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Schnörkellos, direkt und offenherzig schildert Alexander Zelger den Alltag des Leiters der Kriminalpolizei am Polizeipräsidium in Bozen. Tragisches und Komisches, allzu Menschliches und Mörderisches, Erfolgserlebnisse und gefährliche Situationen vermischen sich. Das Leben als leitender Polizist war nur durchzustehen, weil eine starke Ehefrau an seiner Seite stand – die auch unregelmäßige Arbeitszeiten tolerieren musste. Bei der Schilderung einzelner Fälle werden dem Leser sowohl die Ernsthaftigkeit als auch der Humor des Commissario Capo gleichermaßen auffallen. Anders wäre das Erlebte seelisch auch nicht verkraftbar gewesen. Die Unterstützung durch die Familie, aber auch seitens der Kollegen bei der Staatspolizei, die ihm mit der Zeit regelrecht ans Herz wuchsen, waren ausschlaggebend. Immer wieder schimmert Zelgers Gefühlswelt durch, der als leidenschaftlicher Ermittler spektakuläre Kriminalfälle beschreibt. Im Vordergrund dieses Buches steht aber das professionelle Vorgehen bei der Verbrecherjagd, die sich in vielerlei Hinsicht dann doch von Kriminalromanen und Kriminalfilmen unterscheidet. Wer wissen will, was sich – zumindest in Südtirol – vor und hinter den Kulissen der Polizei abspielt, sollte dieses Buch lesen.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch
die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.
Vorwort.
Ich wollte Kommissar werden
Befehl ist Befehl und wie alles losging
Die Hellseherin im Sold des römischen Innenministers
Gesetzlos in der Horizontalen
Vom Liebesleben in Bozen
Im Autobianchi auf der Jagd nach dem Serienkiller
Der Frauenmörder Marco Bergamo
Von Mohnblumen und anderen Blüten
Lieber reich und kriminell als bescheiden und ehrlich
Nur weg mit den illegalen Einwanderern
Das Bozner Übel unterm noblen Teppich der Stadt
Ein Mörder, der dem Richter entkam und sich selber richtete
Wenn der Amtsschimmel wiehert
Die Geschichte von den Motorrädern der Bozner Kriminalpolizei
Die Anschafferin im Bachbett …
…
und die Ehre eines einfachen Mannes
Kriminelle und Kulinarisches im tiefen Süden Italiens
Kalabresische Mafiosi in Bozner Handschellen
Prävention statt Repression, wenn es auf dem Eis kocht
Mit faulen Äpfeln im Bozner Eishockeystadion
Meran in Angst und Schrecken – wieder ein Serienkiller
Die chaotischen Ermittlungen
Politische Verschwörung, finstere Mächte oder einfach nur Mord?
Der Tod eines Südtiroler Landtagsabgeordneten
Dank an …
Autorenporträt.
„Pass bitte auf, … auf das, was du schreibst“, mahnte mich mehrmals Ute, meine Ehefrau, mit der ich seit über 40 Jahren verheiratet bin. „Wir sind beide im Ruhestand, haben wunderschöne, brave, liebe Kinder und fantastische Enkelkinder, sind gesund, wir brauchen keine Probleme!“ – „Aber ich will doch nur anhand von einigen Fällen meine Erfahrungen als ehemaliger Chef der Kriminalpolizei in Südtirol schreiben: nur Fakten, keine Polemiken, keine Beleidigungen, keine Racheakte, aber manchmal durchaus auch selbstkritisch mein, unser Tun hinterfragen.“
Unwahrheiten, Sticheleien oder gemeine Kritiken sind in meinem Buch nicht zu finden, diese wären auch nicht angebracht, denn meine berufliche Karriere war auch so immer hochinteressant und kribbelig. Es war für mich jedenfalls eine große Herausforderung, über Kriminalfälle zu erzählen, bei denen sich dramatische Ereignisse und heitere Vorkommnisse ungewollt überkreuzt hatten. Denn niemals und in keinster Weise sollte Tragisches durch Lustiges respektlos wiedergegeben werden, sondern es muss, wenn es einfach so passiert war, auch objektiv geschildert werden. Manches wünscht man sich, lieber vergessen zu können, vor allem, wenn es um Pannen bei Ermittlungen geht. Aber wenn ich Bilanz ziehe, so waren wir von der Kriminalpolizei in Südtirol, zu meiner Zeit, erfolgreich und sind über unser Geleistetes auch heute noch stolz.
Überaus stolz war ich im Mai 1992, als ich zum Chef der Kriminalpolizei der Quästur in Bozen für Südtirol ernannt wurde. Gleichzeitig wurde mir sofort bewusst, welche Verantwortung ich zu tragen haben werde. In meiner neuen Position steht man andauernd im kritischen Rampenlicht der Bevölkerung und insbesondere der Medien, die immer mit der berechtigten Forderung nach mehr Sicherheit an uns herantreten. Gleichzeitig ist man aber immer auch den direkten Vorgesetzten gegenüber verantwortlich, und in dieser Position hat man immer mindestens zwei, den Quästor als oberste Polizeibehörde des Landes und den Staatsanwalt als oberste Gerichtsbehörde, in der Ermittlungsphase.
Das Besondere an meiner Ernennung war zunächst, dass ich der erste „richtige“ deutschsprachige Südtiroler als Chef der Kriminalpolizei war. Es stellte sich rasch heraus, dass diese Besonderheit einen großen beruflichen Vorteil mit sich brachte. Ich war mit der Mentalität der deutschen, italienischen und ladinischen Südtiroler vertrauter als alle meine Vorgänger, meistens Süditaliener, die erst kurz vor Amtsantritt nach Bozen versetzt worden waren – in ein Land, das für sie zunächst nur die Provincia di Bolzano, also eine italienische Provinz unter vielen anderen war. In der ihnen vieles fremd und vielleicht sogar unverständlich geblieben war.
In Bozen leben zwar zu 65 Prozent Italienisch sprechende Stadtbürger, aber die Zuständigkeit des Kripochefs breitet sich auf das ganze Land aus, und dort ist das Verhältnis genau umgekehrt: 75 Prozent sind deutschsprachig. Alles, was meinen Vorgängern von deutschsprachigen Zeugen, Angeklagten oder Tatverdächtigen zugetragen worden war, hatten sie somit immer nur durch den Filter eines Dolmetschers erfahren können. Noch komplizierter wurde es für sie bei so manchen Südtirolismen und unserem Dialekt, der oft nur schwer ins Italienische übersetzt werden kann. Ähnlich hart wurden meine ehemaligen Kollegen mit weiteren Besonderheiten wie speziellen Charaktereigenschaften, Kultur, Gewohnheiten im Land konfrontiert.
Wir Südtiroler stünden allerdings vor denselben Problemen, wenn wir unseren Dienst in Süditalien zu absolvieren hätten: „Minchia!“ (süditalienisches vulgäres Schimpfwort, mit dem viele starke Aussagen beendet werden). Daher riecht die bekannte Spürnase der Polizeikommissare eben einfach besser ohne Filter eines Dolmetschers; nebenbei bemerkt, anatomisch gesehen ist meine auch nicht zu unterschätzen.
Obwohl ich bereits Ende 1997 nach Wiesbaden zum Bundeskriminalamt abkommandiert wurde, um in Deutschland für das italienische Innenministerium als Verbindungsoffizier zu arbeiten, und seit 2015 meine Pension, wieder in meiner Heimat, in vollen Zügen genieße, kamen und kommen immer wieder Anfragen für Interviews und Vorträge auf mich zu. Ich spüre, dass das Interesse an den schon Jahre zurückliegenden Kriminalfällen bei den Südtirolerinnen und Südtirolern immer noch sehr groß ist. Dieses weckte in mir den Wunsch, die bekanntesten Fälle erneut durchzugehen und darzustellen, was wirklich geschehen war, bevor Mythen und Spekulationen oder einfach nur falsche Vermutungen die Wahrheit komplett verschleiern würden.
Viele haben über meine Kriminalfälle geschrieben, aber keiner von denen war mit meinen Ermittlungen direkt beschäftigt.
Ein besonderes Anliegen war mir zudem, auch über kleinere, unspektakulärere Fälle zu berichten, damit ein möglichst reelles Bild meiner Berufstätigkeit wiedergegeben werden kann. Dieses Bild kann schließlich nur dann der Wahrheit entsprechen, wenn ich auch über jene Episoden berichte, die sich zwar lustig anhören, aber deren Darstellung alles andere als witzig rüberkommen und schon gar nicht als eine Beleidigung den Opfern gegenüber aufgefasst werden soll. Es geht mir darum, auch über paradox erscheinende Geschehnisse zu berichten, die sich immer wieder inmitten von menschlichen Dramen abspielen.
Meine neue Freizeitbeschäftigung, eine anstrengende, aber zugleich reizende Herausforderung, hat mir nebenbei die Möglichkeit geboten, wieder und diesmal öffentlich kritisch zu hinterfragen: „Habe ich meinen Job gut gemacht? Hätte ich das eine oder das andere besser erledigen können? Welche Fehler wären vermeidbar gewesen?“ Sicherheit ist machbar. Das ist nach wie vor meine absolute Meinung, die auf meiner jahrelangen Erfahrung im In- und Ausland beruht. Nur, auf welche Weise und zu welchem Preis, ist die andere Seite derselben Medaille. Prävention kostet viel Geld, denn sie kann nur durch den täglichen Einsatz vieler uniformierter Beamter der Schutzpolizei erfolgreich sein. Prävention wird aber auch nicht von allen Menschen so einfach hingenommen, denn sie bedeutet spürbar mehr polizeiliche Kontrolltätigkeit, und dies wiederum kann unter Umständen zu einer gefühlten Einengung der eigenen Privatsphäre führen. Hier den goldenen Mittelweg zu finden, wäre mal wieder die Lösung des Problems, was von uns immer angestrebt wurde.
Ähnlich sieht es mit der Repression der begangenen Straftaten, also mit der Ermittlungstätigkeit aus. Auch die Kriminalpolizei bräuchte mehr Personal, aber das kostet anscheinend zu viel. Ich, mit meinen wenigen Leuten, konnte trotzdem, denke ich, eine gute Arbeit leisten. Über eine solide handwerkliche Tätigkeit, ohne sich in Verschwörungstheorien, zu vielen Spekulationen und Fantasien zu verlieren, haben wir mit Erfolg ermittelt. Faktentreue war stets mein Erfolgsrezept für die gute und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung.
Unsere Arbeit war meistens spannend, aber erlebt hat man diese Spannung oft nur als enormen Druck und große Verantwortung gegenüber der zu schützenden und zu beruhigenden Bevölkerung. Solange ein Frauenmörder oder Serienkiller noch frei herumlief, waren die Menschen verständlicherweise besorgt und bekümmert. Manchmal hatte sogar Angst geherrscht, bis wir einen Verbrecher dingfest gemacht hatten, also hinter Schloss und Riegel bringen konnten. Das Bedürfnis der Bevölkerung nach mehr Sicherheit ist immer gerechtfertigt , und mein Job war es, genau diese zu gewährleisten.
Nichts und niemand konnte mich daran hindern. Selbst die Drohungen von Kriminellen, die an mich und an meine Familie gerichtet wurden, bremsten meinen sturen Willen nicht. Ute war ganz meiner Meinung und kämpfte aktiv mit. Besonders ungemütlich wurde es, wenn aus einer italienischen Strafanstalt ein anonymer Brief eines Häftlings an meinen Questore geschickt wurde, mit dem er informiert wurde, dass einige im Gefängnis entschieden hatten, „di far fuori Zelger“, also mir oder meinen Kindern was „Schlimmes“ anzutun. Im Schreiben waren bereits konkrete Hinweise über die alltäglichen Gewohnheiten meiner Familie zu lesen. „Ich pass schon selbst auf mich auf“, beruhigte ich sofort den Questore, der größere Schutzmaßnahmen anwenden wollte. Aber meine beiden Kinder, die erst die Volksschule besuchten, mussten von Schutzpersonal dorthin gefahren und abgeholt werden, bevor wir nicht die „Auftraggeber“ ermittelt und ausgeschaltet hatten.
Drohbrief an den Quästor: „Achtung, im Gefängnis wurde beschlossen, Zelger zu eliminieren ... der Auftragsmörder erhält dafür 50.000.000 Lire. Zelger muss besonders vorsichtig sein, wenn er seine Kinder in die Schule begleitet ...“
Was mich und meine Ute aber verletzt hatte, war nicht so sehr die Drohung der Kriminellen, sondern die Aussage einer „nichtwissenden“ Mutter einer Mitschülerin meines Sohnes, die polemisch und verurteilend gemeint hatte: „Mit unseren Steuergeldern lässt der Zelger seine Kinder in die Schule kutschieren, das kann wohl nicht sein!“ Wenn das Maulwerk ohne Hirnkapazität loslegt, entstehen eben solche bösen und dummen Aussagen!
Dennoch, als „Überzeugungstäter“ in Sachen Sicherheit, ließ ich mich nicht unterkriegen, denn genau das wollte ich nämlich: zusammen mit meinen Leuten Sicherheit garantieren.
Es musste immer schnell gehandelt werden, und das bedeutete meistens harte Arbeit, manchmal fast bis zur Erschöpfung, oft mit Einsätzen über mehrere Tage und Nächte. Unbezahlte Überstunden waren die Regel. Kann das in den vielen Kriminalfilmen überhaupt wiedergegeben werden? Ich glaube nicht! Ab dem Moment, als ich als Chef der Kripo Südtirols tätig geworden war, schaute ich nämlich im Fernsehen keine Krimis mehr an. Nicht, weil ich kaum noch Zeit hatte, sondern weil ich die erlebte berufliche Wirklichkeit in diesen TV-Serien nicht abgebildet fand. Allzu oft stehen Erlebtes und Film sogar in einem starken Kontrast zueinander. In der kurzen Freizeit wollte ich mich nicht mit Kritik an Filmdarstellungen auseinandersetzen. Ich brauchte anderweitig Ausgleich und Erholung, denn mein Beruf war schon spannend genug, oft zu spannend. Freizeit und Beruf mit denselben Inhalten ausfüllen wollte ich nicht.
Noch Jahre nach einem gelösten Kriminalfall tauchen auch in Südtirol hin und wieder neue Spekulationen, vermeintlich unentdeckte Erkenntnisse und irrsinnige Verschwörungstheorien auf. Gerade deshalb soll in diesem Buch auch dargestellt werden, dass die Umstände oft doch recht einfach liegen und diese auch so erkannt werden können, wenn man als Kriminalkommissar sein Geschäft gut beherrscht. Dass Intuition bzw. die sprichwörtlich gute Spürnase immer auch eine wichtige Rolle spielt, genauso wie das Quäntchen Glück, soll dabei nicht verschwiegen werden.
Es gibt viele weniger aufregende Berufe als den des Polizisten, aber nur wenige spannendere. Meine Mutter hätte es gern gesehen, dass ich Priester geworden wäre, aber irgendwie kam ich mir als Teufelsaustreiber bei der Kripo ebenso nützlich vor, wenn auch mit anderen Methoden.
Ehrlich gesagt, meine Mutter drängte mich nahezu, Hochwürden zu werden. Schon als ganz kleiner Bub fragte sie mich ständig, was ich wohl werden wollte, wenn ich mal groß sei und gab gleichzeitig schon auf Südtirolerisch die Antwort vor: „Gell, du wirst Priester!“ Ich brauchte bei solchen Gelegenheiten nur mehr mit Ja zu antworten, um ihr eine Freude zu machen. Dies ging so weiter, bis ich ungefähr fünf oder sechs Jahre jung war. An einem Tag, auf dem Weg nach Hause, nach dem täglichen Einkauf, stellte sie mir wieder einmal die stressige Frage … aber da war meine Antwort plötzlich und auch für mich wie aus heiterem Himmel geschossen: „Egal was, nur nicht Priester!“ Das war wie ein Dolchstich mitten in das Herz meiner Mutter, die mir ab jenem Tag diese Frage nie mehr gestellt hatte. Sie liebte mich trotzdem weiterhin über alles, eine typische Mama eben!
Doch zunächst führte mich mein Berufsleben nicht direkt zur Kriminalpolizei. Ich kam erst über Seitenstraßen dazu. Nach meinem Maturaabschluss an der damaligen Handelsoberschule erhielt ich eine sehr gute Anstellung bei der Volksbank in Bozen. Dort lernte ich unter anderem auch die Tatsache kennen, dass nicht nur innerhalb eines militärischen Ambiente eine strenge Hierarchie herrschen konnte. Das war mit Sicherheit eine erste positive, manchmal aber schmerzhafte Lehre. Ich glaube, diese neue Berufserfahrung führte mich zur persönlichen Überzeugung, dass ich unbedingt Karriere machen sollte. Mein Ehrgeiz bekräftigte sich. Aber von nichts kommt nichts! Mit der ausschlaggebenden Unterstützung meiner jungen Ehefrau Ute begann ich neben der Arbeit meine Universitätsstudien der Rechtswissenschaft. Und in dieser neuen Phase, ständig in Berührung mit Gesetz und Gesetzesleuten, wuchs in mir der Gedanke, einen anderen Beruf zu ergreifen: den des Kriminalkommissars. Zuvor musste ich aber die große Hürde eines staatlichen Wettbewerbs in Rom überwinden. Für gerade 190 Stellen in ganz Italien bewarben sich fast 6000 Kandidaten. Ich schaff te es gleich beim ersten Anlauf, Gott sei Dank! In der Zwischenzeit hatte mir Ute zwei Kinder geschenkt: Claudia und Peter Paul. Ich war gerade dreißig geworden.
Kommissar Alexander Zelger als Einsatzleiter bei einer Kundgebung
Kommissar Alexander Zelger im Bozner Schwurgericht
Die Hellseherin im Sold des römischen Innenministers
Diese Überschrift ist ernst gemeint, denn in besonders tragischen Fällen greift man zu jedem Strohhalm, so auch bei der Kriminalpolizei. Meine erste Dienststelle im August 1990 war gleich die Quästur in Bozen, also die Landesbehörde für öffentliche Sicherheit und Ordnung und damit Sitz der Schutz- und Kriminalpolizei ‒ wie in jeder anderen italienischen Provinz auch. Zu Beginn meiner Tätigkeit, noch glücklich über die erfolgreiche Bewerbung und nach Absolvierung eines neun Monate langen Lehrganges in Rom, war ich besonders erleichtert, gleich im Zentrum des Landes tätig werden zu können. In den ersten sechs Monaten hatte ich zunächst die Gelegenheit, alle Abteilungen der Polizei kennenzulernen und das gleich in Sichtweite der Kollegen der Carabinieri, die auf der anderen Straßenseite stationiert sind. „Konkurrenz belebt das Geschäft, hätte man in der Wirtschaft gesagt.“
Sehr interessant war meine Lehre im Lagezentrum, dem Kabinettsbüro der Quästur – innerhalb der Staatspolizei Ufficio di Gabinetto genannt ‒, wo alle die Landesstelle betreffenden Mitteilungen auf dem Schreibtisch des Capo di Gabinetto (Kabinettschef), also der grauen Eminenz neben dem Questore, landeten. Eines Tages, immer noch in der Phase des Kennenlernens, zeigte mir der damalige Kripochef, mein unmittelbarer Vorgänger, eine vom Generaldirektor der Direzione Centrale della Polizia Criminale (Zentraldirektion der Kriminalpolizei in Rom) gesendete Anweisung. Diese enthielt die Order, die volle Unterstützung einer uns bisher unbekannten Hellseherin aus Süditalien zu gewährleisten und ihr rund um die Uhr zu assistieren. Diese Hellseherin war in laufende Ermittlungen in Mittelitalien eingebunden worden, wo es um ein junges Mädchen ging, das seit Wochen spurlos verschwunden war. Man muss dazu wissen, dass der Schriftverkehr zwischen den polizeilichen Dienststellen der Republik und der Polizeibehörde im römischen Innenministerium damals noch über ein internes Telegrafenamt auf Papier erfolgte. Zunächst dachte ich an einen Scherz. Nachdem mir die Richtigkeit und Authentizität der Anweisung bestätigt wurde, dachte ich zunächst einmal in unserem Südtiroler Sprachgebrauch nur „Oschpele“, was ungefähr so viel bedeutet wie „Mein Gott, wo bin ich denn hier gelandet“. Mit neuen Mitarbeitern in einer Abteilung treibt man zur Begrüßung bekanntlich gern einen Scherz. Leider war dem aber nicht so, wie sich bald herausstellen sollte.
Mein erfahrener Vorgänger im Amt hatte sofort gewusst, dass das Fernschreiben zu dieser Hellseherin ernst gemeint war. Trotzdem war sogar er in dieser Angelegenheit noch beim Quästor persönlich vorstellig geworden und hat nachgefragt, was dieser „Unsinn“ denn sollte. Seine Proteste beim Herrn Quästor hatten aber nicht gefruchtet. Überliefert ist nur die verzweifelte Geste des Quästors, der mit ausgebreiteten Armen und mit Blick zum Himmel seiner Hilflosigkeit Ausdruck verliehen hatte. Gleichzeitig hat er aber dem Kripochef deutlich zu verstehen gegeben: „Befehl ist Befehl“, zumal die Anweisung direkt vom Innenministerium aus Rom gekommen war.
Worum ging es? So witzig mir zunächst diese schriftliche Anweisung vorkam, so traurig war dann doch der Anlass. Diese Hellseherin aus Mittelitalien hatte sich gemeldet, weil sie vorgab zu wissen oder, besser, meinte zu spüren, wo das vermisste Mädchen zu finden sei, nämlich in Südtirol. Ich konnte zwar nachvollziehen, dass man sich in solchen fürchterlichen Situationen an alles klammert, blieb aber trotzdem zunächst sehr skeptisch. Zu diesem Einsatz wurde der Kriminalinspektor Johann Ramoser abgestellt, welcher mit einem Dienstwagen, einem älteren Jeep der Marke Toyota, der Hellseherin für die notwendige Zeit zur Verfügung stehen musste. Unfreiwillig, aber gehorsam nahm er den Auftrag an. Ihm wurde auch unmissverständlich klargelegt, dass er nur eines tun musste: den Intuitionen der Hellseherin folgen.
Schon bald nach der ungewöhnlichen Anweisung aus Rom kam auch die Hellseherin nach Bozen. Wir verloren keine Zeit, und das neue Ermittlerduo startete unverzüglich mit der Suchaktion des in Mittelitalien verschwundenen armen Mädchens. Mit einer Landkarte von Südtirol auf dem Schoß der Hellseherin, die auf dem Nebensitz des Dienstwagens Platz genommen hatte, fuhren sie los. Wie befohlen, steuerte Inspektor Ramoser dorthin, wo ihr Gespür und ihre angeblichen Intuitionen das Versteck der Gesuchten vermuteten. Der erste greifbare Erfolg war aber zunächst nur der, dass Ramoser auch noch die allerletzten, bis dahin ihm unbekannten Gegenden seiner Heimat auf Staatskosten kennenlernte. Tagelang fuhr das Paar bergauf, bergab und talein, talaus, über und unter Brücken, quer durchs Land, über Pässe und durch Ortschaften hin und her.
Hellwach wurde unser Kriminalinspektor nur dann, wenn die Hellseherin wieder einmal lautstark und aufgeregt mit kehligen Lauten ihre inneren Gefühle loswurde und so tat, als ob sie das Kind schon spüren könne. Für Ramoser fühlte es sich an wie eine Geisterbeschwörung an einem Tisch, wie er mir erzählt hat.
Das arme Mädchen wurde aber leider nie gefunden und die Hellseherin von der Kriminalpolizei nie mehr mit Ermittlungsfällen beauftragt, weder von uns noch vom Innenministerium in Rom.
Aus heutiger Sicht erscheint mir die Entscheidung des Generaldirektors der italienischen Kriminalpolizei, eine Hellseherin zu beauftragen, um ein vermisstes Mädchen aufzuspüren, nicht mehr ganz so abwegig. Da gibt es tatsächlich diesen Michael Schneider, der auch von der Kriminalpolizei in Deutschland und von anderen europäischen Ländern öfters als Hellseher angefordert wurde, um Vermisste aufzuspüren. Das tat er durchaus mit einigem Erfolg. Dieser Hellseher kann offensichtlich sogar herausfinden, ob diese noch leben.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Michael Schneider, so konnte ich es in einigen Südtiroler Tageszeitungen lesen, anscheinend auch bei uns erfolgreich war, als er anhand einer Landkarte deuten konnte, wo sich die Leiche des Vaters von Benno Neumair im Falle des Doppelmordes an seinen Eltern im Jahr 2021 befand. Sie konnte endlich am Ufer der Etsch in der Nachbarprovinz Trentino gefunden werden.
Zwei Jahre später wurde es für mich richtig ernst. Im Mai 1992 wurde ich zum Chef der Kripo an der Quästur in Bozen ernannt, zuständig für ganz Südtirol. Das Medieninteresse war für mich überraschend groß, denn alle lokalen Zeitungen berichteten von meiner Ernennung. Ich war unerwartet zu einer Person des öffentlichen Interesses aufgestiegen. Sofort hatte ich den berechtigten Verdacht, dass es mehr darum ging, dass ich der erste „deutschsprachige Südtiroler“ war, der so einen heiklen Posten übernommen hatte.
Amtsübergabe von Giuseppe Macrí an Alexander Zelger im Mai 1992
Ich erhielt tagelang per Post Glückwünsche und allerhand Lobesworte für meinen Karrieresprung. Sogar Blumen wurden ins Büro und nach Hause geschickt. Ute, meine Ehefrau, und ich waren von dieser öff entlichen Aufmerksamkeit überwältigt. Einige Tage lang klingelte es ungewohnt oft an der Tür. Meistens war es ein Postbote mit einem Glückwunschtelegramm. Aber einmal wurden alle erdenklichen Erwartungen in Bezug auf Komplimente, Höflichkeiten, Wertschätzung, Auszeichnungen und Schmeicheleien übertroff en. Diese Aufmerksamkeitsbekundung hatte, zumindest nur theoretisch, das gefährliche Potenzial, eine Ehekrise auszulösen.
Ich öff nete die Haustür, hinter mir stand Ute. Wir beide konnten die Überraschung nicht zurückhalten und hatten mit Sicherheit Augen und Mund vor Staunen weit off en. Vor uns war eine Wand an Orchideen in einem übergroßen Korb zu sehen. Dahinter versteckt befand sich der Bote, der es kaum erwarten konnte, die schwere Last loszuwerden. Ich traute meinen Augen nicht, als ich das Geschenk übernahm und inmitten des Grünzeugs zwei Champagnerflaschen entdeckte. Während ich das edle Geschenk näher begutachtete, öff nete Ute interessiert die beigelegte Postkarte und las. Wir beide waren extrem neugierig und wollten wissen, wer wohl dieses großzügige Präsent geschickt hatte. Ich schaute Ute an und musste bemerken, wie ihr netter Ausdruck der Freude und Dankbarkeit allmählich verschwand und von einer ernsten Miene ersetzt wurde. Sogleich war auch ein je nach Sichtweise mehr oder weniger gerechtfertigter harter Protest von Ute zu hören.
Das wunderschöne Bouquet samt den Dom-Pérignon-Flaschen kam höchstpersönlich von Signora Marisa, der Chefin des „White Devil“, einem bekannten Bozner Nachtlokal. Dieses elegante Etablissement war in ganz Südtirol für seine leicht bekleideten und gut gelaunten Damen bekannt, die nach Mitternacht erotisches Ballett anboten. Ute wusste gleich, wer das war, hatte sie doch Signora Marisa in der Bank kennengelernt, in der ich noch vor meiner Polizeikarriere als Schalterbeamter gearbeitet hatte: Ute hatte mich einmal, ich glaube, das war auch das einzige Mal, an meinem Arbeitsplatz besucht und sich, wie es der Zufall wollte, hinter Signora Marisa in die Reihe gestellt, als ich sie gerade bediente. Ich grüßte Ute, und Signora Marisa verstand gleich, dass es sich um meine Ehefrau handelte. Signora Marisa war an besagtem Vormittag von ihrer generö-sen Parfumwolke umhüllt, die so stark war, dass nicht jeder es aushalten konnte, länger in ihrer Nähe zu weilen. Ich als Schalterbeamter konnte nicht anders. Mit Stolz übergab sie mir gerade ihr umfangreiches Nachtinkasso, das ich auf ihr Bankkonto einlegen durfte. Es war alles andere als Sympathie auf den ersten Blick seitens meiner Frau, die diesmal nicht den weiblichen Instinkt einsetzen musste, um gleich herauszufinden, welches Unternehmen meine Kundin führen würde.
Wir drei, Ute, ich und der riesige Geschenkkorb, standen noch im Hausflur, da meinte Ute bestimmt und recht kräftig in der Stimme: „Das alles muss sofort in den Müll!“ Letztendlich konnte ich noch einen Kompromiss aushandeln. Ich versprach ihr, unverzüglich mit der Entsorgung des Geschenkkorbes samt den vielen Orchideen zu beginnen, die teuren Champagnerflaschen aber in unserem Weinkeller zu lagern. Hätte ich diese vielleicht auch in den Müll werfen sollen?
Auf diese Weise erst einmal von allen Seiten angeschmeichelt, sehnte ich mich danach, endlich tätig werden zu können und meinen Job zu machen.
Vom Liebesleben in Bozen
Lange brauchte ich nicht zu warten, und ein interessanter Fall war schon zu bearbeiten, der aber in keinster Weise mit Blut geschrieben war.
Es waren Ermittlungen zu Signora Concetta, einer rassigen, dunkelhaarigen Süditalienerin zu tätigen, die angeblich ein Etablissement in Bozen eingerichtet hatte, das sich in Bozner Kreisen regen Zuspruches erfreute. In Italien ist das seit 1958 streng verboten.
Einige stolze Ehefrauen des Bozner Bürgertums, die weit weniger mit dieser Einrichtung einverstanden waren, beschlossen einzugreifen und dem Treiben ein Ende zu setzen. Sie gingen wohin? Natürlich zur Polizei und zeigten das Ganze an. Wir waren also gezwungen, tätig zu werden. In der Nähe eines großen Mehrfamilienhauses parkten wir zur Tarnung ein Zivilfahrzeug, von dem aus man seelenruhig die Lage vor Ort beobachten konnte. Wir mussten nur ein paar Tage observieren, und schon war uns klar, dass die Anzeigen nicht ganz unberechtigt sein konnten. Die Frequenz, in der eine bestimmte Klingel an der Haustür nur von Männern gedrückt wurde, war schon mehr als verdächtig.
Auf der Polizeischule in Rom hatte ich nicht gelernt, wie man durch jede Tür kommt, ohne sich vorher telefonisch angemeldet zu haben und ohne vorher zu klingeln. Auf Anweisung des Staatsanwaltes mussten wir aber die Täterinnen und Opfer oder je nach weltanschaulichem Blickwinkel umgekehrt die Täter und Opfer in flagranti, das heißt, in der Horizontalen, also mitten im Tathergang erwischen. Das konnte eigentlich nur gelingen, wenn wir eben nicht vorher höflich an die Tür klopften, sondern nur, wenn wir die Tür eintreten und das Etablissement stürmen würden. Soweit zumindest unsere Absicht.
Es hieß, der jeweilige Freier würde bei Terminvormerkung ein Passwort erhalten, das durch die Wohnungstür geflüstert werden musste. Die verständlicherweise sehr misstrauische und vorsichtige Signora Concetta, so wurde ich von meinen Mitarbeitern aufgeklärt, hätte sonst die einbruchsichere Wohnungstür nie aufgesperrt. Deshalb wollte ich, dass wir auf alle Eventualitäten vorbereitet und ausgerüstet wären. Für diesen Zweck hatte ich über Rom die Genehmigung eingeholt, extra „Werkzeug“ von unserem zuständigen Logistikzentrum der Staatspolizei in Padua liefern zu lassen. Wir erhielten eine ganze Sammlung von Hilfsmitteln: Da war einmal ein riesiges Brecheisen, das man in die Spalte zwischen Tür und Türstock drücken und mit einer kräftigen, ruckartigen Bewegung zu sich ziehen sollte. Für den Fall, dass das Brecheisen versagt, konnten wir zusätzlich von einem geschätzt fünf Kilogramm schweren Vorschlaghammer Gebrauch machen. Mein damit beauftragter Kripobeamter sollte dann, entsprechend der Gebrauchsanweisung, direkt auf das Türschloss mit voller Kraft und Wucht schlagen. Falls dies immer noch nicht ausgereicht hätte, waren wir noch mit einem gewaltigen Rammbock mit einem Gewicht von 12,5 Kilogramm ausgestattet worden. Nichts sollte, durfte und konnte uns schließlich aufhalten. Aber es kam ganz anders.
Zunächst waren insgesamt zehn zivilbekleidete Kriminalbeamte in drei Zivilfahrzeugen vor dem verdächtigen Haus postiert worden. Sie warteten, bis ein Kunde kam. Als dann der verdächtige Dritte im Hausinneren war, wurde ich zum Einsatz hinzugerufen. Wir durften einfach nicht zu früh, aber auch nicht zu spät die Beweismittelerhebung durchführen, damit auch die Justizorgane zufriedengestellt waren. Wir schauten auf unsere Uhren und schätzten ab, wie lange der dritte Mann wohl brauchen würde, bis er … sagen wir … auch in Stellung war, und standen nun einsatzbereit vor dem Hauseingang des Kondominiums.
Wir klingelten an einer Nachbarwohnung und meldeten uns bei der Nachbarin über die Sprechanlage – zugegeben etwas fantasielos, aber dafür erfolgreich ‒ als Postboten an. Das hatte bisher immer funktioniert und so auch dieses Mal! Dann hechelten und husteten wir Kettenraucher uns schwerbepackt mit unserem Werkzeug die Treppen bis zum vierten Obergeschoss hoch. Nun stand meine ganze Mannschaft, Beamtinnen waren auch in der Einsatzgruppe, und ich vor der Tür zu der verdächtigen Wohnung, fertig und bereit, um diese zu stürmen: links und rechts vor der Tür je ein Beamter, zwei davor mit dem besagten Rammbock, ein fünfter mit Vorschlaghammer im Anschlag. Alle warteten, teils ungeduldig, teils aufgeregt, auf mein Kommando. Ich spürte regelrecht die vielen Blicke auf mich gerichtet. Nach wochenlanger Planung und Vorbereitung für diesen Einsatz und die Beschaffung unseres Einbruchwerkzeuges war nun der große Moment gekommen. Es war für uns alle das erste Mal, eine Tür rammen zu müssen, um einen Tatort stürmen zu können! Die Spannung war also enorm, die Luft elektrisch geladen, niemand atmete mehr, denn der Commissario Capo Dottore Zelger wird gleich den Angriffsbefehl geben.
Aber was tat ich? Ich klingelte einfach an der Hausglocke. In der letzten Sekunde hatte ich einfach Meinung und Strategie geändert. Meine Männer und Frauen standen plötzlich mit offenem Mund und fragenden Blicken, wie versteinert, ja fast gelähmt im Hausgang da. Die einen mit dem Rammbock, der andere mit dem Vorschlaghammer und der Nächste mit dem Brecheisen in der Hand, und alle fragten sich nur, was ist denn jetzt in den Dottore Zelger gefahren? Während meine Leute noch grübelten, ob ich wohl alle Tassen im Schrank hatte, wurde die Tür geöffnet, ohne Passwort, ohne Geheimcode oder Ähnlichem.
Es öffnete die nur mit einem eleganten schwarzen Dessous bekleidete Unternehmerin höchstpersönlich. Meine Leute standen noch erstarrt vor der Tür, nicht wegen der leicht bekleideten Dame, sondern weil sie sich immer noch von mir auf den Arm genommen fühlten. Da niemand polizeilich reagierte, zückte ich meinen Dienstausweis, um der leicht bekleideten Signora Concetta unmissverständlich klar zu machen, dass es sich nicht um eine größere Gruppe von Freiern, sondern um eine von der Staatsanwaltschaft angeordnete Polizeirazzia handelte. So verschaffte ich uns ohne fernsehreife Aktion Eintritt in das Etablissement.
Gestürmt wurde aber trotzdem, und wie, denn wir durften nicht zulassen, dass sich eventuelle nackte Kunden und Prostituierte von ihren Stellungen zurückzogen und Zeit hatten, sich wieder anzuziehen.
Die Vorbereitung meiner Leute war also nicht ganz umsonst gewesen. Zum Einsatz kam unser Plan vom Grundriss der Wohnung, sodass jeder von uns wusste, wohin der- oder diejenige zu stürmen hatte. Der Einsatz war erfolgreich. Innen fanden wir dann tatsächlich einen rammelnden Bock und zwei weitere schon fast im Anschlag.
Schon im ersten Zimmer links lag unser erstes Beweismittel, nicht in Hülle und Fülle, vielmehr ohne Hülle und gefüllt. Wie es in einer so großen Stadt wie Bozen zu erwarten war, das „Beweismittel“, ein angesehener, stadtbekannter Geschäftsmann mit 82 Jahren, auf dem Rücken liegend. Neben ihm eine Blondine. Eine wirklich bildhübsche junge Frau mit einem in die Jahre gekommenen Mann in einem Bett. Wir mussten schmunzeln, denn auch die anderen Kunden waren uns nicht fremd, nein, nicht polizeilich bekannt, aber in gutbürgerlichem Sinne. Und jetzt standen sie hier, vor uns, nicht einmal in Unterhose, peinlich für sie.
Ich selbst glaubte, meinen Augen nicht mehr trauen zu können. Ich musste allen meinen Kollegen wegen der wunderschönen nackten Blondine das fast zu Boden gefallene Kinn wieder nach oben schieben. Die Position meines Kinns möchte ich in diesem Zusammenhang lieber nicht erwähnen.
Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als wir miterlebten, wie der 82-jährige Freier unbeeindruckt von der Anwesenheit der Kripo vom Bett aufstand, als habe er so etwas schon öfters erlebt. Seelenruhig angelte er seine Unterhose vom Stuhl und schlüpfte in sie hinein, um sie ordentlich wieder überzuziehen. Dann griff er zur Hose, immer am selben Stuhl, und zog fast in Zeitenlupengeschwindigkeit auch dieses Bekleidungsstück hoch. Unter Zuhilfenahme von altmodischen Hosenträgern mit Knöpfen konnte der erwischte Geschäftsmann nun die Hose über die Gürtellinie hinaus bis über den Bauchnabel nach oben ziehen. Bei seiner Fettleibigkeit war es notwendig, denn kein Gürtel hätte einen Halt gewährleistet.
Die zwei weiteren ‒ je nach Sichtweise ‒ Opfer oder Täter des süßen Gewerbes hatten im Wohnzimmer auf einem Divan sitzend auf ihren Einsatzbefehl durch die Signora Concetta gewartet. Allerdings nur noch mit einem ärmellosen Unterhemd bekleidet, wie bis in die Sechzigerjahre bei heißem Wetter gern getragen wurde, auch wenn diese schon damals als absolut unsexy galten. Aber unten herum immerhin schon nur noch in üblichen weißen Unterhosen aus Baumwolle bekleidet. In der Hand hielten sie sozusagen als Aperitif eine Pornozeitschrift. In einer Zeit, als es noch kein Viagra gab, sollte das Lesen einer solchen Lektüre wohl einem männlichen Versagen vorbeugen. Eine befriedigende Kundenzufriedenheit ist die beste Werbung. Die Situation war diesen beiden aber, ganz im Gegensatz zu dem erstgenannten Älteren, äußerst peinlich und sie hätten sich am liebsten unter dem Tisch oder hinter einem Vorhang versteckt.
Dafür war es schon zu spät. Ich gab die Weisung, dass alle wie auch immer Beteiligten in die Quästur zum Verhör begleitet werden müssen. Nur die Grande Dame des Hauses musste bleiben und uns bei der Hausdurchsuchung behilflich sein. Meine beiden Kriminalbeamtinnen, ganz zufällig diese beiden, öffneten die ersten Schubladen und wurden prompt fündig. Sie fanden eine Sammlung von Vibratoren und Dildos in allen Farben, Größen und Formen. „Dottor Zelger, dobbiamo sequestrare anche questi?“ (Sollen wir auch diese beschlagnahmen?), fragten sie mich beflissen professionell und bemühten sich um einen ernsthaften Blick. Und in weiteren Schubladen fanden wir noch so einiges, was man für den Bettverkehr brauchen konnte.
Während meine Leute mit der Hausdurchsuchung bei Signora Concetta weitermachten, fuhr ich in die Quästur zurück und ging von Verhörraum zu Verhörraum, um mich nach dem Stand und den ersten Ergebnissen der Befragungen zu erkundigen. Zunächst wollte ich den älteren Bozner Geschäftsmann beruhigen. Er aber, den wir überhaupt nicht aus der Ruhe gebracht hatten, hatte das gleiche Ansinnen wie ich, nur umgekehrt, er wollte nämlich mich beruhigen: „Junger Mann, ich habe schon beide Weltkriege miterlebt, mich erschreckt nichts mehr.“ Jetzt war zumindest ich beeindruckt, wollte weiter nichts mehr wissen und zog mich zurück. Im zweiten Verhörraum saßen die beiden, mittlerweile wieder etwas mehr bekleideten Herren ohne ihre Pornoheftchen einem weiteren Kripobeamten gegenüber. Nur fragte ich mich, wo war denn nur der andere, große Teil meiner Leute geblieben? Im dritten Raum fand ich sie dann, und zwar alle übrigen. Dort saß die junge Blondine und wurde von insgesamt acht Beamten an der Zahl vernommen.
„So geht das nicht. Ein Beamter wird wohl reichen. Bitte sofort die Dame in mein Büro. Diese Vernehmung übernehme ich!“
Innerlich musste ich schmunzeln, aber nach außen mimte ich den strengen Vorgesetzten. Das allgemeine Murren war nicht zu überhören, aber ich war ja schließlich der Capo. Die Vernehmung der blonden Dame zeigte mir sofort, dass es sich um eine intelligente Frau handelte, von der ich bei dieser Vernehmung einiges lernte. Eine Prostituierte muss nicht unbedingt ein dummes, ausgenütztes oder gar drogensüchtiges und armes Hascherl sein, so wie manche es sich vorstellen. Das war ihr freiwilliger Nebenjob, hauptberuflich war sie in einer Bozner Bank beschäftigt, als Bankfachfrau. Bei dem einen oder anderen Detail ihrer Schilderungen trieb es mir aber schon den Schweiß auf die Stirn, als sie beispielsweise meinte, dass sie gern auch mit uns allen hier, also in der Quästur, und sofort gern Sex haben würde. „Ich brauche das und ich will das. Geld ist Nebensache.“ – „Aber auch mit dem Alten?“, fragte ich sie, denn ich war überzeugt, dass sie mit dem 82-jährigen Gast wohl keinen Spaß haben konnte. Ich wurde schon wieder des Besseren belehrt: „Wenige Zwanzigjährige sind sexuell so fit wie Hansi (Fantasiename).“ Und meinte wohl den betagten Bozner Geschäftsmann.
Damals fiel mir meine Mutter ein, die es sich so gewünscht hatte, dass ich einmal Priester werde. Vielleicht hatte sie aber nicht gewusst, was man sich so alles in einem Beichtstuhl in einem einsamen Dörfleines abgelegenen Tales anhören muss. Vielleicht Ehrlicheres und damit noch Krasseres, als ich bei der Kriminalpolizei in Bozen je hören würde.
Marco Bergamo, kurz nach seiner Festnahme im August 1992
Der Frauenmörder Marco Bergamo
Es war am 6. August 1992 kurz nach Mitternacht. Alle schliefen tief, trotz tropischer Nachthitze, nichts Außerordentliches in Bozen zu dieser Jahreszeit. Das Telefon, damals noch mit der üblichen drehbaren Wählscheibe, stand griffbereit auf meinem Nachtkasten. Es klingelte, aber nur ganz kurz. Ich, aber auch Ute und unsere zwei Kinder Claudia und Peter Paul hatten uns sehr schnell, wenn auch unfreiwillig, daran gewöhnt, sehr oft, auch nachts, und damit außerhalb der offiziellen Dienstzeiten, den Klingelton des Haustelefons zu hören. Mit einem Ruck, nach dem ersten Klingelspiel, war meine schon geübte Hand auf dem Hörer. Ich hob ab und fragte: „Pronto?“ Normalerweise war mein erstes Wort eigentlich „Hallo?“, aber zu dieser Stunde konnte der Anruf nur von der Quästur kommen, also antwortete ich auf Italienisch. Es meldete sich der diensthabende Polizeibeamte in der Quästur bzw. Einsatzleiter der Notrufzentrale, damals noch erreichbar mit der Telefonnummer 113: „Dottor Zelger, abbiamo di nuovo una donna uccisa“ (Wir haben schon wieder eine ermordete Frau). Meine unüberlegt spontane, aber ehrliche Antwort war ein nicht ganz unüblicher, wenn auch wenig vornehmer Fluch: „Porca putana“ (eine in mir eingeschlichene Schimpfaussage passend für stressige Situationen), „vengo subito“ (ganz harmlos: Ich komme gleich). Ute, die ebenfalls aufgewacht war, fragte mit ihrem siebten Sinn sogleich: „Ist schon wieder eine umgebracht worden? Bitte schließe auch das Fenster, bevor du gehst!“ Sie hatte verständlicherweise, wie viele Frauen in der Stadt, Angst. Es war ja ein Mörder unterwegs.
Ich war damals erst vier Monate Kripochef von Bozen, hatte mich aber bereits mit den alten Akten bisher unaufgeklärter Morde an Frauen intensiv beschäftigt. Uns allen, sowohl der Kriminalpolizei als auch der Bevölkerung, war klar, dass ein Serienmörder aktiv war. Wir mussten den Fall unbedingt aufklären, da der Täter früher oder später erneut zuschlagen würde.
Ich hatte mich schnell angezogen und lief zur Quästur. Ich wohnte seit meiner Geburt nur hundert Meter entfernt. Dort empfingen