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Mehrere Interviews hat die Sängerin und Journalistin Malka Marom zwischen 1973 und 2012 mit Joni Mitchell geführt. Das Vertrauen zwischen den beiden Frauen ist groß, und so geht es in diesem Buch um alles: um Jonis Kindheit in Kanada, ihre frühe Polioerkrankung, ihre Mutter, der sie es nie recht machen konnte, ihre Leidenschaft für die Malerei. Unnachahmlich ehrlich erzählt Mitchell von ihrer frühen Mutterschaft - das Kind musste sie zur Adoption freigeben -, ihren Lieben, ob zu James Taylor oder zu Leonard Cohen, ihrer Bewunderung für Stevie Wonder und Charles Mingus, ihrer schwankenden Haltung zu Bob Dylan, aber auch von ihrer Scheu vor Menschen, dem lauten Leben in L.A., der Stille in ihrem Haus im kanadischen British Columbia, wo nachts die Wölfe ums Haus schleichen - und von ihrer Liebe zur Literatur. So erfährt man unter anderem, dass Nietzsche Mitchell zum Lachen bringt und von ihrer Faszination für C.G. Jung und das I Ging.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Joni Mitchell
Ich singe meine Sorgen und male mein Glück
Gespräche mit Malka Marom
Aus dem kanadischen Englisch von Thomas Bodme
Kampa
Für Joni
»Auf der Bühne stand eine junge Frau, die ihren Minirock bei der Heilsarmee gekauft haben musste. Den Rücken den leeren Stuhlreihen zugewandt, stimmte sie ihre Gitarre, immer und immer wieder neu. … Ich hatte meinen Cappuccino längst ausgetrunken, und immer noch stimmte sie ihre Gitarre, hier ein bisschen höher, da ein bisschen tiefer … Dann drehte sie sich um, beugte sich über das Mikrophon, schlug ein paar Akkorde an, Akkorde, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Sie begann zu singen und stellte dabei von Vers zu Vers meine Wahrnehmung auf den Kopf, rückte die Wirklichkeit in ein neues, schärferes Licht.«
So schildert Malka Marom im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe ihre erste Begegnung mit Joni Mitchell im Riverboat-Café in Toronto an einem eisigen Novemberabend 1966.
1973 nahm Marom, die ebenfalls als Sängerin tätig war, im Duo Malka & Joso, und inzwischen als Journalistin für den kanadischen Sender CBC arbeitete, Kontakt zu Mitchell auf. Die beiden Frauen trafen sich noch im selben Jahr zu einem fünftägigen Interview im luxuriösen Haus des Produzenten David Geffen in L.A., wo Mitchell, die gerade an dem Album Court and Spark arbeitete, damals wohnte – und wurden Freundinnen. Private Treffen folgten, in L.A., in Mitchells Haus in British Columbia, in Toronto, wo Marom lebte. 1979, kurz vor der Veröffentlichung von Mitchells Album Mingus, fand das zweite Interview statt, wieder in L.A. Über vierzig Jahre nachdem Marom Mitchell das erste Mal auf einer Bühne gesehen hatte, trafen sie sich ein drittes Mal zum Interview in L.A., kurz vor dem siebzigsten Geburtstag der Sängerin und Malerin.
Das Buch beginnt mit Passagen aus dem dritten Interview. Für die vorliegende Ausgabe wurden einige Kürzungen vorgenommen.
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Im Begleittext zu deiner Compilation Dreamland [2004] steht: »In ihren Bildern, ihren Songs und ihrem Leben hat sich Joni Mitchell nie mit einfachen Antworten begnügt; noch immer erkundet sie die großen Fragen.« Welche sind das?
Adam und Eva. Der Sündenfall. Das Ausgestoßensein aus dem Garten Eden, dem Planeten Eden, der Erde Eden habe ich immer und immer wieder erkundet.
And just as Eve succumbed
To reckless curiosity
I take my sharpest fingernail
And slash the globe to see
Below me
»Paprika Plains«, Don Juan’s Reckless Daughter, 1977
They paved paradise
And put up a parking lot
»Big Yellow Taxi«, Ladies of the Canyon, 1970
We are stardust
We are golden
And we’ve got to get ourselves
Back to the garden
»Woodstock«, Ladies of the Canyon, 1970
Zum Garten, zu den Anfängen: Hast du schon als Kind davon geträumt, auf einer Bühne zu stehen, Songs zu schreiben?
Ich wollte immer schon hoch hinaus, glaube ich. Glamour hat mich interessiert, wobei Glamour damals für mich …
Es gab zwei Läden in der Stadt. Mein Vater hatte den Lebensmittelladen und Marilyn McGees Vater den Gemischtwarenladen. Marilyn und ich nannten den Simpsons-Sears-Katalog »Das Buch der Träume«. Das war für mich der Inbegriff des Glamourösen. Auf dem Bauch liegend, sahen wir ihn Seite um Seite an und wählten unsere Lieblingsgegenstände aus: unseren liebsten Hüftgürtel, unsere liebste Säge und unseren liebsten Hammer. So lernte man zu shoppen, bevor man Geld hatte, wurde süchtig nach dem Auswählen.
Egal um welche Preisklasse es geht, kann ich dir sagen: »Das ist etwas Gutes für diesen Preis. Das ist etwas Schönes.«
Heute noch?
Ja. Und wenn dieses »Buch der Träume« ausgelesen war, wurde Klopapier daraus, denn damals war alles rationiert. Sogar der Bürgermeister wischte sich den Arsch mit dem Simpsons-Sears-Katalog ab, buntem Glanzpapier. Im Lebensmittelladen hoben wir auch das Einwickelpapier von Orangen auf. Auch das benutzten wir als Klopapier.
Es gab in der Stadt [North Battleford] kein Abwassersystem. Gehsteige aus Holz, Elektrizität, aber kein fließend Wasser, Wasserspeicher auf den Dächern und Plumpsklos. Neben der Wasserkanne im Klo lag das »Buch der Träume«.
Hat das »Buch der Träume« bei dir das Bedürfnis zu zeichnen geweckt?
Nein, das ging auf Traumata und Ängste zurück. Und die kamen ausgerechnet von Bambi. Die Szene im Film, in der Bambis Mutter im Feuer gefangen wird, war für mich so grauenhaft, und ich wurde sie einfach nicht los. Tage-, vielleicht wochenlang zeichnete ich Feuer und fliehende Rehe.
Wie alt warst du da?
Vier oder fünf. Ich zeichnete und zeichnete. Dieses Trauma und diese Ängste – der brennende Wald und die leidenden Tiere – lösten eine Obsession aus, Gefühle zu exorzieren, indem ich sie mir vom Leib zeichnete.
Vielleicht geht auch meine Verachtung für die Spezies Mensch darauf zurück. Dass sie so wenig daran denkt, dass es noch andere Geschöpfe auf dem Planeten gibt.
Das erinnert mich an die Höhlenmalereien von Altamira. Vor zigtausend Jahren haben die Menschen an die Wände Tiere gemalt, vor denen sie Angst hatten. Hast du weitergemacht?
Ja. In der Schule sollten wir eine Hundehütte zeichnen. Ich habe die beste Hundehütte der Klasse gezeichnet. So schuf ich meine Identität als Künstlerin.
Mochtest du es, als Künstlerin betrachtet zu werden?
So war das nicht. Man hat mich als Dummkopf betrachtet. Als ich in der zweiten oder dritten Klasse war, hat die Lehrerin uns nach Gruppen umgesetzt. In eine Reihe kamen die besten Schüler, die sie »bluebirds« [Hüttensänger] nannte; in eine andere Reihe die zweitbesten, »robins« [Wanderdrosseln] genannt; die drittbesten nannte sie »wrens« [Zaunkönige]; und die Nieten »crows« [Krähen]. Ich gehörte zu den »wrens«, war also ein Bürger dritter Klasse. Ich schaute mir die in der ersten Reihe an und dachte: »So was von selbstgefällig!« Sie hatten ihre kleinen Hände gefaltet und schauten drein, als hätten sie einen Preis gewonnen. Und ich dachte: »Ihr habt bloß wiedergekäut, was die Lehrerin euch eingetrichtert hat.«
Danach interessierte mich nichts mehr, außer wenn sie eine Frage stellte, auf die keiner eine Antwort wusste. Damit ich was lerne, muss ich etwas entdecken können. Das ist dieser Drang zu Originalität. Deswegen bin ich Autodidaktin und passe in keine Schublade.
Dass ich damals die beste Hundehütte gezeichnet hatte, das hat mir Kraft gegeben. Ich stellte fest, dass ich etwas konnte. Ich schuf mir diese Identität, und als ich später in die Ecke gestellt wurde und man sich über mich lustig machen wollte, da konnte ich das zu etwas Tollem ummünzen.
Du bist also schon in so jungen Jahren tapfer und erfinderisch gewesen.
Na ja, das musste ich, denn ein Jahr später, als ich zehn war, bekam ich Kinderlähmung. Da haben die mich weggeschickt, hundert Meilen weg.
Als man andeutete, dass ich vielleicht nie mehr gehen können würde – direkt wurde das nie ausgesprochen, sondern man hat auf einen Mann hingewiesen, der im Rollstuhl saß –, da habe ich das nicht akzeptieren wollen. Bei Gott, ich würde aufstehen und gehen. »Ich bin kein Krüppel, ich bin kein Krüppel«, sagte ich zu einem Weihnachtsbaum, den meine Mutter mir ins Zimmer gestellt hatte – das einzige Mal, als sie mich besucht hat. Mein Vater hat mich kein einziges Mal im Krankenhaus besucht.
Ich saß dort also fest kurz vor Weihnachten. Jemand schickte mir ein Ausmalbuch mit Weihnachtsliedern, da gab es so Dickens-artige Bilder, die meisten mit Straßenkötern. Buntstifte hatte ich keine. Aber ich hatte Geschwüre im Mund, die hat man bepinselt mit Kristallviolett, und manchmal haben sie die Tupfer dagelassen. Damit habe ich dann die Bilder ausgemalt. Hellviolett, dunkelviolett, violette Punkte, violette Streifen – für verschiedene Schattierungen. Besonders aufregend war das nicht, alles nur eine Farbe.
Ich war in einem Wohnwagen-Annex außerhalb des Krankenhauses, weil wir so ansteckend waren, und mit mir im Wohnwagen war ein Sechsjähriger. Der war sehr mürrisch und hat ständig in der Nase gebohrt.
Eines Tages hatte ich irgendeine Therapie bekommen, und danach ließen sie mich am Bettrand sitzen, völlig verkrümmt, und meine lahmen Beine hingen herunter. Da kam eine Nonne rein, beschimpfte mich als »schamloses Flittchen«, drückte mich ins Bett und deckte meine Beine zu. Und ich dachte: »Ich bin zehn, er ist sechs. Was ist nicht recht mit meinen Beinen?«
Und dann begann ich diese Weihnachtslieder zu singen, und er bohrte in der Nase und sagte, ich soll das Maul halten. Mein erstes Publikum! (Lacht.)
Sie haben mir den Weihnachtsbaum gelassen, den meine Mutter gebracht hatte, der war mit etwas Glitzerzeug geschmückt. Und nach dem Lichterlöschen sagte ich zu dem Baum: »Ich bin kein Krüppel, ich komme hier raus.«
Das war mein Privatritual, ich hab gebetet, dass ich meine Beine zurückbekomme. Im Jahr davor hatte ich mit der Kirche gebrochen. Wenn ich da Fragen stellte, schauten mich alle an, als wäre ich ein böses Mädchen. Ich sagte: »Adam und Eva waren die ersten Menschen auf der Erde und hatten zwei Söhne, Kain und Abel. Kain brachte Abel um und heiratete. Wen hat er geheiratet? Eva?« Reaktion: »Du böses Mädchen.« Ich habe also eher nicht zu Jesus oder zu Gott gebetet.
»Ich werde mich erkenntlich zeigen«, sagte ich zu wem auch immer. »Hol mich einfach hier raus. Gib mir meine Beine zurück.«
Ein Jahr später bin ich tatsächlich aufgestanden und durfte nach Hause. Und ich habe mein Versprechen gehalten. Als man mich gefragt hat, ob ich beim Kirchenchor mitmache, habe ich Ja gesagt. Ich habe die Oberstimme übernommen, was die wenigsten Kinder konnten, wegen der verrückten Intervallsprünge. Sie bewegte sich über und unter den kompakteren Begleitstimmen. Ich fand die Oberstimme sehr aufregend, was sich stark auf meine Songs ausgewirkt hat und meine Vorliebe für merkwürdige Intervalle.
Ungefähr nach der dritten Chorprobe kaufte ein Mädchen Zigaretten. Da sind wir alle runter zum leeren Kirchenteich gegangen und haben Zigaretten rumgereicht. Ein Mädchen hat gekotzt. Es wurde viel gehustet. Ich nahm einen Zug und sagte: »Das ist toll.«
Und seither rauchst du?
Ja, seit ich zehn bin.
Ist der Pfarrer von damals ein Held für dich gewesen?
Ja. Ich war in der vierten Klasse, als meine Freundin Anne Bayin und ihr Vater Allen Logie, der Pfarrer werden sollte, in die Stadt kamen. Er hat mich nicht als böses Kind beschimpft, wenn ich Fragen stellte. Er sagte … Was hat er noch mal für ein Wort verwendet? »Symbolisch«. Das hatte ich noch nie gehört, aber ich habe es verstanden. »Ach, das ist bloß symbolisch gemeint. Adam und Eva waren nicht wirklich der erste Mann und die erste Frau. Das ist symbolisch.« Er hat es gewagt zu sagen, das sei ein Mythos.
Und seither bist du fasziniert von der Geschichte vom Garten Eden?
Genau. Das ist seit meiner Kindheit eine meiner liebsten Geschichten. Adam und Eva leben im Einklang mit der Natur. Und dann wird Eva neugierig. Und die Schlange sieht, dass sie neugierig ist, und besorgt’s ihr, sozusagen. Sie macht die Sache noch reizvoller.
Symbolisch macht Eva den Fehler, dass sie was isst. Sie giert nach Erkenntnis. Sie isst von dem Baum, aber isst nicht vorher vom Baum der Unsterblichkeit. Das ist der Fluch. Wäre man unsterblich, das ist meine Interpretation, dann hätte man den nötigen Weitblick. Doch dummerweise haben Adam und Eva sich nur für die Erkenntnis entschieden, ein bisschen Erkenntnis in der Hand von Dummköpfen.
Spirit of the water
Give us all the courage and the grace
To make genius of this tragedy unfolding
The genius to save this place
»This Place«, Shine, 2007
Ich habe meine Großmutter mal gefragt, warum meine Mutter eine so pathologische Abscheu vor Schlangen habe. Und sie sagte: »Ach, Joan, seit Eva im Garten war, mögen Frauen die Schlange nicht besonders gern.« Schon wieder diese Geschichte, also.
Tatsächlich war meine Mutter an Ringelnattern gewöhnt. Sie war eine Bauerstochter. Eines Tages aber ist sie in einem dunklen Gemüsekeller barfuß auf eine Schlange getreten, und da ist sie durchgedreht. Ich habe erlebt, wie sie beim Durchblättern einer Enzyklopädie zusammengezuckt ist, als sie das Schwarz-Weiß-Foto einer Schlange berührt hat.
Ich bin also aufgewachsen mit dem Gefühl: Wenn ich je barfuß auf eine Schlange trete, dann sterbe ich. Das war eine Art Familienfluch.
Von wegen Symbolik: Eine Zeit lang habe ich das Freud’sche Zeug geglaubt, dass eine Schlange ein Phallussymbol sei. Aber ich glaube nicht, dass Sex die Erbsünde ist, überhaupt nicht. Es ist doch so: Adam und Eva erlangen Erkenntnis, sehen, dass sie nackt sind, dass sie Menschen sind, dass sie verletzlich sind … Mit dieser Symbolik schlage ich mich seither herum.
Feuer hat dich zum Malen gezwungen. Hat dich auch etwas Bestimmtes zur Musik gebracht?
Als Kind hatte ich einen Leierkasten, den ich um den Hals hängen konnte. Der war aus dicker Pappe und hatte Zirkusbilder drauf und so ein Gummiding, daran konnte man drehen, und dann spielte die Walze »London Bridge Is Falling Down«.
Ich habe das immer rückwärts gespielt, weil es rückwärts viel interessanter war: Der Rhythmus war fast schon afrikanisch, die Intervalle waren überraschend. Nachdem ich es einmal rückwärts gespielt hatte, war es richtig rum irgendwie blöd. Rückwärts gespielt war das das erste Musikstück, das mich inspiriert hat.
Das zweite habe ich zum ersten Mal gehört, als ich in die vierte Klasse ging. Ich hatte einen Freund, der war vier Jahre älter und nahm Klavierstunden, Frankie McKitrick. Er war praktisch der Einzige, mit dem ich gern gespielt habe, und so lernte ich eine Menge Musik kennen, Ballett und solche Sachen, weil ihn das interessierte. Er war ein echter Musiker. Mich selbst habe ich nie als Musikerin gesehen. Wir haben uns auch ziemlich abgefahrene Filme angeschaut. Meine Mutter war entsetzt, dass sein Vater, der Schuldirektor, durchgehen ließ, dass wir die Schule schwänzten, um ins Kino zu gehen. Ein Film hieß The Story of Three Loves [War es die große Liebe?, 1953], und die Titelmelodie war Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini. Dieses Musikstück hat mich tief bewegt. Es war das Schönste, was ich je gehört hatte. Ich bat meine Eltern, mir die Platte zu kaufen, aber sie sagten, das sei nicht im Budget drin. Sie kostete um die fünfundsiebzig Cent. Deshalb ging ich immer ins Warenhaus Grobman und nahm die Platte mit in eine Hörkabine, jede Woche zwei-, dreimal.
Als ich diese Musik als Kind hörte, war das, als bäte ich meine Mutter: »Deute diese Situation bitte nicht so. Du brichst mir das Herz. Ich versuche nicht, mich herauszureden. Ich möchte dir nur erklären, was los ist. Doch du lässt mich nicht und schaffst eine Barriere zwischen uns.« Kein anderes Musikstück hat mich so tief berührt wie dieses. Danach begann ich zu träumen, ich könne wunderschön Klavier spielen.
Zu träumen oder zu wünschen?
Zu träumen. In meinen Träumen lagen meine Finger auf den Tasten, und ich komponierte phantastische Musikstücke wie in The Story of Three Loves; ich konnte Klavier spielen und dadurch Gefühle erzeugen.
Ich träumte auch, ich könne Auto fahren (lacht).
Ich sagte also meiner Mutter, ich wolle ein Klavier, doch das war natürlich auch nicht drin im Budget. Ich habe alle Register gezogen, gebettelt und gefleht, und eines Winterabends hat dieser Lastwagen vor dem Haus gehalten mit lauter Spinetten drin. Mein Instrument war allerdings überhaupt nicht gut.
Ich hatte Klavierunterricht bei einer Lehrerin namens Jill Evans. Die hatte einen Dutt, wie eine spanische Tänzerin, viel Lippenstift und lange rote Fingernägel. Und wie alle Musiklehrer damals hat sie einen mit einem Lineal auf die Finger gehauen. Ich wusste damals nicht, dass solche Züchtigungen zur Methodik gehörten. Ich nahm das persönlich. Ich dachte, sie mag mich und meine Mutter nicht, weil sie in meinen Vater verknallt ist. Mein Vater und sie haben nämlich Duette gespielt und auch Tennis.
Ein Jahr lang Tonleitern mit der rechten Hand, mit der linken Hand, bis wir zum ersten zweihändigen Stück kamen, das eine Nonne komponiert hatte. Es hieß »The Little Regret« [»Das leise Bedauern«], mit Wechseln von Dur zu Moll, ein ganz hübsches Stück.
Gleich danach komponierte ich mein erstes eigenes Stück, »Robin Walk« [»Wanderdrosselgang«]. Ich schrieb die Noten hin und war stolz: »Schauen Sie, ich habe ein Stück geschrieben.« Ich spiele es ihr vor. Als ich fertig bin, sagt sie: »Wieso willst du so was spielen, wenn du dir die Werke der großen Meister aneignen könntest?«, und haut mir mit dem Lineal auf die Knöchel.
Zu Hause habe ich gesagt: »Das war’s. Zu der geh ich nicht mehr. Sie hat mich gehauen.« Darauf hat meine Mutter gesagt, ich ziehe nichts durch.
Irgendwann in ihren Achtzigern hat sie mir gesagt: »Wir haben so viel Geld für deine Klavierstunden ausgegeben, und du hast es nicht durchgezogen.«
Inzwischen hattest du …
Eben. Ich hatte fünfzehn Alben veröffentlicht. Es war lächerlich. Ich war in der Carnegie Hall aufgetreten. Ich habe nur gelacht.
War das ihr Ernst?
Ja! Die konnte sich an Dingen festbeißen. Als Teenager habe ich sie ein einziges Mal belogen. Ich sagte ihr, ich gehe da und da hin, und stattdessen bin ich zu einer öffentlichen Tanzveranstaltung gegangen, was ich nicht durfte. Seither war ich für sie eine Lügnerin. Eine Lügnerin, eine, die nichts durchzieht, und eine Lesbe. Nichts davon stimmt, aber sie ließ sich nicht mehr davon abbringen.
Hast du trotzdem weiter Klavier geübt?
Nein. Damit war Schluss.
Ich habe später ein bisschen mit »Moon River« rumgespielt, dem Stück von Henry Mancini. Doch davon abgesehen, haben meine Finger ihre eigenen Muster entwickelt.
Ich glaube, eben weil ich mir die Werke der großen Meister nicht angeeignet habe, weil ich keine musikalischen Vorbilder habe, ist meine Musik ziemlich originell.
Fast alle Musiker aus meiner Generation hatten Vorbilder. Die spielten Luftgitarre vor dem Spiegel. Musik hatte für sie also weniger mit den »Musen« als mit dem »Ik« zu tun (lacht). Aber Musik sollte von Musen kommen, nicht von anderen Musikern.
Und die Lyrik? Was hat die Songs, die Lyrik ausgelöst?
Das ist kurz aufgeflammt und dann erloschen. Als ich in der sechsten Klasse war, sind wir von North Battleford nach Saskatoon umgezogen. Ende des Jahres gab es einen Besuchstag für die Eltern. Ich hängte ein paar meiner Zeichnungen auf, als der neue Lehrer der siebten Klasse, [Arthur] Kratzmann, zu mir kam. »Malst du gern?« – »Ja.« – »Wenn du mit einem Pinsel malen kannst, kannst du auch mit Wörtern malen.« Ich glaubte ihm.
Soll das heißen, die Gedichte sind einfach so entstanden, weil er gesagt hat, du kannst mit Wörtern malen?
Ja. Als wir zum ersten Mal ein Gedicht schreiben sollten, hat er die Wandtafel vollgeschrieben mit lauter interessanten Themen. Ich habe mich entschieden, über einen Hengst zu schreiben, weil ich Pferde mochte, Roy Rogers und Cowboys. Ich habe mit den Jungs immer Cowboy gespielt. Am Wochenende bin ich auf dem Viehhof auf einem Pony geritten. Dafür habe ich mein Taschengeld ausgegeben.
Ich schreibe also dieses Gedicht über einen Hengst, der die Pferdejäger zu einem Abgrund lockt, und die Pferdejäger fallen da runter. In dem Gedicht kamen zwei Wörter vor, die ziemlich gesucht waren: »Equine« [»Pferde betreffend«] hatte ich aus Reader’s Digest, der Rubrik »Erweitern Sie Ihren Wortschatz. Es lohnt sich!«. Das andere war ein Synonym für »gelb«, nach dem ich meine Mutter gefragt hatte. Sie schlug »saffron« [»safrangelb«] vor.
Ich schrieb also dieses ambitiöse Gedicht. Ich fand es gut. Mir gab er eine Eins minus, doch anderen hat er eine Eins plus gegeben, zum Beispiel dem »Krötenstecher«, einem Jungen, der in seine Notizbücher lauter Kröten gezeichnet hat, die von Dolchen durchbohrt wurden.
Nach der Stunde blieb ich noch da. »Sie haben mir gesagt, ich könne das. Hat Ihnen mein Gedicht nicht gefallen?« – »Ich fand es okay.« – »Fanden Sie das Gedicht des Krötenstechers wirklich besser? Ihm haben Sie eine Eins plus gegeben.« – »Nein, aber das ist das beste Gedicht, das er je schreiben wird. Deins ist aber nicht das beste, das du je schreiben wirst.«
Zur Zeile »Ein Hengst, weiß wie frisch gefallener Schnee« schrieb er, das sei ein Klischee. Bei »steht totenstill«: »besseres Adverb?«.
Seine Haltung war: »Wie oft hast du Black Beauty gesehen? Was du mir darüber erzählt hast, was du am Wochenende getan hast, war interessanter als das hier.« Er hat mich also dazu ermutigt, autobiographischere Dinge zu schreiben.
Das ist das Einzige, was ich in der Schule gelernt habe. Das Einzige, was mir von dreizehn Jahren Schule geblieben ist.
Du hast ihm dein erstes Album gewidmet.
Ja. Aber als ich später mit ihm gesprochen habe, hat er mir meinen Erfolg leider übel genommen. Er hat speziell begabte Kinder an Spezialschulen unterrichtet. Kinder, die mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würden – während bei mir diese Wahrscheinlichkeit besonders klein war. Ich glaube, damit hat er sich nie wirklich abgefunden. Er hat Dinge gesagt, die er nicht ernst gemeint hat: Er sagte, ich könne mit Wörtern malen, und dann hat er gesagt, ich könne das nicht sehr gut. So berechtigt seine Kritik war: Er hat mir seine Unterstützung entzogen. Und so ist das Lyrikflämmchen gleich wieder erloschen, weil ich mich belogen fühlte. Er hat mich enttäuscht. Meine Familie hat mich auch nie unterstützt. Dabei braucht man in dem Alter jemanden, der an einen glaubt.
Wie bist du darauf gekommen, die Malerei mit den Wörtern und der Musik zu verbinden?
Das war später. Auf der Highschool habe ich Kulissen gemalt für Schulaufführungen. Ich habe viele großformatige Bilder gemalt, ein fast elf Meter großes Bild für meinen Französischlehrer, als Entschuldigung dafür, dass ich in Französisch so mies war. Ich war überhaupt eine beschissene Schülerin. Kunst war das Einzige, was mich interessierte. Ich hätte auf eine Spezialschule gehen sollen. Die Highschool war Zeitverschwendung, abgesehen vom Kontakt mit anderen.
Ich habe für Tanzveranstaltungen gelebt. Als Teenager war ich geradezu besessen vom Tanzen. Aber immerhin ein gutes Gedicht habe ich auf der Highschool geschrieben: über Berühmtheiten und wie leid sie mir taten.
Ich war sechzehn. Wir sollten ein Gedicht in Blankversen schreiben. Das war an einem Freitag, und am Montag sollten wir das Gedicht abgeben. An diesem Wochenende gab es eine Tanzveranstaltung, ich habe mir also im Friseursalon eine Hochsteckfrisur mit Glitzersteinen machen lassen. Und überall liegen diese Zeitschriften über Filmstars, und auf jedem Titelblatt ist Sandra Dee und weint. Sie und Bobby Darin haben Schluss gemacht, und die Paparazzi haben sich darauf gestürzt, und ich dachte: »Wie furchtbar! Stell dir vor, es ist aus zwischen dir und deinem Freund, und die Leute machen Fotos und knallen sie auf das Titelblatt der Schülerzeitung.« Ich dachte, das würde ich nicht aushalten, so unter die Lupe genommen zu werden wie irgendein Insekt.
Das war der Auslöser: Mitleid mit Sandra Dee, die man mit verschmierter Wimperntusche fotografiert hatte. Es floss nur so aus mir raus. Ich nannte das Gedicht »The Fishbowl« [»Das Goldfischglas«]. Damit war Hollywood gemeint.
Geradezu eine Vorahnung, dass auch du mal in so einem Goldfischglas leben würdest.
Na ja, manche Dinge hab ich schon mit sechzehn kapiert. Ich hatte in der Schülerzeitung eine Kolumne über Trends. Ich habe Trends ausgelöst und abgeklemmt. Ich kannte die Abläufe: »Es ist hip, in der Schule eine Krawatte deines Vaters zu tragen. – Puh, das ist uncool. Das haben wir doch letzte Woche gemacht.«
Mit sechzehn wusste ich also, dass Hipsein etwas mit dem Herdentrieb zu tun hat: Du machst was vor, andere machen es nach, und die kannst du dann so was von fertigmachen.
Mit Musikmachen hattest du damals also nichts im Sinn?
Dass ich in der Klavierstunde mit einem Lineal geschlagen wurde, hat mir das Musikmachen bestimmt zehn Jahre lang verleidet.
Als ich eine Gitarre haben wollte, sagte meine Mutter: »Kommt nicht in die Tüte. Das ziehst du eh wieder nicht durch.« Also habe ich sechsunddreißig Dollar gespart, und am Tag, an dem mir die Weisheitszähne gezogen wurden, ging ich mit blutenden Nähten im Mund in den Laden und kaufte mir für das Geld eine Ukulele. Die hab ich dann überallhin mitgenommen und immer drauf gespielt, bis meine Freunde gesagt haben: »Anderson, leg das gottverdammte Ding weg, sonst mach ich es kaputt.« Nach sechs Monaten konnte ich ganz gut spielen und singen.
Irgendwelche Typen hörten mich am See spielen, sagten: »Du bist gut«, und haben mich bei einer Late-Night-Show untergebracht. Die war ein Ersatz für eine Show übers Jagen und Fischen, und ich hab immer gedacht, die haben einen Elch durch mich ersetzt (lacht). Ich bekam eine halbe Stunde, in der ich kleine Folksongs gespielt habe – und das nach erst sechs Monaten.
Meine Mutter und mein Vater gingen in den obersten Stock des Bessborough, des höchsten Gebäudes der Stadt, und schauten sich diese verflimmerten Bilder an, wie ich in einer hundert Meilen entfernten Stadt im Fernsehen auftrat.
Die Mutter meiner Schulfreundin Anne sah es auch. Sie war damals für die Musikwettbewerbe der United Church zuständig und sagte zu Anne: »Joni ist richtig gut.« So fing das an, als Hobby an der Kunsthochschule. Ich spielte, um Geld zu verdienen, für Zigaretten und um ins Kino zu gehen. Und zum Vergnügen. Mehr war das nicht: Ich wollte Malerin werden.
Wie kam es, dass die Musik wichtiger wurde?
Eher zufällig. Bevor ich auf die Kunsthochschule ging, sagte meine Mutter: »Du wirst dich wieder ablenken lassen.« So richtig prophetisch.
Doch ich sagte: »Ach was, was sollte mich von der Kunst ablenken?« Im Französisch-, Geschichts- und Biologieunterricht habe ich immer vor mich hin gekritzelt. In Mathe fiel ich durch, aber für das Matheunterrichtszimmer zeichnete ich Mathematiker. Und jetzt kam ich an einen Ort, wo es nur ums Zeichnen ging. Doch einmal dort, war es wieder das Gleiche: Viele Kurse kamen mir sinnlos vor und auch nicht sonderlich kreativ.
Geld hatte ich keins, also dachte ich, ich kann mir was verdienen, damit ich rauchen, kegeln, ins Kino gehen und Pizza essen kann. Ich ging also in dieses Café und sagte: »Ich spiele Ukulele …« Das heißt, nein, da hatte ich schon eine Gitarre, eine Martin Tiple, eine Art südamerikanische zehnsaitige Ukulele. Das war etwas Neuartiges, und ich begann in diesem kleinen Café [in Calgary] zu singen, das The Depression hieß.
Ein Engländer war einen Tag vor mir engagiert worden. Er fragte: »Was singst du für Songs?« Ich sagte: »Crow on the Cradle«. – »Das geht nicht. Das ist mein Song.« Ich nannte einen anderen. Wieder: »Das geht nicht. Das ist mein Song.« So lernte ich, wie territorial es in der Folkszene zugehen kann. In Toronto dann wieder das Gleiche.
Dieses territoriale Getue in der Folkszene ist einer der Gründe, warum ich eigene Songs zu schreiben begann.
In einem Lokalblatt stand dann über mich: »Das Zwei-Karrieren-Girl«. Als ich das sah, dachte ich: »Zwei Karrieren? Ich bin Malerin. Ich habe nicht zwei Karrieren.«
»Geflügelte Worte fliegen aus ihrer Feder«, stand über mich im Highschool-Jahrbuch. Dort also hat man mich als Autorin wahrgenommen, aber ich selbst hatte mich nie so gesehen. Diese Gabe musste durch eine Tragödie aus mir herausgeholt werden.
Dass ich eigene Songs zu schreiben begann, ging zurück auf das Trauma, eine ledige Mutter und mittellos zu sein. Ich meine, mittellos und schwanger in Toronto, einer fremden Stadt, in einem Zimmer zu leben, das pro Woche fünfzehn Dollar kostet. Es war im Dachstock, und am Treppengeländer fehlte jede vierte Stange, weil man die im Winter davor verfeuert hatte, um das Zimmer zu heizen. Der Vermieter war ein Chinese, von dem es hieß, er warte nur darauf, dass mein Kind geboren werde, und dann verschiffe er mich nach Schanghai oder was.
Wo hast du in Toronto gewohnt?
In der Huron Street in einem Haus voller hungernder Künstler.
Warum nicht in einem Heim für ledige Mütter?
Die waren überfüllt. Ich versuchte, meine Eltern zu schonen, indem ich in eine anonyme Stadt zog unter dem Vorwand, Musikerin werden zu wollen.
Ich glaube, ich hatte sechzig Dollar dabei, das billigste Zimmer kostete wie gesagt fünfzehn Dollar, ich hatte sechs Monate vor mir – und keine Arbeit.
Man musste Gewerkschaftsmitglied sein, um in allen Clubs spielen zu können. Mitglied zu werden, kostete hundertsechzig Dollar, aber ich hatte ja keine Möglichkeit, die zu verdienen. Catch-22. Deshalb arbeitete ich im Purple Onion, einem Club, der auf Gewerkschaften pfiff, bis ich im sechsten Monat war. Da musste ich abtauchen.
Weil man sah, dass du schwanger warst? Damals [1964] war die Welt noch sehr anders. Hat dir irgendeine Fürsorgeeinrichtung geholfen, oder warst du auf die Freundlichkeit von Fremden angewiesen?
Das ist das Einzige, was mich heute noch beeindrucken kann: Freundlichkeit. Ich lebte damals von Streichkäse und Brot, weil alle im Haus hungerten und man nichts im Kühlschrank lagern konnte. Meine Ernährung war also katastrophal. Eines Tages stand der Bruder von Duke Redbird [dem indigenen Lyriker und Aktivisten] vor meiner Tür. Ein großer Indianer, den ich noch nie gesehen hatte. Er sagte: »Da!«, und streckte mir diesen Korb voller McIntosh-Äpfel entgegen. »Da!«, total barsch. Und das war etwas vom Nettesten, was mir je widerfahren ist. Dann machte er kehrt und ging. Ein Mann, der mir völlig unbekannt war. Und ich dachte: »Der muss Bescheid wissen. Wissen die alle, wie es um mich steht?«
Das ist keine Situation, die einen zum Komponieren oder Malen inspiriert. Davon, wie in Filmen der leidende, hungernde Künstler verklärt wird, habe ich noch nie etwas gehalten.
Wann ist aus dem Mädchen, das gelegentlich etwas schrieb, die Frau geworden, die besessen schreibt? Wie ist aus der begabten Amateurin eine professionelle Künstlerin geworden?
Ich arbeitete bei Simpsons-Sears und habe mich durchgekämpft …
Simpsons-Sears? Ganz schön ironisch, wenn man an dein »Buch der Träume« denkt.
Ja. Ein Jahr später ließ ich mich auf eine Ehe ein, weil ich mein Kind behalten wollte. Doch dann begriff ich, dass ich das Kind nicht in diese schlechte Ehe bringen konnte, weil ich selbst ja bei Eltern aufgewachsen war, die einander nie hätten heiraten sollen. Ein weiteres Trauma also.
Als Chuck Mitchell – dessen Familiennamen ich behalten habe – und ich heirateten, wurde ich irgendwie in die Musik reingezogen. Er wollte, dass wir als Duo auftraten, doch die Musik, die er dafür auswählte, war nicht meine Art von Musik: Lieder aus Musicals oder Sachen von [dem englischen Satirikerduo] Flanders and Swann.
Wir traten [in Detroit] in Lokalen auf, wo nach Feierabend Jazz gespielt wurde. Ich begann damals zu komponieren, und die Jazzmusiker machten für mich die Leadsheets, schrieben also Text und Melodie samt Akkordbezeichnungen auf. Meine frühen Songs waren ziemlich melodisch, musikalisch besser als textlich. Und diese Jazzer sagten: »Hm, das ist hübsch«, und bauten Songs von mir in ihre Auftritte ein. Daraufhin kamen Schwarze schon etwas früher, um unser letztes Set zu hören, weil meine Stücke in der Version der Jazzmusiker sie neugierig gemacht hatten. Ich hab damals eine Menge Blödsinn gemacht, mit einem Kazoo, oder mit einem Kissen unter dem Kleid, weil ich das blonde Flusspferd spielte. Ich habe rumgekaspert, um die Songs auszuhalten, die ich mit Chuck singen musste – und da sah man dann jeweils wie bei der Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland im Dunkel des Saals so weiße Zähne lächeln. Die ließen mir das Kazoogefurze und all den Blödsinn durchgehen.
So kam ich sogar in eine Motown-Anthologie. In einer späteren Ausgabe stand: »Unterdessen spielte Joni Mitchell auf der anderen Seite der Stadt eine neue Art Folk.« Jazz wurde ursprünglich als »Negro Folk« bezeichnet, was lächerlich ist: Duke Ellington soll Negro Folk geschrieben haben? Das war schwarze klassische Musik, die die [weiße] klassische Musik ziemlich alt aussehen ließ.
So habe ich »The Circle Game« [Ladies of the Canyon, 1970] und »Both Sides Now« [Clouds, 1969] geschrieben. Ich ging jeweils in einen Schnellimbiss und schrieb, doch als es mit den Aufständen losging, sagte mir eine Kellnerin: »Honey, es ist besser, du kommst nicht mehr hierher.«
Chuck und ich lebten im Schwarzenviertel. Das war billiger. Nach den Aufständen ging das nicht mehr. Die Spannungen wurden zu groß.
Was hat dich dazu motiviert, diese Songs zu schreiben?
Das war meine Version von »Ich mag jetzt nicht, ich hab Migräne« (lacht). Ich bin jeweils die ganze Nacht aufgeblieben und hab geschrieben.
War dir bewusst, wie gut die Songs waren?
Nein. Ich konnte das nicht einschätzen. [Der bereits etablierte Folksänger] Tom Rush war häufiger bei uns und fragte mich nach neuen Songs. Manche habe ich zurückbehalten. »Both Sides Now«, zum Beispiel, weil Chuck sich über mich lustig gemacht hat: »Du bist einundzwanzig. Was weißt du schon vom Leben?« Chuck hatte einen BA in Literatur. In seiner Familie waren lauter Lehrer, und ich hatte nur die Highschool gemacht und nannte Kinder »kiddies«, was bei den Iren der Gegend gang und gäbe war, aber für Chuck war das nur Ausdruck meiner Beschränktheit.
Ich habe meistens nicht kapiert, von was die Mitchells reden. Ich hatte damals einen Vogeltick und hab auf alles mögliche Vögel draufgemalt: auf eine Anrichte, die ich aus dem Müll gefischt hatte, oder einen Schminktisch mit ausklappbaren Spiegeln an den Seiten. Ich malte also Vögel, die auf einem Draht sitzen, Spatzen mit Pfauenfedern, einen für jedes Mitglied der Familie Mitchell, und einen, der sitzt nicht, sondern hängt kopfunter an dem Draht. Na, wer wohl? So bin ich mir vorgekommen.
Chuck hat mich oft als dumm bezeichnet. Er wollte immer, dass ich das lese, was er liest, damit wir uns über die Dinge unterhalten konnten, die er wusste. Ich sollte Der Fänger im Roggen lesen und solche Dinge. Ich habe dann immerhin die Tolkien-Bücher gelesen und daraus meine eigene Mythologie entwickelt.
»Sisotowbell« im Song »Sisotowbell Lane« ist das Akrostichon von »Somehow in spite of troubles ours will be ever lasting love« [»Allen Schwierigkeiten zum Trotz wird unsere Liebe ewig währen«].
So stellte ich mir den Himmel vor. Die meisten Kids in diesem Alter spielen Luftgitarre, möchten reich und berühmt werden und über rote Teppiche gehen. Ich träumte von einem Leben auf dem Land, mit netten Nachbarn, die ab und zu vorbeischauen, und einem Sohn namens Noah. Ich sehnte mich nach einem einfachen Leben.
Sisotowbell Lane
Noah is fixing the pump in the rain
He brings us no shame
We always knew that he always knew
Up over the hill
Jovial neighbors come down when they will
With stories to tell
Sometimes they do
Yes sometimes we do
We have a rocking chair
Each of us rocks his share
Eating muffin buns and berries
By the steamy kitchen window
Sometimes we do
Our tongues turn blue
Sisotowbell Lane
Anywhere else now would seem very strange
The seasons are changing
Everyday in every way
Sometimes it is spring
Sometimes it is not anything
A poet can sing
Sometimes we try
Yes we always try
We have a rocking chair
Somedays we rock and stare
At the woodlands and the grasslands and the badlands ’cross the river
Sometimes we do
We like the view
Sisotowbell Lane
Go to the city you’ll come back again
To wade thru the grain
You always do
Yes we always do
Come back to the stars
Sweet well water and pickling jars
We’ll lend you the car
We always do
Yes sometimes we do
We have a rocking chair
Someone is always there