geht darum, die eigene Herrschaft zu stärken und auszubauen und sich aus dieser heraus einen privilegierten Zugang zu ökonomischen Ressourcen wie Edelmetallen oder Rohstoffen zu sichern – welche wiederum herrschaftsstabilisierend wirken.

Während Kolonialismus und seine Gewalt eine weltgeschichtliche Konstante sind, ist der zwischen dem 11. und 20. Jh. herrschende europäische Kolonialismus in vielerlei Hinsicht dennoch singulär. Dies ist der Fall, weil er systematisch nicht nur angrenzende Räume eroberte, sondern weit auseinanderliegende Gebiete. In der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen kontrollierte Europa mehr als 4/5 der territorialen Welt und etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung. Dafür war ein bislang unbekanntes Maß an Gewalt vonnöten. Weiße nahmen sich Gebiete und deren Ressourcen, welche ihnen nicht gehörten, indem sie dort lebende Menschen missbrauchten, ausbeuteten, folterten und töteten. Systematische Genozide waren dabei nur die Spitze des Eisberges. Auch das Ausmaß der Versklavung von mehr als 20 Millionen Menschen und das systematische Einplanen einer horrenden Sterberate um die 50 Prozent beim Deportieren versklavter Menschen und durch deren Einbindung in Systeme, die auf versklavter Arbeit aufbauten, gehörte zum singulären Ausmaß des europäischen Kolonialismus.

Nicht zuletzt hat kein anderer Kolonialismus eine so wirkmächtige Ideologie hervorgebracht wie der europäische.6 Kolonialismus als Herrschaftsstruktur thronte auf Rassismus als Ideologie. Entsprechend ging die physische Gewalt mit Gewalt gegen die Grundstrukturen des lokalen Denkens und Lebens einher. Europa setzte die eigenen religiösen, kulturellen, sprachlichen oder politischen Gegebenheiten als einzig richtige und damit auch überlegene Norm und vermeintliche Normalität. Als Folge nahm sich Europa heraus, sich die eroberten Räume nicht nur territorial oder ökonomisch anzueignen, sondern sie auch religiös, politisch, kulturell oder sprachlich zu zerschlagen oder durch europäische Strukturen und Institutionen, Gesetze und Moralkonventionen, Wissensarchive und Begrifflichkeiten zu ersetzen, die es zum Maß aller Dinge erhob.

Bevor weiter auf Rassismus als Schwert und Schild des Kolonialismus eingegangen wird, erfolgt ein kurzer Abriss der Phasen des Kolonialismus – die einander überlagerten und prägten.

Anfangsphasen des europäischen Kolonialismus

Als Vorläufer des neuzeitlichen europäischen Kolonialismus gelten die mittelalterlichen Kreuzzüge (1096 bis 1396 bzw. 1444). Federführend war das Ziel, die Herrschaft des Christentums auszuweiten. Umgekehrt wurde die Behauptung, dass das Christentum die einzig wahre Religion sei, als ideologisches Mantra zelebriert. Die Handelsreiche von Genua und Venedig bauten in diesem Rahmen ein komplexes System von Kolonialismus im Mittelmeerraum aus, das sich auch nach Asien hinein erstreckte. So wurden auch Kolonien um Jerusalem herum gegründet, die von Gewalt und Versklavung ebenso gekennzeichnet waren wie von christlichen Überlegenheitskonstruktionen.7

Diese Phase ging fließend in frühneuzeitliche Unternehmungen über, nach Territorien anderer Kontinente zu greifen. Es ging dabei auch um die Festigung und Ausdehnung der eigenen Macht. Tonangebend waren innereuropäische Konflikte, zunächst zwischen Nationen und zunehmend auch zwischen christlichen Konfessionen, wobei wirtschaftliche Interessen und eine christliche Sendungsrhetorik einander wechselseitig trugen.

Dafür steht bereits die erste feste Etablierung eines europäischen ‚Stützpunktes‘ in Afrika 1415 in Ceuta durch Portugal. Unter dem Deckmantel der Christianisierung Afrikas ging es um die Ausweitung portugiesischer Herrschaft und Handelsprivilegien sowie die Monopolisierung des europäischen Handels mit dieser Region. Es folgten zunächst weitere portugiesische, teilweise auch andere europäische Eroberungen im heutigen Marokko.

Die Zäsur von 1492

1452 erließ Papst Nikolaus V. eine Bulle, welche Portugal ermächtigte, alle als ‚heidnisch‘ bezeichneten Länder zu unterwerfen. 1455 folgte eine Bulle, die es Portugal gestattete, Handelsgebiete in Asien und Afrika unter dem Deckmantel der Christianisierung zu etablieren. Ab Mitte des 15. Jh. kolonialisierte Portugal entlang der Westküste Afrikas immer mehr Gebiete, so im heutigen Senegal, Guinea-Bissau oder Guinea. Von dort gingen die Eroberungen weiter und erreichten vor 1492 noch das heutige Angola. Stets wurden dabei vor allem entlang der Küste Forts als Handelsstützpunkte errichtet und Kolonialisierte zu Zwangsarbeiten und Zwangsabgaben gezwungen. Zudem begann damals bereits eine systematische Versklavung, etwa zur Besiedelung der Kapverdischen Inseln ab den 1460er-Jahren.8

Das rivalisierende Spanien widersetzte sich zunächst durch eigene Handels- und Eroberungsbemühungen den päpstlichen Bullen. Im Zuge des kastilischen Erbfolgekrieges auf der iberischen Halbinsel um die Nachfolge Heinrich IV. von Kastilien, in den sich auch Portugal und Frankreich einmischten, kam es zum Vertrag von Alcáçovas (1479): Portugal unterließ Einmischungen in den kastilischen Thron und dafür überließ Spanien Portugal das Metier der kolonialen Eroberung südlich der Kanarischen Inseln und in Afrika und Asien – zunächst.9

Als Portugal durch seinen Einfluss als See-, Wirtschafts- und Kolonialmacht immer mächtiger wurde und die Zollforderungen auf der Seidenstraße Handelswege über Land immer weniger profitabel machten, änderte Spanien erneut seinen Kurs. Entsprechend willigte das königliche Paar Spaniens Isabella und Ferdinand ein, Christoph Kolumbus’ ambitioniertes Ziel zu unterstützen, einen Seeweg nach ‚Indien‘ zu finden – ‚Indien‘ verstanden als übergreifender Begriff für Mittel- und Südostasien. Das dafür aufzuwendende Geld hatte das katholische Spanien nach dem Sieg über die jahrhundertealte muslimische Präsenz auf der iberischen Halbinsel jüdischen und muslimischen Menschen abgenommen.

1492 führt also den Abschluss der ‚Reconquista‘ als Unterwerfung, ausgebaute Zwangsbesteuerung und beginnende Vertreibung der muslimischen Bevölkerung, die vollständige Vertreibung von Jüdinnen*Juden aus Spanien sowie die erste Eroberungsreise von Kolumbus zusammen, durch die der europäische Kolonialismus Fahrt aufnahm.

Kolumbus landete auf einer Inselgruppe südlich der Kanarischen Inseln, welche, dem Vertrag von Alcáçovas zufolge, der portugiesischen Krone hätte gehören müssen. Um einen Krieg zweier katholischer Länder zu verhindern, erließ nunmehr Papst Alexander VI. 1493 die Bulle „Inter caetera“, welche dann im Vertrag von Tordesillas 1494 weiter konkretisiert wurde. Eine Grenzlinie, die von Pol zu Pol gezogen wurde, diente dazu, alle westlichen Gebiete Kastillien bzw. Spanien zuzuschlagen – und alle östlichen Portugal. 1529 folgte ein weiterer Vertrag, der analog den Pazifik kartierte.10

So gerahmt begann Portugal, unter anderem das südliche und östliche Afrika über Stützpunkte zu kolonialisieren. Dazu gehörten etwa ab 1500 mit der Ankunft Vasco da Gamas das heutige Kenia, aber auch Teile des heutigen Indiens, des heutigen Omans und Irans sowie von Malaysia und Indonesien. Spanien wiederum begann ab Mitte des 16. Jh., die Philippinen zu unterwerfen.

Auch die Amerikas wurden Schauplatz spanischer und portugiesischer, bald auch französischer, englischer oder deutscher Raub- und Tötungsverbrechen. Mehr als 55 Millionen Indigene Menschen in den Amerikas starben allein zwischen 1492 und 1600 durch Krankheiten, Vertreibung und Ermordung.11 Alle verloren zumindest ihr bisheriges Leben, ihre Freiheit und ihren Anspruch auf eigene Ländereien.

Zunehmend erfasste der kolonialistische Terror Gebiete aller Kontinente – ab dem 17. Jh. auch ‚Australien‘ (welcher nicht identisch mit dem Land ist, das nur einen Teil des Kontinents bildet). Auch wenn vor allem Portugal und Spanien zunächst die Eroberung und Aneignung des Planeten dominierten, so war es doch mehr und mehr ein europaweites Unterfangen. Von Beginn an waren auch Zünfte und Personen aus anderen Ländern an einzelnen Geschäftsstrukturen beteiligt. Nach und nach traten auch andere europäische Mächte und Länder – wie etwa die Niederlande (strukturiert ab 1595) oder England (organisiert ab 1578) – in diesen Wettlauf ein. Der massive Auf- und dann Ausbau der kolonialistischen Infrastruktur hatte begonnen. Was folgte, war eine rasche und bis dato kaum gekannte gewaltvolle Unterwerfung riesiger Weltgegenden durch Europa, bei der es immer auch darum ging, innereuropäische Macht durch außereuropäische Herrschaft zu steigern.

Zunächst wurden vor allem Handelspunkte angestrebt oder errichtet. Doch was im Rahmen der frühen kolonialen Schritte als ‚Stützpunkte‘ begonnen hatte, manifestierte sich ab dem 16. Jh. zunehmend als Besetzung mehr oder minder klar umrissener Gebiete. Ab dem 16. Jh. drangen die europäischen Kolonialmächte tiefer in die besetzten Gebiete ein und koloniale Räume wurden als ‚Siedlungskolonien‘ oder ‚Plantagenkolonien‘ gestaltet.

Die Übergänge zwischen ‚Stützpunkt‘, ‚Siedlung‘ und ‚Plantage‘ blieben dabei fließend und entsprechende Abgrenzungen und Benennungen unscharf: ‚Stützpunkte‘ etwa waren unverzichtbar für die Seefahrt als infrastrukturelle Grundlage für Siedlungs- und ‚Plantagenkolonialismus‘. Zudem wurden koloniale Stützpunkt von Siedler*innen bewohnt – und ausgeweitet. Dabei stammten Siedler*innen nicht nur aus dem jeweils offiziell kolonisierenden Land, sondern immer auch aus allen Teilen Europas, auch aus Deutschland. Das galt insbesondere für die heutigen USA. Besiedelung ging fast immer auch damit einher, Farmland bzw. sogenannte ‚Plantagen‘ zu bewirtschaften. ‚Plantagen‘ kommt etymologisch (aus dem Französischen) von planter für ‚pflanzen‘ und verschleiert zutiefst euphemistisch, dass es hier nicht einfach um Pflanzenfelder ging, sondern um Arbeitslager, welche die Infrastruktur dafür boten, dass die Bewirtschaftung mittels (gewaltvoll erzwungener) versklavter Arbeit erfolgen konnte. Diese wurde zunächst lokalen Bevölkerungen abverlangt. Behauptet wurde, dass diese durch mangelndes bzw. vermindertes Menschsein sowie als Nichtchrist*innen (diffamiert als ‚Heiden‘) eben dafür prädestiniert seien. Eine frühe Form von weißem Abolitionismus, der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, um den spanischen Mönch Bartholomé de las Casas attestierte Indigenen Menschen der heutigen Amerikas im „Disput von Valladolid“ (1550/51) jedoch, dass ihr Menschsein so ausgeprägt sei, dass sie bedingt christianisierbar und entsprechend nicht versklavbar seien. Umgekehrt wurde eben dies Afrikaner*innen abgesprochen.12

Die Maafa-Jahrhunderte

Während weiter kolonialer Raubbau an Territorien und deren Ressourcen betrieben wurde, wurde das Prinzip, kolonisierte Menschen zu Zwangsarbeit zu nötigen und teilweise zu versklaven, um die systematische europäische Versklavung von Millionen von Afrikaner*innen eskaliert.

Bereits im 15. Jh. hatte Portugal mit der Deportation und Versklavung von Afrikaner*innen begonnen. Ab dem 16. Jh. nahm dies nun logistisch und vom Gewaltpegel her noch mal exponentiell neue Züge an, wobei weiße Akteur*innen aus ganz Europa aktiv wurden und profitierten.13

Diesbezüglich wird bis heute weithin von ‚transatlantischem Sklavenhandel‘ gesprochen. Dass aber Menschen keine Handelsware sein können und es hier um eine Gewaltanwendung geht, spricht aus dem Begriff Maafa. Dieser kommt aus der am weitesten verbreiteten Verkehrssprache Ostafrikas mit mehr als 80 Millionen Sprechenden: Kiswahili. Hier meint er ‚Katastrophe‘, ‚schreckliche Begebenheit‘ und ‚große Tragödie‘. Damit ist einerseits die europäische Versklavung von Afrikaner*innen gemeint, andererseits aber zudem deren ökonomische und ideologische Langzeitfolgen – auch auf Ebene generierter und bleibender kultureller Wissensstrukturen.14 Maafa bezeichnet damit die umfängliche Brutalität von Gefangennahme und Deportation, Zwangsarbeit und dem allanwesenden Terror um Folter und Mord – samt seiner ideologischen sowie ökonomischen Auswirkungen auf die nachfolgenden Jahrhunderte: Der heutige Wohlstand des ‚Globalen Nordens‘ (also der Industrieländer beziehungsweise des ‚Westens‘) fußt auf der industriellen Revolution, die ohne Kolonialismus und Maafa nicht zu haben gewesen wäre – welche umgekehrt (nicht nur) afrikanische Länder ökonomisch ausbluteten und Afrika ihrer jeweils jungen Generationen beraubten.15

An der Maafa verdienten etwa diejenigen, die Afrikaner*innen versklavten, deportierten und ‚verkauften‘. Das geschah zum Beispiel von Stützpunkten aus. Hierbei waren Portugal und Spanien, bald auch Frankreich, England – dann das Vereinigte Königreich – aber auch unterschiedliche deutsche Länder oder auch nur Handelshäuser aktiv. Diese kauften und verkauften koloniale Güter oder die Metallketten, mit denen versklavte Menschen ihrem bisherigen Leben entrissen wurden. Dies war ein profitables Verbrechen, an dem sich auch deutsche Gebiete beteiligten. So gründete etwa Kammerjunker Otto Friedrich von der Groeben im Auftrag von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg die „Brandenburgisch-Africanische Compagnie“ und mehrere Stützpunkte ab 1682. Der größte Stützpunkt ‚Großfriedrichsburg‘ im heutigen Ghana wurde zu einem lokalen Handelszentrum, an dem auch Versklavte gefangen gehalten, gefoltert und in Deportationsschiffe gepresst wurden.16

Andere verdienten daran, dass Versicherungspolicen den millionenfachen Tod von Versklavten profitabel hielten. Dies ging so weit, dass Versklavte über Bord geworfen wurden, weil die Versicherungssumme für den ‚Verlust der Ware‘ mehr einbrachte, als sie in den Amerikas zu verkaufen.17

Am anderen Ende dieses Blutgeschäftes standen ‚Plantagenbesitzer‘ sowie Industriezweige rund um die Verarbeitung und den Verkauf von Baumwolle, Seide, Tabak, Zucker, die durch versklavte Arbeit prosperierten.

Am Ende waren zwischen dem 15. und späten 19. Jh. mindestens 11 Millionen versklavte Afrikaner*innen in die Amerikas verschleppt worden. Neben Zwangsarbeit und Folter wurden viele ermordet. Mindestens 10 bis 20 Millionen sind zudem bereits während der Deportation dahin ums Leben gebracht worden. All diese Zahlen können nur bedingt belegt werden, weil die weißen Bürokratien versklavte Afrikaner*innen als Ware und nicht als menschliche Individuen verzeichneten. Auch nach Europa wurden Hunderttausende bis Millionen von versklavten Menschen deportiert, ebenfalls verbunden mit einer hohen Tötungsrate.18 Die notwendige Gewalt wurde als ‚Missionierungs-‘ und ‚Zivilisationsarbeit‘ deklariert und ‚Rassentheorien‘ boten den Rahmen dafür, Afrikaner*innen als ‚versklavbar‘ zu setzen. Das ging so weit, Schwarze und ‚Sklaven‘ als synonym zu setzen. Bei Immanuel Kant als engagiertem Befürworter der Sklaverei klingt das so: „Amerikaner und N. können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven.“19

Widerstand gegen die Maafa

Von Anfang an regte sich dagegen Widerstand der Kolonisierten und Versklavten, der millionenfach mit Folter und Tod bezahlt wurde. Ab dem 18. Jh. sprachen sich zunehmend auch Weiße gegen Sklaverei aus. Das war aus den Industrienationen heraus vor allem ökonomisch motiviert. Protest kam aber auch von quäkerischen Verbünden, aufklärerischen Philosoph*innen und Schriftsteller*innen. Entsprechend wurde die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, der Abolitionismus, nunmehr strukturell einflussreicher. Vor allem aber waren die erfolgreiche Revolution in Haiti (1791–1804) und die entsprechende Unabhängigkeit ebenso ein tief sitzender Sargnagel der Maafa wie die Unabhängigkeitswerdung spanischer kolonialer Gebiete in den Amerikas ab 1808. Zunächst wurde dabei der ‚Handel‘, also die Deportation, von Afrikaner*innen verboten, etwa 1807 durch das Vereinigte Königreich – danach auch die Sklaverei selbst, wie 1833 durch das Vereinigte Königreich. Deutschland brachte sich kaum in den Abolitionismus ein und erließ auch kein entsprechendes Gesetz.20

Ganz im Gegenteil proklamierte der ‚Freiheitsphilosoph‘ Georg Wilhelm Friedrich Hegel sogar noch nach der erfolgreichen Revolution in Haiti, dass Schwarze gar nicht wüssten, was Freiheit sei – und sie deswegen versklavt werden müssten. Die europäische Versklavung von Afrikaner*innen setzte er dabei, allen Fakten zum Trotz, als Befreiung von arabischer oder afrikanischer Sklaverei:

Die N. werden von den Europäern in die Sklaverei geführt und nach Amerika hin verkauft. Trotzdem ist ihr Los im eigenen Lande fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sklaverei vorhanden ist; denn es ist die Grundlage der Sklaverei überhaupt, dass der Mensch das Bewusstsein seiner Freiheit noch nicht hat und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt.21

So wie koloniale Gewalt, auch zur Umsetzung der Maafa, vermittels Rassismus als ‚Missionierungs-‘ und ‚Zivilisationsarbeit‘ verkauft wurde, wurde Widerstand gegen diese als ‚Dummheit der Tapferkeit‘ deklariert. So erklärte Hegel etwa auch – ohne dies so zu benennen – auf Haiti gemünzt: „Es ist also die allmähliche Abschaffung der Sklaverei etwas angemesseneres und Richtigeres als ihre plötzliche Aufhebung.“22 Dabei ‚würdigt‘ er „die große von ungeheurer Körperstärke unterstützte Tapferkeit der N.“. Hier spricht allerdings das rassistische Bild der vermeintlichen ‚Natur‘-Nähe von Schwarzen, keineswegs das von Hegel für Weiße so beschworene Freiheitsstreben. Es sei hingegen auf die „Nichtachtung des Lebens“ zurückzuführen, dass sie „sich zu Tausenden niederschießen lassen im Kriege gegen die Europäer. Das Leben hat nämlich nur da einen Wert, wo es ein Würdiges zu seinem Zwecke hat.“23 Hierin zeigt sich klar die weiße Perspektive, dass Schwarzes Leben keinen Wert habe.24

Dieser ‚Weltgeist‘ steht symptomatisch dafür, dass das Ende der europäischen Versklavung von Afrikaner*innen weder dem Kolonialismus noch seiner ideologischen Speerspitze, dem Rassismus, Einhalt gebot. Selbst der Abolitionismus bot nur der europäischen Versklavung von Afrikaner*innen, nicht aber dessen Rassismus die Stirn. Entsprechend gingen Rassismus und Kolonialismus gemeinsam in die imperiale Phase über.

Imperialismus und ein neuer Euphemismus

Waren europäische Mächte schon im Zeitalter der Maafa immer tiefer in koloniale Gebiete vorgedrungen, so wurde dies im Imperialismus ebenso systematisch wie gewaltvoll gesteigert. Europäische Konflikte wurden heiß in den Kolonien ausgefochten und umgekehrt wurden bi- oder multilaterale Abkommen entgegen aller europäischen Feindschaften entlang eines gemeinsamen Schulterschlusses aus weiß-christlicher Perspektive geschlossen. Dabei spielte auch das Deutsche Reich eine entscheidende Rolle.

Deutsche Länder, Fürstentümer, Handelshäuser und Individuen haben schon seit dem 15. Jh. kolonial agiert und Kolonialismus gestaltet. Nunmehr aber sollte darüber hinausgegangen werden. Mit Beginn der imperialen Phase des Kolonialismus häuften sich auch in deutschen Gebieten die Stimmen, eigene Kolonien ‚besitzen‘ zu müssen. Einer der diesbezüglich euphorischsten Propagandisten war der Komponist Richard Wagner.

Einerseits antisemitisch gegen ‚das‘ Judentum als, aus seiner Sicht, ‚fremder Präsenz‘ in Deutschland wetternd, schlägt Wagner andererseits vor, dass das Deutsche Reich sich ‚fremde‘ Gebiete erobern möge: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren“, um auf afrikanischen und asiatischen (also ‚fremden‘) Territorien, „ein junges Deutschland [zu] gründen“.25 Nicht etwa, dass er hierbei eine Gemeinschaft mit Afrikaner*innen oder Asiat*innen im Sinn hatte. Im Gegenteil stellte er sich das „junge Deutschland“ als „Garten Eden“ vor, der vor allem eines sein muss: unbewohnt. Terra nullius – oder eben Tabula rasa, um den kolonialen Raum menschenleer zu fegen. Dazu gehört, dass er – im Stile einer im 19. Jh. bereits präsenten Version der später nationalsozialistisch gewendeten „Volk ohne Raum“-Ideologie – die weiße deutsche Besiedlung wie folgt beschreibt: Die neuen Lande seien „mit den Ergebnissen unseres Ringens und Strebens [zu] befruchten.“26 Dies korreliert mit einer Ideologie, in der der Missionierungs- und Zivilisationsmythos zunehmend auch in einem Modernisierungsmythos aufging – der aufs Neue suggerierte, Europa würde geben statt nehmen und sorgen statt zerstören.

Was Wagner sich wünschte, wurde mit Blick auf Kolonien mit der Reichsgründung 1871 offizielles Ziel, vor allem von Reichskanzler Otto von Bismarck. Er berief 1884/85 die sogenannte „Berliner Konferenz“ – gleichfalls bekannt als „Kongo-Konferenz“ – als eine der wichtigsten Zäsuren des imperialen Kolonialismus ein. Hier versammelten sich die bedeutendsten europäischen Mächte im aufstrebenden Berlin: Italien, Österreich-Ungarn, die Niederlande, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Spanien, Portugal, Russland, Belgien, Dänemark, Deutschland und Schweden-Norwegen. Aber auch die USA als aufstrebende weiße Großmacht und das Osmanische Reich nahmen teil. Es ging darum, etwa 30 Millionen Quadratkilometer afrikanischen Boden mit etwa 100 Millionen Menschen so zu ‚verteilen‘, dass es in Europa nicht zu Konflikten käme. Der Imperialismus folgte dem Lineal auf Karten – lokale Zusammenhänge wurden nicht für relevant gehalten, maximal wurden ‚wissenschaftlich‘ konstruierte Zuordnungen ‚berücksichtigt‘.27

Das deutsche Kolonialreich fraß sich nun wie ein Krebsgeschwür in afrikanische und asiatische Räume. 1884 entstanden „Deutsch-Südwestafrika“ und „Deutsch-Westafrika“, ein Jahr später „Deutsch-Ostafrika“. In pazifischen Räumen gab es ab 1885 das „Bismarck-Archipel“ und „Kaiser-Wilhelm-Land“, ab 1888 auch noch Nauru oder ab 1899 die nördlichen Mariannen. 1898 wurde das Gebiet „Kiautschou“ in China von China ‚gepachtet‘. 1914 herrschte das deutsche Kolonialreich etwa über 3 Millionen Quadratkilometer und schätzungsweise 13,5 Millionen Menschen.28 Die Gebiete wurden ihrer Reichtümer und Rohstoffe beraubt und Menschen in Zwangsarbeit gedrängt.

Das Deutsche Reich agierte dabei eingebettet in ein paneuropäisches Projekt, das aus Weißsein und ‚Christentum‘ heraus seine Spirale an Ausbeutung und Unterdrückung praktizierte und nur durch die andauernde Gewalt antikolonialen Widerstand bremsen konnte. Waren es zunächst päpstliche Bullen und königliche Dekrete, die Kolonialismus legitimieren sollten, so waren dies bald auch innereuropäische Verträge und Gesetzgebungen wie der französische „Code Noir“ (1685–1848), der den Umgang mit versklavten Schwarzen regelte.

Dabei fuhr Deutschland eine besonders scheinheilige Legitimierungsstrategie. Das Land, das die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei weithin gescheut hatte, missbrauchte nunmehr die abolitionistische Grundidee, um seinen Imperialismus zu legitimieren. Entsprechend erklärte sich der deutsche Kolonialismus zur sogenannten ‚Schutzherrschaft‘. So kam es zu ‚Schutzverträgen‘, die erzwungen, erpresst oder manipuliert errungen wurden. Diese deklarierte kolonialistische Gewalt euphemistisch als ‚Schutz‘ vor anderer Gewalt oder Versklavung, um sklavereiähnliche Zwangsarbeit als ‚zivilisierenden Dienst‘ der ‚Menschlichkeit‘ zu rahmen.

Dabei ging das Deutsche Reich teilweise brutaler vor als andere koloniale Mächte und beging etwa diverse Massaker an lokalen Bevölkerungen. Am bekanntesten und weitreichendsten waren dabei die Niederschlagung des sogenannten Maji-Maji-Aufstandes (1905–1907) sowie der Genozid an den Ovaherero und Nama (1904–1908). Letzteren begründete der General und Kolonialverbrecher Lothar von Trotha damit, dass nur aus der „Aussaat“ von „Gewalt mit krassem Terrorismus … etwas Neues entstehen“ könne.29 Neben Genozid und Konzentrationslagern30 übten die Deutschen bereits zu dieser Zeit Experimente an Menschen und Eugenik aus.31

Auch die anderen Kolonialmächte bekämpften Widerstand ebenso systematisch wie brutal. Wichtig war es ihnen dabei auch, nicht weitere Fanale wie die Unabhängigkeit Haitis oder spanischer kolonialer Gebiete aufkommen zu lassen. Widerstand wurde gewaltvoll unterdrückt – und wo er nicht zu bremsen war, wurde er angeeignet. Der kubanische und philippinische Befreiungskampf etwa wurden, als sie kurz vor ihrem Erfolg standen, von den weißen USA durch eine militärische Intervention ‚gekapert‘. Weil die Befreiung aus der Perspektive der USA nicht den Kolonisierten überlassen werden sollte, denn dies hätte dem kolonialen Zivilisationsmythos widersprochen, spielten sich die USA als Akteurin der Befreiung von spanischer kolonialer Kontrolle auf. So erlangte Kuba 1902 eine begrenzte Unabhängigkeit und musste den USA bis 1934 ein Interventionsrecht zubilligen. Am Ende wurde so eine koloniale Herrschaft von einer weiterhin weißen, nur neu gerahmten abgelöst. So wurden entsprechende Unterfangen der ‚Befreiung‘ aus imperialer Sicht akzeptabel und zugleich die Mär weißer Überlegenheit nicht angetastet.32 Insgesamt wirkte der koloniale Imperialismus fort und goss koloniale Gewalt, Unterdrückung und die stetige Proklamation von Rassismus in neue Formen.

Entsprechend wurde der Erste Weltkrieg heiß in den Kolonien ausgefochten. Die Niederlage zwang das Deutsche Reich endgültig zur Aufgabe seiner größtenteils bereits 1914 besetzten Kolonien. Das heißt, der deutsche Kolonialismus endete nicht aus freien Stücken. Es ist zudem nicht zu unterschätzen, dass die 30 Jahre seit 1884 zusammen mit den kolonialen Bestrebungen in der Zeit davor eine sehr lange und prägende Zeit waren. Kolonien gingen Deutschland verloren, an Kolonialambitionen aber hielt es fest. Diese spielten auch für den Zweiten Weltkrieg eine tragende Rolle. Adolf Hitlers Kriegsstrategie wandte sich gegen europäische Länder, strebte aber nach einer imperial-kolonialen Weltherrschaft. Entsprechend führte Hitler bereits in „Mein Kampf“ aus:

Der richtige Weg wäre schon damals [Ende des 19. Jh., Anmerkung SuA] der dritte gewesen: Stärkung der Kontinentalmacht durch Gewinnung neuen Bodens in Europa, wobei gerade dadurch eine Ergänzung durch spätere koloniale Gebiete in den Bereich des natürlich Möglichen gerückt erschien.33

Zum einen war es ausgemachtes Ziel von Hitler, über die Bezwingung Europas die Welt zu beherrschen – und ganz konkret eben auch englische oder französische Kolonien zu übernehmen. Zum anderen aber stand die „Volk ohne Raum“-Propaganda für eine ‚Notwendigkeit‘ der Eroberung von Land, die auch nach deren Ressourcen lechzte, Zwangsarbeit einschloss und ohne Genozide an Millionen von vor allem slawischen und jüdischen Menschen nicht zu haben war.

So wie schon der Erste wurde ebenfalls der Zweite Weltkrieg auch in den kolonisierten Gebieten ausgekämpft. Zudem zwangen die Kolonialmächte Kolonisierte unter rassistischen Bedingungen, in den eigenen Armeen zu kämpfen. Das koloniale Agieren überdauerte auch den NS. Das Vereinigte Königreich und Frankreich blieben Kolonialmächte, die USA kontrollierten asiatische und amerikanische Räume und die burische Regierung eskalierte die rassistische Diktatur der südafrikanischen Apartheid.

Zwischen antikolonialen Unabhängigkeitserklärungen und Neokolonialismus

Gleichzeitig aber beschleunigte der Zweite Weltkrieg die antikoloniale Unabhängigkeitsbewegung auch deswegen, weil sich Europa uneins und verwundbar gezeigt hatte. Ab 1945 erklärten sich Indien, Ghana und viele weitere Länder unabhängig. Teilweise verlief dieser Prozess friedlich. Zumeist aber waren Jahre und Jahrzehnte des Kampfes notwendig, um die weißenKolonisierenden zu zwingen, ihre strukturelle Herrschaft aufzugeben – wie in Algerien oder Indonesien.34

Von einem klaren Ende des Kolonialismus kann aber dennoch nicht die Rede sein. Bis heute gibt es koloniale Gebiete wie etwa Puerto Rico (kolonialisiert von den USA), Bermuda (ein britisches Kolonialgebiet) oder Französisch-Polynesien (ein französisches Kolonialgebiet). Und Frankreich zwang Haiti, ab 1825 und bis 1947, für den Verlust seiner Kolonien zu ‚entschädigen‘. Erpresst wurde die Zahlung einer Summe von insgesamt zunächst 150 Millionen Goldfrancs, welche später auf 90 Millionen Goldfrancs reduziert wurde. Zudem bestehen koloniale Systeme von forcierten Abhängigkeiten, gewaltvoller Unterdrückung und Ausbeutung auch in formaler Unabhängigkeit vielerorts fort – so etwa in Kuba bis zur Revolution (1953–1959). Dafür steht teilweise der Begriff des Neokolonialismus. Er benennt, dass der ‚Globale Norden‘ noch immer auf Ressourcen anderer Länder ausbeuterisch zugreift und entsprechend politisch und wirtschaftlich so kontrolliert, dass sie europäischen Interessen dienlich sind.

Neben militärischen Eingriffen oder ökonomischen Ausbeutungsstrukturen, die etwa westliche Firmen wie Shell systematisch betreiben, bietet auch die sogenannte ‚Entwicklungshilfe‘ ein entsprechendes Instrumentarium. Ökonomische Ausbeutung als ‚Hilfe‘, ‚Schutz‘ oder ‚Modernisierung‘ verkaufend, hebt ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ Kolonialismus nicht auf. Sie ist dessen neokoloniales Gewand.35 Deswegen ist es auch eine Folge des Kolonialismus, wenn Deutschlands Wirtschaftsminister Christian Lindner von den G7-Ländern als „entwickelten Ländern“ spricht, die andere ‚entwickeln‘ müssten.36 Inmitten dieses Fahrwassers, in dem Kolonialismus und sein Erbe weder überkommen noch kritisch aufgearbeitet wurden, segelt auch Rassismus mit neuen Winden in alten Untiefen. Dessen viel zu lange Geschichte ist im Folgenden zu umreißen.

RASSISMUS ALS IDEOLOGISCHES SCHWERT VON KOLONIALISMUS

Alle Weißen hatten über Jahrhunderte hinweg von Kolonialismus profitiert – und zwar unabhängig davon, ob sie nun in den kolonisierten Gebieten oder in den europäischen Ländern lebten. Die dafür aufgewandte Gewalt sollte nicht nur moralisch aushaltbar sein, sondern sich auch noch richtig anfühlen. Diesem Zweck dienten Bullen, Dekrete und Gesetze, und zwar in Wechselwirkung mit Moralvorstellungen, Wissen und Erzählungen. Um das zu erwirken, erfanden Weiße ‚Menschenrassen‘. Dies war das Fundament, um White Supremacy, die weiße Vorherrschaft, zu errichten. Insofern diese auf dem Postulat aufbaut, dass Weiße die überlegene Norm sind, bot Kolonialismus neben ökonomischen Profiten damit auch Macht und Selbstwertpotenzierung feil.

Diese Prozesse sind im Folgenden nachzuzeichnen. Dabei werden grundlegende und sich kontinuierlich zeigende Muster ebenso ergründet wie deren modifizierende Umsetzungen im Laufe der Jahrhunderte – und zwar bis in die Gegenwart hinein.

Othering: Norm, Normalität und das entsprechende ‚Andere‘

Zur Geschichte der Menschheit gehört es, dass sich Kulturen, Gesellschaften oder Gruppen voneinander abgrenzen – nach außen und innen. Dabei wird von einer als Normalität gesetzten Norm ausgegangen. Diese aber ergibt nur in der Absetzung von ‚Anderen‘ Sinn. Das wird durch den Begriff Othering zusammengefasst. Im Wortkern steckt das englische Wort other, also ‚andere‘. Der Suffix -ing betont das Prozesshafte. Das Othering erzeugt ‚Andere‘ und damit auch die eine Norm und Normalität. Das funktioniert nur durch Macht und entsprechende Herrschaftsstrukturen, die so gebaut sind, dass sie jene bevorteilen, die als Norm gesetzt werden.

‚Rassentheorien‘ und die Kartierung körperlicher Unterschiede

Im Falle des Kolonialismus musste das Othering auf die Formel hinauslaufen, dass Europa allen anderen überlegen war. Zu diesem Zweck kristallisierte sich ab dem 15. Jh. eine erste Idee von ‚Rasse‘ heraus: Körperliche Unterschiede wurden zu vermeintlich naturgegebenen Bündeln zusammengeschnürt. Dazu wurden Farben und Formen von Haut, Haar oder Gesicht sowie Schädeln und Knochen sowie die Konsistenz von Blut instrumentalisiert. Dieser Mixtur von Körpermerkmalen wurden dann kulturelle, mentale oder intellektuelle Charakteristika zugewiesen. Dabei wurde verabsolutiert, verallgemeinert und gewertet – und zwar um (kulturelle, mentale oder religiöse) Hierarchien zu bauen. Dabei musste immer der weißen Zielsetzung entsprochen werden, ‚Weiße‘ als vermeintlich allen anderen ‚Rassen‘ überlegen zu deklarieren.37 Dafür wurden Konstrukte um ‚Natur‘ versus ‚Kultur‘, ‚Vernunft‘ versus ‚Emotion‘ sowie ‚gute‘ versus ‚böse‘ Menschen auf oder in den Leib geschrieben.

‚Natur‘ versus ‚Kultur‘, ‚Vernunft‘ versus ‚Emotion‘, ‚gut‘ versus ‚böse‘

Für der Ausformung der Idee von ‚Rasse‘ war die Gegenüberstellung von ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ zentral. Dabei war in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit die Weltsicht der „Chain of being“, also der ‚Großen Kette des Seins‘, federführend. An deren niedrigster Stelle standen Mineralien, dann Pflanzen und Tiere, gefolgt von Menschen und göttlichen Würdeträger*innen. Der (christliche) Gott stand an der Spitze dieser Pyramide.38 Rassismus benutzte diese Hierarchisierung, um Menschen entlang von ‚Rasse‘ voneinander zu unterscheiden: Es gäbe Menschen, die Tieren und damit der ‚Natur‘ nahe stünden, sowie jene, die eher dem Göttlichen und der ‚Kultur‘ entsprächen. Aus diesem Zirkelschluss heraus setzten Weiße sich als überlegene ‚Kultur‘ und jene, die sie als ‚Andere‘ konstruierten, als ‚Natur‘.

Das Wort Kolonialismus ist aus ebendieser Logik heraus gestrickt.39 Zunächst im Sinne einer ‚landwirtschaftlichen Nutzbarmachung von Natur‘ gemeint, wurde es auch zum Kodex des antik-römischen Imperialismus sowie der europäischen Kolonisierung der Welt. Dabei wurde die Urbarmachung von Land und Menschen in kolonialistischer Perspektive zusammengeführt, während die dort lebenden Menschen der (‚unberührten‘, will sagen ‚unkultivierten‘) ‚Natur‘ einverleibt wurden. Über diese Tricktäuschung wurde die kolonisierten Welten als ‚unbewohnte‘ oder zumindest ‚unkultivierte‘, ‚ungestaltete‘ ‚Natur‘ gesetzt, die darauf harre, ‚kultiviert‘ zu werden.

Im Kern ging es darum, Kolonisierten das Menschsein – die Wertigkeit, die das Menschsein mit sich bringt – mehr oder weniger komplett abzusprechen. Entsprechend spricht Hegel etwa davon, dass in Afrika „[d]ie Wertlosigkeit der Menschen … ins Unglaubliche“ gehe.40 Diese Entmenschlichung der Kolonisierten wurde bis dahin ausgereizt, dass sie als Tiere oder tiernah beschrieben wurden.41 Dies bot den Rahmen dafür, zu erklären, dass BIPoC keinen Anspruch auf Menschenrechte hätten und dass Schwarze von ‚Natur‘ aus dazu bestimmt seien, als Versklavte zu leben.42

Diese Rhetorik setzte sich in der Unterstellung fort, dass Kolonisierte selbst gar keine Achtung des Menschseins kennen würden. Zu diesem Zweck machten Weiße aus ihnen die „Quintessenz des Bösen“, wie der postkoloniale Theoretiker Frantz Fanon diese Rhetorik später beschreiben wird: Alles, was Kolonisierte berührten, werde „zerstört“; alles „was mit Ästhetik oder Moral zu tun hat“, werde „deformiert und verunstaltet“.43 Dabei war ‚Kannibalismus‘ eine der stärksten dämonisierenden Zuschreibungen. Denn wer Menschen isst, könne kein Mensch sein. Exotisierung zieht die gleiche Aussage andersherum auf. Menschen werden als naturverbunden idealisiert, wodurch ihnen abgesprochen wird, Teil von ‚Kultur‘ sein zu können.