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Susan Arndt

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Beschreibung

Zwar ist Sexismus spätestens seit #Aufschrei und #MeToo wieder in aller Munde. Doch meist wird bloß hitzig aneinander vorbei diskutiert statt auf der Grundlage von Wissen zu argumentieren. Susan Arndt versteht Sexismus als umfassendes Denk- und Herrschaftssystem. In ihrem grundlegenden Buch beschreibt sie sowohl seine Geschichte als auch, wie er sich bis heute äußert. Denn nur, wenn verstanden wird, was Sexismus eigentlich alles ist, kann er erkannt, verlernt und strukturell nachhaltig unterwandert werden – und koste es auch, Gewohntes und Privilegien aufzugeben.
Nicht wenige übersehen alltäglichen Sexismus oder leugnen ihn; und wird er kritisiert, stößt das auf Widerstand und Vorwürfe, zu moralisch oder politisch korrekt zu sein. Viele ziehen es inzwischen vor, sich gar nicht mehr zu äußern. Es gibt aber keine neutrale Position gegenüber Sexismus. Denn Sexismus ist ein umfassendes Denk- und Herrschaftssystem, das sich in die DNA unserer Gesellschaft eingeschrieben hat. Susan Arndt identifiziert als seinen Kern das Postulat der binären Zweigeschlechtlichkeit. Es ermöglicht patriarchalische Herrschaft und legt die Grundlagen für die Diskriminierung von Frauen* sowie von homosexuellen, inter*sexuellen und trans*-geschlechtlichen Personen. Auch Männer* werden durch Sexismus als Individuen normiert und können dabei gebrochen werden. Das Buch zeigt diese systemischen Zusammenhänge von Sexismus als Machtsystem und Wissensarchiv auf, analysiert, warum er so mächtig werden konnte und beschreibt seine aktuellen Facetten. Dabei erzählt es auch von Alternativen und Gegenstrategien.

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Susan Arndt

SEXISMUS

Geschichte einer Unterdrückung

C.H.BECK

Zum Buch

Zwar ist Sexismus spätestens seit #Aufschrei und #MeToo wieder in aller Munde. Doch meist wird bloß hitzig aneinander vorbei diskutiert statt auf der Grundlage von Wissen zu argumentieren. Susan Arndt versteht Sexismus als umfassendes Denk- und Herrschaftssystem. In ihrem grundlegenden Buch beschreibt sie sowohl seine Geschichte als auch, wie er sich bis heute äußert. Denn nur, wenn verstanden wird, was Sexismus eigentlich alles ist, kann er erkannt, verlernt und strukturell nachhaltig unterwandert werden – und koste es auch, Gewohntes und Privilegien aufzugeben.

Nicht wenige übersehen alltäglichen Sexismus oder leugnen ihn; und wird er kritisiert, stößt das auf Widerstand und Vorwürfe, zu moralisch oder politisch korrekt zu sein. Viele ziehen es inzwischen vor, sich gar nicht mehr zu äußern. Es gibt aber keine neutrale Position gegenüber Sexismus. Denn Sexismus ist ein umfassendes Denk- und Herrschaftssystem, das sich in die DANN unserer Gesellschaft eingeschrieben hat. Susan Arndt identifiziert als seinen Kern das Postulat der binären Zweigeschlechtlichkeit. Es ermöglicht patriarchalische Herrschaft und legt die Grundlagen für die Diskriminierung von Frauen* sowie von homosexuellen, inter*sexuellen und trans*geschlechtlichen Personen. Auch Männer* werden durch Sexismus als Individuen normiert und können dabei gebrochen werden. Das Buch zeigt diese systemischen Zusammenhänge von Sexismus als Machtsystem und Wissensarchiv auf, analysiert, warum er so mächtig werden konnte und beschreibt seine aktuellen Facetten. Dabei erzählt es auch von Alternativen und Gegenstrategien.

Über die Autorin

Susan Arndt ist Professorin für englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bayreuth und forscht zu Rassismus, Sexismus und Intersektionalität. Bei C.H.Beck ist von ihr erschienen: Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus (42020).

Inhalt

Wie ein Vorwort. Mein Leben hat mich auf dieses Buch vorbereitet

Zum Anliegen und Aufbau des Buches

1. Von Sexismus und anderen Begriffen

1.1. Sexismus als Ideologie von heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit

1.2. Sexismus, Macht und die Herrschaft des Patriarchats

1.2.1. Über die Wechselwirkung von Macht, Herrschaft und Gewalt

1.2.2. Patriarchalische Herrschaft: Mythos und Politik

1.3. Sexismus: Diskriminierung und Privilegien

1.4. Sexismus: Eine Definition

1.5. Chauvinismus, Machoismus, Marianismo

1.6. «Strategischer Essentialismus» (Spivak) und warum von Frauen* und Männern* die Rede ist

2. Das Drei-Säulen-Fundament des Sexismus: FrauistnichtMann. Erfindungen des biologischen und sozialen Geschlechts und deren juristische Verankerung

2.1. Biologische und soziale Erzählungen über Geschlecht

2.2. MannundFrau ist FrauistnichtMann – meint was genau?

2.3. Frau* und Recht(losigkeit)

2.3.1. Moral, Ethik und Recht

2.3.2. Männliche Vormundschaft und Frauen* ohne Rechte

2.3.3. RechtsGeschichte in Zeiten männlicher Vormundschaft

3. Manifestationen des Sexismus

3.1. Sexistische, sexuelle Gewalt

3.1.1. Femizid und gezielte Tötungen von Frauen*/Mädchen*

3.1.2. Vergewaltigung

3.1.2.1. Vergewaltigung als sexistische Macht und Gewalt

3.1.2.2. Gesellschaftlicher und rechtlicher Umgang mit Vergewaltigung

3.1.3. Sexuelle Belästigung

3.2. Frau*, Bildung(slosigkeit) und Erwerbsarbeit

3.2.1. Bildung und Arbeit für Frauen* in historischer Perspektive

3.2.2. Gleicher, doch nicht gleich

3.2.3. Mutterschaftsarbeit im gesellschaftlichen Kontext

3.2.4. Prostitution: «Sexarbeit» oder sexuelle Gewalt?

3.3. Repräsentation

3.3.1. Sprachliche Repräsentation und Kommunikation

3.3.1.1. Das generische Maskulinum

3.3.1.2. Sexistische Begriffe und Redewendungen

3.3.1.3. «Herr und Frau». Tücken einer alltäglichen Anrede

3.3.1.4. AusSprechen und Unterbrechen, Reagieren oder Ignorieren?

3.4. Schönheit und Kleidung

3.4.1. Schönheit kann nicht dick sein

3.4.2. Kleidung

3.4.2.1. Hose und Hosentasche versus Rock, Korsett, Dekolleté und Handtasche

3.4.2.2. Vom Badeanzug zur Microkini-Entkleidung

3.4.2.3. Die «Wer fürchtet den Hijab?»-Frage

3.5 Diskriminierung von Homosexualität, Inter*sexualität und Trans*geschlechtlichkeit

3.5.1. Homosexualität

3.5.1.1. Begriffe und Zahlen

3.5.1.2. Historische Entwicklungen

3.5.2. Inter*sexualität und Trans*geschlechtlichkeit

3.5.2.1. Begriffe und Zahlen

3.5.2.2. Historische Entwicklungen

4. Bewegungen und Strategien gegen Sexismus

4.1. Macht, Widerstand und Emotion

4.2. Feminismen

4.2.1. Nicht Feminismus, aber kein Feminismus ist es auch nicht. Sich widersetzende Frauen* zwischen Antike und Renaissance

4.2.2. Aufklärung

4.2.3. Frauenbewegung und Feminismus zwischen 1848 und Nationalsozialismus

4.2.4. Feministische Strukturen und Forderungen im geteilten Deutschland

4.2.5. Feminismen ab 1990

4.2.5.1. Feministische Kritik am Feminismus

4.2.5.1.1. Feminismus und Arbeiter*innen

4.2.5.1.2. Feminismus zwischen Heteronormativität und Queer Studies

4.2.5.1.3. Feminismus zwischen Rassismus und Intersektionalität

4.2.6. Die Zukunft des Feminismus

4.3. Strategien gegen Sexismus

4.3.1. Internationale Konventionen und Antidiskriminierungsgesetze im deutschsprachigen Raum

4.3.2. Empowerment, Awareness, Gender-Mainstreaming, Affirmative Action, Frauenbeauftragte und geschützter Raum

4.3.3. Widerständige Sprache

5. Kann es eine Welt ohne Sexismus geben. Kein Resümee

5.1. Sind Frauen* die besseren Menschen?

5.2. Ist Sexismus vorüber?

5.3. «Die Geschichte war eben so» – und wie weiter?

Danksagung

Anmerkungen

Wie ein Vorwort.Mein Leben hat mich auf dieses Buch vorbereitet

Zum Anliegen und Aufbau des Buches

1. Von Sexismus und anderen Begriffen

2. Das Drei-Säulen-Fundament des Sexismus: FrauistnichtMann. Erfindungen des biologischen und sozialen Geschlechts und deren juristische Verankerung

3. Manifestationen des Sexismus

4. Bewegungen und Strategien gegen Sexismus

5. Kann es eine Welt ohne Sexismus geben. Kein Resümee

Auswahlbibliographie

Personenregister

Dieses Buch widme ich meiner Mama.Dir dankend, weine und wüte ich.Du warst genügsam,statt zu träumen.Sexismus raubte dirRäumefür dich.Doch Tränen und Wutund deren Mutbauten diesefür mich.

Wie ein Vorwort. Mein Leben hat mich auf dieses Buch vorbereitet

Es fühlt sich so an, als hätte ich mich mein ganzes Leben darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Genauer noch: Es fühlt sich so an, als hätte mein ganzes Leben mich darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Manche Themen, manche Kämpfe, manche Hoffnungen suchen wir uns nicht freiwillig aus. Sie kommen zu uns. Werden uns buchstäblich in die Wiege gelegt. Eine meiner frühesten so gelernten Wahrnehmungen war es, dass es einen erheblichen Unterschied ausmache, ein Junge* oder ein Mädchen* zu sein – und dass ich so sehr daran verzweifelte. (Zur Verwendung des Asterisks siehe S. 56.)

Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an meinen Großvater. Am eindrücklichsten erinnere ich mich an Folgendes: Mein Cousin und ich, sieben- und achtjährig, saßen auf dem großväterlichen Sofa. Mein Opa saß auf dem Sessel links neben uns. Wir schauten das (in der DDR unerwünschte) ZDF-Werbefernsehen. Unvermittelt fragte unser Opa uns nach den Namen der Mainzelmännchen. Sein bohrender Blick, der bereits wusste, wie der Test ausgehen würde, lastet noch heute auf mir: Mein Cousin kannte sie alle, ich keinen. Mein Opa lachte und sagte etwas wie, dass Jungen eben klüger seien als Mädchen. Das war weder das erste noch das letzte Mal, dass er so etwas sagte. Ich fand das ungerecht. Meine kindliche Empörung beschränkte sich auf den Gedanken, dass mein Cousin (anders als ich) alle diese possierlichen Figuren kannte, weil er sie (dank Westverwandter, die ich nicht hatte) als Spielzeugfiguren besaß. Das zu sagen, traute ich mich nicht. Stattdessen lernte ich noch am selben Tag die Namen der Mainzelmännchen auswendig, mit Hilfe meines Cousins. Was mir als Kind nicht aufgefallen war, ist, dass mein Opa als Mann* natürlich ein grundlegendes Selbstinteresse an der vermeintlichen Wahrheit des Satzes hatte, dass «Jungen klüger seien als Mädchen». Diese Weltsicht zementierte ihm seine Thronrolle innerhalb der Familie – etwa gegenüber seiner Frau*, die ganz klassisch nach der Hochzeit zur Hausfrau geworden war, um für die gemeinsame Familie zu sorgen und in seinem mittelständischen Betrieb mitzuarbeiten. Anerkennung erfuhr sie dafür nicht. Alles lief unter dem Stichwort «helfen», obwohl sie kochte und die Buchführung machte. Auch ich rang vergeblich um die Anerkennung meines Großvaters. Ich arbeitete etwa hart daran, ein besseres Zeugnis als mein Cousin zu bekommen. Doch das blieb Sisyphusarbeit. Denn obwohl ich (anders als er) in der Schule überwiegend Einsen bekam, blieb mein Großvater dabei, dass ich weniger klug sei, mir weniger zutrauen dürfe und mir weniger zugetraut und gestattet werden könne. Ich wurde also ebenso wenig von meinem Opa respektiert, wie ich von seinem Wertesystem (und den Mainzelmännchen; allesamt Männer*) repräsentiert wurde. Solche Zusammenhänge verstand ich allerdings damals noch nicht. Heute scheint es mir folgerichtig, dass ich als Kind davon träumte, ein Junge* zu sein. Nicht Freuds «Penisneid» löste das in mir aus, sondern der Wunsch, anerkannt und repräsentiert zu werden. Ich kam nicht auf die Idee, Erzählungen über unterlegene Mädchen* oder die fehlende Repräsentation mutiger, starker Mädchen* zu ändern; ich wollte mich ändern. Meine Tochter ist da weitaus smarter. Schon mit sechs Jahren stellte sie erzürnt fest, dass viele der Geschichten, die sie liebt, nur von Jungen* erzählen (und Mädchen* kaum das Fantasieland von Prinzessinnen oder Pferdeflüsterinnen verlassen). Gäbe es auch mal eine Drachin? Wir beschlossen, die Charaktere einfach nach Belieben zu ändern. Aus Adeus wurde Adea. Und das Lied, das ich als Kind beim Eintauchen in kaltes Seewasser sang («Adam und Eva saßen auf dem Sofa, Sofa krachte, Adam lachte, Eva schrie, Kikeriki»), wurde bei ihr kurzerhand zu: «Eva und Adam saßen auf dem Sofa, Sofa krachte, Eva lachte, Adam schrie, Kikeriki.» Eva wird zuerst genannt, und sie ist es, die lacht, statt wegen der Kälte des Wassers aufzujaulen. So wie ich mich damit eingerichtet hatte, mich mit Jungen* als Helden zu identifizieren, hatte ich die mich als Mädchen* angeblich repräsentierende Eva immer ängstlich sein lassen. Bei meiner Tochter läuft das entgegengesetzt. Die Umkehrung der Codes ist keine Lösung, aber sie ist ein Schritt, die bestehende Ordnung herauszufordern. Zum Glück für mich gab es Pippi Langstrumpf, und ich liebte sie, weil sie kein stereotypes Mädchen war wie ihre Freundin Annika. Den Rassismus im Roman übersah ich damals allerdings.

Die Pubertät erlebte ich als Dauerschock. Und zwar nicht nur, weil es nicht mehr ausreichte, mit Matchbox, Fußball oder Hass auf Puppen als Junge* zu posieren. Ich erschrak, als ich zum ersten Mal eine Schattensilhouette von mir sah, auf der sich Brüste abzeichneten. Ich drehte und wendete mich, dachte, es wäre ein Schattenfehler. Aber es war ein Fehler meines Körpers, so nahm ich es zumindest wahr. Auch die erste Menstruation kam mir so vor. Ich fühlte mich unvorbereitet, hatte keine Vokabeln für meine Körperteile und die neuen körperlichen Entwicklungen. Ich hatte zwar Denkst du schon an Liebe?, die Aufklärungs-Bibel der DDR, aus der Bibliothek entliehen, doch ich war sogar zu «prüde» gemacht worden, um sie gründlich zu lesen.[1] Von Verstehen oder Einprägen konnte gar keine Rede sein. Am Tag, als die Menstruation begann, versuchte ich von zu Hause abzuhauen. Ich schämte mich. Es ging schief, weil ein Nachbar mich sah und fragte, was ich so spätabends noch draußen machte. Als ich nach Hause kam, suchte meine Mutter (die es selbst nie besser kannte) riesige Einlagen und Gummihosen heraus, und das Einzige, was sie zu mir sagte, war: «Lass es nie Vati sehen!» Das passte dazu, dass er sich immer darüber empörte, wenn während seines Abendessens Werbung für Monatsbinden im Fernsehen lief. Ich war also dreckig, was mich nicht gerade motivierte, mich in meinem neuen Körper wohlzufühlen. Doch es kam noch schlimmer. Mit dem Wachsen meiner Brüste begann die ewige Tortur, dass irgendwelche Jungen*, Männer* oder Frauen* sich berechtigt fühlten, meine Brüste zu kommentieren oder zu berühren. Ich liebte es zu joggen, lief jeden Tag denselben Weg, zur selben Zeit. Nun tauchten auf der mir wohlbekannten Route plötzlich lachende Männer* an den Toren ihrer Schrebergärten auf. Schleichend gestand ich mir ein, dass sie sich miteinander derb amüsierten, weil sie meine wackelnden Brüste kommentierten. Ich hörte auf zu joggen. Doch zur Schule musste ich gehen, und da wartete nicht nur der ewige Sportlehrer, der beim Bockspringen grapschte. Dem Biolehrer, der während des Abiturs den Mädchen* an die Brüste fasste, dem entkam ich zum Glück. Sein Handeln hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und ich gehörte zu den Glücklichen, die sich rechtzeitig für eine andere (viel schwerere) Wahlaufgabe entscheiden konnten, um ihm zu entgehen. Ihm passierte nichts, weil er SED-Parteisekretär der DDR-Schule war. Jahre zuvor sperrten mich Jungen* ein. Sie forderten mich auf, sie zu küssen. Viel härter aber hatte es meine beste Freundin getroffen. In einer Baracke der Schule zogen sie drei Jungen* aus, banden sie halbnackt an einen Stuhl und begrapschten sie. Die Täter kamen mit einer lächerlich harmlosen Schulstrafe glimpflich davon, weil der Anführende der Sohn eines Magdeburger Fußballstars war. Meine Freundin aber musste umziehen. So entschieden das ihre Eltern in weiser Voraussicht. Das war der Beginn meines Lebens in Angst vor Jungen* und Männern* und des Versuchs, mit Vermeidungsstrategien Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu entgehen. Doch dieser systematischen Gewalt konnte ich nicht entgehen. Bis heute nicht.

Die #MeToo-Debatte (2017) und noch mehr #aufschrei (2013) haben mich verwundert. Die eigentliche Nachricht wäre doch gewesen herauszufinden, ob überhaupt eine Frau* an einem Hashtag #MeeNot, mir ist es nicht passiert, oder #no_aufschrei, ich muss nicht aufschreien, hätte teilnehmen können. Ich glaube, dass es davon nur sehr wenige Frauen* auf diesem Planeten und der Geschichte seiner Welten gibt. Ich wurde zwar rein formell gesehen in eine Zeit und Gesellschaft hineingeboren, in der ich durch Gesetze geschützt werden sollte; doch wer schützte mich vor den Gesetzeshüter*innen? Als 14-Jährige wurde ich sexuell belästigt, auf dem Weg zum Gitarrenunterricht. Meine Mutter ging mit mir zur zuständigen Polizeistation, und dort geschah die nächste sexuelle Nötigung. Zwei Polizisten, Männer*, saßen vor einem Nacktbild einer Frau* und forderten mich wieder und wieder auf, den Tathergang zu beschreiben. Das ging sogar so weit, dass ich wiederholt die Größe und Form des Penis beschreiben sollte, der mir hingehalten worden war. Ich ging nie wieder zur Polizei, um eine sexuelle Straftat anzuzeigen, die an meinem Körper begangen wurde. Erst wurde meine Freundin Opfer sexueller Gewalt und (mit Wegzug aus dem vertrauten Umfeld) bestraft; dann ich. In Kombination mit dem Fehlen von Wörtern für intime Körperteile und Vorgänge meines Körpers verfestigte sich in mir eine Unfähigkeit, meinen Körper vor gewaltvollen Übergriffen zu beschützen. Ich lernte nicht, «Nein!» sagen zu können.

Mit achtzehn schlief ich auf einer Party ein. Ich wachte davon auf, dass ein Kommilitone mich am ganzen Körper betatschte. Ich hatte fürchterliche Panik, wollte ihn aber nicht «verletzen» und tat so, als würde ich nichts mitbekommen. Mit neunzehn stand ich unter der Dusche einer Turnhalle, ein älterer Mann* kam dazu und onanierte neben mir, fasste dabei meine Brust an. Ich tat so, als wäre ich nicht anwesend. Mit zwanzig versuchte ein Mann*, mich in einer S-Bahn-Unterführung zu vergewaltigen. Ich entkam der unmittelbaren Gefahr mit der Lüge, dass ich es auch wolle und er mit mir nach Hause kommen könne. Zum Glück lebte er wohl auch in dieser «Nein gibt es nicht»-Lüge und glaubte mir. Nach einer gefühlten Ewigkeit Fußmarsch im nächtlichen Berlin-Marzahn sah ich einen Passanten und bat ihn, mir zu helfen. Er aber sagte, er sei dafür nicht zuständig, sondern die Polizei. Handys aber gab es 1987 noch nicht. Da rannte ich los, weg vor beiden Männern*. Mit einundzwanzig wanderte ich mit einem «Freund» durch das bulgarische Pirin-Gebirge. Es dämmerte, und wir hatten uns jenseits des Gebirgspfades verlaufen; im Freien ohne Zelt zu schlafen war aber nicht ungefährlich. Plötzlich stand vor uns ein Mann* mit einem Esel, den wir nach dem Weg fragen konnten. Er willigte ein zu helfen, jedoch unter der Bedingung, dass ich ihm beim Onanieren zuschauen müsse. Ich schaute meinen «Freund» hilfesuchend an, der aber willigte ein. Ja, er schrie mich sogar an, dass ich mich nicht so haben und hypersensibel sein solle, als ich verängstigt meinen Blick abwenden wollte. So ging das weiter und weiter. Mir geschah auch noch Schlimmeres. Ich ging nie zur Polizei.

Auf eine verstörende Weise fühlte sich das alles so «normal» an und so, als könne mir ohnehin niemand helfen. Das betrifft auch die vielen Blicke und Worte, die, wie Kombinationen mit dem F-Wort (und vor allem «Du F.!»), verletzen. Vermeintliche Komplimente über meinen Körper machten das nie besser, nur als Dauerstresspaket schlimmer.

Mein steigendes Alter hat mir einen gewissen Schutzpuffer geschaffen, ohne dass ich behaupten möchte, dass sexuelle Straftäter, denen es ja um Gewalt geht, ältere Frauen* aussparen würden. Es gibt jedoch immer größer werdende Auszeiten von körperlichen Übergriffen auf oder sexistischen Kommentaren über mich. Aber die Angst, die ist geblieben. Keine Sportstätte, keine Straßenunterführung, keinen Gebirgspfad betrete ich ohne Angst. Mit Erinnerungen der Furcht kontaminiert sind auch ihnen analoge Orte. Kein Betreten eines Parkhauses ohne hektische Blicke, die mir (scheinbare) Sicherheit vermitteln sollen. Jedes gewaltvolle oder meinen Körper sexistisch beschreibende Wort und jeder entsprechende Blick schneidet sich ein in meine vom Sexismus verstörte Seele.

All diese Erfahrungen sammelte ich fast ausschließlich mit weißen[2] deutschen jugendlichen und erwachsenen Männern*. Aus den Reihen ebendieser weißen Männergesellschaft wird jüngst Kritik am Sexismus laut – jedoch zumeist nicht am eigenen, sondern an dem «des Islams». Dabei werden sexistisches Unrecht und feministische Diskussionen für rassistische Argumentationen aufbereitet. Dieses Muster ist in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet und findet seinen Höhepunkt etwa auf Wahlplakaten, in denen sich die sexistische AfD als feministischer Schutzpatron für blonde Frauen* bzw. gegen Geflüchtete generiert. Ein anderes Beispiel ist die NAFRI-Lüge, die in der Interpretation der Kölner Silvesternächte von 2017 und 2018 allen «Nordafrikanischen Männern» (samt denen, die so aussehen, als könnten sie dazugehören) attestiert, dass sie Gefährder für Frauen*körper seien. Hier wird aus rassistischer Perspektive sexistische Übergriffigkeit nur einer Gruppe von Männern* zugeschrieben: Männern* of Colour. Dieser Fingerzeig auf «Andere» macht deutlich: Bis in die letzten Zipfel der weißen deutschen Männer*gesellschaft hinein wissen die meisten offensichtlich sehr wohl, dass es sich nicht gehört, Frauen* anzugrapschen oder verbal übergriffig zu werden. Dennoch tun dies viel zu viele im Windschatten der sexistischen Sozialisation und der sie tragenden Institutionen und Strukturen, Wissensparadigmen und moralischen Grundsätze. Und die Scheinheiligkeit, Sexismus als Problem der «Anderen» abzutun, macht das alles nur umso empörender.

Ja, es fühlt sich so an, als hätte ich mich mein ganzes Leben auf dieses Buch vorbereitet; nein, als hätte mich mein Leben darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Es geht mir darin aber nicht einfach darum, Erfahrungen sexueller Gewalt zu teilen, damit Diskriminierte sagen: «Ja, genau, das kenne ich auch»; das Buch will auch mehr erreichen als jene, die privilegiert genug waren, keine sexistische Diskriminierung zu erfahren, erkennen zu lassen: «Oje, in dieser Dimension war mir das nicht bewusst.» Es geht viel grundsätzlicher darum herauszuarbeiten, was Sexismus als System in seiner vollen Bandbreite, historischen Beständigkeit und globalen Reichweite ausmacht – und wie sich kollektiv gerahmte individuelle Erfahrungen darin einfügen.

Das ist kein Wissen, über das ich automatisch oder freiwillig verfüge. Ich habe es mir angeeignet, aneignen müssen. Zunächst einfach nur, um zu überleben. Dass ich irgendwann das Wissen hatte, diese verbalen und physischen Übergriffe als systemisch zu verstehen, machte es individuell in den einzelnen Situationen nicht leichter, mit den psychischen Dellen, die sie mir verpassten, zu leben. Doch das Wissen hilft mir zu verstehen, dass es nicht an mir lag oder daran, dass ich Dinge, die mich verletzten, zu hypersensibel wahrnahm. Nein: Ich erfuhr Gewalt, die mir wehtat, weil sie gewaltvoll war. Eine solche Erkenntnis ist eine wichtige Grundlage dafür, sich besser schützen, wehren und widersetzen zu können. Bislang habe ich keine Strategie gefunden, nicht verletzt zu sein. Aber vielleicht geht es auch nicht darum, «nicht-verletzt» zu sein, denn meine Gefühle haben eine reelle Berechtigung, und im Versuch, sie zu beschwichtigen oder gar auszuschalten, würde ich mein eigenes emotionales Wissen einschränken oder sogar negieren. Es ist ein Kreis der Unterdrückung, der nicht bei einem Blick, einem Wort oder einer Handlung anfängt und bei dem Nicht-reagieren-können oder -wollen der Betroffenen, der Polizei oder der Justiz aufhört. Die Mechanismen von Sexismus als System sind ebenso komplex wie tief greifend – und genau davon wird dieses Buch erzählen.

Denn letztendlich hat mich dann eben doch keine meiner Erfahrungen wirklich darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Zwar habe ich lebenslangen Kontakt mit vielen Facetten des Sexismus; doch nichts davon hat mir beigebracht, wie Sexismus tatsächlich funktioniert – oder wie ihm widerstanden werden kann. Erst die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sexismus und der Frage, was ihn ausmacht, wie er sich historisch entwickelte und warum er so wirkmächtig ist, vervollständigte, fundierte und systematisierte mein zunächst eher intuitives, assoziatives, emotionales Wissen über Sexismus. Es ist dieses Spektrum, das mich letztlich auf dieses Buch vorbereitet hat und das dessen Argumentationen trägt. Denn am Ende umfasst Sexismus viel mehr als nur sexuelle Gewalt; und kann daher letztlich auch nur in seinem Fluss gestört werden, wenn Sexismus als Gesamtpaket, als Gesamtsystem angegangen und entsprechend Schicht um Schicht ausgepackt wird.

Zum Anliegen und Aufbau des Buches

Zwar ist Sexismus spätestens seit #aufschrei und #MeToo wieder in aller Munde. Doch die Debatten laufen oft viel zu hitzig und aneinander vorbei. Dass der Schlagabtausch dabei wechselseitig Kopfschütteln auslöst, hat viel damit zu tun, dass oft von unklaren Prämissen ausgegangen wird und gegenläufige Schlussfolgerungen gezogen werden. Manche müssen sich dem Vorwurf stellen, dass sie Sexismus nicht sehen oder verharmlosen wollen; andere gelten als zu moralisch oder politisch hyperaktiv. Manche denken, dass Frauen* einzelne Erlebnisse einfach hypersensibel überbewerten und sehen in «Frauenförderung» des Rätsels Lösung, als sei damit alles gesagt und getan. Viele ruhen sich auf diesen Alibi-Maßnahmen aus. Sie sehen darin gewissermaßen den einzigen Strohhalm und halten so borniert daran fest, dass die dahinterstehenden Konzepte und Probleme nur umso schwerer diskutiert werden können. Andere halten ebendeswegen dies für ein Beispiel von «Gut gemeint und voll daneben», gerade auch unter dem Gesichtspunkt, dass Sexismus (wie dieses Buch argumentieren wird) sich nicht nur gegen Frauen* richtet. Zum Gesamtbild solcher Debatten gehört es dann, dass viele so genervt oder abgeschreckt oder gleichgültig gemacht werden, dass sie sich der Diskussion verschließen wollen und es vorziehen, sich gar nicht dazu zu äußern. Es gibt aber keine neutrale Position im Sexismus, auch sich rauszuhalten ist eine politische Positionierung. So oder so: Sexismus ist ein sehr altes Problem, das Menschen entzweit. BeSchweigen ist daher keine Option. Stattdessen bedarf es einer Befähigung zur kritischen Debatte und einer wissensgeschulten Streitkultur, die bereit ist, Verantwortung für Geschichte, Gegenwart und Zukunft und vor allem füreinander zu übernehmen. Hier will das Buch ansetzen.

Dem Buch geht es darum, Sexismus als etwas Systemisches zu verstehen und entsprechend zu fragen, was ihn im Kern zusammenhält. Im Zentrum steht dabei die These, dass Sexismus an Macht gebunden ist, die auf dem Postulat der binären Zweigeschlechtlichkeit aufbaut und dadurch patriarchalische Herrschaft ermöglicht. Sexismus diskriminiert Frauen*; und er diskriminiert homosexuelle, inter*sexuelle und trans*geschlechtliche Personen.[1] Dabei stattet er Männer* und heterosexuelle Menschen, kollektiv und strukturell gesehen, mit Macht und Herrschaft aus. Das heißt nicht, dass heterosexuelle Männer* individuell nicht auch normiert und gebrochen oder missbraucht werden können. Jedoch wäre es unzutreffend, das als Sexismus zu bezeichnen. Denn jene, die im Machtsystem des Sexismus mit Macht ausgestattet werden, haben per se eine andere soziale Position als jene, die vom Machtsystem des Sexismus von Macht systematisch ferngehalten und diskriminiert werden. Dennoch betrifft Sexismus alle Geschlechter und kann gerade deswegen nur durch einen ganzheitlichen Blick auf alle Geschlechter verstanden werden.

Geführt von dieser Grundthese, führt das Buch durch vier Denkschritte. Kapitel I setzt mit der Kernfrage ein: Was ist Sexismus? Dafür ist es unverzichtbar, Sexismus als System zu verstehen, welches mit anderen Diskriminierungsformen verwandt und verschränkt ist. Deswegen muss Sexismus zunächst einmal als komplexes Paket und in seiner Verschränkung mit komplementären Begriffen gedacht werden, die sich mit Sexismus teilweise überlappen oder ihn bedingen, teilweise aber auch andere Felder aufmachen. Deswegen wird Sexismus als Wissenssystem und Ideologie (heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit), als Macht und Herrschaft des Patriarchats, im Kontext von Diskriminierung und Privilegien diskutiert und entsprechend in eine Sexismusdefinition überführt. Zudem steht Sexismus in Wechselwirkung mit Patriarchat, Chauvinismus, Machoismus sowie Marianismus. Daraus leite ich dann Überlegungen dazu ab, was sich als «Essenz» in die Konzepte «Frau» und «Mann» eingeschrieben hat, und begründe, warum ich (um dieser Essenzialisierung zu widersprechen) in der Regel von Frauen* und Männern*, also mit Asterisk, spreche.

Im zweiten Kapitel geht es um das Drei-Säulen-Fundament des Sexismus: Wie wird das binäre Geschlechtersystem, das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, biologisch erklärt? Welche sozialen Schlussfolgerungen werden gezogen? Wie wirkt und wirkte sich dies auf moralische Normvorstellungen und die Rechtsprechung aus? Mit diesen Fragen wird die Grundformel des Sexismus historisch betrachtet, die postuliert: Es sei «natürlich» und so gesehen «normal», dass es «Männer und Frauen» gibt; es sei «naturgegeben» und so gesehen «normal», dass die Frau anders sei als der Mann; kurzum: Es sei nun mal so, also «normal», dass der Mann dazu befähigt und deswegen bestimmt sei, über Frauen zu herrschen.

Das dritte Kapitel betrachtet die Konsequenzen dieses Postulats. Trotz zeit- und gesellschaftsübergreifender Strahlkraft wirkt Sexismus individuell verschieden in einzelne Lebenswege und Alltage hinein. Das wird (jeweils in historischer Perspektive und mit Blick auf aktuelle Manifestationen) an Beispielen von sexistischer und sexueller Gewalt, von Bildung und Erwerbsarbeit (wie Mutterschaft und Prostitution), (fehlender und stereotyper) Repräsentation, Sprache und Kommunikation sowie Schönheit und Kleidung ausgelotet. Zudem wird Diskriminierung von Homosexualität, Inter*sexualität und Trans*geschlechtlichkeit als Grundanliegen des Sexismus beleuchtet.

Im vierten Kapitel wird diskutiert, wie Feminismus Sexismus widerstand und worin seine Schwachstellen und Zukunftschancen liegen. Darauf aufbauend, werden politische, juristische und sozialbewegte Strategien thematisiert, die Sexismus aktuell entgegengestellt werden: Gesetzgebung zum Schutz von Frauen*; Gender-Mainstreaming und Frauenbeauftragte sowie Strategien zur Schaffung von Awareness (also einer Bewusstmachung von Sexismus), Empowerment (als Überlebens- und Widerstandsstrategie), affirmative action (als Nachteilsausgleich) und geschützten Räumen sowie widerständige Sprache.

Im abschließenden fünften Kapitel werden Ideen dazu formuliert, wie es weitergehen kann im Umgang mit Sexismus: Diesen als historisch gewordenes System mit kollektivem Wiederholungscharakter zu erkennen, ist kein Ruhekissen, sondern eine Herausforderung an jede*n Einzelnen im gesamtgesellschaftlichen Dialog.

Im Zuge dieser Ausführungen lehne ich mich vor allem an drei Forschungs- und Publikationsstränge an. Zum einen sind das Forschungen aus der Frauen*(rechts)- und Feminismusgeschichte. In diesem Feld sind zahlreiche regional und zeitlich fokussierte Studien erschienen. Überblicke finden sich in Standardwerken etwa von Ute Gerhard, Jutta Menschik-Bendele oder Jane Rendall.[2] Zweitens arbeite ich mit theoretischen Erkundungen von Konzepten wie Macht, Herrschaft, Diskriminierung, sozialer Position. Dabei gehe ich von Standardwerken von Michel Foucault oder Hannah Ahrendt aus und arbeite insbesondere mit Theoretiker*innen der Geschlechter-, Intersektionalitäts- und Kritischen Kultur- und Geisteswissenschaften wie etwa Judith Butler oder Kimberlé Crenshaw.[3] Drittens schließlich baut dieses Werk auf Büchern zu alltäglichen Sexismuserfahrungen auf, etwa von Laura Bates, Carol Rambo Ronai oder Rebecca Solnit.[4] Diese thematisieren alltägliche Manifestationen des Sexismus.

Tendenziell interagieren diese drei Forschungs- und Publikationsfelder wenig miteinander. In der Frauen*rechtsgeschichtsschreibung wird kaum mit der These gearbeitet, dass Geschlecht ein Konstrukt sei; und aktueller Alltagssexismus bleibt tendenziell unberücksichtigt. Studien, welche die Konstruiertheit von Geschlecht thematisieren, arbeiten hingegen vornehmlich theoretisch-abstrahierend. Die Thematisierung des Alltagssexismus hält sich wiederum von Theoretisierungs- und Historisierungsdebatten fern. Das vorliegende Buch ist bestrebt, diese drei Felder zusammenzubringen. Die Konstruktion von Geschlecht wird theoretisch beleuchtet, wobei dessen Manifestationen und Auswirkungen sowohl anhand der Geschichte des Sexismus und des feministischen Kampfes dagegen als auch mit Blick auf Alltagserfahrungen der Gegenwart betrachtet werden, die als «dichte Beschreibungen» in die systemische Beschaffenheit sich wiederholender Macht- und Herrschaftskonstellation des Sexismus eindringen.

Dabei werde ich immer wieder auch essay- und episodenhaft auf persönliche Erfahrungen und Reflexionen eingehen. So entsteht ein Cocktail aus theoretischen und empirischen, abstrahierenden und persönlichen, akademischen und aktivistischen, historischen und aktuellen Ausführungen, ein Essay im Wortsinne also, ein Versuch, Ordnung ins Gestrüpp zu bekommen. Nicht alle Nester können dabei entdeckt, nicht alle Lichtungen und Höhlen betreten werden. Schon gar nicht können alle ihre Komplexitäten ausgelotet werden. Es geht eher um den Wald als Ganzen und um Strategien, ihn durchforsten zu können.

Obwohl Sexismus weltweit nach analogen Paradigmen funktioniert, gibt es letztlich erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen historischen, sozialen und geographischen Räumen. Meiner eigenen Expertise gemäß werde ich Sexismus in der westlichen Welt und Deutschland bzw. den deutschsprachigen Raum im Besonderen in ihrer kulturgeschichtlichen Prägung ins Zentrum stellen, ohne dabei den globalen Zusammenhang aus dem Blick zu verlieren. Zur historischen Herleitung moralischer Leitideen, politischer Debatten, kollektiver Erzählungen und juristischer Regulierungen zu Geschlecht, patriarchalischer Herrschaft und Sexismus richtet sich der Blick daher vornehmlich auf das Alte und Neue Testament und (andere) tragende Texte aus Antike, westlichem Humanismus, Renaissance, Aufklärung und Moderne; und auch bei der Betrachtung von Prozessen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges stehen der deutschsprachige Raum und Europa im Zentrum. Zum Anliegen des Buches zählt es zudem, Sexismus in gegebenen Verschränkungen mit anderen Diskriminierungsformen wie etwa Rassismus zu diskutieren. Dabei ist es mir wichtig, über Diskriminierung zu sprechen, ohne deren Muster, Codes oder Vokabular zu reproduzieren. Jedes Mal, wenn ich ein sexistisches oder anderweitig diskriminierendes Wort benutze, und sei es auch nur im (indirekten) Zitat, reproduziere ich die Gewalt, die in ihm steckt. Deswegen reize ich die Grenzen des Sagbaren aus, um der Unsäglichkeit etablierter Sprachnormen zu entkommen – ohne das auf Kosten der Verständlichkeit zu tun. So komponiert, möchte dieses Buch dazu beitragen und einladen, Sexismus zu verstehen und auf dieser Basis so weit es geht zu verlernen – koste es auch, Gewohntes oder gar Privilegien aufzugeben –, damit die Grundfesten sexistischer Ideologie, Macht und Herrschaft nachhaltig erschüttert werden können.

1. Von Sexismus und anderen Begriffen

Sexismus ist ebenso alt wie komplex und nur schwer in Worte zu fassen. Das Verständnis darüber, was mit Sexismus gemeint sei, ist kontextabhängig: Zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen geographischen Orten und in verschiedenen sozialen Räumen meint(e) der Begriff Unterschiedliches, weil es neben Parallelen und Kontinuitäten immer auch Brüche und Divergenzen gibt. Dabei spielen geltende Gesetze eine entscheidende Rolle, aber auch kollektiv geprägte und persönliche Interessen, Erfahrungshorizonte und Wissensarchive sowie Moralvorstellungen. Interessen, Erfahrungen und Moral wiederum werden von normierenden ethischen Grundsätzen und juristischen Regelungen geprägt, die in und durch Macht- und Herrschaftskonstellationen konturiert sind. Macht ergibt sich dabei, wie später zu diskutieren sein wird, aus jener sozialen Position innerhalb sozialer Ordnungen (etwa von Klasse, Geschlecht, rassistischer Positionierung, Gesundheit), die Norm/alität und Privilegien garantiert – auf Kosten derer, denen als jeweils «Andere» Zugriff auf Privilegien verweigert bleibt. Macht produziert Herrschaft und umgekehrt, wobei Herrschaft auf Gesetze und Gewalt aufbauen muss und dabei Änderungen unterzogen werden kann – welche jedoch nie losgelöst von Macht und ihren Interessen sowie Möglichkeiten geschehen können.

Sexismus wird häufig fälschlich auf die individuelle Erlebniswelt Einzelner reduziert, um diese dann als «hypersensible Erfahrung» abzutun. Zwar äußert sich Sexismus über Handlungen Einzelner und zeigt individuelle Auswirkungen. Doch durch seine Etablierung in und durch Macht und Herrschaft, Recht und Ethik, Wissen und Bildung entstehen nachhaltige Wiederholungen als ein System – das Sexismus zu einer wirkmächtigen kollektiven Erfahrung macht, in der Erlebnisse Einzelner Symptome und Schneeflöckchen des Eismassivs sind. Sofern es bei Sexismus nicht primär um Einzelfälle, sondern um systemisch bedingte Wiederholungen geht, die durch Macht, Recht, Ethik und Wissen fortgeschrieben werden, reichen weder individuelle Erfahrungen noch eine abstrakte Beschäftigung allein aus, um zum Kern des Sexismus vorzudringen. Das System kann nicht verstanden werden, ohne subjektive Erfahrungen ernst zu nehmen. Umgekehrt ist es ebenso verkürzend, individuelle Erzählungen nicht zu systematisieren.

Und genau aus dieser Wechselwirkug von subjektiv Erlebtem und Sexismus als Diskriminierungssystem, das lokal geprägte und temporal gebundene Strukturen ausbildet, ergeben sich häufig zwei weitere Irrtümer: Erstens ist Sexismus nicht nur dann am Werk, wenn dies individuell erkannt wird, und er besteht auch dann, wenn er geleugnet wird. Zweitens muss nicht jede subjektive Einschätzung, dass etwas sexistisch sei, stimmen. Diese subjektive Einschätzung muss mit dem Grundprinzip von Sexismus als machtkodierter sozialer Ordnung, die von kollektiven Erfahrungen und Wiederholungen lebt und ebendadurch systemisch wird, korrelieren: Es gibt immer wieder Cis-Männer, die für sich in Anspruch nehmen, sexistisch diskriminiert zu werden («Ich kenne aber eine Frau, die …»). «Cis» markiert, dass sich eine Person mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt entlang des binären Mann-oder-Frau-Modells zugeschrieben wurde, identifizieren kann und möchte. Ja, Cis-Männer können übergriffige und/oder sexuell gemeinte Komplimente oder Offerten erfahren. Aber nein, das fällt nicht unter Sexismus. Heterosexuelle Cis-Männer können (anders als etwa queere Männer*) nicht sexistisch diskriminiert werden. Deren «Ich kenne aber eine Frau, die …»-Erfahrungen sind weder kompatibel mit dem systemischen Prinzip des Sexismus – noch können sie Letzteres widerlegen. Denn Sexismus ist an Macht und systemisch garantierte Privilegien gebunden, die Cis-Männlichkeit und Heterosexualität besitzen – und zwar im Unterschied zu Frauen* sowie homosexuellen, inter*sexuellen und trans*geschlechtlichen Menschen. Deren systemisch bedingte Erfahrungen sind von einer viel zu langen und viel zu gewaltvollen Geschichte von Unterdrückung und Diskriminierung geprägt. Wenn Cis-Männer diesen Begriff für eigene Erfahrungen in Anspruch nehmen, ist das eine Aneignung des Begriffes «Sexismus», der dessen gewaltvolle Geschichte und (Omni)Präsenz verharmlost.

Ebenso irreführend ist es, wenn statt von Sexismus von Frauenfeindlichkeit oder auch Misogynie, Frauenhass, gesprochen wird: Der Fokus auf «Frauen» stellt jene aufs Plateau, die Diskriminierung erfahren, nicht aber diejenigen, die (machtlogisch und systemisch gesehen) diskriminieren. «Frauenfeindlichkeit oder -hass» ist auch deswegen eine begriffliche Falle, weil auch scheinbare «Nettigkeiten» und «Komplimente» auf sexistische Weise ebenso toxisch sein können wie direkter oder gewalttätiger Hass. Formulierungen wie etwa «Wow, die hat aber tolle Brüste!» (meist fallen dabei andere Vokabeln) wirken stereotypisch sexistisch, weil Frauen* auf den Körper reduziert, ja über diesen bewertet werden. Wird Mann ja noch sagen dürfen? Oder schon Sexismus? Und wie steht es um Erwartungen, etwa dass die Frau* die Küchenarbeit zu erledigen habe? Ist ja doch die übliche Praxis, also normal? Wird Mann ja noch denken dürfen? Oder doch Sexismus? Schließlich greifen Begriffe wie «Frauenhass» oder «Frauenfeindlichkeit» insofern zu kurz, als sie sexistische Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Männern* oder auch inter* und trans*geschlechtlichen Menschen nicht integrieren.

Weit verbreitet ist auch die Auffassung, dass Sexismus allein strafrechtlich relevante Übergriffe sexueller Gewalt meine. Doch selbst Gesetzgebungen sind letztlich ein unzuverlässiges Kriterium, um Sexismus in seinem Wesenskern zu erfassen. Zum einen sind Gesetzgebungen und Strafrecht Änderungen unterworfen – und zwar in Aushandlungsprozessen mit Machtinteressen, Herrschaftskonstellationen und entsprechend geprägten ethischen Codes. Zum anderen gehört es eben nachgerade zu dieser Geschichte der durch Macht und Herrschaft sowie deren Ethik konturierten Rechtsprechung, dass gleiche Taten ungleich geahndet wurden und werden – etwa abhängig vom Geschlecht, vom Einkommensstatus oder auch aufgrund von Rassismus. Es reicht also bei Weitem nicht aus, allein die Rechtsprechung zum Gradmesser darüber zu erheben, ob etwas sexistisch sei oder nicht. Das Verständnis von Sexismus muss losgelöst von der Rechtsprechung definiert werden, zumal selbst rechtskräftige Verurteilungen von körperlichen Schädigungen sich nicht zum Tatbestand des Sexismus äußern. Hinzu kommt, dass Sexismus auch insgesamt mehr umfasst als sexuelle Gewalt, ob nun justiziabel oder nicht.

Das Minister*innenkomitee des Europarates formulierte im Rahmen einer «Recommendation of the Committee of Ministers to Member States on Preventing and Combating Sexism» am 29. März 2019 eine Sexismus-Definition.[1] Betont wird ein kausaler Zusammenhang zwischen sexistischer Gewalt und Sexismus «in allen Sektoren aller Gesellschaften» wie etwa Werbung, Medien, Beschäftigung, Rechtsprechung, Bildung und Sport. Dabei werden explizit auch Geschlechterstereotypen angesprochen. Es gibt immer einen Zusammenhang zwischen (strafrechtlich verfolgbarer) sexistischer physischer Gewalt und sexistischen Deutungen der Welt wie etwa der Erwartung, dass Frauen* (allein) die Hausarbeit verrichten müssen. Es handelt sich um mehrere Seiten der gleichen Medaille. Jahrtausendealte Erzählungen sind stur. Bei Sexismus handele es sich, so das Minister*innenkomitee des Europarates, um ein «Kontinuum von Gewalt», das ein «Klima der Einschüchterung, Furcht, Diskriminierung, Ausgrenzung und Unsicherheit hervorrufe, welches Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten begrenze». Hier geht es um das gesamte Spektrum von körperlicher Gewalt bis zu nonverbalen Übergriffen (Blicken, Beleidigungen, Erwartungen etc.), wobei alles davon wiederum soziale, psychische, sexuelle sowie wirtschaftliche Auswirkungen habe. Dabei sei Sexismus bestimmt von «historisch gewachsenen Machtverhältnissen der Ungleichheit» – welche Männer privilegierten und Frauen diskriminierten. In dieser Definition wird Sexismus also als Diskriminierung von Männern* gegenüber Frauen* verstanden. Zwar wird dies an einer Stelle aufgebrochen, wenn es heißt, Sexismus würde durch Genderstereotype getragen, die Männer und Frauen prägen. Diese Erweiterung bleibt aber vage und schließt die Diskriminierung von Inter*sexualität, Trans*geschlechtlichkeit und Homosexualität nicht explizit mit ein.

Deswegen muss eine Definition von Sexismus letztlich noch komplexer angegangen werden, ohne dabei den Blick für Nuancen, Dimensionen und Schweregrade zu verlieren. Es macht einerseits einen großen Unterschied, ob ein Mensch einen anderen Menschen vergewaltigt bzw. ob ein Mensch eine Vergewaltigungserfahrung überlebt (Vergewaltigte werden oft als «Überlebende» bezeichnet)[2] – oder ob ich «nur» auf jemanden treffe, der denkt, Frauen* seien von Natur aus anders als Männer* und gehörten deswegen in die Küche, nicht aber an eine Universität. Andererseits funktioniert jedes dieser Segmente, weil sie systemisch zusammenwirken.

Dieses Spektrum an Segmenten zu erfassen, ohne in ein inflationäres «Alles ist Sexismus» zu verfallen (Sexismus also beliebig auf heterosexuelle Cis-Männer auszuweiten), erfordert daher, Sexismus als System zu verstehen, in dem sich Wissen und Ideologie, Moral und Ethik sowie Macht und Herrschaft (samt betreffender Strukturen und Institutionen) wechselseitig erschaffen und legitimieren – und dadurch Diskriminierung und Privilegien im Kontext von Unterdrückung und sozialer Ungleichheit erzeugen. Im Folgenden möchte ich Schritt für Schritt über diese Aspekte reflektieren, die im und durch Sexismus wirken, und diesbezüglich zentrale Begriffe einführen – und erst dann formulieren, welches Verständnis von Sexismus diesem Band zugrunde liegt.

1.1. Sexismus als Ideologie von heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit

Wir sind, was wir uns erzählen; wir erzählen uns, was wir kennen; wir kennen, was wir uns erzählen. In der Wissenschaft wird dieser «Fluss von Wissen durch die Zeit»[3] Diskurs genannt. Dieses zeit- und raumübergreifend präsente Wissen informiert und prägt Ethik und Gesetz und umgekehrt. Dabei gibt es neben Kontinuitäten auch Windungen und Wendungen, in denen individuelle Handlungsfreiheit gegeben ist. Denn Bekanntes muss sich immer auch individuellen und kollektiven Erwartungen und Visionen stellen, die Handlungen neu justieren können. Diese Handlungsspielräume sind jedoch umso begrenzter und die Neuausrichtungen umso schwieriger, je mehr sich das betreffende Wissen und moralische Denken einer einzigen Grundidee verpflichtet, sich also ideologisiert.

Die Kategorien «Frau» und «Mann» sind so verzahnt, dass vielen das Begriffspaar so plausibel scheint, dass es als MannundFrau gesprochen wird, wobei es zugleich MannversusFrau meint. In den Worten von Immanuel Kant, dem wichtigsten deutschen Aufklärer, klingt das etwa so: «Denn es ist hier nicht genug, sich vorzustellen, daß man Menschen vor sich habe; man muß zugleich nicht aus der Acht lassen, daß diese Menschen nicht von einerlei Art sind.»[4] Dieses duale Muster ist ein antithetisches, das wertend nichts anderes meint, als dass Männer die Norm/alität und Frauen «Anders» seien: FrauistnichtMann. Dieses Muster entspricht der Heteronormativität, also der Normsetzung von Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit in Absetzung zu Homosexualität, Inter*sexualität und Trans*geschlechtlichkeit als «Anderem».

In der Forschung werden solche dualen Modelle als Ergebnis des Othering oder der Alterisierung angesehen. Dabei geht es darum, etwas als Norm/alität (es wird auch das «Eigene» oder «Self» genannt) zu setzen und alles, was nicht in diese Norm passt, als das «Andere» oder «Other» daraus auszuschließen.[5]

Dieses Othering baut auf dem Prinzip der Differenz auf und setzt dabei häufig damit ein, körperliche Unterschiede zu erfinden («Menschenrassen» etwa gibt es nicht) oder zu einem Bündel zu schnüren (wie bei Geschlecht). Wie Unterschiede erfunden oder gebündelt werden, ist weder evident noch zufällig, vielmehr werden bestimmte körperliche Merkmale als bedeutsam eingestuft. Das aber folge, wie Mary Douglas in ihrem 1970 veröffentlichten Buch Natural Symbols schreibt, letztlich nicht biologischen Konstellationen, sondern dem Streben, sie sozial zu instrumentalisieren und mit politischer Bedeutung aufzuladen: «Es gibt keine natürliche Weise, den Körper zu betrachten, der nicht zugleich eine soziale Dimension haben würde … Ohne Wunsch nach sozialen Grenzen würde ich nicht erwarten, Interesse an körperlichen zu finden.»[6] Wenn also bestimmte Unterschiede gezielt ausgewählt werden, um sie mit Bedeutung aufzuladen, wird ihnen Bedeutung zugeschrieben, wobei andere Unterschiede wie auch gegebene Gemeinsamkeiten als «unwichtig» markiert werden.

In der Biologie und Medizin wird zur Unterscheidung von FrauundMann ein Bündel aus äußeren und inneren Geschlechtsmerkmalen, Genen, Hormonen, Keimdrüsen oder Gameten (Keimzellen) geschnürt; aber auch sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Gesichtszüge, Haareigenschaften, Körperbau (Größe, Knochen und Muskulatur) oder der Klang der Stimme werden dabei eingebunden. Doch was für viele menschliche Körper und auf sie gerichtete menschliche Blicke aussagekräftig sein mag, funktioniert nicht für alle. In der Gesamtheit aller Körper sind die Grenzen, und zwar in jedem der oben genannten Bereiche, zwischen Mann* und Frau* nicht klar antithetisch, sondern fluide. Das gilt für Hormone und deren Bärte ebenso wie mit Blick auf primäre und sekundäre Geschlechtsorgane (und deren Größe und Form).[7]

«Frauen» und «Männer» werden als gegensätzlich gesehen, weil Sexismus genau das vermittelt. Das Kerninteresse war und ist dabei nicht die biologische Unterscheidung der Körper, sondern die hierauf aufbauende soziale Hierarchisierung. Es geht darum, die biologisch als gegensätzlich konturierten Kategorien mit Bedeutung jenseits des Biologischen aufzuladen, also mit mentalen, kulturellen, psychischen, intellektuellen Kompetenzen und Fähigkeiten zusammenzuführen. Diese werden verallgemeinert, verabsolutiert und gewertet.[8]

Das ist es, was Roland Barthes «Mythos» nennt: Zuerst wird eine naturgegebene Differenz konstruiert und dann als von Natur aus relevant postuliert. Sofort wird sie auch mit Bedeutung aufgeladen, die Wertungen beinhaltet – und Macht, Herrschaft und Gewalt legitimieren. Sobald das angelaufen ist, kann die betreffende (Vor)Geschichte verleugnet werden. Barthes nennt dies la privation d’Histoire, «Verleugnung der Geschichte».[9] Und während verleugnet wird, dass eine Frau nicht als Frau geboren, sondern erst dazu gemacht wird (um den berühmtesten Satz aus Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht aus dem Jahr 1949 zu referieren),[10] wird die Gegenwart gewordene Geschichte «tautologisch» reproduziert: «Un sou est un sou.» Oder: «Es ist so, weil es so ist.»[11] Die Frau ist eine Frau und dadurch dem Mann unterlegen, weil das schon immer (so) war.

Bei der mentalen Interpretation körperlicher Paradigmen spielte im westlichen Geschlechternarrativ das naturphilosophische Konzept der «Chain of Being» eine entscheidende Rolle. Auf der niedersten Stufe der skalierenden Treppe stehen Mineralien (die nochmals binnendifferenziert werden), gefolgt von Pflanzen, dann Tieren. Der Mensch im Allgemeinen folgt vor Aristokratie und König als Vorstufe zum Himmlischen und schließlich Gott.[12] Dabei wirkt das Muster, dass die Kultur der Natur überlegen ist. Natur, also Mineralien, Pflanzen, Tiere, stehen ganz unten; Kultur darüber. Je mehr Natur, desto mehr der Kultur unterlegen; und je mehr Kultur, umso überlegener. Dabei steht Kultur für Vernunft, Verstand, Rationalität und Fortschrittskraft und Natur für die Abwesenheit davon.

So konturiert, beinhaltet die «chain of being»-Hierarchie eine Mensch-versus-Aristokratie/König-Unterscheidung weitere Binnendifferenzierungen, v.a. entlang den Konstrukten Zweigeschlechtlichkeit und «Menschenrassen» (in wechselseitiger Überlagerung). Der Mann und Weiße seien dichter am Königlichen/Göttlichen dran und daher mehr Kultur. Mann/Weißer als Kultur sei Gehirn; Frau/Schwarzer als Natur hingegen Körper; Mann/Weißer als Kultur sei Rationalität; Frau/Schwarzer als naturnah hingegen Emotion – und umgekehrt: weil Frauen/Schwarze der Emotion nah seien, liege ihnen Vernunft fern. Die Rede, dass Frauen oder Schwarze das kleinere Gehirn hätten und dass dies auf mindere Intelligenz schließen lasse, ist gar nicht so ferne Vergangenheit. Mir wurde dieses Wissen noch in den frühen 1980er Jahren im Biologie-Unterricht ins Gehirn gekippt und auf dem Schulhof von Jungen «aufs Butterbrot» geschmiert. Bei dem Autor der Kritik der reinen Vernunft klingt das mit Blick auf Frauen in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen so: «Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist vielmehr der Mensch und unter den Menschen der Mann. Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln sondern Empfinden.» (53) Ähnliches sagt er in diesem Text über Schwarze: «… kurz um, dieser Kerl war vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das[,] was er sagte, dumm war.» (106‑107)

Eine erschreckende Logik: Körperliche Eigenschaften werden als Träger von (fehlendem) Verstand, Vernunft und Kultur konstruiert, wobei postuliert wurde: je weniger Verstand, desto mehr Natur und weniger Mensch. Hier kommt es zu einer Entmenschlichung. Diese kann sich bis zur Dingwerdung (z.B. Frau als Objekt) oder aber Animalisierung (etwa von Schwarzen) auswachsen und dient dazu, den betreffenden Menschen das Menschsein und die entsprechenden Rechte und Privilegien abzusprechen.

Dieses Über- und Unterlegenheitsparadigma geht in einer gewissen Paradoxie sogar zu der These über, dass Frau zwar Körperlichkeit repräsentiere – ihre Körperlichkeit jedoch letztlich dennoch der des Mannes unterlegen sei. Körperlichkeit von Frauen* und (allen) People of Colour sei an Emotionalität gebunden, was nichts anderes meine, als dass sie bar jeder Vernunft seien. Denn schließlich sei der Körper der Frau im Vergleich schwächer, kleiner und langsamer als der des Mannes und bedürfe daher seines Schutzes, den sie durch Schönheit (hier geht es um körperliche Attraktivität, die Zierlichkeit einschließt, und dabei gleichsam aporetisch um die Körper gewordene Akzeptanz ihrer Unterlegenheit) zu erlangen mag. Das rundet sich insgesamt darin ab, dass weiße Männer in jeder Beziehung (vom Verstand wie vom Körper her) der Inbegriff von Kraft, Stärke, Größe, kurzum Überlegenheit seien (die körperliche Stärke von Männern of Colour wird hingegen als bedrohlich erzählt, weil die Erzählung der Schutzbedürftigkeit auf den Verstand rekurrierte und dieser allen People of Colour abgesprochen wird).[13]

Weil aber (weiße) Männer «von der Natur aus» allen «Anderen» überlegen seien, wären sie ebenso befähigt wie befugt, ja beauftragt, alle «Anderen» zu «beschützen» – also zu zähmen und zu bevormunden. Somit sei der weiße Mann dazu auserkoren, in öffentlichen Positionen, die Beherrschtheit erfordern (schon das Wort verortet diese Befähigung als Metier des weißen Mannes), politische Verantwortung zu übernehmen und den öffentlichen Raum allein zu gestalten. Mit Blick auf People of Colour werden so die europäische Versklavung von Afrikaner*innen und Kolonialismus legitimiert, hinsichtlich von Frauen* meint dies männliche Vormundschaft, die durch patriarchalische Herrschaft und deren Etablierung männlicher Vorherrschaft getragen wird. Die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit generiert also das Wissen, das Männer* ermächtigt und herrschen lässt.

Letztlich gibt es Frauen und Männer weder biologisch gesehen noch in der darauf aufbauenden mentalen Zuschreibung und schon gar nicht starr in der klassischen antithetischen Setzung Mann versus Frau. Geschlechter sind ein biologisches Kontinuum, in denen Trans*- und Inter*personen kein Versehen, sondern eine Normalität sind. Manche Frau* hat kleinere Brüste als ein Mann*, und Frauen* leben ohne Uterus, so wie Männer* ohne Penis und/oder Hoden leben. Doch obgleich das zweigeschlechtliche MannundFrau-Modell ein biologisches Konstrukt ist, ist die binäre Unterteilung in Mann versus Frau bzw. Männlichkeit versus Fraulichkeit ökonomisch, politisch und juristisch ebenso praktisch wie praktikabel; und indem diesem Modell der Zweigeschlechtlichkeit aus Macht- und Herrschaftskontexten heraus ideologisch ebenso wie juristisch, politisch und ökonomisch Bedeutung eingeräumt wurde, erhielt es diese auch.

So wird aus Geschlecht als Epistemologie, als erlerntem Wissen, eine Ontologie: ein Sein, das Ideen und Wissen setzt und verfestigt, um Normalitäten zu generieren und Moralitäten zu manipulieren. Eine Ideologie also, die Kollektive und Individuen verortet und bewertet, um Handlungsspielräume und entsprechende Handlungen zu ermöglichen, zu begrenzen oder zu bestrafen – und somit insgesamt im Sinne der eigenen Ideologie zu normieren. Auf diese Weise präsentiert Sexismus ein ideologisch verfestigtes Wissen darüber, wie Geschlechterordnungen funktionieren sollten, weil sie so und nicht anders funktioniert haben. Zwar gibt es nicht nur biologisch, sondern auch sozial eine Geschlechterpluralität jenseits von zwei (oder neu: drei) Geschlechtern. Doch diese wird gebändigt und in das Korsett der normierenden Zweigeschlechtlichkeit gepresst (das durch die «Divers»-Option bisher nicht in Frage gestellt wird). Alternative Modelle werden dabei unterdrückt und sanktioniert.

Ebendeswegen ist die Zweigeschlechtlichkeit samt ihrer Heteronormativität zwar ein biologisches Konstrukt; jedoch insofern auch eine Realität, als sie Menschen im Differenzsystem Mann versus Frau verortet. Differenz geht dabei in sozialer Ungleichheit auf. So werden soziale Positionen geprägt, auf die Identitäten eine mögliche Antwort sind. Vor diesem Hintergrund bezeichnet die US-amerikanische Juristin Catherine MacKinnon Differenz als «Samthandschuh», der die «eiserne Faust der Herrschaft» tarnt.[14] So wie Zweigeschlechtlichkeit als Samthandschuh des Patriarchats erscheint, ist sie auch das Elixier der Macht, die getarnte Faust, die den Sexismus ebenso bedingt wie braucht.

1.2. Sexismus, Macht und die Herrschaft des Patriarchats

Wissen ist immer machtkodiert; dies umso mehr, wenn es sich zu einer Ideologie verdichtet. Je ideologisierter Wissen ist, umso mehr schützt es die Macht und Herrschaft, von der sie mit Mitteln der Gewalt getragen wird. Dabei befinden sich auch Macht, Herrschaft und Gewalt in einem dynamischen Verhältnis wechselseitiger Aushandlung und Stärkung. Das klingt nach abstrakten Prozessen – und um diese geht es in diesem Kapitel. Jedoch sind diese überaus relevant, für jede einzelne Person, die je lebte und leben wird. Macht und Herrschaft wirken sehr individuell und spezifisch in jedes Leben hinein.

1.2.1. Über die Wechselwirkung von Macht, Herrschaft und Gewalt

Macht, Herrschaft und Gewalt kommen zusammen, weil sie einander bedingen und prägen, gegenseitig stärken und/oder schwächen können. Doch gleichzeitig können sie eigenständig und unabhängig voneinander wirken.[15] Das Verhältnis von Macht, Gewalt und Herrschaft diskutiert Hannah Arendt in Macht und Gewalt (1970). Ihr zufolge entspricht Macht «der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.»[16] Das sei Aushandlungsprozessen unterworfen, die weder statisch-stabil noch unendlich unantastbar seien. Das klingt dynamischer und demokratischer als es ist. Jedenfalls, was den Sexismus angeht: Männer* und Frauen* werden in die Machtverhältnisse hineingeboren, die durch das «Geschlecht» bestimmt sind. Wer auf Homers Olymp, also dem metaphorischen Wohnort der Gött*innen, geboren wird, lebt in den Machtmöglichkeiten, die er offeriert. Und si*er tut es auf Kosten derer, die den Olymp tragen, ohne eine gleichberechtigte Teilhabe zu haben.[17] Machtgefüge existieren zwar durch individuelle Handlungen und Entscheidungen, doch entziehen sie sich diesen auch. «In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert»,[18] schreibt Michel Foucault. Machtstrukturen sind eine Maschinerie, weil sie durch Gesetze, Wissen und Moral unterfüttert werden und institutionell und strukturell verankert sind. Das ist eine sehr stabile Ordnung. Die Macht der Zweigeschlechtlichkeit ist stabil, weil jene, die durch sie ermächtigt und privilegiert werden, Männer* also, diese Räume männlich* halten – und zwar in Berufung darauf, dass es schon immer so war. Die Legitimität von Macht, schreibt Hannah Arendt, «beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit.»[19] Innerhalb von Machtstrukturen kann es Veränderungen geben, aber die Struktur als solche bleibt bestehen. Davon zeugen etwa jene Revolutionen, die Monarchien ablösten. Zwar wurde die Macht der Aristokratie durch die des Bürgertums ersetzt, das Prinzip «Macht durch Klasse» blieb aber ebenso erhalten wie das Prinzip «Macht durch Zweigeschlechtlichkeit».

Macht ist dynamisch, weil es verschiedene Machtstränge gibt, die sich überlagern und dabei wechselseitig verstärken oder schwächen können. Geschlechtsspezifische Machtstrukturen interagieren mit denen von Sexualität, Klasse, Nation, Religion, Alter, Gesundheit oder Rassismus. Das wirkt sich nicht auf die jeweilige Machtebene an sich aus, wohl aber auf die Konstellationen und Kombinationen, die sich für Kollektive und deren Individuen daraus ergeben.

Ich saß vor einiger Zeit in einem Café, als ein Roma musizierte und um Spenden dafür bat. In diesem Moment kam ein Verkäufer einer Obdachlosenzeitung ins Lokal und vertrieb den Musiker mit der Begründung, dass er hier nichts zu suchen habe. Denn er, der Obdachlose, sei weiß. Das hat der ca. 55-jährige Mann* so gesagt: «Ich bin weiß und du nicht!» Zwei durch Armut fragmentierte Männlichkeiten* stehen sich gegenüber, und Weißsein wird zur Trumpfkarte, welche die eine Männlichkeit* über die andere erheben sollte. Es funktionierte. Der Roma-Musiker verließ das Lokal. Männlichkeit* ist also insofern eine dynamische Machtkategorie, als es divergierende Facetten von ihr gibt.

Je mehr Strukturkategorien eine Person vom Zugang zur Macht ausschließen, desto schwächer und fragiler ist deren soziale Position – das ist es, was Kimberlé Crenshaw mit «Intersektionalität» meint.[20] Andersherum gilt, je mehr Strukturkategorien eine Person als überlegenes Subjekt der Norm/alität positionieren, umso stabiler und nachhaltiger ist die Macht. Als Frau* habe ich niemals Macht, weil ich eine Frau* bin, sondern obwohl. Ich kann aber Macht haben, weil ich weiß und Professorin bin und einen deutschen Pass besitze. Aber ein weißer heterosexueller Professor mit einem deutschen Pass hat (systemisch gesehen) mehr Macht als ich. In verschiedenen sozialen Konstellationen sind unterschiedliche Machtkonstellationen wichtiger als andere. Weiße Männer* mit einem deutschen Pass stehen in dieser Skalierung gut da, Schwarze Frauen* werden in allen Hierarchien immer und von allen nach unten gedrückt. Es gibt zwar Machtkategorien wie Alter oder Gesundheit, die im Laufe desselben Lebens erst Macht verleihen und dann verweigern können (oder umgekehrt). Bei vielen gibt es auch Handlungsspielräume und die Möglichkeit aktiver Gestaltung (Religion). Es gibt aber auch Machtstrukturen, die von Einzelnen in ihrer Lebenszeit kaum (Nation, Geschlecht) bis gar nicht verändert werden. Zu Letzteren zählen die des Rassismus und Sexismus.

Im Kontext dieser Komplexitäten kommt es dann auch zu einer Skalierung von Männlichkeiten*: Manche gelten als gleicher, als männlicher* als andere. Schwarze Männer* (durch Rassismus), aber eben auch homosexuelle, inter*sexuelle und trans*geschlechtliche Personen (durch Sexismus) bleiben aus dem Inner Circle der Männlichkeit* ausgegrenzt. «Männer* halten männliche* Räume männlich*» muss daher genau genommen heißen «weiße heterosexuelle Männer* halten Räume männlich*, weiß und heterosexuell», wobei letztere Ausgrenzung in den letzten Dekaden (von weißen schwulen Männern*) im Kontext westlicher Gesellschaften mehr und mehr ausgebremst wird. Spitzenpolitiker wie Guido Westerwelle, Klaus Wowereit und Jens Spahn stehen in der Öffentlichkeit und machen Karriere, das wäre noch in den 1980er Jahren kaum möglich gewesen – und doch bleibt Homosexualität bei ihnen und anderen ebenso Thema wie Hindernis.

Macht erzeugt Herrschaft und die Gewalt, samt der Strukturen, Institutionen und Ideologien, die es ermöglichen, diese Herrschaft auszuüben. Herrschaft etabliert sich prinzipiell nicht gegen, sondern mit Macht; und umgekehrt wird Macht keine Herrschaft errichten, die sich gegen ihre Interessen richtet. Herrschaft kann sich nur aus Machtstrukturen heraus etablieren und wird dabei so entworfen, dass sie diese reproduziert.

Dafür benötigt Herrschaft wiederum Instrumentarien der Gewalt. Auch Gewalt kann nur mit der Macht, nicht aber gegen diese (jedenfalls nicht, solange sie stark ist) geschaffen werden. Gewalt ist «gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen», schreibt Hannah Arendt in Macht und Gewalt. Aber zugleich gilt: «Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist … Gewalt kann Macht vernichten» (57). Doch da Gewalt keine Macht entstehen lassen könne, hänge in diesem Kreislauf schließlich dennoch alles «von der Macht ab …, die hinter der Gewalt steht» (50), und nicht umgekehrt, schreibt Arendt. Physische (Waffen)Gewalt ist nur eine Art von Instrumentarium, aber eine entscheidende, vor allem in Monarchien, totalitären Regimen und Diktaturen. Es gibt auch ein Gewaltmonopol, das auf der Legislative und der Exekutive aufbaut. Gemeint sind hier etwa die Gesetzgebung und deren staatliche Umsetzung, wobei Gesetze wiederum herrschende Wissenssysteme und Moralvorstellungen ebenso prägen, wie sie auf diese reagieren. Es sind Machtstrukturen, die maßgeblich darüber entscheiden, wer warum Gesetze formulieren kann, schreibt Arendt (42). Durch solche und andere Instrumentarien wird die jeweils dominierende Machtstruktur durch Herrschaft gestützt. Andere Machtstrukturen aber enden nicht zwangsläufig. Sie bleiben bestehen, warten, wirken.

Die Macht weißer heterosexueller Männlichkeit* ist es, die Herrschaft in Europa über Jahrhunderte hinweg prägte. Um es genauer zu sagen: Die Geschlechter-Macht weißer heterosexueller Männlichkeit* errichtete ihren Palast patriarchalischer Herrschaft. Das heißt aber nicht, dass das die einzige Herrschaftsform oder Machtkonstellation war, die Europa je sah. Verschiedene Herrschaftsformen und multiple Machtstrukturen können mit- und nebeneinander bestehen und in verschiedenen Zeiten und Räumen verschieden stark wirken. Der Nationalsozialismus und die Apartheid stützten ihre diktatorische Herrschaft auf das Machtprinzip von Rassismus/‹Rasse›, der Kommunismus auf das von Klasse. In allen diesen Systemen aber wirkte auch die patriarchalische Herrschaft und die Macht des Mannes*. Ein konkreter Herrschaftskontext kann also verschiedene Herrschaftsformen integrieren und auch mehr als nur einer Machtachse entspringen, vorausgesetzt, sie sind kompatibel und stark genug, sich durchzusetzen.[21] So haben etwa Rassismus und Sexismus im Nationalsozialismus Herrschaft maßgeblich konstitutiert. Zwar wird dies seit 1945 zunehmend juristisch unterbunden, Macht aber haben Sexismus und Rassismus immer noch; und sie könnten auch wieder vordergründiger in Herrschaft und ihren Instrumentarien wie Gesetzen und Verboten auftrumpfen. Heute ist das angesichts des hohen Zulaufs zum Rassemblement National, FPÖ oder AfD erschreckend virulent.

Wie Macht und Herrschaft im Kontext des Sexismus interagieren, möchte ich anhand einer Szene aus der TV-Serie Game of Thrones zeigen – denn George R. R. Martins A Song of Ice and Fire (1996 bis bisher 2011) und die darauf aufbauende Serie sind ein Lehrstück darüber, wie Macht und Herrschaft im Wechselspiel funktionieren; und wie im ewigen Kampf darum die Welt zugrunde gerichtet wird. In «The North Remembers» (Staffel 2, Episode 1, 2012) erteilt Cersei Lannister, die aus einer der reichsten und mächtigsten Familien der fiktiven Welt stammt und zu diesem Zeitpunkt mit dem König verheiratet ist, Lord Petyr Baelish, der sich aus ärmlichen Verhältnissen bis in den Kleinen Rat des Königs emporarbeitete, eine Lektion in Sachen Macht. Baelishs Erfolgsrezept ist es, aus Wissen Kapital zu schlagen. Auch gegenüber Cersei versucht er es. Er will sie als Mutter diskreditieren und mit seinem Wissen erpressen, dass ihre Kinder nicht vom König, sondern ihrem Zwillingsbruder stammen. Knowledge is power sagt er, Wissen ist Macht, wohl nicht zuletzt in Anlehnung an das gleichlautende bekannte geflügelte Wort. Cersei befiehlt den sie begleitenden bewaffneten Wachen, Littlefinger, wie Baelish auch genannt wird, zu erfassen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Kurz bevor dies jedoch tatsächlich geschieht, sagt sie «Stopp!» und gebietet den Wachen, zurückzutreten, sich umzudrehen, die Augen zu schließen, gesichtslos zu werden. Ziel ihrer Machtdemonstration: Power is power, Macht ist Macht.

Letztlich aber geht es hier gar nicht allein um Macht, sondern um das Wechselspiel von Macht und Herrschaft – wobei ins Gewicht fällt, dass das englische Wort «power» nicht die gleiche strenge Abgrenzung zu «Herrschaft» («rule»/«dominion») zieht wie das deutsche Wort «Macht». Cersei entscheidet das Duell mit Littlefinger für sich – jedoch nicht als Mutter und obwohl sie als Frau* keine Macht (gegenüber Littlefinger) innehat. Wäre Littlefinger König, hätte Cersei keine Chance gegen ihn; käme er aus einer adligen Famlie, hätte sie es schwer. Doch weil Cersei auf der Ebene von Klasse/soziale Schicht/Reichtum gegenüber Littlefinger in einer Machtposition ist und weil sie deswegen Frau des Königs werden konnte, hat sie (trotz ihrer fehlenden Machtposition als Frau*) auch Zugang zu Herrschaft. Als Königin kann sie ebendiese soziale Position benutzen, um in dieser konkreten Situation Herrschaft über einen Mann* auszuüben.

Nach Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft (1922) setzt Herrschaft Gehorsam bzw. die Möglichkeit und Erwartung voraus, dass einem Befehl Folge geleistet wird. Cersei kann dies erwarten, weil ihr Mann Herrscher über die Sieben Königslande ist. Diese Herrschaftsposition ist jedoch nur eine mittelbare, patrilinear vermittelt über Ehe und Mutterschaft: zunächst über den König, später ihren Sohn. Zur Herrscherin der Sieben Königslande wird Cercei erst dann (eigenständig), nachdem alle Männer tot sind (woran sie aktiven Anteil hat).

In der Begegnung mit Littlefinger ist Cerseis Herrschaftsstatus als Königin entscheidender als das Machtsystem «Geschlecht». Als sie später in «Mother’s Mercy» (Staffel 5, Episode 10, 2015) von dem religiösen Anführer «High Sparrow» (den sie in ihrer Funktion als Königin selbst als gleichberechtigt zur Krone mit Herrschaft ausgestattet hat) für Inzest bestraft wird, erfolgt die Bestrafung ihrer sozialen Position als Frau (und nicht dem Herrscherinnenstatus als Königin) angepasst: Sie muss sich (bedroht von kirchlicher Gewalt) einem «Walk of Shame» unterziehen, bei dem sie nackt durch King’s Landing getrieben wird. Menschen jedes Standes dürfen sie demütigen, und Männer* jedes Standes schleudern ihr sexistische Vokabeln und übergriffige Fantasien ins Gesicht. Das dürfen sie, weil die neue Gesetzeslage diese Bestrafung unterstützt. So weiß eben der machttheoretisch reflektierteste Berater des Königs, Lord Varys: «Manche sagen, Wissen ist Macht. Andere leiten sie aus Gesetzen her.»[22]

Dieses Beispiel zeigt, dass Macht, Herrschaft und Gewalt unabhängig voneinander bestehen und sich dabei verbinden können. Es veranschaulicht zudem, dass verschiedene Herrschaftsformen koexistieren oder konkurrieren können. In dem gegebenen Beispiel kooperiert die kirchliche Herrschaft des High Sparrows mit der des Patriarchats, während sie gemeinsam die weltliche Monarchie Cersei Lennisters unterwandern. Dass die Herrschaft der Kirche sich hier der patriarchalischen Herrschaft bedient, um zu strafen, steht beispielhaft dafür, dass das Patriarchat sich parasitär wie eine Zecke in gesellschaftliche Ordnungen und ihre Herrschaftssysteme eingenistet hat. Es ist nicht eine Frage des Ob, sondern nur des «wie tief».

1.2.2. Patriarchalische Herrschaft: Mythos und Politik