Ich, Odysseus. Der Zerstörer Trojas. - Wulf Mämpel - E-Book

Ich, Odysseus. Der Zerstörer Trojas. E-Book

Wulf Mämpel

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Beschreibung

Die Erfindung ODYSSEUS. Die Rückkehr des Odysseus nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren Irrfahrt beginnt mit einem Blutbad in seinem Palast. Der 50jährige Held tötet die schmarotzenden Freier, die um die Hand seiner treuen Penelope buhlen. Damit endet die Odyssee des Homer. Doch wie gestaltete sich das Leben des Helden in den darauffolgenden Jahren? Darüber gibt es kaum konkrete Angaben. Dieses Buch will der Frage nachgehen: Wie entstanden Ilias und Odyssee? Denn: Immer wieder stellt sich die Frage, welche Wahrheit verbirgt sich hinter dem Werk, das die europäische Literaturgeschichte eröffnete, beeinflusste und bis heute zu immer neuen Interpretationen anregte? Zur Erinnerung: Mancher Literaturliebhaber behauptet, die Odyssee sei nur deswegen erfunden worden, um die epischen Erzählungen Homers niederzuschreiben. Fakt ist: Homers Ilias und Odyssee gehören zu den wichtigsten Erzählungen der Weltliteratur. Von Geheimnissen umwittert, irren wir heute immer noch im Dunklen: Hat Homer überhaupt gelebt? Fand der Trojanische Krieg tatsächlich statt? War es so oder doch ganz anders? Vielleicht alles nur erfunden? Odysseus erzählt dem jungen Homer und seinem Sohn Telemachos die Wahrheit über seine zwanzig Jahre, in denen er von Zuhause fort war. Kaum ein Werk wird eine so umfassende Wirkung auf die Literatur und Geistesgeschichte des Abendlandes entfachen wie seine Schilderungen, die Homer erzählt und niederschreibt. Seit vielen Jahrhunderten ist der "blinde Homer" umstritten. Er wird bewundert und angefeindet. Wie auch immer: Sein Name ist Faktum, seine beiden Werke unsterblich, und in jeder neuen Generation findet er eine begeisterte Leserschaft: Er gilt als frühester Dichter des Abendlandes. Weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt. Es ist nicht einmal sicher, dass es Homer überhaupt gab. In diesem Monolog/Dialog interviewt Homer Odysseus.

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Impressum

© 2021 Copyright by Wulf Mämpel

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Für Thora

Danke.

Mein Dank gilt meiner Frau, die mich bei all

Die Erfindung ODYSSEUS.

Die Rückkehr des Odysseus nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren Irrfahrt beginnt mit einem Blutbad in seinem Palast. Der 50jährige Held tötet die schmarotzenden Freier, die um die Hand seiner treuen Penelope buhlen. Damit endet die Odyssee des Homer. Doch wie gestaltete sich das Leben des Helden in den darauffolgenden Jahren? Darüber gibt es kaum konkrete Angaben. Dieses Buch will der Frage nachgehen: Wie entstanden Ilias und Odyssee? Denn: Immer wieder stellt sich die Frage, welche Wahrheit verbirgt sich hinter dem Werk, das die europäische Literaturgeschichte eröffnete, beeinflusste und bis heute zu immer neuen Interpretationen anregte?

Zur Erinnerung: Mancher Literaturliebhaber behauptet, die Odyssee sei nur deswegen erfunden worden, um die epischen Erzählungen Homers niederzuschreiben. Fakt ist: Homers Ilias und Odyssee gehören zu den ältesten, wichtigsten und größten Erzählungen der Weltliteratur. Von Geheimnissen umwittert, irren wir heute immer noch im Dunklen: Hat Homer überhaupt gelebt? Fand der Trojanische Krieg tatsächlich statt? War es so oder doch ganz anders? Sage oder Traumgebilde, Götterglaube oder Heldenverehrung? Die kundigen Thebaner deuten bis heute die beiden Werke je nach Zeitgeist. Also: Vielleicht alles nur erfunden?

Ein angeblich blinder Dichter, von dem wir auch heuteimmer noch nur sehr wenig wissen, schenkte der Welt diese beiden gewaltigen, abenteuerlichen Erzählungen, die seit vielen Jahrhunderten Jung und Alt faszinieren – und immer wieder interpretiert, nacherzählt und verfilmt wurden: Nach zehn Jahren im Trojanischen Krieg, will der Held Odysseus endlich in die geliebte Heimat Ithaka zurückkehren. Doch er erzürnt den Meeresgott Poseidon, was ihn in mancherlei Gefahren bringt. Mann für Mann verliert er seine Gefährten, er begegnet den menschenfressenden Riesen, besonders dem einäugigen Kyklopen Polyphem, dem sechsköpfigen Seeungeheuer Skylla, den verlockenden Sirenen, der Zauberin Circe und landet schließlich auf einem Eiland der Nymphe Kalypso. Nur durch den Beschluss der Götter darf der Bezwinger Trojas nach zehnjähriger Irrfahrt in die Heimat zurückkehren, Frau und Sohn wiederfinden und den Thron wieder in Besitz nehmen, um Ordnung zu schaffen im verwahrlosten Königreich.

Der französische Schriftsteller George Duhamel empfahl, dass „ein kultivierter Europäer alle zehn Jahre die Homerischen Epen erneut lesen" soll. Es lohnt sich, denn mit Homer beginnt etwa um 800 v.Ch. tatsächlich die europäische Literatur. Genau weiß es bis heute niemand. . .

Odysseus, der Held, erzählt dem jungen Homer und seinem Sohn Telemachos die Wahrheit über seine zwanzig Jahre, in denen er von Zuhause fort war. Kaum ein Werk wird eine so umfassende Wirkung auf die Literatur und Geistesgeschichte des Abendlandes entfachen wie seine Schilderungen, die Homer erzählt und niederschreibt.

Seit vielen Jahrhunderten ist der „blinde Homer“ umstritten. Er wird bewundert und angefeindet. Wie auch immer: Sein Name ist Faktum, seine beiden Werke unsterblich, und in jeder neuen Generation findet er eine begeisterte Leserschaft: Er gilt als frühester Dichter des Abendlandes. Weder sein Geburtsort noch das Datum seiner Geburt oder das seines Todes sind zweifelsfrei bekannt. Es ist nicht einmal sicher, dass es Homer überhaupt gab. Sind die Ilias und die Odyssee nur eine geniale Erfindung eines unbekannten Autors?

Bereits in der Antike gehörte das Werk zum Kanon der bedeutenden Schullektüren. Aristoteles betrachtete in seiner Poetik die „kunstvoll verschlungene Komposition" des Werkes als Paradebeispiel für die epische Gattung. Die „Aeneis“ des römischen Dichters Vergil beschreibt nach dem Vorbild Homers die Irrfahrten des Aeneas und die Gründung der Stadt Rom. Die höfische Dichtung des Mittelalters fand in den Abenteuern des Odysseus die Grundlage für ihre ritterlichen Epen. Der Klassizismus brachte zwei der herausragendsten Versübertragungen der Odyssee ins Deutsche hervor: von Johann Heinrich Voss (1781) und Johann Jacob Bodmer (1788). Diese wirkten u. a. auf Goethe, der seinen Werther in der Odyssee blättern ließ.

Das Bedürfnis nach Helden scheint so alt wie die Menschheit. Und die meisten von uns träumen davon, auch einmal ein Held zu sein. Helden gab und gibt es allenthalben: in den antiken Mythen, im Leben und in der Literatur, im Kino, im Comic und in der Sportarena. Von Herkules, Achilles und Odysseus über Robin Hood, Zorro und Jeanne d'Arc, bis zu Superman, Batman und Lara Croft, vom weltberühmten Fußballhelden bis hin zum unbekannten Feuerwehrmann in der Hölle des 11. September in New York. Braucht jede Gesellschaft Helden? Was macht den Helden eigentlich aus? Klar ist: Helden sind auch nur Männer! Und seit einiger Zeit auch Frauen. . .

Was tut also Odysseus? Er schildert Homer – was einer Sensation gleichkommt – sein aufregendes Leben. Das ist neu. Die Frage also lautet, hat Homer aus dem Mund des Odysseus dessen Erlebnisse erfahren und sie über viele Jahre zu seinen beiden Epen verarbeitet? Sie sind bisher nirgendwo dokumentiert. Es sind Vermutungen, die jedoch einen realen Hintergrund verspüren. Meine Frage also lautet: Wer könnte außer Homer diese beiden großen Epen tatsächlich verfasst haben und Odysseus als brillanten Redner und Ränkeschmied darstellen?

In diesem Monolog/Dialog interviewt der fast erblindete Dichter den König von Ithaka, den er als einen kosmopolitischen Europäer kennenlernt. Es kommt zu einem Dialog über den trojanischen Krieg und die Irrfahrten – aus diesem Gespräch schöpft der Dichter Inhalte für seine beiden späteren Werke. Sie sollen zu einem bis heute anhaltenden Welterfolg werden . . . auch wenn alles nur eine clevere Erfindung sein sollte!

Vielleicht war aber auch alles ganz anders!

WULF MÄMPEL

PROLOG.

Ich, Odysseus, der Zerstörer Trojas,

hatte mein Gedächtnis verloren.

Niemandem wünschte ich, was mir geschah.

Niemand wird es je verstehen.

Wenn ein Held kein Held mehr ist.

Was ist er dann noch wert?

Ich erlebte Qualen, die ich meinem

ärgsten Feind nicht wünschte.

Ängste, die ich bisher nicht kannte,

die mich erschreckten.

Am liebsten wäre ich in Troja gestorben.

Verreckt an fremden Gefilden.

Verschollen als ein unbekannter Mann. 

Ohne Gelegenheit, noch einmal ein

glücklicher Mensch zu werden.

Ich war am Ende. . .

Dem Tapferen hilft nicht immer das Glück!

Als ich wach wurde, spürte ich zunächst nichts. Ich lag auf dem Bauch wie ein toter Fisch. Der Geruch von Erbrochenem, von Algen, Muscheln und Sand stieg mir in die Nase. Ich spürte, wie meine Oberlippe leicht zuckte und freche Fliegen mich umschwärmten. Ich dachte: Wie bei einer Leiche. Ein lauer Wind fächelte mir warme Salzluft zu. Mein erster Gedanke: Träumte ich? Dann: Lebte ich? Oder war ich schon im Hades, war ich gar auf Elysion, der Insel der Glückseligen? Und: Wie lange lag ich hier schon? In meinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander, bizarre Bilder zogen an mir vorbei. Ich vernahm Schreie, sah Blut und abgeschlagene Körperteile. Ich sah aber auch undeutlich das Antlitz einer wunderschönen Frau, die mich mit traurigen Augen anblickte. Sie lächelte unter Tränen und bewegte ihre Lippen, als wollte sie mich fragen: Wo bist Du?

Ich kannte diese Art Träume, die die Götter schicken, um die Sterblichen zu foppen. Sie konnten aber auch einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Es soll ja ein Trost sein, heißt es in den Fabeln, wenn die Unglücklichen Leidensgefährten haben. Doch ich war allein. Ich rieb mir mühsam die verklebten Augen. Ich sah undeutlich - wie unter einem Schleier - einen fremden, sehr breiten Strand, der von einer sanften Dünenlandschaft begrenzt wurde. Dann hörte ich leise Musik. Es muss gegen Mittag gewesen sein, denn die Sonne stand hoch über mir. Ihre Strahlen brannten ohne Erbarmen auf meiner Haut. Sie blendeten meine trüben Augen. Was mir noch auffiel, war der vertraute, laute Ruf der Möwen und ihr Gezänk um ein Stück Beute. Mein Mund war ausgetrocknet, mir war übel. Wie lange ich dort schon lag, wusste ich nicht. Meine Glieder schmerzten, ich war wie gelähmt. Ich versuchte krampfhaft, mich an mein bisheriges Leben zu erinnern, doch ich fand nichts, was auf mich und mein Dasein hinwies. Meinen linken Arm konnte ich anheben, den rechten ebenfalls. Dann den linken Fuß, dann den rechten. Ich lebte - das spürte ich. . . ich lebte mit einer Flut dunkler Gedanken, die mein Hirn marterten.

Dann entdeckte ich nach einer gewissen Zeit - nicht weit entfernt - zwei große Baldachine aus weißem Tuch, die Schatten spendeten. Ausgestattet waren sie mit kleinen Liegen und weichen Kissen, außerdem mit Tischen, auf denen Früchte in silbernen Schalen lagen. Ich roch Bratenduft, sah dann einen Mann an einem Rost, wie er Fleisch und Fisch wendete - und verspürte sogleich einen gewaltigen Hunger. Eine Lyra-Spielerin entlockte ihrem Instrument eine süße Weise, die mich für einen kurzen Augenblick erfreute. Ich dachte: Wenn Musik ertönt, befindest Du Dich nicht in Gefahr!

Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass ich an diesem Ufer angespült worden war. Wie ein gestrandeter Delphin. Dann wieder diese Bilder in meinem Kopf: Ich inmitten hoher Wellen. Mein Mund voll von salzigem Wasser. Das Atmen wurde immer schwieriger. Ich würgte angeekelt das Meerwasser hinaus. Dazu heulte der Wind triumphierend, warf mich hinauf, dann hinunter in gewaltige Wellentäler, die sich um mich herum bildeten. Ich spürte die Macht des Meeres und die Schwäche des Menschen gegenüber dieser Naturgewalt. Mir wurde brutal deutlich gemacht, was der Mensch, was der Mann und Held im Angesicht der Natur wirklich ist: Ein Spielball der Elemente. Ich spürte mit einem Mal so etwas wie Demut angesichts dieser Mächte. Poseidon zeigte es dem Sterblichen in aller Deutlichkeit!

In meinem bärtigen Gesicht juckten dicke Salzkrusten. Meine Augen brannten vom Meerwasser. Meine Lippen waren rau und aufgesprungen. Ich wusste nicht mehr, wer ich war und wo ich war. Ich kannte meinen Namen nicht mehr, konnte nicht mehr denken, sprechen, fühlen. Nur atmen konnte ich noch. Was war mit mir geschehen? Ich spürte, dass ich nackt auf dem heißen Sand in einer großen Bucht lag. Wo war ich?

Ich suchte in meinem Gedächtnis nach meiner Vergangenheit. Nach meinem bisherigen Leben, verstehst Du das? Alles, was ich gewesen war, war mir abhandengekommen. Mich quälte die Frage: Welcher Gott bestrafte mich mit diesem plötzlichen Verstummen? Telemachos, ich musste bei Null anfangen - wie ein Kind auf der Suche nach dem eigenen Ich. Meine Sprache, auf die ich so stolz gewesen war, meine Redekunst, die man lobte, meine Klugheit und Gewitztheit, die man an mir bewunderte: Nichts! Ich hatte nicht nur meine Erinnerung und meine Sprache verloren, sondern auch meinen Verstand. Mein früheres Leben: Ausgelöscht. Und doch spürte ich das Meer um mich herum, spürte eine gewisse Sehnsucht, sah mich sogar auf dem Deck eines großen Schiffes im salzigen Wind stehen. Ich sah mich in den langen Nächten unter den Sternen liegen, bei Windstille dümpelnd in den Wellen, träumend und trinkend. Wer zur See fährt, wer das Meer bei jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter befahren hat, kennt die Freude, mit der die See die Seele eines Mannes erfüllen kann. Das Herz eines Seefahrers schlägt anders als das Herz einer Landratte, es freut sich über die Abwechslung. 

Ich lag nun halbtot am Strand im heißen Sand. Um mich herum lachende Mädchen in weißen, wallenden Kleidern. Spielende, tanzende Mädchen mit bunten Blumen in den geflochtenen Haaren. Waren es Nymphen? Ich spürte ihr unbeschwertes Glück und die Wonnen der Leichtigkeit. War das der Himmel, von dem alle träumten, der Himmel, in den alle hofften, nach dem Tod zu gelangen?

In mir herrschte eine Leere. Mein Kopf dröhnte, ich fühlte Schmerzen am ganzen Leib. Nur das fröhliche Lachen, der Bratenduft und die lieblichen Weisen der Lyra sagten mir, dass ich noch lebte. Und dann erblickte ich das schöne Gesicht eines Mädchens, das sich über mich beugte und mich staunend fragte, wer ich denn sei und woher ich käme. Sie selbst hieße Nausikaa und wäre eine Prinzessin. Ich erinnere mich noch, dass meine Antwort ein heiseres Stammeln gewesen war. Dann wurde ich erneut ohnmächtig, sah aber vorher noch, dass mein Schiff, das letzte von insgesamt zwölf stolzen Schiffen, das mir geblieben war, gesunken sein musste. Keine Trümmer am Strand, keiner meiner verbliebenen Kameraden. Nichts. Keine Spur. Nur hölzerne Reste eines großen Floßes. Also kein Schiff? Voll Überdruss und Abscheu hatte mich das tosende Meer an Land geworfen. Meine Verzweiflung wuchs: Nackt und hilflos und fern von Ithaka. Strandgut an einer fremden Küste! Alles, was ich besaß, trug ich bei mir. . .

Später, als ich in einem prachtvoll eingerichteten Zimmer aufwachte, untersuchten mich zwei rücksichtsvolle Ärzte, deren lockige Bärte mir sofort auffielen. Der König des Landes, Alkinoos, stand neben meinem Lager und stellte mir viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Am Strand, so erzählte jemand, fanden sie später meinen Bogen und mein prächtiges Schwert. Es war die Klinge, die zur Rüstung des Achilles gehörte. Das einzige Stück, das mir geblieben war, denn nach seinem Tod hatte ich die Rüstung meines Freundes für mich beansprucht.

Viele Fragen prasselten auf mich nieder, die ich schwach vernahm: Wer ist dieser fremde Mann? Warum kennt er seinen Namen nicht? Wo liegt seine Heimat? Es war nicht nur Neugierde, ich spürte eine echte Anteilname an meinem Schicksal, wie sie nur friedliche Menschen äußern können. Mich quälte mein Dasein, obwohl die königliche Familie mir jeden Wunsch erfüllte. Meine Traurigkeit stieg von Tag zu Tag, ich weinte oft nachts einsam auf meinem Laken. Es war eine schreckliche Zeit: Du ahnst etwas, glaubst eine kleine Erinnerung gefunden zu haben, nur eine winzige Kleinigkeit, um dann wieder in Dunkelheit zu verfallen, obwohl ich in meiner Vergangenheit intensiv forschte. Wirres Zeug belastete mein Gehirn, besonders nachts, wenn ich nicht schlafen konnte. Wahnvorstellungen peinigten mich. Ich sah schöne Frauen neben mir ruhen, die ihre weichen, weißen Arme mir entgegenstreckten, die mich lockten und verführen wollten. Ihre hörte ihr sehnsuchtsvollen Worte, spürte ihre Hände, doch als ich mich ihnen zuwandte, waren sie wie in einem Nebel verschwunden. Ich fand mich in einem Sinnesrausch und erlebte doch alles nur im Traum. Das macht einen Mann fertig.  

Ich lernte jeden Tag einige Wörter hinzu, so dass meine Sprache sich verbesserte. Die königliche Familie kümmerte sich rührend um mich, besonders Prinzessin Nausikaa und ihre Mutter, die edle Arete, halfen mir, nach Wochen meine Sprache wieder zu erlangen. Ich spürte die zärtliche Zuneigung des Mädchens dem doch erheblich älteren Mann gegenüber, was mir schmeichelte. Die Lust hört eben nie auf. Doch ich zügelte mein Verlangen, um die königliche Familie nicht zu enttäuschen und ihre Gastfreundschaft nicht zu missbrauchen.

Der Palast, in dem ich nun lebte, war leicht von den übrigen Häusern der Insel zu unterscheiden, zumindest aufgrund seiner Größe und der prachtvollen Ausstattung. Die Fassaden waren mit Marmor verkleidet, die umlaufenden Simse glänzten silbrig. Die Zugangstüren schienen aus purem Gold, deren Sockel aus rotem Kupfer, die Türpfosten und der Türsturz aus Silber und Mosaiken, der große Türgriff wieder aus Gold. Goldene und silberne Löwen-Skulpturen flankierten abwechselnd die Eingänge. Eine quadratische Halle, die zum Thronraum des Palastes führte, wurde durch Fackeln erleuchtet, die an insgesamt zwanzig goldenen Statuen, Männer und Frauen, angebracht waren. Ich gestehe: Der Luxus blendete mich. Überall entdeckte ich Volieren mit verschiedenen Vogelarten. Bunte Pfauen stießen ihre krächzenden, schrillen Rufe aus. Brunnen und Wasserbecken sorgten in den Fluren und größeren Räumen für eine angenehme Kühle. Was mich verwunderte: Vom Volk der Phäaken hatte ich vorher nichts erfahren.

Träumte ich das alles nur?

Als ein Sänger des Hofes eines Abends mir zu Ehren Lieder über Troja vortrug, erinnerte ich mich plötzlich wieder an den Großen Krieg. Die Schleier des Vergessens lichteten sich langsam. Was ich über die Helden hörte, schmeichelte mir irgendwie, doch es entsprach nicht der Wahrheit. Die Helden wurden als gottähnliche Wesen dargestellt. Das war falsch, und ich sagte es nach dem Vortrag zum Erstaunen der adligen Zuhörer. Mit einem Mal, es war der siebte Abend, an dem der Sänger die Geschichte Trojas aus seiner Sicht wiedergab, wusste ich plötzlich, wer ich war. Ich sprang auf, stellte mich auf einen kleinen Tisch und rief in den mit vielen Gästen gefüllten Saal hinein: „Ich weiß nun, wer ich bin. . .  wer ich war: Ich bin Odysseus, der Ithaker König, der Zerstörer Trojas!“

Von diesem Abend an erzählte ich meine Version des Großen Krieges. Und ich berichtete der königlichen Familie und den anwesenden Edlen des Reiches in groben Zügen von meinen Irrfahrten, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Und von meiner Heimat Ithaka, von Penelope, meinem schönen Weibe, und von Dir, meinem inzwischen erwachsenen Sohn.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich die Welt um mich herum wiederentdeckte und mein komplettes Gedächtnis zurückerhielt. Erst dann war ich wieder der alte Odysseus und erinnerte mich an mein früheres, abenteuerliches Leben. Mit einem Mal war ich wieder trunken vor Glück und spürte den Drang in mir, endlich nach Ithaka zurückzukehren. Ich redete wieder. Ich lachte, tanzte und trank. Ich erinnerte mich an jede Kleinigkeit. Ich hatte meine alte Körperkraft zurück und entwickelte wieder viele kühne Pläne.

König Alkinoos stellte mir daraufhin eines Tages - neben vielen erlesenen Gastgeschenken - ein tüchtiges Schiff für die Heimreise zur Verfügung. Er hatte gespürt, was mich aus seinem Reich forttrieb. Die liebliche Nausikaa, die sich in mich verliebt hatte, ließ ich weinend zurück. Auch sie konnte mich nicht aufhalten! Endlich wollte ich in meine Heimat zurückkehren.

Ich wusste, als sich die Küste der Insel Scheria von meinem Schiff langsam entfernte, dass man nicht immer die Götter verantwortlich machen darf, wenn man seinen Verstand verliert. Dass unbotmäßige, lüsterne Freier mich auf Ithaka für tot hielten, meinen Sohn Telemachos sogar ermorden und meine Frau Penelope mit Gewalt vermählen wollten – das alles ahnte ich nicht, als ich die gastfreundliche Insel der fröhlichen Phäaken verließ: Dankbar für die Rettung aus Dunkelheit und Sprachlosigkeit und Trauer. Ich war in diesem Moment jedoch kein wirklich glücklicher Mann: Ich hatte mit einem Mal Angst vor der Rückkehr in meine Heimat und vor dem, was mich nach zwanzig Jahren der Abwesenheit dort erwarten würde. Wie eine dunkle Wolke lag die Ungewissheit über meiner anfänglichen Freude.

Dein Vater Odysseus war als dreißigjähriger König in den Krieg gezogen. Gut gelaunt und voller Tatendrang wie alle jungen Männer Griechenlands. Es war die Freude, endlich einmal seine Kraft zu messen mit anderen Helden: Hinauszukommen aus der heimatlichen Enge und ruhmreich zurückzukehren. Ich glaube, junge Menschen jeder neuen Generation denken so naiv. Nun sollte ich aber als ein fünfzigjähriger mittelloser Veteran zurückkehren. Mit Zweifel im Herzen: Würde mich Penelope wiedererkennen, würde sie mich noch akzeptieren, gar lieben? Wie würde die erste Begegnung nach so langer Zeit aussehen? Viele Fragen schossen mir durch den Kopf.

War mein Leidensweg immer noch nicht beendet? Ich wusste nur, dass ich nicht in den prächtigen Gewändern, die mir der König geschenkt hatte, in Ithaka an Land gehen konnte. Ich entschied mich für eine Verkleidung, um unerkannt zu landen: Ich wählte Lumpen. Der König kehrte als Bettelmann in sein Reich zurück! Mit einem Mal wurde mir deutlich bewusst:

Ich war in der Wirklichkeit angekommen!

Wer zwanzig Jahre fortgewesen, verschollen, für tot erklärt worden war, der nichts besaß, außer den Geschenken der Phäaken und dem unbeugsamen Willen zu seiner Familie und in sein Königreich zurückzukehren, der durfte nichts erwarten. Es kostete viel Kraft zu begreifen, dass man ein Niemand war, ein Fremder im eigenen Haus. Von niemandem erkannt, mit Ausnahme seines alten Hundes. Nicht einmal erkannt von seiner eigenen Frau. Trübsal wich der Erkenntnis, die mich antrieb, die mich zur Rache veranlasste: Mögen mich die Freier hassen, wenn sie mich nur fürchten!

Die Sache mit dem Pferd.

. . . meinem Sohn Telemachos erzählt, der sich sofort bereitfand, als mein Chronist zu fungieren. Er will meine Erinnerungen als erster erfahren.

Vom Vater selbst. Fünf Jahre nach dessen Rückkehr in das Inselreich Ithaka.

Wir sitzen am Kamin im großen Königssaal meines Palastes, den Penelope mit neuen Vorhängen dekoriert hat, um den kalten Stein ein wenig wärmer erscheinen zu lassen. Von hier oben hat man einen wundervollen Blick auf die sandigen Buchten, in denen die Fischer ihre Boote und Netze reparieren, denn der Haupthafen ist unseren großen Handels- und Kriegsschiffen vorbehalten. Das Wasser ist kristallklar und lädt zum Baden und Schwimmen ein, was viele meiner Landsleute regelmäßig mit Vergnügen absolvieren. In einer großen Amphore sind heute Morgen rote und weiße Oleanderzweige kunstvoll drapiert, der neue Holztisch, den Telemachos in unserer Werft hat zuschneiden und zusammenbauen lassen, riecht nach frischem Holz und Leim. An der Stirnwand des Palastes hat der berühmte Freskenmaler und Bildhauer Aristokles von Paros zwei Jahre zuvor eine Szene aus dem Trojanischen Krieg geschaffen: Den Einzug des hölzernen Pferdes in die Stadtmauern von Troja. In der Mitte des Raumes schuf er außerdem ein wunderbares Mosaik, das meinem Antlitz ähnlich sein soll: mit rötlichen Haaren und einem gepflegten rötlichen Bart. Es ist auf meinen Befehl hin mit einer kleinen Mauer umgeben, damit es nicht ständig mit Füßen getreten wird, wenn Gäste oder Dienerinnen und Diener den Raum durchqueren.

Mein Sohn und ich haben gerade eine zarte Lammkeule verspeist, die unsere Küche mit reichlich Knoblauch gespickt hatte, und trinken dazu den süßen Samoswein aus silbernen Bechern. Der Mensch lebt eben nicht von Brot allein. Die Scheite brennen lichterloh, rote Flammen züngeln auf unseren Gesichtern, denn noch sind die Nächte des Vorfrühlings kalt und feucht. Winterstürme weichen der Märzsonne, doch die Regenzeit ist noch nicht vorüber. Ich ringe mit mir, ob ich dieses Vorhaben tatsächlich durchführen soll. Ich bin nicht glücklich über meine Entscheidung. Telemachos lacht mir zu und nickt aufmunternd, nachdem er versprochen hat, mich und meine Gedankenflut nicht ständig mit Fragen zu unterbrechen. „Nur Mut, Vater, ich bin neugierig, Deine Geschichten zu erfahren. Jemand muss doch einmal die Wahrheit sagen über Troja und die zehn Jahre danach.“

„Roter Schleim des Hades“

Immer der gleiche Traum: Penelope steht auf

der Kaimauer. Sie starrt in eine Richtung. Dorthin,

wo die Schiffe kommen und gehen. Oft Stunden lang.

Wunderschön. Einsam. Voller Trauer. Verletzlich.

Sie wartet auf ihren Mann und König.

Zwanzig Jahre lang.

Es scheint mir eine Beichte zu werden, mein Sohn. Wie ein Stück vom Leben. Was die Dichter über mich singen, wenn sie die Höfe der Herrscher aufsuchen oder auf den Märkten ihr Publikum finden und über den großen Krieg berichten und über den Helden Odysseus, der zehn Jahre über die Meere irrte wie ein Flüchtling, dann sind die Inhalte sehr verschieden und werden von Mal zu Mal unglaubwürdiger. Warum können die Menschen nicht bei der Wahrheit bleiben?

Da ich der einzige Überlebende bin, der die Heimat Ithaka nach zehn Jahren erreichte, können die Erzählungen über mich und meine Gefährten nur falsch sein. Ich, Odysseus, kenne die wahren Begebenheiten. Nur ich! Also können die Erzähler nicht die Wahrheit sprechen. Ich sage heute: Um die griechische Zivilisation zu verbreiten, müssen wir, musste auch ich, bereit sein, zu lernen. So war ich gezwungen, mitanzusehen, wie elf meiner Schiffe vernichtet wurden. Der Mensch neigt dazu, über Dinge zu reden und zu urteilen, die er nicht erlebt hat und daher auch nicht versteht. Er mischt sich ein. Er maßregelt und beurteilt. Er spottet und sagt falsch Zeugnis aus. Er lügt, nur, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Das will ich nicht. Niemals. Ich will endlich Schluss machen mit den Anekdoten und Lügen, mit den Übertreibungen und mit dem haarsträubenden Unsinn.

Ich frage mich wirklich, wie so etwas entstehen kann. Der Mensch neigt zu Übertreibungen und irrealen Verhaltensformen, er glaubt, nur er sei in der Lage, die Wahrheit zu erzählen. Das ist ein Irrtum: Der Mensch ist zu schwach, um die Wahrheit zu berichten und zu ertragen. Also lügt er. Vielleicht kommt eines Tages ein Gott und zeigt uns den rechten Weg. Es ist wohl so, dass der Glaube nicht nur Berge versetzt, sondern auch den Fortschritt mit Füßen tritt, nur, um eine zeitlose neue Macht zu erlangen. Gutes wird in den Dreck gezogen, weil nicht sein darf, was nicht sein kann. Das Gute wird abgelehnt, weil der neue Glaube nur sich selbst sieht. Weil er für sich beansprucht, er sei der wahre Glaube. War denn alles falsch, was der Mensch Jahrhunderte vorher geglaubt hat? Wer entscheidet, was der wahre Glaube ist? Mich plagen diese Fragen. Ich will versuchen, ehrlich zu sein und dazu beitragen, das Maß der Dinge zu erkennen.

Ich bin durch die Welt gereist, um davon zu erzählen, wie die Gegenwart ist und wie die Zukunft sein wird. Ist das anmaßend oder gar größenwahnsinnig? Ich habe den Eindruck, niemand interessiert sich für die Wahrheit. Niemand möchte erfahren, was geschah, was wir in Troja anrichteten. Denn es kann nicht sein, das Troja eine Lüge war, der Krieg nur aus einer Laune heraus oder einer falschen Motivation wegen stattfand. Mir scheint, niemand will die Wahrheit wissen, weil es ja so einfach ist, jeden Unsinn zu glauben. So entstehen Legenden und Fantastereien, falsche Heldentaten und ebenso falsche Helden. Was zeichnet einen Helden aus? Sind es die außergewöhnliche Tat, seine Brutalität und seine Körperkraft? Ist es der Vorteil seiner Waffen, ist es nur Glück oder die Schwäche des Gegners? Frauen mögen Helden, auch wenn sie es nicht zugeben wollen. Frauen sind stark, doch im Inneren lieben sie auch Männer, die Charisma haben, die wissen, was sein muss. Mich nennt man solch einen Mann!

Als ich zurückgekehrt war und mit blutigen Händen, rasend vor Wut und Eifersucht, die Freier niedergemetzelt hatte und vor Deiner Mutter stand, war das Entsetzen groß. Odysseus, den sie sich so sehr zurückersehnte, war als Rächer erschienen. Blutüberströmt stand ich vor ihr. Entsetzen sah ich in ihrem schönen Gesicht und Trauer. Diesen Mann kannte sie nicht mehr. Es dauerte Wochen, bis sie ihre Scheu ablegte und wir uns wieder wie ein Liebenspaar aufführten. Wir hatten Angst vor einer Enttäuschung, unsere Gefühle mussten erst wieder sortiert werden, die Erfüllung musste warten. Dann, als wir uns erneut vertrauten, uns gegenseitig unsere Gefühle zeigten, erste Zärtlichkeiten austauschten, blieben wir eine Woche in unserem Schlafzimmer. Eine Woche, in der wir liebten, lachten, unsere Körper wieder neu entdeckten, wie junge Fohlen. Nur Speisen und Getränke durfte die alte Eurykleia servieren. Es war ein nimmer endender Liebesreigen, ein Rausch, ein wildes Verlangen, Erfüllung, dann wieder zärtliches Tasten. Schwüre. Aufmunterungen. Neue Kraft sammeln für zwei sich fremdgewordene Menschen, die ihre vertraute Nähe suchten und sich dann wiederfanden. Als ich Penelope nackt vor mir sah, so wie ich sie mir in den zwanzig Jahren der Abwesenheit vorgestellt hatte, war ich rasend vor Verlangen. In ihrem Gesicht spiegelte sich das ganze Glück der Welt, unserer Welt. Es mischten sich auch Tränen mit lautem Stöhnen in diesem alten, quietschenden Bett. Unsere Körper fochten einen Liebeskampf aus, bei dem es keine Verlierer gab. Wenn wir ermattet niedersanken, für einen kurzen Moment neue Kräfte sammelten, dann flüstertet wir uns zärtliche Worte zu, um uns später erneut zu lieben bis zur Erschöpfung. Wir liebten uns im Bad, auf der Terrasse, am Strand und spontan auch im Pferdestall, als wir einen Ausritt geplant hatten, und wir dann doch lieber ins Heu sanken. Was für eine Woche! Wie ausgehungerte Seelen fielen wir über uns her, neue Spiele zu entdecken, ungeahnt, liebend, versunken, rauschhaft, ermattet. Bewusst höchste Lust! Unser Wiedersehen wurde ein Liebesfest, wie ich es mir vorgestellt hatte in all den Jahren. Sehnsucht löste sich in Sucht auf, in ein beiderseitiges heftiges Verlangen. Penelope, die mir ihren Leib entgegenstreckte, bis wir zu einer Einheit verschmolzen, lachend vor Erwartung. Hat es je solch ein Liebespaar gegeben? Alles war nach dieser Woche verziehen. Mehr Glück konnte es nicht geben. Ich fragte Penelope: „Haben die Götter mir verziehen?“ Sie antwortete zärtlich: „Ja, sie haben Dir vergeben.“

Was für ein Mensch muss das wohl sein?

Diese Märchenerzähler kennen mich nicht, sie wissen nichts über diesen mutigen Mann, der einst, getrieben von der Neugierde eines Reisenden und dem Fluch der Götter, seine Insel Ithaka und seine Frau verließ. Was für ein Mensch muss das wohl sein, fragen sie sich. Das frage ich mich ebenfalls, denn ich habe begriffen, dass zum Ruhm der berühmten Helden immer auch etwas von der Blödheit der Bewunderer gehört. Sie nennen mich einen brillanten Redner, aber auch einen talentierten Ränkeschmied und ein Schlitzohr. Warum sprühen Neider immer so viel Gift aus? Ich habe den Eindruck, der Mensch möchte die Wahrheit nicht wirklich erfahren. Er flüchtet sich in eine Schönfärberei, lässt das Grauen des Krieges einfach verschwinden hinter der Mauer der Scheinheiligkeit. Ist das normal, frage ich Dich? Die Chronisten stricken sich ihre Wahrheit einäugig zusammen, sie machen aus dem Grauen eine bewundernswerte Angelegenheit. Ihre Rechtfertigung ist der Versuch, Unrecht zu legalisieren. Brutalität zu beschönigen und Unmenschlichkeit zu vertuschen. Oder ist es nur eine überhebliche Wichtigtuerei, die Menschen veranlasst, Mythen zu verbreiten, um sich selbst in ein strahlendes Licht zu stellen? Ich erlebte eine Zeit, in der ich an mir selbst zweifelte.

Ich träume heute nicht mehr so viel. Es waren wilde Erlebnisse, die mich überfielen. Man sagt, Menschen, die träumen, würden verschlüsselte Wahrheiten über sich selbst und ihre Umwelt erfahren. Einig sind sich die Auguren darin: Träume spiegeln Erfahrungen aus dem Alltag wider, behaupten sie. Die Dinge, die uns wichtig seien, kämen auch im Traum vor. Doch morgens - nach dem Aufwachen - war die Verwirrung bei mir erst einmal groß. Denn die nächtlichen Bilder aus dem Kopf ergaben zunächst nur bedingt Sinn – manchmal erschienen sie mir auch völlig sinnlos. Die Realität in der Erinnerung und die der Träume verwischten sich. Ich wusste nicht mehr, was tatsächlich geschehen war. Ich hatte das Gefühl, meinen Verstand zu verlieren. Mit schien, jemand wollte mich auf den Arm nehmen, foppen und verwirren. Kein Wunder, denn die Verbindung zwischen Träumen und realen Alltagserfahrungen lassen sich nur selten direkt erkennen. Es führte dazu, dass ich meine Erlebnisse bald für Träume hielt und die Träume für die Wahrheit.  Man verliert bald die Achtung vor sich selbst, mein Sohn. Die Fragen, die mich quälten: Circe nur ein Traum? Polyphem ebenso, Kalypso auch? Troja nur ein Hirngespinst? Hatte der Große Krieg in Troja überhaupt stattgefunden? Waren die Heldentaten nur in meiner Fantasie entstanden, von einem Gott mir im Traum gesandt, um einen großen, unsterblichen Mythos zu schaffen? Trotzdem wundere ich mich, dass griechische Mythologie ein so großes Thema für Menschen außerhalb Griechenlands ist. Ich hatte vielmehr einen anderen Hintergedanken: Ich wollte reisen, Europa entdecken, Neues erleben.

Meine Einsamkeit wuchs

Telemachos, ich hatte niemand, mit dem ich meine Zweifel hätte besprechen können. So wuchs meine Einsamkeit selbst in Eurer Gegenwart. Kann ein Mensch mehr leiden? Ich verstummte mit der Zeit und spürte Eure Zweifel an meinen spärlichen Erklärungen. Die Träume führten mich an den Rand des Wahnsinns. Ein Traum verfolgte mich regelmäßig: Ich begegnete Deiner Mutter in vielerlei Gestalt: Mal als Zeus, als ein Riese, als Hirte, als Wagenlenker, als Saufbold und Rüpel, als Faun – doch nie als Odysseus. Penelope behandelte mich in den Träumen höflich und respektvoll, doch sie wies mich stets zurück, blieb hartherzig und bestimmt. Mit der Zeit bewunderte ich ihre Standhaftigkeit und Würde. Es entstand das Bild einer stolzen, leidgeprüften, treuen Ehefrau. Während die Inhalte meiner Irrfahrten den Zweifel an mir selbst nährten. Was war Erfindung, was war Realität, was Unsinn und Übertreibung? Auch in der heutigen Zeit versuchen wir, unsere Träume zu deuten. Obwohl wir keine höhere Macht mehr hinter ihnen vermuten, ahnen wir, dass Träume uns etwas erzählen wollen. Etwas, das im Verborgenen schlummert, in unserem Unterbewusstsein verankert ist und sich im Traum seinen Weg in unser Bewusstsein bahnt. Was wir träumen, ist oft etwas, das wir erlebt oder glauben erlebt zu haben und nicht verarbeiten können. Es kann auch etwas sein, das wir verdrängen, uns herbeisehnen oder etwas, vor dem wir uns fürchten. Denn im Traum ist uns Menschen alles möglich.

Noch einmal: Ist mein Leben, sind meine zwanzig Jahre in Troja und danach in Wirklichkeit nur ein böser Traum gewesen? Odysseus nur ein Spielball der launenhaften Götter? Wenn ich morgens erwachte, überfiel mich eine merkwürdige Panik: War ich auf dem Weg, meinen Verstand zu verlieren? Niemand außer mir kannte doch die unglaublichen Erlebnisse. Keine Überlebenden, also keine Legenden! Was war geschehen mit Odysseus? Ich quälte mich viele Jahre und schwieg. Ich war mir nicht mehr sicher, was mit mir und meinen Männern geschehen war. War alles nur eine traumhafte Fantasie eines müden Helden? Wer wird mir noch glauben? Alles Erlebte nur Schwindel, Lügengeschichten eines verstörten Geistes? Wer könnte meine Erzählungen bestätigen, fragte ich mich oft? Solange ich lebe, kann ich als Zeuge meine Fahrten bestätigen, doch wer bezeugt nach meinem Tod all diese unglaublichen Erlebnisse? Was bleibt übrig von den wundersamen Heldentaten? Ich kam zu dem Schluss: Jemand muss meine Schilderungen niederschreiben! Deine Mutter weiß von meinem Plan. Sie empfahl mir, einem Dichter meine Erlebnisse zu erzählen, einem Mann, dem ich vertrauen könne. 

Es sind diese schmerzhaften Zweifel, die mich quälten, die erst seit ein paar Monaten verschwunden sind. Ich glaube, heute alles klar vor mir zu sehen: Troja und meine Reisen. Mein Verstand scheint geordnet, mein Gedächtnis erstarkt zu sein. Der innere Kampf ist beendet, klar stehe ich vor meinem Leben und den Erinnerungen. Ich glaube, es war gut, dass Penelope und Du mich nicht fortwährend ausgefragt und gequält haben. Heute ist der Knoten entflochten. Ich fühle mich wie befreit, denn ich denke, ich habe einen klugen Kopf gefunden. Vielleicht besucht er mich. Ich warte noch auf seine Antwort.

Dieser Dichter bat mich aus eigenem Willen um ein Gespräch. Sein Name lautet Melesigenes, doch er schreibt auch, wie ich erfahren konnte, unter dem Pseudonym Homer erste Gedichte. Niemand kennt ihn, doch in Smyrna hat er bereits einen guten Ruf. Ich hoffe, er ist kein Scharlatan, keiner dieser falschen Chronisten, die die Geschichte verfälschen, um sich selbst wichtig zu nehmen. Die Macht des Wortes wird oft verkannt: Worte können zu einer verbalen Waffe werden, schärfer als ein Schwert. Doch mir wird die Welt glauben! Niemand wird meine Berichte anzweifeln. Warten wir also auf die Antwort dieses Schreibers!

Warum quälen die Götter uns Menschen auf diese brutale Weise? Heute weiß ich, mein Sohn: Es ist viel mehr wert, jederzeit die Achtung der Menschen zu erleben als ihre Bewunderung. Ich bin sehr vorsichtig damit, aus meiner heutigen bequemen Situation, in der ich mich befinde, jemanden zu kritisieren oder zu verurteilen, der sich im großen Krieg so oder so benommen hat. Das liegt mir fern. Schuld darf ich nicht bei anderen, ich muss sie allein bei mir suchen. Es gehört offenbar zu den menschlichen Überlebenskünsten, den widrigen Umständen und Erlebnissen immer auch etwas Positives abzugewinnen. Probleme als schicksalshafte Herausforderungen zu begreifen, das lernte ich sehr früh. Doch ich sage heute auch: Krieg ist etwas Grausames, jeder vernünftige Mensch sollte Kriege ablehnen. Wie kann der Tod etwas Großes sein, etwas zwingend Notwendiges? Ich denke viel darüber nach, weil ich mich schuldig fühle, obwohl ich weiß, dass meine Kameraden das anders sahen: Sie rechtfertigen unsere Brutalität und den Völkermord an den Trojanern. Ich finde, die Welt soll, sie muss erfahren, was tatsächlich geschah! Sie muss wissen, dass wir Unrecht taten, als wir zu den Dardanellen aufbrachen, um Tod und Leid über ein Volk zu bringen, das wir beneideten.

Ich wäre gerne ein Greif

Heute Morgen, als ich nach einer ruhigen Nacht auf unsere große Terrasse trat, um einige Körperübungen zu absolvieren - ich trainiere jetzt sehr gerne mit einem großen Kieselstein, den ich abwechselnd in die linke und rechte Hand nehme - beobachtete ich ein Rotmilan-Paar, wie es über unserem Palast seine Kreise zog. Es kommt inzwischen an jedem regenfreien Tag zu uns, so, als wollten mich die beiden begrüßen. Manchmal landen sie mit ihren großen Schwingen auf einer der dicken Mauern, die meinen Palast umgeben. Ich mag diese stolzen Greifvögel. Irgendwie fühle ich mich mit ihnen verwandt. Wenn ich ein Vogel sein müsste, ich würde mich für einen Milan oder einen Steinadler entscheiden. Ihre Majestät, ihre Eleganz und ihre Unabhängigkeit beeindruckten mich schon als Kind, als ich mit meinem Vater Laertes im Gebirge wanderte und die stolzen Flieger beobachtete. Mein Vater sagte damals: „Falkner sehen in ihren Vögeln das Spiegelbild der eigenen Seele.“ Wir setzten damals auch Falken zur Beizjagd ein, doch leider ist diese edle Form der Jagd aus der Mode gekommen. Im Gegensatz zu uns Menschen tötet ein Greif nur dann, wenn er Hunger hat . . . Es dauerte sicher eine halbe Stunde, bis die beiden Vögel landeinwärts flogen. Ob sie meine Handbewegungen wohl erkannt haben? Wir sollten eine große Schale mit frischem Fleisch aufstellen, um sie zu locken, wie es die Trojaner praktizierten, die diese Vögel sehr verehrten. Manchmal, wenn ich die beiden Jäger beobachte, träume ich davon, wie ich mit Penelope davonfliege, denn auch Milane und Adler bleiben ein Leben lang als Paar zusammen.

Wie unscheinbar ein Mensch ist, erlebte ich eindrucksvoll auf der großen Insel Trinacria. Mein Sohn, wer einmal vom zerklüfteten Rand des großen Kraters in das Auge des Ätna geblickt hat, der spürt die Macht der Götter, der fühlt diese eruptive Kraft, die aus dem Inneren der Erde an das Tageslicht strömt. Glühende Erde, ich nannte sie damals überheblich „Schleim des Hades“, und der Gestank der Hölle vereint - das Erlebnis vergisst keiner, der dies je erlebt hat. Wenn der Boden schwankt und die Menschen ihre Häuser fluchtartig verlassen, wenn sie dankbar auf die Knie fallen, den Göttern danken, da der mächtige Feuerberg sie diesmal verschont hat. Du musst die dreieckige Insel des Hephaistos besuchen, um zu erleben, wie klein, wie machtlos der Mensch gegenüber dieser göttlichen Naturgewalt ist. Hier sind uns Menschen Grenzen gesetzt, so sehr wir uns auch bemühen, mehr zu sein, als wir sind. Es war der für mich imposanteste Eindruck, der mich in den zehn Jahren meiner Irrfahrt bewegte. Der Glutberg Ätna: Götterwerk und menschenverachtend zugleich. Wie unbedeutend der Mensch wird, wenn er im Angesicht der Götter versucht, es den Unsterblichen gleichzutun. Die Insel des Feuers und der Zyklopen wird ewig ihren Schrecken behalten. Und doch ist Syrakusai im Osten eine wunderbare Polis, mit gebildeten Menschen - der angenehme Gegenpol zu den wilden Riesen an der Nordküste. Du merkst, wie schwer es mir fällt, meine Erinnerungen zu sortieren. Die Natur, der Götter allmächtige Welt, mein Sohn, ist nicht zu erobern und zu besiegen, denn wir Menschen sind ein Teil davon, der schwächere Teil. Ich habe meine Lektion gelernt, sich nicht gegen die Natur - also gegen die Götter - zu stellen. Auch wenn ich meine Zweifel habe. . .

Warum tue ich mir das an, frage ich Dich allen Ernstes! Meine Beichte ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Wenn ich hier in der Königshalle sitze, esse, trinke und mit Dir diskutiere, dem betörenden Flötenspiel unserer Hirten lausche, dann rieche ich immer noch das warme Blut, das ich hier vergoss, dann höre ich die Schreie und die Flüche der Sterbenden. Ich sehe sie dann wieder vor mir, die arroganten Freier, über vierzig lüsterne, angetrunkene und überhebliche Männer, die meinen Thron mir rauben und meine Frau in ihre Betten zerren wollten. Ich sehe sie dann alle vor mir: Brutal und feist und fröhlich. Und ich sehe Euer Entsetzen und die Ohnmacht, sich gegen diese Bande zu erwehren. Wieder und wieder erinnere ich mich an diese Heimkehr. Die Erinnerungen verschönen das Leben, behaupten unsere Dichter. Aber das Vergessen allein macht es erträglich. Ich ringe oft mit dem Vergessen, doch die Erinnerung besiegt das Vergangene. Sie holt mich immer ein.

Als ich mich Dir zu erkennen gab, weinten wir lange und hielten uns in den Armen. Deine Suche nach mir war zu Ende: Dein verloren geglaubter Vater lebte und musste sich erneut seinen Thron zurückerobern. Was für eine unwürdige Heimkehr, doch alle Dinge geschehen aus Notwendigkeit! Auch dies gehört zu meinem unruhigen Leben, zu meinen Erinnerungen, die ich Dir jetzt zu erzählen versuche.

Ich bin etwas verwirrt, das gebe ich zu, denn was ich zu berichten habe, ist so ungeheuerlich, dass es wie ein Märchen klingt. Wirst Du mir glauben können? Der Sohn dem Vater, dessen Namen jeder kennt? Weißt Du, lieber Telemachos, Ruhm ist für jeden Menschen etwas anderes. Manche glauben, dass Ruhm der Beweis dafür ist, wie berüchtigt einer in Wirklichkeit gewesen ist. Berühmte Helden werden heute als folgsame Botschafter zwischen den Menschen und den Göttern bezeichnet. Ich sehe das nicht so: Ruhm ist Glücksache, Können und Talent und Fleiß auch, aber oft nur den Launen eines Gottes geschuldet. Für mich gehört zum Ruhm auch der Charakter eines Menschen. Wer ein Berserker ist, der führt kein ruhmreiches Leben. Ein Mörder kann kein wahrer Held sein, ebenso wenig ein Vieltöter und ein Massenschlächter. Ich frage Dich: Gehören nicht auch Ehre und Gnade, Anstand und Wohlwollen, sicher aber auch Ritterlichkeit zu einem ruhmreichen Leben? Viele behaupten ja, Held sein ist griechisch. Kritiker nennen den Ruhm die höchste Stufe der Freiheit und der Eitelkeit! Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet. Dabei nannte mich Athene, so wird von Deiner Mutter behauptet, „beherzt, listenreich und erfinderisch“. Sie lobte meine „Zungenfertigkeit, meinen Mut und das Wölfische“. Odysseus, der „Wolf mit Seefahrerblut in den Adern“. Sie meinte wohl: Es muss verschiedene Rangstufen geben, da alle Menschen herrschen wollen und nicht alle es wirklich können . . .

Mir waren immer Menschen sehr unsympathisch, die blindlings in die Tempel strömten und eine Gottgläubigkeit an den Tag legten, deren Oberflächlichkeit sofort erkennbar wurde. Ein kluger Grieche dagegen konnte kaum an die Sagen- und Märchenwelt der Götterfiguren auf dem Olymp glauben.  Und doch spürte auch ich in den vergangenen beiden Jahrzehnten Mächte, die in mein Leben traten. Eine Kraft umgab mich, die mir zu denken gab, die mein Handeln beeinflusste. Oft hatte ich das Gefühl, wie unter einem Zwang handeln zu müssen, obwohl es mir widerstrebte. Das muss etwas von dieser Göttlichkeit gewesen sein. Der gebildete Mensch lehnt die unsterblichen Götter ab, weil er glaubt, durch seine Bildung die Dinge besser sortieren zu können als der einfache Mensch, der weder Schreiben noch Lesen kann. Die Göttergeschichten seien etwas für die Ungebildeten, die Analphabeten und Unwissenden. Wir denken, die Menschen sind dem Schicksal und den allmächtigen Göttern willenlos ausgeliefert. So denke das dumme Volk, glauben wir überheblich. Das stimmt einfach nicht, ich selbst habe Momente erlebt, in denen ich verzweifelt um den Beistand der Götter flehte. Manchmal erhöhten sie mein Flehen, oft leider nicht. Oft pries ich sie, dann wiederum verfluchte ich sie. Mit jedem Mal begriff ich das Kräftespiel, das uns Menschen auferlegt wurde, um zu überleben, um überhaupt ein geordnetes Leben führen zu können. Ich begriff die Ordnung, die hinter allem steht. Die Gesetzmäßigkeit, die unser Zusammenleben erst ermöglicht. Deshalb braucht der Mensch Götter. Hätte er sie nicht, er müsste verzweifeln sein Leben lang. Also schuf er sich eine Götterwelt, in der er sich wiederfand und die sich doch dem Begreifen entzog. Ich trage heute die Bilder in mir, sie sind ein Teil von mir geworden. Aber sie sind kein Teil von mir, auf das ich stolz sein kann. Späte Reue entschuldigt frühe Fehler nicht. Ich kann nur hoffen, dass mir Absolution widerfährt.