»Ich hab noch nie auf einer ruhigen Insel gelebt« - Julia Schuler - E-Book

»Ich hab noch nie auf einer ruhigen Insel gelebt« E-Book

Julia Schüler

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Beschreibung

In »›Ich hab noch nie auf einer ruhigen Insel gelebt‹« werden die Ergebnisse einer Gruppendiskussionsstudie von 2020 vorgestellt, die vielschichtige Einblicke in den Alltag einer dynamischen Metropole bieten. Aktuelle Konflikte in einer diversen Stadtgesellschaft und die Präsenz einer wechselvollen Geschichte werden von den Autorinnen und Autoren beschrieben.

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DER BERLIN-MONITOR

„Ich hab noch nie auf einer ruhigen Insel gelebt“

Berlin als Interaktions- und Konfliktraum in den Gruppendiskussionen des Berlin-Monitors

Oliver Decker • Charlotte Höcker • Julia Schuler (Hrsg.)

Der Berlin-Monitor ist ein seit 2019 von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung gefördertes Forschungsprojekt, durchgeführt in Kooperation der Universität Leipzig und der Hochschule Magdeburg-Stendal.

www.berlin-monitor.de

© 2022 zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe, zuklampen.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Herausgegeben von Oliver Decker, Charlotte Höcker und Julia Schuler (Universität Leipzig / Sigmund-Freud-Universität Berlin)

Herausgeber und Herausgeberin der Studienreihe Berlin-Monitor: Oliver Decker (Leipzig / Berlin), Katrin Reimer-Gordinskaya (Magdeburg / Stendal), Gert Pickel (Leipzig)

Mitarbeit: Kazim Celik, Nabila Essongri, Natalie Gittner, Franka Grella-Schmidt, Kim Hesch, Henriette Rodemerk (Universität Leipzig) und Selana Tzschiesche (Hochschule Magdeburg-Stendal)

Lektorat: Tilman Meckel

Korrektorat: Ute Rosner

Gestaltung und Satz: Uta-Beate Mutz, Leipzig

E-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-86674-966-5

Inhaltsverzeichnis

1 Berlin verstehenEinleitung in die Ergebnisse der Gruppendiskussionsstudie im Rahmen des Berlin-Monitors Charlotte Höcker, Julia Schuler und Oliver Decker

1.1Zur Erhebungsmethode

1.2Zur Auswertungsmethode

1.3Kritische Stadtforschung: Der Berlin-Monitor als kritische Sozialforschung

1.4Projektion und Containing – Raum als Grenzregion von Individuum und Gesellschaft

1.5Kritische Wissenschaft als Gesellschafts- und WissenschaftskritikLiteratur

2 „Und da bin ich auch nie wieder weggegangen“Die Stadt als Ort der Hoffnung und Herausforderung Selana Tzschiesche, Charlotte Höcker, Henriette Rodemerk und Julia Schuler

2.1Stadt der Heimatlosen – Stadt der Vielen?

2.2Zwischen „Spaßclub“ und „Kollaps“ – Raum für Ambivalenzen in den Berlin-Erzählungen?

2.3Berlin-Hype?Literatur

3 „Die Mauer war gut für die Westberliner“Historisches Erbe und seine Nachwirkungen in Berlin Natalie Gittner und Oliver Decker

3.1Einleitung

3.2Theoretische Überlegungen

3.3Nationalsozialistisches Erbe und der Wunsch nach dem Schlussstrich

3.4Ummauerte Zufluchtsorte – das geteilte Berlin

3.5Gewinn, Verlust und Entgrenzung – Hauptstadt Berlin

3.6Ein ambivalenter Schutzraum? Migrantische und jüdische Perspektiven auf 1989/1990

3.7Gegenwärtige Perspektiven: Die Insel Berlin im rechten Osten?

3.8FazitLiteratur

4 „Das geht alles am Volk vorbei“Motive und Widersprüche in plebiszitären Forderungen Julia Schuler, Henriette Rodemerk, Kazim Celik und Kim Hesch

4.1Partizipationswünsche und Demokratiedebatte

4.2Autoritäre Revolte und völkische Fantasie

4.3Nicht-Repräsentation

Literatur

5 „Ausländer bin ich, aber Berliner seit dem ersten Tag“Migration, Zugehörigkeit und Anerkennung Kazim Celik, Nabila Essongri, Julia Schuler und Franka Grella-Schmidt

5.1Einleitung

5.2Miteinander, gegeneinander oder nebeneinanderher – ein Blick auf das migrantische Berlin

5.3Die alltägliche Erfahrung von Diffamierung und verweigerter Anerkennung

5.4Strategien im Umgang mit Stigmatisierung und Diffamierung

5.5FazitLiteratur

6 „Auf Sparflamme wird das gerettet“Berlin als Stadt der Emanzipation? Charlotte Höcker, Nabila Essongri, Henriette Rodemerk und Oliver Decker

6.1Berlin als Stadt der Emanzipation

6.2Brüche im Idealbild

6.3Präsenz im öffentlichen Raum, Grenzen der Emanzipation, bedrohliche Ohnmacht: Elemente einer tiefenhermeneutischen Interpretation

6.4FazitLiteratur

7 „Mein Wunsch, dass ich da mehr lerne, andre mehr lernen und dass wir dem einfach kontern können“Kontinuität des Antisemitismus und (ausbleibende) Reaktionen Julia Schuler, Selana Tzschiesche, Kim Hesch und Oliver Decker

7.1Zwischen Kontinuität und Nachgeschichte

7.2Versteckt-offene Feindlichkeiten in Verschwörungsglauben, tradiertem Antisemitismus und autoritären Ressentiments

7.3Antisemitismus aus Betroffenenperspektive

7.4Antisemitismus in der postnationalsozialistischen Gesellschaft

7.5FazitLiteratur

Charlotte Höcker, Julia Schuler und Oliver Decker

1 Berlin verstehen

Einleitung in die Ergebnisse der Gruppendiskussionsstudie im Rahmen des Berlin-Monitors

Im Rahmen des Berlin-Monitors werden Diskriminierungserfahrungen und antidemokratische Dynamiken in Berlin mit verschiedenen Zugängen und aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Neben den fragebogengestützten Repräsentativerhebungen wurden aktivierende Befragungen und Gruppendiskussionen durchgeführt (Pickel et al., 2019; Reimer-Gordinskaya et al., 2020) und somit methodische Ansätze der quantitativen und qualitativen Sozialforschung kombiniert. Mithilfe von quantitativen Methoden können die Verbreitung, Stärke und die Zusammenhänge von politischen Faktoren auf Basis von statistischen Kenndaten untersucht werden; qualitative Methoden zielen dagegen auf die soziale Funktion und Bedeutung politischer Ereignisse oder erfassen die soziale Dynamik in Gruppen. In dem vorliegenden Band werden die Ergebnisse der dritten Säule des Berlin-Monitors vorgestellt: die tiefenhermeneutischen Analysen der Gruppendiskussionen mit Menschen, die in Berlin leben. Dieses Kapitel dient dazu, die Erhebungsmethode Gruppendiskussion und daran anschließend unser Vorgehen bei der Auswertung darzustellen.

1.1 Zur Erhebungsmethode

Gruppendiskussionsstudie als Erhebungsmethode

In der Sozialforschung werden Gruppendiskussionen eingesetzt, um geteilte Einstellungen und Orientierungen zu erheben. Es stehen also anders als bei Fragebogenuntersuchungen oder Einzelinterviews nicht individuelle, sondern kollektiv geteilte Erfahrungen und deren Bedeutung im Fokus. Gruppendiskussionen sind eine Erhebungsmethode, für die mehrere Personen zu einem gemeinsamen Gespräch eingeladen werden. Das können Angehörige einer tatsächlich existierenden Gruppe sein (z. B. von Vereinen, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen) oder Gruppen, die nur für diesen Anlass zusammengestellt werden. Die Gruppensituation ist stärker an eine alltägliche Kommunikationssituation angenähert, als es zum Beispiel Fragebögen sind. Anders als im Rahmen von quantitativen Befragungen zu Einstellungen haben die Teilnehmenden einer Gruppendiskussion die Möglichkeit, auch über nicht verfestigte Einstellungen in den Austausch zu treten (Decker et al., 2008). Dies ist insofern relevant, da Einstellungen und Sinnzuschreibungen häufig „erst während der Auseinandersetzung mit anderen Menschen deutlich“ werden (Pollock, 1955, S. 32). Weiterhin können sich individuelle und geteilte Sinnzusammenhänge in standardisierten Erhebungen nicht entfalten. In repräsentativen Erhebungen etwa werden Fragen gestellt, auf die die Probanden antworten – über die angebotenen Antwortkategorien (etwa von „Stimme voll und ganz zu“ bis „Lehne voll und ganz ab“) hinaus können sie sich nicht äußern. Ganz anders sieht es bei den Diskussionen in Gruppen aus: „Wir bekommen in einer Gruppendiskussion auch Antworten auf Fragen, die wir nicht gestellt haben“ (Decker et al., 2008, S. 30).

Zentral für den Ansatz der Gruppendiskussionen ist die Annahme geteilter, sogenannter „konjunktiver Erfahrungsräume“ des Soziologen Karl Mannheim (1980 [1922 – 1925]). Gemeint ist damit, dass Teilnehmende einer Diskussionsrunde durch gemeinsame Erfahrungen miteinander verbunden sind, auch wenn sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten. Diese Erfahrungen aktualisieren sich im Rahmen der Diskussion und werden somit zur Basis für das gemeinsame Gespräch. Dadurch lässt sich ein Zugang zu den in ihrem Leben geteilten Bedingungen und Bedeutungen gewinnen und die Frage beantworten, welche individuellen und kollektiv geteilten Bewältigungsmuster für diese sozialen Bedingungen existieren (Decker et al., 2008).

Eingeführt wurden Gruppendiskussion als Methode der empirischen Sozialforschung im deutschsprachigen Raum durch die Untersuchungen der aus dem Exil zurückgekehrten Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Im postnationalsozialistischen Deutschland setzten sie Gruppendiskussionen ein, um die Orientierungsmuster der Deutschen zu untersuchen (Pollock, 1955; Mangold, 1960). Schon bei diesen Studien setzte das Vorgehen nicht voraus, dass sich die Teilnehmenden einer Diskussionsgruppe vorab kennen. Vielmehr zeigen sich in der Gesprächssituation, welche Erfahrungen geteilt werden und wie das Verhältnis von Einzelnen, auch mehreren Menschen, und Gesellschaft verstanden werden kann. Während quantitative Erhebungen in der Regel Zusammenhänge erklären, also bekannte Erklärungsmodelle überprüfen, zielt das qualitative Verfahren auf das Verstehen des Verhaltens und Erlebens von Menschen (zu Fragen der Verallgemeinerbarkeit und Gültigkeitsüberprüfung vgl. Decker et al., 2008; Decker, 2018).

Ablauf der Gruppendiskussionsstudie im Rahmen des Berlin-Monitors

Für die Gruppendiskussionsstudie im Rahmen des Berlin-Monitors wurden die Teilnehmenden aus der Stichprobe der Berlinerinnen und Berliner ausgewählt, welche an unserer Repräsentativerhebung 2019 teilgenommen und sich einverstanden erklärt hatten, an der Studie weiter mitzuwirken. Für diese weitere Teilnahme wurde eine Aufwandsentschädigung in Aussicht gestellt und gezahlt.1 Dadurch war die Möglichkeit gegeben, Personen auf Grundlage ihrer Antworten im Fragebogen mit Personen zusammenzubringen, welche ähnliche Orientierungen und Erfahrungen berichteten (grafische Darstellung des gesamten Studienablaufs s. Abb. 1). Die möglichen Teilnehmenden wurden vorab telefonisch kontaktiert und bei weiter bestehendem Interesse ein gemeinsamer Termin vereinbart. Als Ort der Durchführung wurde jeweils ein Raum in einem Bezirksrathaus von Berlin reserviert.

Abb. 1: Verlauf der Gruppendiskussionsstudie im Berlin-Monitor: Erhebung, vertikale und horizontale Analyse

Bei der Auswahl der Personen wurden Angaben zu spezifischen Diskriminierungserfahrungen herangezogen, aber es wurden auch Gruppen mit Teilnehmenden gebildet, die Abwertungsbereitschaft gegenüber anderen äußerten (Antisemitismus, Verschwörungsmentalität u. ä.). Die Gruppen wurden hinsichtlich dieser gewählten Merkmale in der Fragebogenuntersuchung einheitlich zusammengestellt. Bei der weiteren Auswertung orientierten wir uns aber dann entsprechend der Forschungslogik an den berichteten Erfahrungen aus den einzelnen Gruppen. Die in den folgenden Kapiteln berichteten Ergebnisse der Gruppendiskussionen wurden wiederum nach anderen inhaltlichen Fokussen ausgewertet. Herangezogen wurden Themen oder Konflikte, die über die verschiedenen Gruppendiskussionen hinweg im Gespräch angesprochen wurden. Aus diesem Grund und wegen der Anonymisierung verzichten wir an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung der einzelnen Gruppendiskussionen.

Durch dieses Vorgehen konnten wir nur eine Auswahl der Berliner Perspektiven, Motive und Erfahrungsräume abbilden. Dennoch ermöglichen die durchgeführten Forschungsinterviews bereits eine Vielzahl an geteilten Erfahrungsräumen und Konflikten zu beleuchten, und es gelingt auch, den Bezug dieser unterschiedlichen Sichtweisen aufeinander herzustellen. Alle Gruppendiskussionen und Interviews fanden von September bis Dezember 2019 statt. Mit der sich ausbreitenden COVID-19-Pandemie wurde die Erhebung zum Jahresbeginn 2020 zunächst unter- und dann abgebrochen. Zu jeder Diskussionsrunde waren jeweils fünf bis acht Personen eingeladen, sodass Diskussionsrunden von zwei bis sechs Teilnehmenden zustande kamen, auch wenn vereinzelt Eingeladene nicht erschienen. Neben insgesamt elf Gruppendiskussionen wurden in zwei Fällen Einzelinterviews durchgeführt, da die weiteren Personen, die zugesagt hatten, nicht erschienen waren.

Zwei Projektmitarbeitende moderierten die 90-minütigen Gruppendiskussionen bzw. Einzelinterviews. Vor Beginn des Gesprächs wurden die Teilnehmenden über Datenschutzvorkehrungen aufgeklärt und ihr Einverständnis über die Teilnahme an der Diskussion und über die Verwendung der erhobenen Daten eingeholt. Anschließend stellten die Projektmitarbeitenden sich selbst sowie das Projekt Berlin-Monitor vor und begannen die Gruppendiskussion. Ziel war es hierbei, eine möglichst natürliche Gesprächssituation herzustellen und somit ein weitgehend selbstläufiges Gespräch zwischen den Teilnehmenden zu ermöglichen. Die Moderation sollte sich auf wenige Rückfragen beschränken, etwa um zur weiteren Erzählung aufzufordern. Um diesen offenen Gesprächsfluss zu ermöglichen, wurde jede Diskussion durch eine offene Erzählaufforderung begonnen – etwa „Wie ist Ihr Leben in Berlin?“. Durch diese thematisch unpräzise Eröffnung sollte ein niedrigschwelliger Einstieg in das Gespräch erleichtert und zugleich Raum für die selbstläufige Rede zwischen den Teilnehmenden gegeben werden. In den meisten Gruppendiskussionen wurde dieses Angebot der sogenannten „Eisbrechersituation“ angenommen, und es entfaltete sich ohne weitere Intervention eine Diskussion. Die Moderierenden beteiligten sich im weiteren Verlauf nur mit konkretisierenden Nachfragen und der Aufforderung zu vertiefendem Erzählen. In den Einzelinterviews waren die Moderierenden stärker eingebunden, weil sich das Gespräch im Dialog entwickelte. Aber auch hier lag der Fokus darauf, die Interviewten möglichst frei über ihr Leben erzählen zu lassen.

Die Gruppendiskussionen wurden mit einem Audiogerät aufgezeichnet und nachfolgend transkribiert und anonymisiert. Zudem wurden im Anschluss an jede Gruppendiskussion Gedankenprotokolle durch die Moderierenden erstellt. Im Zuge der Anonymisierung wurden Namen, Wohnorte, Berufsbezeichnungen und Altersangaben verändert, um die Zuordnung und Wiedererkennung einzelner Teilnehmender für Außenstehende zu verhindern. Nicht eindeutig in der Audioaufnahme zuordenbare Sprechende wurden in den Zitaten mit „U“ markiert.

Wie in der quantitativen unterscheiden wir auch in der qualitativ-sinnrekonstruktiven Forschung zwischen Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Beispielsweise können Daten im Rahmen einer qualitativen Studie fragebogengestützt repräsentativ erhoben werden und anschließend die Auswertungen mit Mitteln der Statistik erfolgen, indem die prozentuale Verteilung von Einstellungen beschrieben wird, die Mittelwerte verschiedener Gruppen verglichen werden oder die Stärke von Einflussfaktoren bestimmt wird. Damit die in diesem Buch berichteten Ergebnisse nachvollziehbar sind, ist nicht nur ein Einblick in die Methode der Erhebung wichtig – also die Gruppendiskussionen –, sondern auch, wie diese Gruppendiskussionen im Anschluss ausgewertet wurden. Deshalb widmen wir der Interpretation im Folgenden noch intensivere Aufmerksamkeit.

1.2 Zur Auswertungsmethode

Tiefenhermeneutische Interpretation als Möglichkeit des Fremd- und Selbstverstehens

Die einleitend vorgestellte Unterscheidung von erklärenden und verstehenden Forschungsmethoden geht auf den Psychologen Wilhelm Dilthey (1894) zurück. Seine Beschreibung der Forschungslogiken hilft bis heute, das unterschiedliche Vorgehen zu illustrieren (Decker, 2018): Während quantitativ Forschende von einem meist vorab formulierten Ursache-Wirkung-Zusammenhang ausgehen, den sie im Forschungsprozess überprüfen, haben verstehende Forscher eher einen „Anfangsverdacht“. Sie versuchen aber bei der Interpretation eine offene Haltung einzunehmen (gleichschwebende Aufmerksamkeit, vgl. den Exkurs am Ende dieses Kapitels). Dies schließt nicht aus, dass auch die verstehende Forschung mit Vorannahmen beginnt, aber sie soll durch Irritationen zu neuen Erkenntnissen führen. Weil die Grundlage für diese verstehende Forschung oft Transkripte – also Wortlautprotokolle – von Interviews sind, wird statt von verstehender Forschung auch oft von Hermeneutik gesprochen, der Kunst der Interpretation und der Auslegung von Texten. Als solche hermeneutische Interpretationsmethode wurde von uns die Tiefenhermeneutik gewählt. Damit schließen wir an die Bremer Sozialpsychologen und Sozialforscherinnen um Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg an (Leithäuser & Volmerg, 1988), die als erste die von Alfred Lorenzer entwickelte Tiefenhermeneutik (1995 [1973]) für die Interpretation von Gruppendiskussionen nutzbar machten.

Die tiefenhermeneutische Interpretation bot unserer Forschungsgruppe die Möglichkeit, die Ergebnisse der Repräsentativerhebung und der aktivierenden Befragung um eine neue Dimension zu erweitern. Vor dem Hintergrund einer komplexen Stadtgesellschaft mit vielseitigen Lebensentwürfen werden Alltagserfahrungen erhoben, die nicht nur die Ereignisse selbst berichten, sondern als Erzählungen gleichzeitig mit subjektiven Bedeutungszuschreibungen verbunden sind. Letztere basieren auf Deutungsmustern, die allgemein in unserer Kultur zur Verfügung stehen und aus unterschiedlichen biografischen oder situativen Gründen im jeweiligen Lebenszusammenhang zur individuellen Sinngebung herangezogen werden. Die Fragen, warum und von wem in welcher Situation welches zur Verfügung stehende Deutungsmuster genutzt wird, machen dann die Erzählungen zum Ausgangspunkt eines tieferen Verständnisses aktueller gesellschaftlicher und politischer Debatten. Eine Interpretation wird notwendig, weil im Zusammenhang der Berichte nicht nur die ausdrücklich berichteten, sondern auch die ausgelassenen, nicht erwähnten Elemente bedeutsam sind. Es kommt deshalb auch bei diesem Vorgehen nicht auf die Häufigkeit an, mit der ein Thema erwähnt wird. Ein Thema kann nur einmal Erwähnung finden und trotzdem Dreh- und Angelpunkt für das ganze Gespräch werden.

Das Besondere der Tiefenhermeneutik besteht darin, dass Bedeutungsebenen eröffnet werden, die ansonsten im Bereich des Tabuisierten, Verdrängten oder einfach Unbemerkten liegen. Dieser Bereich wird auch als Latenz bezeichnet, um ihn von der manifesten Ebene, also dem, was ausdrücklich gesagt wurde, abzugrenzen. Kein Text – ob ein Buch, ein Gedicht, eine Bedienungsanleitung oder das gesprochene Wort – liefert alle Informationen, die notwendig sind, um ihn zu verstehen: Er wäre potenziell nie zu Ende. Auch im Alltag setzen das gesprochene Wort, die kontroverse Debatte und selbst das Schweigen bei den Zuhörern oder Lesern eine Interpretationsleistung voraus. Sie alleine ermöglicht die Verständigung oder führt zu Irritationen und Missverständnissen. Eine wissenschaftliche Interpretation versucht, dieses Alltagsverstehen zu systematisieren. Diese Systematisierung muss dabei zweierlei leisten: zum einen die von allen Beteiligten mitgedachten Voraussetzungen offenlegen und zum anderen auch die immer wieder auftretenden Irritationen in diesen Prozess einbeziehen. Letzteres heißt damit ausdrücklich, die Subjektivität der Forschenden zum Erkenntnisinstrument zu machen. Der Erfahrungsraum, die Gesellschaft, wird nicht nur von den Teilnehmenden der Gruppendiskussion geteilt, sondern auch von den Forschenden. Deshalb eröffnet die interpretative Auseinandersetzung nicht nur einen Blick auf individuelle Bedeutung von Lebenserfahrungen, Brüchen oder Konflikten, sondern auch auf die Gesellschaft, in denen die Individuen solche Erfahrungen machen. Damit werden durch die Perspektive der Teilnehmenden auch soziale Konflikte zum Untersuchungsgegenstand.

Um dies zu erreichen, werden in dem interpretativ-hermeneutischen Vorgehen die manifesten und latenten Informationen, die von einem Menschen in einer Gruppendiskussion oder Einzelinterview vorliegen, zunächst getrennt betrachtet und später wieder zusammengeführt. In den Erkenntnisprozess werden dabei neben der Frage, „was“ gesagt wird, auch die Analyse der Bedingungen, in denen etwas gesagt wurde (etwa die Dynamik der Gesprächssituation), sowie die Analyse der Beziehungsebene miteinbezogen. Letztere umfasst sowohl die Beziehungen unter den Teilnehmenden einer Gruppendiskussion als auch die Beziehung der Analysierenden zum Gruppendiskussionsmaterial. Das bedeutet für das Vorgehen, dass auch die eigenen Lebenserfahrungen mit denen der Teilnehmenden kontrastiert und kritisch reflektiert werden müssen (Lorenzer, 2005). Diese Interpretation erfordert einen fortlaufenden Reflexionsprozess.

Tiefenhermeneutische Interpretation im Rahmen des Berlin-Monitors

Die Gruppendiskussionen im Berlin-Monitor wurden im Rahmen von Interpretationsrunden mit vier bis sechs Personen ausgewertet (im Folgenden: Interpretationsgruppen). Innerhalb der Interpretationsgruppen waren Personen unterschiedlichen Geschlechts, Ausbildungsstands, Alters und unterschiedlicher Erfahrung mit der tiefenhermeneutischen Methode vertreten (darunter der Projektleiter, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, assoziierte Promovendinnen, studentische Mitarbeiterinnen und Studierende im Forschungspraktikum). Bei ihrem forschungspraktischen Vorgehen orientierten sich die Interpretationsgruppen zunächst an Elfriede Löchels Vorschlägen zur tiefenhermeneutischen Interpretation. Ihre nicht veröffentlichten „Arbeitsschritte und Interpretationstechniken“ umfassen Leseanweisungen, Vorschläge zur Strukturierung und Interpretation einzelner Textabschnitte und Hinweise zur Benennung und Deutung übergeordneter Motive2 (Löchel, 2005, S. 5). Nachfolgend wird ein typischer Interpretationsprozess der Forschungsgruppe unter Benennung der einzelnen Arbeitsschritte nach Löchel skizziert.

Die Auswertung besteht aus mehreren Schritten und lässt sich in eine vertikale und eine horizontale unterteilen. Während die vertikale dem Sinnverstehen einer einzelnen Gruppendiskussion dient, werden in der horizontalen Auswertung die Ergebnisse verschiedener Interpretationen aufeinander bezogen. So werden die vertikalen einzelnen Interpretationen in der horizontalen Auswertung verglichen und z. B. miteinander kontrastiert. Beide Ebenen haben etwas Kreisendes, das erhobene empirische Material wird jeweils aufs Neue gelesen und betrachtet.

Die vertikale Interpretation beginnt bereits unmittelbar im Anschluss an die Gruppendiskussion, wenn die Interviewenden ein Gedankenprotokollen erstellen, welches formale Aspekte (Sitzordnung), aber auch Eindrücke (z. B. eine kurze Charakterisierung der einzelnen Teilnehmenden) enthält. Die weitere Interpretationsarbeit beginnt dann nach der Transkription. Die Mitglieder der Interpretationsgruppe lesen die verschriftlichte Gruppendiskussion und sammeln zunächst jeder für sich ihre Leseeindrücke und Assoziationen. Bei den ersten Treffen der Interpretationsgruppen werden diese Eindrücke abgeglichen. Bereits an dieser Stelle, beim Gespräch in der Interpretationsgruppe über den manifesten Text, werden unterschiedliche Elemente des latenten Gehalts sichtbar. Die unterschiedlichen Leseverständnisse werden nämlich verstanden als individuelle Leistungen, intuitiv die Auslassungen in den Alltagsberichten zu füllen oder mit Brüchen und Irritationen in der Erzählung umzugehen. Jede Lektüre ist auch eine Interpretation des Gesagten bzw. des geschriebenen Textes. Die so vollzogene Interpretation entspricht der Leistung, die wir in unserem Leben beständig vollbringen und die uns z. B. in Gesprächen einen Bezug aufeinander gestattet. In der wissenschaftlichen Forschung ist es nun die Aufgabe, diese intuitiven Interpretationen zu systematisieren und als reflektierte Methode anzuwenden.

Dabei besteht ein zentraler Unterschied zur quantitativen Methode, die die sinnrekonstruktive Forschung charakterisiert: Unterschiedliche Verständnisse und Eindrücke bei den Mitgliedern der Interpretationsgruppe werden nicht als konkurrierende Interpretationen aufgefasst und dann zugunsten eine „richtigen“ Lesart aufgegeben. Im Gegenteil: Unterschiede werden als mögliche Varianten des Fremdverstehens zugelassen, denn sie geben entweder Auskunft über bestehende Ambivalenzen, die in den berichteten Situationen beim Erzähler bestanden haben, oder verweisen auf die in der Gesellschaft bestehenden, unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten für ein und dieselbe Situation. Im beiden Fällen kommt es dann darauf an herauszuarbeiten, warum und aus welcher Perspektive die jeweils gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Interpretationsmuster bevorzugt werden. Gerade bei Textstellen, die bei der ersten Lektüre unterschiedlich verstanden werden, können zentrale Bedeutungsgehalte erarbeitet werden. So beziehen sich Interpretationen in der sozialpsychologischen Forschung nicht nur auf die latenten individuellen, sondern auch auf die gesellschaftlichen Widersprüche. Dieses Verständnispotenzial wird durch die Tiefenhermeneutik auch für Inhalte eröffnet, die zwar Gegenstand des Gesprächs gewesen sind, die aber entweder gar nicht im manifesten Text auftauchen – also gar nicht ausdrücklich ausgesprochen werden – oder sich nicht in ihm erschöpfen – also angesprochen, aber nicht ausgeführt werden.

Ein weiteres Element dieser zirkulierenden Interpretationsschritte ist es, die Eröffnungsszene der jeweiligen Gruppendiskussion in der Interpretationsgruppe in verteilten Rollen zu lesen. Dadurch wird angeregt, freie Assoziationen zusammenzutragen und sich gruppendynamisch auf den Text einzulassen. Ebenso gehört die Unterteilung des Transkripts in thematisch zusammenhängende Abschnitte dazu. Dieses „Sequenzierung“ genannte Vorgehen bereitet die Auswahl von einzelnen Sequenzen vor, welche ähnlich wie die Lektüre des Beginns der Gruppendiskussion für einen erneuten Zugang zum Sinnverstehen ausgewählt werden.

Während dieses jeweils neu beginnenden und thematisch aber im weiter auf zentrale Motive der Gruppendiskussion fokussierenden Interpretationsvorgangs werden zentrale Sätze aus dem Material ausgewählt, so genannte „Kernsätze“. Diese ermöglichen es, die Diskussionen über wahrgenommene Brüche und Wendepunkte sowie Beziehungsmuster im Text zu strukturieren und in der späteren Ergebnisdarstellung an prägnanten Beispielen die Interpretation nachzuvollziehen.

Die Reflexion von eigenen Reaktionen ist in jedem Arbeitsschritt das zentrale Analyseinstrument, um zu einem Verständnis der Gruppendiskussionen zu gelangen. Bei dieser Rekonstruktion von Bedeutung geht es um die Wahrnehmung von Beziehungsangeboten, die sich aus der emotionalen Reaktion auf die Gruppendiskussion ableiten lassen. Auch die „Wort-für-Wort-Analyse“ bei der Lektüre mit verteilten Rollen dient diesem Nachvollzug. Der letzte vertikale Auswertungsschritt einer Gruppendiskussion besteht im Nachvollzug des gesamten Interpretationsvorgangs in schriftlicher Form (Bereswill et al., 2010; König et al., 2019).

Im Anschluss an diese vertikale Analyse wird die horizontale Analyse vorgenommen. Sie besteht in der Sichtung der Interpretation der einzelnen Gruppendiskussionen, die aufeinander bezogen – entweder kontrastierend oder hinsichtlich von Übereinstimmungen – interpretiert werden. In dieser Kontrastierung der Gruppendiskussionen und Interviews zeigen sich übergreifende Bedeutungszusammenhänge und Themen, aber auch Widersprüche. Für jedes der aus den verschiedenen Gruppendiskussionen ermittelten Themen wird eine eigene Analyse erstellt. In der qualitativen Forschung bezeichnet man diese Analysen als „dichte Beschreibung“ (Geertz, 1983) oder auch „dichte Interpretation“ (König et al., 2019). Hierbei werden die Gruppendiskussion und die Interpretationsdynamik mehr und mehr in ihrem Gesamtzusammenhang besprochen und unter einem Motto zusammengefasst.

Der Interpretationsprozess wurde durch eine externe psychoanalytische Forschungssupervision begleitet. Inhalt der Supervision waren einerseits die Reflektion der Gegenübertragungen und andererseits die Dynamik der Interpretationsgruppen. Schließlich wurden die Interpretationen der einzelnen Gruppendiskussionen durch einen horizontalen Vergleich über die verschiedenen Gruppendiskussionen hinweg erweitert. In regelmäßig stattfindenden Großgruppentreffen wurden die dichten Interpretationen der einzelnen Interpretationsgruppen in Bezug auf übergreifende Motive und Bedeutungen diskutiert.

1.3 Kritische Stadtforschung: Der Berlin-Monitor als kritische Sozialforschung

In unserem Forschungsprojekt werden die Stadt Berlin und ihre Topografie nicht allein als Bühne von Protesten, Konflikten und Gewalt betrachtet, sondern als eine eigene Größe mit in die Analyse aufgenommen – sowohl in ihrer geschichtlichen Bedeutung, die sich in der gegenwärtigen Gesellschaft Geltung verschafft, als auch als Ort der Verdichtung aktueller gesellschaftlicher Widersprüche und zudem in ihrer psychischen Funktion für die in ihr lebenden und handelnden Individuen.

Es mag trivial klingen, wenn man betont, dass städtische Konflikte nur in Städten und nicht in einem Dorf auftreten können. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass Städte Orte besonderer Verdichtung sozialer Konflikte sind: Die dichte Besiedlung der Städte bringt eine „verdichtete Unterschiedlichkeit“ (Lefebvre, 2016) mit sich, die ihren Ausdruck in einem Kampf um Anerkennung oder als Legitimationskrisen findet. Ein Beispiel hierfür sind Gentrifizierungsprozesse (Holm, 2014): Da die Gentrifizierung städtischen Wohnraums nicht nur die Prekarisierung von vielen, sondern auch die Kapitalakkumulation in der Hand von wenigen beinhaltet, werden Städte zu einem prominenten Ort, an dem die Konflikte um die Verteilung des gesamtgesellschaftlich produzierten Reichtums besonders erfahren werden. In Abgrenzung zu Konflikttheorien des 19. Jahrhunderts formulieren Hardt und Negri diese Bedeutung der Stadt im Vergleich zur Fabrik des vorvergangenen Jahrhunderts: Die Stadt, so ihre Position, ist für die politischen Konflikte und die politische Mobilisierung das, „was die Fabrik für die industrielle Arbeiterklasse war“ (Hardt & Negri, 2009, S. 262). Ob es Migrationsbewegungen, Fragen der Anerkennung oder Profitorientierung sind, ob es die Vielfalt von Lebensentwürfen ist oder um andere Formen des Zusammenlebens geht, immer sind Städte die Orte, an denen die Transformationsprozesse der Gegenwart ausgehandelt und erfahren werden. Sie sind derzeit die Austragungsorte sozialer Konflikte, die mit der Veränderung von fordistisch-keynesianischer Wirtschaftspolitik hin zu Deindustrialisierungs- und Neoliberalisierungsprozessen zusammenhängen (Mayer, 2013, S. 157). Selbst wenn urbane Politiken den städtischen Raum als Nachbarschaft, Viertel, Kommune und damit als gestaltbares Politikfeld und Refugium innerhalb globaler kapitalistischer Entwicklungen entwerfen (Harvey & Dinçer, 2016), reichen die Neoliberalisierungsprozesse vielfältig auch in die Lebensbereiche, die als Gegenentwürfe angelegt sind.

Die grundlegenden Umstrukturierungen in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, sozialen Sicherungssystemen und öffentlichem Raum (Brenner et al., 2010) innerhalb der letzten drei Jahrzehnte sind mit verschiedenen Begriffen belegt worden. Sie können hier nicht im Einzelnen entwickelt, aber zumindest erwähnt werden. Die bis zur Pandemie fortschreitende Globalisierung der Produktion und Zirkulation war und ist bis heute verbunden mit einer weitreichenden Digitalisierung vieler Lebensbereiche. Die Effekte dieser Entwicklung wurden als Beschleunigung (Rosa, 2011; Decker & Kiess, 2015), Entgrenzung (Morgenroth, 2005) und als Regression (Nachtwey, 2016) in der Wachstumsgesellschaft (Lessenich, 2014) beschrieben. Ihre Effekte sind gerade mal abzuschätzen, reichen aber mit Sicherheit bis weit in das alltägliche Erleben und die Subjektstruktur hinein (Türcke, 2019). Sie werden nicht an allen Orten gleichermaßen intensiv erfahren: „Weil Städte innerhalb der fordistisch-keynesianischen Produktions- und Reproduktionssysteme eine zentrale Rolle spielten, wurden sie zu den ersten Schauplätzen für zunächst neoliberale Rollback-Strategien.“ (Mayer, 2013, S. 157) Dies hat wiederum jeweils spezifische Konfliktlinien in den städtischen Arenen zur Folge. Weil die sich in der Stadt manifestierenden Konflikte über die gesellschaftlichen Antagonismen im Allgemeinen Auskunft geben, schließt in der Stadtforschung der Begriff der Urbanisierung mittlerweile nicht mehr nur ein abgrenzbares, räumlich zu verortendes Phänomen ein. Er wurde zu einer „generalized, planetary condition in and through which the accumulation of capital, the regulation of political-economic life, the reproduction of everyday social relations and the contestation of the earth an humanity’s possible futures are simultaneously organized and fought out“ (Brenner, 2009, S. 206). Stadtgesellschaften sind Orte verdichteter Differenz und aus ihnen resultierender Konflikte. Kurz: An Städten lassen sich pars pro toto die Konflikte der Gegenwart untersuchen.

Um Missverständnisse auszuschließen, möchten wir betonen, dass kein „Raumfetischismus“ betrieben werden soll, in dem dieser den handelnden Personen scheinbar mit Eigensinn gegenübertritt (Belina & Wehrheim, 2011). Allerdings ist es wichtig, den städtischen Raum als bedeutungsvollen und auch bedeuteten, also von den Akteuren mit einer Bedeutung ausgestatteten Raum zu verstehen. Der städtische Raum ist in seiner geschichtlichen Materialität gleichermaßen ein „Prägestock“ (Mitscherlich, 1965): Er bestimmt die Art und Weise, wie sich Menschen in ihm verhalten, ihn erleben und zueinander in Beziehung treten. Dabei wird er aber gleichzeitig von den Bewohnern in ihrer konkreten Lebenspraxis interpretiert und angeeignet (Decker, 2016), mit eigener sozialer und psychischer Bedeutung ausgestattet. Die Stadt (und ihre Topografie) ist historisch gewordene Gesellschaft und als materialisierte Geschichte nicht nur Träger gegenwärtiger, sondern auch vergangener sozialer und politischer Bedeutung.

Die Stadt spielt damit in der alltäglichen Vergesellschaftung ihrer Bewohner ebenso eine Rolle, wie sie auch die konkreten persönlichen Kontakte mitgestaltet. Die Art und Weise, wie Menschen sich in der Stadt bewegen, ist sowohl Aneignung als auch Aushandlung der vergangenen und gegenwärtigen Stadtgestaltung. In den Wänden, auf den Gehsteigen, Fahrrad- und Autowegen, also in der Art und Weise, wie die städtische Architektur aufgebaut ist, begegnen den Stadtbewohnern nicht nur die Produkte menschlichen Handelns, die Bewohner statten die Stadt und ihre Manifestationen auch mit Sinn aus. Der städtische Ort enthält von Menschen hervorgebrachte Bedeutungen des Zusammenlebens und wird umgekehrt von den Bewohnern mit interpretiert und neu mit Bedeutungen gefüllt. Menschen bringen biografische Erfahrungen in die städtische Infrastruktur mit ein, interpretieren damit gleichzeitig Geschichte in ihrer gegenwärtigen Lebenspraxis. Damit sind nicht nur ästhetische Erfahrungen oder Wissensbestände gemeint, sondern auch immanent körperliche und psychische Bedürfnisse.

Um ein Beispiel zu nennen: Eine öffentliche und frei zugängliche Toilette „bedeutet“ das Bedürfnis der Ausscheidung in anderer Weise als eine gegen Gebühr nutzbare und nach dieser Nutzung restlos durchgespülte Nasszelle in der Fußgängerzone. Entsprechendes gilt z. B. auch für die binnen eines Jahrzehntes fast vollständig aus dem öffentlichen Raum verschwundenen Telefonzellen. Dieser Wechsel verändert die Bedeutung des öffentlichen Raums und zeigt eine Verschiebung im Bedürfnis an. Dieses „management of space by architecture and engineering“ produziert Differenz und Gemeinsamkeit (Figlio & Richards, 2003, S. 412). Durch diese Verdichtung werden direkt psychische Aspekte der Identität und der Intergruppendynamik im städtischen Raum intensiviert.

1.4 Projektion und Containing – Raum als Grenzregion von Individuum und Gesellschaft

Weil er als Ort des Konfliktausdrucks genutzt wird, finden sich im städtischen Raum gleichermaßen Verräumlichungen psychischer und sozialer Bedeutungen. Für die affektive Aufladung von Raum sind insbesondere die von Sigmund Freud und Melanie Klein spezifizierten Mechanismen Projektion, Spaltung und Containing von Bedeutung (vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3.2 und Kapitel 7.4). Alle drei beschreiben innerpsychische Bewältigungsmöglichkeiten, um mit Ängsten, Unsicherheiten oder Belastungen umzugehen. Räume sind in diese Bewältigung eingebunden – sowohl als konkrete Räume als auch als deren imaginierte Bedeutung und in ihrer psychischen Funktion. Am deutlichsten wird diese Bedeutung von Räumen im psychoanalytischen Begriff des Containing sichtbar, der als Metapher selbst auf das Bild eines räumlichen Gefäßes zurückgreift. Das Containing, aber auch die Projektion und die Spaltung beschreiben psychische Vorgänge, gehören eigentlich zur Entwicklungspsychologie des frühen Lebensalters und bezeichnen die frühkindlichen Möglichkeiten, mit belastenden, insbesondere eigenen destruktiven Impulsen umzugehen. Als Spaltung und Projektion werden jene Mechanismen beschrieben, mit denen der Säugling versucht, Wut und Ohnmachtserfahrung dadurch zu begegnen, dass er sie zu von außen kommenden Aggressionen macht. Dieses Ausagieren, wie es die Psychoanalyse nennt, bringt eine Unterscheidung von außen und innen, fremd und eigen mit sich und unterläuft diese Unterscheidung im selben Moment: Das Eigene wird zum Fremden gemacht, weil es dort besser auszuhalten ist. In der Entwicklungspsychologie wird mit Containing der Vorgang beschrieben, in dem in einer gelingenden Beziehung diese Emotionen von der Mutter aufgenommen werden können und stellvertretend für das Kind ausgehalten werden. Kann die Mutter die Aggressionen des Säuglings aufnehmen, aushalten und durch die Zuwendung helfen, diese zu integrieren, dann kann das Kind zwei wichtige Fähigkeiten ausbilden: Das betrifft die Fähigkeit, auch jene Erfahrungen als Teil der eigenen Person wahrzunehmen, die schwer auszuhalten sind, weil sie Angst und Destruktivität vermitteln, und, daran gebunden, die Fähigkeit zur Empathie, der Anerkennung des anderen, die es gestattet, auch sein Erleben nachzuvollziehen.

Spaltung, Projektion und Containing sind mit wichtigen Entwicklungsaufgaben des Kindesalters verbunden, aber diese Mechanismen und die Hilfe bei der Integration von intensiven Erfahrungen der Angst oder Ohnmacht gehören ebenso zum Erwachsenenalter. Auch für Erwachsene besteht die Möglichkeit, sich durch diese Abwehrmechanismen eigener negativer Anteile, also nicht aushaltbarer Erfahrungen oder Ängste, durch Projektion zu entledigen. Die Abwehr durch Abspaltung und Projektion macht einen Ort bzw. eine Gruppe zum Träger des nicht Aushaltbaren. Im Falle des Containments wird zwar auch Eigenes zunächst nach außen verbracht, aber im besten Fall kann eine Beziehung, können aber eben auch soziale Räume (etwa als Ort gemeinschaftlich vollzogener, ritueller Versicherung) eine Integration der destruktiven Elemente ermöglichen. Dabei beschreibt etwa die Autorin Deborah Wright (Wright, 2018), wie die Bedeutungszuschreibung von Räumen sowie deren aktive Gestaltung (etwa in der Architektur, vormals auch etwa in Sakralbauten) diese nicht nur zur Repräsentation von Bedürfnissen machen, sondern auch zur Bewältigung von Angst, Ohnmacht und Aggressionen dienen. Diese Orte können als Produkt menschlicher Tätigkeit auch dann das Containment ermöglichen, wenn sie alleine erfahren werden. Sie sind Architektur gewordene Interaktion.

Räume können also als Möglichkeit verstanden werden, durch ihre projektive Aufladung psychische und soziale Konflikte zu externalisieren, konkret: zu verräumlichen. Auch Orte wie die Lieblingskneipe, der Kiez oder der Bäcker von nebenan können zu Orten der Versorgung und der Erfahrung des Eingebundenseins werden: „a building as a good mother, inside of which all is good and outside of which all is bad“ (Wright, 2018, S. 176). So wird der urbane Raum zu einem ver-sichernden und verbindenden Objekt in der Psyche der Stadtbewohner, weil mit dieser Verräumlichung Ängste gebunden und Konflikte aus unterschiedlichen Quellen aufgehoben werden können. Durch die auf die Stadt bezogenen Fantasien wird der Stadt eine „illusorische Konsistenz“ verliehen, die es ermöglicht, „sich die Stadt vorzustellen, sie zu fühlen und über sie zu sprechen“ (Pohl, 2019, S. 47).

In unserem sozialpsychologischen Forschungsprojekt geht es darum, die Mechanismen zu beschreiben, welche die umfassenden Projektionen mit ihren psychischen und körperlichen Aspekten beinhalten.3 In der Umwelt, in der Interaktion mit anderen Menschen, in der Landschaft oder an Gebäuden wird gestaltet und beeinflusst, was sich innerpsychisch nicht gestalten lässt. Psychische und körperliche Aspekte sind mit eingeschlossen, weil die Projektion es ermöglicht, etwas in der Umwelt, mit Menschen, Landschaften oder Gebäuden zu manipulieren. Gefühle, die nicht ausgehalten werden können, werden in die Beziehung zu anderen Menschen eingebracht. Wichtig ist, dass dieser Vorgang trotz des Blickes auf die Psyche nicht nur eine individuelle, sondern auch eine sozialpsychologische Dimension hat (Wright, 2018, S. 169). Soziale Räume – sowohl als imaginierte Einheit einer Gruppe wie auch als konkrete Räume (z. B. der Stadtteil, das Hausprojekt, die Wache) – dienen der Rückversicherung gegenüber eigenen Unsicherheiten und Ängsten sowie als Rückversicherung einer eigenen psychischen und Identitätsgrenze durch eine verräumlichte äußere Grenze. Der Vorgang, in dem innerpsychische Bedürfnisse Einzelner oder Gruppen verräumlicht werden, schafft einen sozialen Rahmen, eine Matrix. „The unconscious matrix of such a social organism is challenged by the irruption of anything unforeseen. Society establishes a territory, and people tend to treat the unruly as a threat. In the extreme, they are terrified or terrorized, words that share a root with territory.“ (Figlio & Richards, 2003, S. 415)

1.5 Kritische Wissenschaft als Gesellschafts- und Wissenschaftskritik

Zum Abschluss ist es uns als kritischen Sozialforschenden wichtig, auf eine Konsequenz aus unserer Einführung in die Gruppendiskussionsstudie hinzuweisen. Die Erläuterungen galten zum Verständnis der folgenden Auswertungskapitel, aber sie haben für jene noch eine weitere Bedeutung, welche sich gegen einen common sense stellen wollen. Weil die sozialen Institutionen und Räume für alle Gesellschaftsmitglieder eine Schutzfunktion darstellen, wird der Protest gegen sie immer auch ein Angriff auf die Schutz- und Containerfunktion des Sozialen sein. Figlio und Richards weisen in diesem Zusammenhang auf ein Dilemma einer politischen, insbesondere linken Protestbewegung hin. Exemplarisch beschreiben sie ihr Erlebnis der öffentlichen Aktion einer militanten, aber nicht gewalttätigen Tierschutzbewegung: „It tries to make people feel guilty and sad about an unconscious attack on helpless creatures and human beings. […] On the other hand, the force of the irruption is polarizing. […] Society, by its very existence, defends against the unregulated irruption of mutilated and dead objects“ (Figlio & Richards, 2003, S. 416 f.). Politische Handlungen, die sich auf die Widersprüche dieser gesellschaftlichen Matrix beziehen, greifen diese notwendig an und damit auch deren Schutzfunktion. Gleichzeitig sind solche Gruppen selbst auf eine soziale Matrix als Container angewiesen, die genau diese Gruppensituation als imaginäre Wunscherfüllung (Anzieu, 2015) und den Ausschluss des Störenden notwendig macht (Chasseguet-Smirgel, 1987 [1975]). Gerade in Zeiten von Flexibilisierungsimperativen und der Auflösung von traditionellen Bindungen und Rollen ist die Frage relevant, wie sehr auch emanzipative Ziele nicht nur affirmativen Charakter bekommen, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität selbst angreifen – Abgrenzung und Containment der Ohnmacht sind mühsam erworbene Fähigkeiten. Starre Rollen und gesellschaftliche Normen sind Zwangsverhältnisse, ihr Ende aber nicht automatisch der Anfang der freien Entfaltung. Oft genug ist das Ende eine Überforderung – auch für diejenigen, die am meisten unter dem Zwangsverhältnis gelitten haben –, und nicht selten wird dann das Rettende in neuen Gruppennormen gesucht.