Ich traue dem Frieden nicht - Werner von Kieckebusch - E-Book

Ich traue dem Frieden nicht E-Book

Werner von Kieckebusch

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Beschreibung

Werner von Kieckebusch erlebt in Potsdam die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, von den Artillerie- und Straßenkämpfen Ende April 1945 bis zur beginnenden SED-Herrschaft Anfang 1947. Tag für Tag hält er in seinen Tagebüchern alles fest, was er beobachtet und erlebt: Verschleppung und Erschießungen, Mord und Vergewaltigung, grausamer Hunger, Rationierung und Tauschhandel, die Etablierung der sowjetischen Besatzungsherrschaft und das Aufkommen der neuen Sprech- und Denkverbote. Diese minutiöse Chronik des Übergangs von einer deutschen Diktatur in die andere wird der Öffentlichkeit nun erstmals von Jörg Bremer, der 40 Jahre als FAZ-Korresponent tätig war, zugänglich gemacht. Was bewegt Werner von Kieckebusch dazu, akribisch festzuhalten, was sich in diesen Tagen ereignet? 1942 war Kieckebuschs ältester Sohn Hubertus gefallen. Nun wartet er gemeinsam mit seiner Frau auf den jüngeren Sohn Burkard, der im Krieg verschollen ist. Das Bangen liegt wie ein Schleier über dem Tagebuch und macht es für den Leser umso intensiver, weiß er doch, dass auch dieser Sohn nie zurückkehren wird. Das will und kann sich der Vater allerdings nicht vorstellen. So dokumentiert er, was er in diesen Tagen erlebt und manchmal selbst kaum glauben kann. Mit der Fortführung des Tagebuchs hält er den Sohn für sich lebendig. Im Mittelpunkt der Einträge stehen die Beschreibungen dessen, was der Zeitzeuge unmittelbar erlebt – wie aus Befreiern Besatzer werden: Konfiszierung, Zerstörung, Raub, Brandschatzung, Vergewaltigung. Doch lässt er auch Raum für seine Kritik am NS-Regime, für seine Trauer über die verlorenen alten Zeiten, für die Angst um den Sohn und das Unverständnis, dass viele nicht begreifen wollen, dass die Deutschen nun für all das Leid bezahlen, das sie ihren Nachbarvölkern während des Dritten Reichs zufügten. "In der Tat steht das Schicksal der Eltern Kieckebusch für das Los einer ganzen Generation im Ausnahmezustand. Sie erlebte nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Wirren der Weimarer Republik, nach zwölf Jahren Nazidiktatur und Weltkrieg am 8. Mai 1945 zwar die Befreiung vom braunen Terror sowie die Kapitulation Deutschlands, aber sie sah sich trotz Waffenstillstands weiter auf wankendem Boden; vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone, die schon wenige Wochen nach Kriegsende einen anderen Weg einschlug als die westlichen Zonen", so der Herausgeber Jörg Bremer in der Einleitung. Werner von Kieckebuschs Tagebücher aus den Jahren 1945-1946 sind ein wuchtiges literarisches Monument der unmittelbaren Nachkriegszeit aus der Feder eines unerbittlichen Chronisten.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Werner von Kieckebusch

»Ich traue dem Frieden nicht«

Leben zwischen zwei Diktaturen Tagebücher 1945–1946

Herausgegeben von Jörg Bremer

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Vermittlung des Buches durch: Frauke Jung-Lindemann, The ­Berlin Agency

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © akg-images

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

Karte: Peter Palm, Berlin

ISBN E-Book: 978-3-451-81945-2

ISBN Print: 978-3-451-38551-3

Inhalt

»VOLL SCHRECKEN, TRAUER UND HUNGER«

WER WAR WERNER VON KIECKEBUSCH?

»ICH TRAUE DEM FRIEDEN NICHT«

DAS TAGEBUCH

ANHANG

Dank

Bildteil

Karte

Chronik

Über den Autor

Über den Herausgeber

»VOLL SCHRECKEN, TRAUER UND HUNGER«

WER WAR WERNER VON KIECKEBUSCH?

Das Biedermeiersofa in unserem Esszimmer stammt vom Urgroßvater meiner Frau; auch der kleine Rokokosekretär im Wohnraum stand einst in Potsdam in der »Mausefalle«. So wird bis heute liebevoll der parkähnliche Platz genannt, wo die Jägerallee mit ihren letzten beiden Häusern zur Sackgasse wird und wo ihr »Opi« mit seiner zweiten Ehefrau Annelie in Nr. 40 wohnte. Aber all das hatte uns bisher kaum interessiert. Wohl erzählte meine Frau Christiane gelegentlich von ihren Urgroßeltern Kieckebusch in Potsdam und später im Johanniterstift in Berlin-Lichterfelde, aber Fragen haben wir weiter nicht gestellt, auch nicht bei dem Persianermantel meiner Frau; dabei hatte den einst schon diese Urgroßmutter an.

Dann aber kam Christiane an einem Sonntagabend von ihren Eltern aus Neukirchen-Vluyn am Niederrhein mit einem schmucklosen dunkelgrauen Ordner zurück und gab mir atemlos die 166 eng und doppelt beschriebenen Seiten auf dünnstem Kriegspapier und sagte: »Dies musst du lesen; noch nie sind fünf Stunden Eisenbahnfahrt so schnell vergangen. Das ist das Tagebuch von meinem Urgroßvater voll Schrecken, Trauer und Hunger – aber beim Lesen habe ich trotz allem auch gelacht.«

Seitdem hat auch mich Werner von Kieckebusch fest im Griff: Wir weinen mit ihm, wenn er die Sehnsucht nach seinen beiden Söhnen beschreibt, Leichen birgt und Verwandte begräbt. Wir hungern mit ihm und seiner Frau, wenn sie nach Stunden in der Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft mit leeren Händen nach Hause kommen. Wir verlieren – quasi mit ihnen noch einmal – Hab und Gut, vom Schmuck, Besteck und der Bettwäsche im Banksafe bis zur goldenen Armbanduhr. Wir leiden mit »Opi«, wenn er seit Monaten auch nichts mehr von seiner weiteren Familie in Ost oder West hört, weil es kaum Post gibt. Wir tragen Möbel mit ihm aus der Wohnung raus und wieder rein, um sie – wo auch immer – vor dem russischen Zugriff zu schützen; so auch »unser« Biedermeiersofa und den Sekretär, an dem ich gerade sitze. Aber wir lachen auch mit Werner von Kieckebusch, wenn er mit süffisantem Witz oder seiner ihm ganz eigenen Ironie über die Lage und die Menschen spricht: über Deutsche wie Russen, die er beobachtet, – von den letzten Tagen der Nazidiktatur und des Krieges Ende April 1945 über die Konferenz von Potsdam im August hinein in den trügerischen Frieden und die nächste Diktatur, die von der russischen Besatzung geprägt ist. »Diese Russen« empfinden die Kieckebuschs zunächst nur als wilde und unzivilisierte Besatzungssoldaten, als Armbanduhrenräuber und rücksichtslose Autofahrer. Sie fürchten sich vor ihnen. Später aber lernen sie Unterschiede kennen und schließen so fast Freundschaft mit dem einquartierten Offizier Alexander sowie seiner Familie.

Meine Schwiegermutter Monika von Klinggräff ist eine Enkelin von Werner von Kieckebusch, der zweimal in seinem Leben heiratete. Zunächst ging der 1887 in Kassel geborene Sohn eines Offiziers und der vermögenden Industriellentochter Erna Henschel 1911 die Ehe mit der Offizierstochter Elisabeth von Krosigk ein. Sie aber starb schon 1922. Aus dieser Ehe stammte die 1912 geborene Tochter Erika, die 1933 den Forstmeister Hans Heinrich von Korn heiratete. Meine Schwiegermutter ist eine der drei Töchter aus dieser Verbindung. Alle fünf Korns konnten sich in den Wirren der letzten Kriegswochen 1945 nach Hoof bei Kassel in den Westen retten, auf den Stammsitz des Familienzweiges, den der 1906 gerade noch von Kaiser Wilhelm II. geadelte Vater dem jüngerem Bruder von »Opi«, Hans Joachim, vermacht hatte.

In zweiter Ehe heiratete Werner Kieckebusch 1923 Annaluise (Annelie) von Kriegsheim aus dem Hause Barsikow im heutigen Landkreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg. Dieser Besitz Barsikow blieb ein Bezugspunkt für das Ehepaar, bis die Güter im Osten von der Sowjetmacht enteignet wurden; so auch Altgaul bei Wriezen im heutigen Landkreis Märkisch-Oderland, das Werner 1909 mithilfe seines Vaters gekauft, ausgebaut, aber in schwerer wirtschaftlicher Not 1927 wieder verkauft hatte, bevor er 1933 in die Jägerallee 40 zog, wo er die nächsten 33 Jahre lebte. Mehrfach reiste Werner von Kieckebusch nach dem Krieg nach Altgaul, um von den früheren Mitarbeitern mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden.

Werner und Annelie von Kieckebusch hatten zwei Söhne, die nicht zuletzt wegen ihrer gemeinsamen Jagdpassion ein enges Verhältnis zum Vater hatten. 1924 kam Hubertus zur Welt, der 1942 fiel. Die Trauer um Hubertus überschattete jeden Tag. Zum Geburtstag wurde sein Bild mit Blumen geschmückt. Das ungeklärte Schicksal des 1926 geborenen und noch kurz vor Kriegsende eingezogenen Burkard trieb die Kieckebuschs bis zum Lebensende um. Burkards Paten, nicht zuletzt der fünfte Sohn des Kaisers, Prinz Oskar von Preußen, bangten mit. Der stille Dialog mit dem Vermissten wurde zum Grund für das Tagebuch, das sich vor allem an diesen Zweitgeborenen wandte. Burkard sollte dereinst lesen können, dass es seinen Eltern zwar viel besser ergangen war als gewisslich ihm selber. Aber er sollte auch von der Sehnsucht nach den Söhnen erfahren und von dem Leid in der sich langsam entwickelnden neuen Diktatur, die von Enteignung und Entrechtung, Hunger und Verzweiflung geprägt wurde; und von erschreckend vielen Selbstmorden im Freundes- und Verwandtenkreis.

Nicht zuletzt um seine Erinnerungen vor dem Zugriff Fremder zu bewahren und um seine Tochter bei Kassel genauer über die Zustände in Potsdam zu unterrichten, schickte er schon 1945 eine Tranche des bis dahin entstandenen Tagebuchs nach Hoof. Aber »Opi« und »Omi« selber blieben in der Mausefalle von Potsdam. Erst 1966 wechselten sie unter Schwierigkeiten nach West-Berlin ins Johanniterstift, wo Kieckebusch 1975 mit 87 Jahren starb. Er wurde in Hoof beigesetzt, das mittlerweile von seinem Neffen Ernst Kieckebusch übernommen worden war. Alleinerbin – auch des Tagebuchs – wurde Enkelin Monika, die 1958 Gerhard von Klinggräff geheiratet hatte, der auf Chemnitz in Mecklenburg geboren war und in Neukirchen-Vluyn als Diplombergbauingenieur im Bergbau gearbeitet hat. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor: Hubertus und Ebba sind die beiden älteren Geschwister meiner Frau Christiane, und sie ist die Patentochter der Urgroßmutter.

Für sie hatte so auch meine Schwiegermutter diesen grauen Ordner aus dem Glasschrank im Wohnzimmer – auch ein Erbstück von »Opi« – zum Lesen mitgegeben: »Es gibt noch mehr Tagebücher vom Großvater; aber die sind handgeschrieben und in Sütterlin. Sie alle führen zurück in eine Zeit voller Leid, die wir glücklich Nachgeborenen alle nicht vergessen sollten«, hatte Schwiegermutter zu Christiane gesagt, – und so wurden die Erinnerungen ihres Großvaters Thema auf einer Buchmesse in Frankfurt, wo der Verlag Herder zuschlug.

In der Tat steht das Schicksal der Eltern Kieckebusch für das Los einer ganzen Generation im Ausnahmezustand. Sie erlebte nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Wirren der Weimarer Republik, nach zwölf Jahren Nazidiktatur und Weltkrieg am 8. Mai 1945 zwar die Befreiung vom braunen Terror sowie die Kapitulation Deutschlands, aber sie sah sich trotz Waffenstillstands weiter auf wankendem Boden; vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone, die schon wenige Wochen nach Kriegsende einen anderen Weg einschlug als die westlichen Zonen.

Im August 1945 regelten die Sieger Stalin, Truman und Churchill (beziehungsweise Attlee) in Potsdam – im Schloss Cecilienhof unweit der »Mausefalle« – die politische und geografische Nachkriegsordnung Deutschlands, das bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 brutal in Ost und West getrennt wurde sowie seine russisch wie polnisch besetzten Gebiete verlor. Es ist sonderbar, dass Potsdamer wie Werner und Annelie Kieckebusch so gut wie nichts von den Debatten bei der Konferenz erfuhren. Aber sie waren – nach dem Tagebuch – allein mit dem Überleben schon überfordert. Wohl gab es bisweilen Hoffnung darauf, dass die Russen abziehen würden und eine westliche Siegermacht Potsdam besetzen würde. Aber Stalins Armee blieb, und sein Regime ging in die kommunistische Diktatur der SED über. Kieckebusch hat laut Tagebuch dem Frieden nie getraut. Dabei waren für ihn die individuellen Erlebnisse, der Diebstahl seines Eigentums, der zeitweilige Rauswurf aus seiner Wohnung oder aber die langsam anziehende Pressezensur nur Hinweise auf das große Ganze.

Brandenburgs Hauptstadt Potsdam südwestlich von Berlin ist seit Fried­rich II. als die Residenz der Preußenkönige mit ihren Schlössern und Parks ein besonderer Ort gewesen. Hof und Militär prägten die Stadt. Doch nach den beiden verheerenden letzten Luftangriffen vom 14. und 25. April 1945 (einen Tag zuvor beginnen die Aufzeichnungen) hatte die Residenzstadt ihren letzten Glanz verloren. Kieckebuschs überlebten das Bombardement im Keller. Viele tausend Potsdamer aber kamen um; und als Werner am kommenden Morgen so neugierig wie mutig die Umgebung erkundete, fand er die Innenstadt mit Hauptpost und Bahnhof, Garnison- und Nikolaikirche sowie Schauspielhaus und Stadtschloss in Flammen oder schon vollends zerstört. Tiefflieger schossen weiter in die Stadt. Hitlers Artillerie versuchte noch dagegenzuhalten; dabei war seine Partei schon »getürmt«, erfuhr Kieckebusch und floh vor Granaten nach Hause.

Dann kamen Straßenkämpfe und bald darauf die Aufforderung, weiße Tücher aus den Fenstern zu hissen. In Potsdam war der Übergang zum »Frieden« fließend; er begann vor dem offiziellen Waffenstillstand am 8. Mai, aber noch Mitte Juni wurde über angebliche Werwolfaktionen berichtet. Entsprechend nervös agierten die sowjetischen Besatzer. Auch später noch unerklärte Schießereien. Davon unbeeindruckt zogen in endlos erscheinenden Schlangen Flüchtlinge durch die Stadt: Vertriebene aus dem Osten, die ihre Handkarren mit Gerettetem nach Westen zogen. Manche Hoffnungslosen drängte es aber auch nach Osten in ihre Heimat zurück. Besatzungssoldaten trieben deutsche Soldaten in zerfledderten Uniformen als Gefangene durch Potsdam. Kieckebusch beschrieb eine Stadt in Orientierungslosigkeit, in der die Menschen ihr Los nicht fassen konnten und nicht einmal wussten, wie der nächste Tag aussehen würde.

Zumindest ein Dach über dem Kopf? Wegen der ungezählten bis zum Stadtrand zerstörten Häuser hätte in Potsdam auch unter normalen Umständen Wohnungsnot geherrscht. Nun musste der verbliebene Wohnraum auch noch mit Flüchtlingen und sowjetischen Besatzern geteilt werden, die sich bedienten und Zimmer – wie bei Kieckebuschs – konfiszierten. Im Sommer 1946 begann sogar eine Evakuierung »nutzloser« Alter aus der Stadt. Aber die Aktion wurde bald wieder abgeblasen.

Es gab auch nichts zu essen. Obwohl sich bis Ende 1945 neben dem sowjetischen Militärkommissariat eine deutsche Verwaltung etabliert hatte, änderte das nichts an der miserablen Versorgung. Vor allem Alte verhungerten. Leidlich gut war offenbar noch die Versorgung der Kranken mit Medikamenten. Aber Milch für die Kleinkinder gab es nicht; und Kieckebuschs freuten sich etwa ein Jahr nach »Friedensbeginn« über das erste frische Ei von einem Bauernhof.

Gerade in einer Zeit, wo Familien zerrissen worden waren, hofften die Versprengten auf Post. Aber bis 1946 floss der Postverkehr unzuverlässig, allmählich dazu noch beschränkt durch den Ost-West-Konflikt. Wer ein Telefon hatte, musste das mit den Nachbarn und Passanten teilen, aber zunächst waren die Leitungen unterbrochen. So wurde der Schwarze Markt bis zu seinem Verbot Hauptbörse – auch für Nachrichten, hatte die russische Besatzung doch gleich nach ihrer Machtübernahme alle Rundfunkgeräte konfisziert. Zunächst war die Versorgung mit Zeitungen aus Berlins Westsektor allein wegen der Transportprobleme schwierig, später verboten die Sowjets westliche Zeitungen. Jede Besatzungszone setzte ihr eigenes Presseregime durch. Gerüchte waren mithin Medium der Zeit.

Allemal die Flüchtlinge brachten ihre herzzerreißenden Erfah­rungen mit und schilderten die noch trostlosere Lage in Ostpreußen oder Schlesien. Kieckebusch schrieb das alles auf und quittierte die Erzählungen mit dem Hinweis, diese Gräuel seien die erwartbare Antwort auf all die unverzeihlichen Missetaten der Deutschen an Polen und Russen: »Wie ich dir – so du nun mir«.

Die fast vollständige Vernichtung der Juden machte Kieckebusch dagegen nicht zum eigenen Thema. Obwohl Kieckebuschs bisweilen Stunden mit ihren einquartierten russischen Besatzungssoldaten zusammensaßen und freimütig redeten, brachte offenbar auch diese Offiziere, deren Armee doch Auschwitz befreit hatte, die Schoah nicht auf.

Im allgemeinen Flüchtlingsstrom verließen immer mehr Potsdamer ihre Heimat und wechselten in die westlichen Zonen. Statistiken zufolge erlebte Potsdam nach 1945 quasi einen Bevölkerungsaustausch: Die irgendwie noch mit dem Potsdamer Hof oder den Potsdamer Regimentern verbundenen Familien zogen ab und wurden durch Flüchtlinge aus dem Osten ersetzt. Nur wenige adlige Familien blieben wie die Kieckebuschs zurück. Entweder hielt sie das Alter oder eben die sentimentale Überlegung wie bei unserem Tagebuchschreiber, er dürfe dem vermissten Soldatensohn nicht auch noch sein Zuhause nehmen. Dabei stand in der sowjetischen Zone klarer noch als im Westen Deutschlands fest, dass Landbesitzer Verlierer des Krieges sein würden. Schon im zweiten Halbjahr 1945 wurde den Potsdamern durch Banner eingehämmert, Deutschland werde durch »Enteignung der militaristischen Junker«, die Aufteilung ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen, durch Parzellierung und Aufsiedlung »mit frischem Blut« vom Nationalsozialismus genesen. Tatsächlich allerdings verkamen zunächst einmal diese Nutzflächen völlig, und der Ernährungsmangel wurde durch Misswirtschaft noch verschärft.

Kieckebuschs Tagebücher erzählen von einer Stadtbevölkerung, die sich noch nicht von der einen Ideologie erholt hatte und sich schon der nächsten beugen sollte. Die Angst der vergangenen zwölf Jahre, wegen einer Äußerung gegen Hitler sein Leben zu verlieren, und die darauf folgende neue Angst, dem Gesinnungsterror kommunistischer Spitzel zum Opfer zu fallen, wurde in den letzten Kriegs- und ersten »Friedenswochen« von der Klammer der unmittelbaren Bedrohung durch Bomben und Granaten zusammengehalten. Es gab in dem beschriebenen Zeitraum und in der DDR darüber hinaus mithin keinen Tag des inneren und äußeren Friedens.

Dieser anhaltende Ausnahmezustand, an den man sich zu gewöhnen hatte, kannte freilich auch Zeichen ziviler Normalität. Auch wenn Bankkonten und Tresore ausgeraubt und Besitztümer einge­zogen worden waren, sollten auch 1945 und 1946 Steuern bezahlt werden. Das Finanzamt meldete sich. Weiter wurden auf den Ämtern die Formulare nach den alten Regeln gestempelt; nur dass der Hitlerkopf aus dem Stempel ausradiert werden musste. Die Standesämter hatten neues Leben und den Tod zu beurkunden.

In diesem Wechselbad zwischen Ausnahmezustand aus Angst und Hunger sowie jener bürokratischen Normalität suchten die Menschen bei sich und ihren Nächsten einen letzten Halt. In seiner Mentalitätsgeschichte der Deutschen von 1945 bis 1955 spricht Harald Jähner von einer »Wolfszeit«: Wie in Wolfsrudeln ging es auch den Menschen vor allem ums Reißen und Überleben, was man als Familie leichter denn alleine meistern kann. Zwar konnte man auf dem Schwarzmarkt zwischen Potsdam und dem Berliner Westen »reich« werden; manchen genügte es aber auch schon, die Goldzähne der toten Tante in Fett und Schwarzbrot zu tauschen. Sitte und Moral galten wenig, wenn der Beischlaf mit dem weiterhin fremden Besatzungssoldaten zu einem gefüllten Magen führte. Da mögen Brüder und Vettern gerade gefallen sein, eine durchtanzte Nacht war nicht zu verübeln. Und wenn es schon einmal Wodka gab, dann konnten einige Gläser zu viel ein glückliches Vergessen bringen.

In diesem Umfeld der »Wolfszeit« schlug sich Werner Kieckebusch mit seiner Frau Annelie – immerhin in der eigenen Restwohnung – wacker. Dabei hatte er von Geburt an ein schwaches Herz und war bald 60 Jahre alt. Es fehlte an allem, und der Mann war eigentlich ein Genießer. Ohne seinen »Nasenwärmer«, eine ordentliche Zigarre, lief eher wenig. Nun aber wurde schon jede Zigarette zum Problem. Das Ehepaar ging abends bisweilen früher ins Bett, um den Hunger »zu überschlafen«. Dabei endet dieses Tagebuch, bevor noch im »Hungerwinter« 1946/1947 der Mangel so stark wurde, dass kostbare Möbel verkauft oder für Feuerholz zerhackt werden mussten. Jahrzehnte später spachtelte »Opi« umso mehr und nur das Beste. Urenkel wie meine Frau Christiane erinnern sich, wie er einen Wohlstandsbauch vor sich trug, über dem der Gürtel die Hose festhielt. Hosenträger taten ihr Übriges. Diese Nachgeborenen haben »ihren« kleinen »Opi« als heiteren Herrn in Erinnerung.

Enkelin Monika von Klinggräff erinnert Werner von Kieckebusch auch als einen religiösen Mann. Auch wenn er nicht an jedem Sonntag in die Kirche ging, so sei er doch ein frommer Protestant gewesen, der bisweilen aber auch in der katholischen Kirche betete. Kieckebusch gehörte zum evangelischen Johanniterorden und wurde in den ersten Nachkriegs-Kirchengemeinderat der Potsdamer Friedenskirche gewählt, der sich früher konstituierte als der Stadtrat, dessen Pastor aber offenbar durch Ämterpatronage in sein Amt kam. Der Bekennenden Kirche stand Kieckebusch skeptisch gegenüber, weil sie sich seiner Meinung nach nicht genug »gemeindlich«, sondern zu politisch engagiert hatte.

Kieckebusch sei zeit seines Lebens »eigentlich Monarchist geblieben, politisch war er nicht tiefer interessiert«, berichtet Monika von Klinggräff über ihren Großvater weiter. »Er dachte im guten Sinne nach Gutsherrenart und wollte in seinem Umfeld jedem Einzelnen für das gemeine Ganze gerecht werden.« Er habe Verantwortung für Schwächere und Mitgefühl gezeigt. Kieckebusch war dabei in der NS-Zeit weder Widerständler noch Held. Nach dem Krieg ordnete er sich in den trüben Tagesablauf seiner Nachbarn ein. Als guter Jäger war er dabei aber ein neugieriger und sensibler Beobachter mit Augen fürs Detail und die Besonderheiten eines jeden.

Die Schwiegermutter erinnert Kieckebusch am Schreibtisch: »Er schrieb viele tausend Briefe in alle Richtungen; nach dem Krieg zunächst vor allem, um etwas über das Schicksal seines Sohnes Burkard zu erfahren und um die Lebensverhältnisse für seine Frau und sich zu verbessern.« Kieckebusch muss in der Tat täglich, diszipliniert und zum Teil bis spät am Abend am Schreibtisch gesessen und auch an diesem Tagebuch gearbeitet haben. Er schrieb, wie sich die Ereignisse am Tage oder Vortage entwickelt hatten; flüssig, ungekünstelt, ohne Schwerpunktsetzung, bisweilen wie atemlos. Und so folgen auf herzzerreißende Szenen banale Beobachtungen. Er tippte seine Tageslast fast fehlerfrei, Zeile auf Zeile, fast ohne Abstand und mit Durchschlägen in die Schreibmaschine; so, als könne er damit seine Bürde loswerden. Ein feiner und sensibler Humor zeichnete seine Sprache aus. Selbst bittersten Momenten konnte er etwas Witziges abgewinnen. So wie sein religiöser Glaube erleichterte ihm sein Galgenhumor das Überleben; selbst der Leser des Tagebuchs kommt durch diesen Witz besser über Tränen hinweg.

Als Landwirt war Kieckebusch ohne Fortune, auch wenn er wohl vom Leben als Gutsherr geträumt und in Altgaul zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch eine Art Schloss hingesetzt hatte. Das Vermögen seiner Mutter Henschel hatte diesen Neubau ermöglicht. Ein Bildnis zeigt Kieckebusch in dieser Zeit mit Schnäuzer in einem Jagdmantel mit Pelzkragen und Jagdhut, wie er mit der Waffe über der Schulter zufrieden in die Ferne sieht. So wollte er gesehen werden, so sah er sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld selber. Die Gästebücher in Altgaul berichten über Einladungen mit festlichen Essen und hochadligen Gästen. Preußenprinzen und Prinzessinnen gehören dazu. Als nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 der Kronprinz und seine Familie mittellos dastanden, leistete auch Kieckebusch mit seiner Frau humanitäre Hilfe; oft mit Wildbret aus Altgaul. Königliche Hoheiten wurden darüber zu Paten der 1924 und 1926 geborenen beiden Söhne. In Potsdam blieben diese Beziehungen lebendig. Nach dem Krieg erneuerte Kieckebusch seine Kontakte zu den Preußen, um ihnen über die Zustände in Potsdam zu berichten und wohl auch in der Hoffnung, nun seinerseits Hilfe zu erhalten – die dann auch kam.

Als Beruf gab Kieckebusch Ahnenforscher an. In der Tat interessierte er sich für Genealogien und wusste Verwandtschaften aus dem Kopf zu rekonstruieren. Er besaß eine große Wappensammlung, die er 1966 in Potsdam an die DDR verkaufen musste, um ausreisen zu dürfen. Sie gilt heute als verschollen. Den Anstoß für seinen Beruf mag Familie Henschel gegeben haben, für die er 1931 eine Familienchronik schrieb. Dann bat ihn Familie von Stülpnagel um ein ähnliches Werk. Er nahm den Auftrag an. Doch um das noch heute geschätzte Buch schreiben und 1938 veröffentlichen zu können, musste Kieckebusch Mitglied in der Reichsschrifttumskammer werden und dazu NSDAP-Genosse, woraus sich in Potsdam in den Nachkriegsmonaten Probleme mit der Obrigkeit ergaben. Bis heute geschätzt ist auch seine Geschichte des Klosters Heiligengrabe. Aber die Familiengeschichte der Herren von Esebeck verbrannte bei den Auftraggebern im Krieg und ging verloren. Über alle Arbeiten von Kieckebusch berichten die Bestände vor allem im Geheimen Staatsarchiv von Dahlem, wo er gerne arbeitete. Bei dem ihnen persönlich bekannten Archivdirektor hinterlegte dann Annelie nach dem Tode ihres Mannes im September 1975 neben vielen Fotos und Jagdbüchern Kopien dieses Tagebuchs.

Mit diesem Buch legen wir die gekürzte Fassung eines Teils der Tagebücher von Kieckebusch vor; sie beginnen am 24. April 1945 mit der Schlacht bei Potsdam und enden Weihnachten 1946. Sie umfassen damit die unmittelbare Nachkriegszeit, in der alles offen und alles möglich war – im Bösen und manchmal auch im Guten.

Meist ist die Schreibweise des Autors übernommen und nur wegen der Lesbarkeit behutsam an die heutige Rechtschreibung angeglichen worden. So schrieb Kieckebusch Zahlen in der Regel in Ziffern. Der Berliner Dialekt oder dessen Zungenschläge wurden bewahrt. Kürzungen des Textes beziehen sich vor allem auf Erinnerungen an Jagderlebnisse oder umfängliche Beschreibungen familiärer Verbindungen und sind nicht extra ausgewiesen. Generale oder ihre Frauen betitelte Kieckebusch mit »Exzellenz«, Adelstitel wurden bisweilen schon vom Autor oder vom Lektorat geschliffen.

Das Tagebuch sei im Sinne Kieckebuschs seinen beiden Söhnen gewidmet, deren Aquarelle heute in der Garderobe der Schwester von Christiane hängen, bei meiner Schwägerin Ebba. Hubertus und Burkard Kieckebusch war es nicht vergönnt, ihr Leben zu leben. Um es mit den Worten ihres Vaters zu sagen: diese beiden »Jungens« brachte »Hitlers Wahnsinn« – wie so viele Millionen andere Menschen auf allen Seiten – in noch jungen Jahren um.

Berlin, 24. April 2020 – 75 Jahre danach

Jörg Bremer

»Ich traue dem Frieden nicht«

DAS TAGEBUCH

24.4.1945. Nun beginnt die Schlacht bei Potsdam! Auf der Post liegen Hunderte von Feldpostsäcken, aber niemand erscheint mehr zum Sortieren; alles steht still. Angeblich soll immer noch Post abgehen, aber wohin denn? Berlin und Potsdam sind doch eingeschlossen. Wir schreiben täglich an Burkard und Erika, vielleicht kommt mal eine Nachricht durch! Als ich heute Nachmittag zur verbombten Hauptpost ging, pfiffen 2 Granaten derartig über mich hinweg, dass ich noch vorher auf dem Wilhelmplatz kehrtmachte. Russische Panzer stehen an der gesprengten Eisenbahnüberführung am Bahnhof, auch die Lange Brücke ist gesprengt. Der Turm der Heilig-Geist-Kirche wurde heute Nachmittag von den Russen noch mehr in Klump geschossen. Eben war wieder ein Tieffliegerangriff, wir standen an meinem Schreibtischfenster, als eine 3-Faust-dicke Klamotte am Fenster vorbeisauste und vors Haus fiel. Wo mag sie hergekommen sein? In der Marienstraße brennt es. Das Gemeine ist, dass die Tiefflieger auch kleine Bomben bei sich haben. Eine fiel heute Nachmittag in die Brandenburger Straße vor Koll, wo ich mir den Krater ansah. Seit gestern gibt es Sonderzuteilungen an Käse, Marmelade, Brot, Fleischkonserven. Viele hundert Menschen stehen überall Schlange und stürzen wieder fort, wenn die Tiefflieger kommen. Gestern saß ich 2 ¾ Stunden auf dem Jagdstuhl nach Brot an, leider ohne Fernrohrbüchse! Werde ich diese je noch mal in die Hand nehmen? Hier ist alles in heller Aufregung darüber, dass alle Soldaten herausgezogen wurden und die Partei natürlich getürmt ist, der Volkssturm aber die Lage hier meistern soll!

25.4. Punkt ½ 7 ging das Bombardement der Stadt los, hauptsächlich in der Innenstadt: Das Schauspielhaus, Hohe Weg- und Kaiserstraße brennen lichterloh. A. war um 12 dort, es muss furchtbar aussehen. Gegen 8 ging ich los, um Büchsenfleisch zu holen, als Sonderzuteilung pro Kopf eine Dose von 350 Gr. Nach Hause ging es dann verflucht fix, denn die Granaten heulten doch mächtig über die Stadt. Aber bald war Schluss, da angeblich die Russen zurückgeschlagen wurden, nachdem plötzlich unsere Artillerie in Sanssouci auffuhr und dazwischenfunkte. Nur die verdammten Tiefflieger machen sich noch mausig.

Kurz vor dem Mittagessen erschien plötzlich Dr. Arnsberg von der Feuersozietät, der per Rad über Spandau–Nauen hierherkam, der einarmige Mann mit Rucksack, Taschen, Handkoffer etc. Er war die Nacht in Fahrland geblieben, wo gerade ein Depot der Wehrmacht aufgelöst wurde, bevor die Russen es schnappten. Er brachte A. eine Tafel Schokolade mit, mir 20 herrliche Zigarren und 25 Zigaretten. Dann erschien auch noch der Opa unserer Flüchtlinge mit 5 Pullen Schnaps, die er in der Stadt organisiert hatte, wovon wir eine Pulle Cognac geschenkt bekamen. Die gute Oma backte heute Kartoffelpuffer en masse, A., Arnsberg und ich aßen jeder 8 heimlich in meinem Zimmer, herrlich! Nachher aßen wir dann mit den alten Tanten bieder noch Mohrrüben hinterher!

Jetzt schießt die Artillerie in Sanssouci wieder ganz toll, so dass die Scheiben klirren. Arnsberg wird einige Tage bleiben, er erzählte von einer Ärztin, die er gesprochen hatte und die schon in russischen Händen war. Die Russen sollen sich ganz einwandfrei benommen haben, hätten nur eine große Vorliebe für Uhren und Ringe gezeigt! Ein Segen, dass wir das vorher wussten! In Berlin hätten die Russen alle Tabakläden für sich beschlagnahmt, was ich auch sofort getan hätte!

26.4. Was war das wieder für eine Nacht! Jetzt steht nach dem Artilleriefeuer auch noch die letzte Gebäudeseite des Wilhelmsplatzes in Flammen und immer weiter fliegen die Granaten in die Stadt. Gleichzeitig brummen die verdammten Tiefflieger in der Luft herum. Gestern Nachmittag stießen sie in der Kaiser-Wilhelm-Straße auf eine Fuhrparkkolonne. 4 Pferde kaputt. Kaum waren die Flieger fort, da stürzten sich die Menschen auf die 4 Tiere, und im Handumdrehen war alles Fleisch von den Knochen herunter. Ich sah mir die Bescherung heute Nacht mal an, leider hatte ein Feinschmecker schon die beiden Zungen herausgelöst. Pech! Ich hätte sie mir gern geholt. Nur die 8 Beine, 2 Köpfe und die Felle lagen noch da. Wir schlafen nur vollkommen angezogen, d. h. wir liegen, denn von Schlafen ist kaum die Rede.

Aus der mir zugesagten Postzustellung wurde leider nichts. Wie viele Briefe von Burkard mögen in den Säcken sein, zu schrecklich, dass man so gar keine Post von dem Jungen bekommt und er natürlich auch keine von uns. Ich möchte ja jetzt hier auch nicht Postbote spielen!

5 Uhr. Es schießt unaufhörlich, sogar die widerliche Stalinorgel mit ihren 10,2-cm-Rohren, gleich 10 oder 12 Schuss auf einmal à la Vierlingsflak. Überall brennt es, in der Luft fliegen überall verbrannte Papierfetzen herum, und es riecht widerlich nach Rauch.

27.4. Ab 4 Uhr morgens tobten hier die tollsten Straßenkämpfe. An der Ecke Jägerallee-Augustastraße sah ich um 8 die ersten 4 Russen stehen, die Urräh brüllten und auf Dr. Arnsberg und mich anlegten, worauf wir uns schleunigst verdrückten. Um ½ 10 klingelte es an der Wohnungstür, und vor mir stand ein Russe, in jeder Hand eine Pistole aus blankem Nickel. Er brüllte: Hände hoch, griff in meine Taschen und warf den gesamten Inhalt auf die Erde. Auf die Frage »Uhr« sagte ich ihm »Kamerad Uhr«. Dann trat er ins Wohnzimmer und nahm Anneli die Armbanduhr ab, eine alte Kartoffel, die sie deswegen schon angelegt hatte. Unsere Ringe hatten wir vorher schon in Sicherheit gebracht. Dann ging der widerliche Kerl wieder fort. Um 10 rollten die ersten ganz schweren russischen Panzer durch die Jägerallee und einer nahm am Jägertor Aufstellung. Als wir um ½ 1 zu Mittag aßen, feuerte er lange, kaum 100 Schritt von uns! Unsere Artillerie oder Panzer schossen gleichfalls, wir hörten deutlich einen russischen Verwundeten aufschreien, der dann nachher tot an der Ecke von Jägerallee 1 mehrere Tage lag und dann auf der Rasenfläche in der Kaiser-Wilhelm-Straße begraben wurde. Als mir gesagt wurde, dass im Grötzner’schen Garten sich Russen herumtrieben, sah ich vorsichtig aus dem offenen Fenster und sah 4 Mann an den Holzschuppen herumschleichen. Sie hatten mich im selben Augenblick auch gesehen und eine Kugel pfiff rechts von mir in die Hausmauer. Abends kamen Russen ins Haus und vergewaltigten im Keller Fräulein R. In Jägerstraße 39 wurde Frau S., in No. 38 Frau Kr. vergewaltigt, in der Kaiser-Wilhelm-Straße Frau K.

28.4. Ein Teil der Russen verließ die Stadt, dafür kamen andere, die fortwährend durch unsere Mausefalle schlichen, auch in die Wohnungen gingen, aber nicht zu uns. Ein Kommissar hatte Frau v. Gottberg erklärt, wir sollten weiße Tücher hissen, dann würde den betreffenden Häusern nichts mehr passieren. Bald hingen aus allen Wohnungen weiße Lappen heraus, aber trotzdem kamen immer wieder Russen herein, nahmen alle erreichbaren Fahrräder fort. Bei Frau v. Hohberg nahmen sie ein Paar lange Reitstiefel, ein Grammophon mit vielen Platten und 1 Koffer fort. Erst später entdeckte Frau v. H., dass aus ihrem Rucksack, der im Keller versteckt war, der gesamte Schmuck gestohlen worden war! In der Stadt plünderten die Potsdamer alle möglichen Läden, insbesondere die beiden Kaufhäuser Mainka und Karstadt.

Die Leute zogen mit riesigen Ballen von Stoff, Strümpfen, Wäsche, Spielzeug etc. nach Hause. Ich sah eine Frau, die 5 Originalkartons Margarine à 20 Pfund auf dem Wagen fortfuhr, ein Mann hatte ein großes Fass Butter organisiert! Ich bat eine Frau, die gut 50 Rasierpinsel vereinnahmt hatte, mir 1 abzulassen, aber »Was geben Sie mir für Lebensmittel dafür?«

29.4. Im Garten bei Grötzners lag eine Frau von ca. 30 Jahren, rechts daneben ein Junge von 3 bis 4 Jahren, beide tot mit Einschüssen in die rechten Schläfen. Ebenso im Garten von Jägerallee 1 ein toter deutscher Soldat. Den ganzen Tag wurde geschossen. Am Nachmittag wurde Jochen v. Quast in Oberstuniform von 1 jungen Russen durch die Jägerallee abgeführt. Er sprach einige Frauen an, die vor der Mausefalle standen, und fragte sie, ob sie Anneli kennten. Zufällig waren es unsere Flüchtlinge Schmidt, denen er auftrug, dass A. seine Frau benachrichtigen möchte, dass er abgeführt sei und es ihm gut ginge.

30.4. Gestern Nachmittag organisierte ich in der freigegebenen Jägerkaserne noch 1 guten Zentner Briketts. Es war ein riesiger Haufen von mehreren Waggons, der im Handumdrehen weg war! Wohl schon die 6. Nacht, dass wir völlig angezogen auf den Betten lagen. Um 3 Uhr morgens flüchteten aus der Rettungsstelle Jägerallee 1 eine Rote-Kreuz-Helferin u. 1 Mädel nachts zu uns. Vor der Stelle war ein Lastauto vorgefahren, auf das ein 11- u. 13-j. Mädel, zahlreiche junge Frauen abgefahren wurden. Auch die junge Ärztin, die sich an Tisch und Stühlen festklammerte, versuchten die Kerls mitzunehmen. Im Keller wurde die Zwillingsschwester von dem Mädel, das zu uns geflüchtet war, vergewaltigt.

Um 10 vormittags, während ich dies schreibe, kam immer wieder ein Bomberverband und warf in der Richtung Werder Bomben ab. Es sollen ja deutsche Truppen aus westlicher Richtung auf Potsdam ziehen! Sollen! Die Straßen sehen unbeschreiblich aus, herrenlose Pferde stehen herum, ausgebrannte Autos, überall lungern russische Soldaten herum. Dr. Arnsberg wurde gestern auf der Straße von oben bis unten nach seiner Uhr abgetastet! Anneli besuchte gestern Abend Bades, bei denen sich eine Befehlsstelle etabliert hatte.

Die Wohnung war stark demoliert und ausgeplündert, in alle Zimmer, auf den Balkon etc. ge …, unbeschreiblich, so dass Bades im Keller hausen müssen, der auch arg mitgenommen ist. In der Zitzewitz’schen Wohnung über Bades passierte dagegen nichts, außer dass Herrn v. Z. der Revolver und viele Pullen Wein fortgenommen wurden.

Eben fliegen wieder russ. Bomber gar nicht hoch übers Haus und werfen ihre Bomben auf den Luftschiffhafen, nicht Werder, wie ich schrieb. Ich sah ganz deutlich, ohne Fernglas mit den bloßen Augen, wie 2 Bomben abgeworfen wurden, die in Fahrtrichtung der Flugzeuge waagerecht, nicht senkrecht herunterkamen. Über dem Luftschiffhafen stehen riesige schwarze Rauchwolken.

Ich muss noch nachtragen, dass am selben Abend, als Frau R. im Keller vergewaltigt wurde, auch die junge Frau S. von 2 Russen oben auf dem Flur vergewaltigt wurde. Sie kam bitterlich weinend herunter.

Heute morgen lockte eine Wildtaube vor unserem Fenster, eine Amsel sang, im Garten blühen die herrlichsten Tulpen. Der Besitzer Grötzner ist getürmt. Jeder kommt und pflückt sich die Tulpen. Welch ein Kontrast, während gleichzeitig dauernd geschossen wird.

Unsere Flüchtlinge organisierten heute in der Kaserne weitere Briketts für uns, brachten eine kleine Pfanne, Kaffeeersatz, Mullbinden etc. mit, die herumlagen. Da das Wasserwerk kaputt ist, müssen wir immer wieder Wasser aus einer Pumpe am Eingang der Mausefalle holen. Heute Nachmittag war im Grötzner’schen Garten die Beisetzung der Frau, die erst ihren kleinen Jungen u. dann sich selbst erschossen hatte. Wir sahen vom Küchenfenster aus die »Leidtragenden« resp. »Tokieker«. Es soll sich um eine Frau handeln, die in der Kietzstraße ausgebombt wurde u. geäußert hatte, dass sie sich umbringen würde. An den Straßenecken sind jetzt Plakate angebracht, dass das Betreten der Straßen von 10 abends bis morgens 8 Uhr streng verboten sei. Alle Gewehre, Revolver etc., Munition, auch blanke Waffen müssen abgegeben werden, ebenso binnen 72 Stunden alle Radios und Fotoapparate. Alle Schreibmaschinen müssen angemeldet werden.

Am Spätnachmittag ging ich mit Anneli zu Fides v. Quast. Schon unterwegs wurde am Gymnasium eine tote Frau u. eine zugedeckte Leiche auf einem Handkarren an uns vorbeigetragen. Erna Kotzes Haus sah unvorstellbar aus, lag in der Kampfzone. Das Haus von General v. Wulffen erhielt Artillerievolltreffer u. wurde ganz zerstört. Tote Soldaten u. Pferde lagen überall herum, vor dem Quast’schen Haus standen 7 ausgebrannte große russ. Panzer, die ein einziger Mann mit der Panzerfaust erledigt haben soll. Fides u. ihre 3 Mädels trafen wir wohlbehalten an, sie hatten Unvorstellbares durchmachen müssen, da die Russen in ihrem Haus eine Befehlsstelle errichtet hatten u. dauernd die Mädels haben wollten. Fides sagte, sie hätte in ihrem Leben noch nie so um Gnade gewinselt, den Kerls ihr Uhrenarmband, Ringe, Armbänder angeboten, damit sie bloß die Kinder in Ruhe ließen. Tatsächlich nahmen die Russen nicht mal die so beliebten Uhren. In die Wohnung waren 2 Artilleriegeschosse hereingegangen, die alles durcheinanderwarfen und viel zerstörten.

1. Mai! Ich ging zur Konservenfabrik Zinnert, die ausgebrannt und freigegeben ist. Mit 6 Flaschen Tomaten in der Aktentasche und 4 in den Jacken- u. Manteltaschen kam ich wieder nach Hause! Am Nachmittag stand ich nach Brot an, d. h. jeder erhielt eine Nummer, die dann am nächsten Tage eingelöst wurde. Pro 2 Mann ein halbes Brot, aber wie lange es reichen muss, wurde nicht gesagt! Während des Anstehens galoppierte ein Russe auf dem Straßenpflaster herum, andere lernten Rad fahren u. benahmen sich wie die Kinder, indem sie nicht auf dem Sattel, sondern auf dem Gepäckständer saßen. Unter den Kerls befanden sich Jungens in Uniform, die sicher nicht älter als 14 oder 15 Jahre waren.

Nachher ging ich nochmals zu Zinnert mit Netz u. 2 Aktentaschen und brachte 19 Konservendosen mit, meist Teltower Rüben, Sellerie und Bohnen. Alle Büchsen buddelte ich aus der heißen Asche heraus, so dass ich sie kaum anfassen konnte. Wie sehr vermisste ich Burkard bei diesem »Pirschen auf Lebensmittel«, die in unvorstellbarer Menge vorhanden waren. Der Prokurist der Firma erzählte mir, dass dort 800 000 Büchsen u. 250 000 Gläser gelagert hätten! Man sank immer wieder in Marmeladen, Tomaten, Stachelbeeren und Gemüse ein. Viele hackten mit Picken und Hacken unter der Asche und Schutt die Büchsen heraus. Mein Nachbar beim Buddeln hackte mitten in eine Stachelbeerbüchse hinein, so dass mein Mantel total versaut wurde. Aber es ging munter weiter.

2.5. Schon die 2. Nacht, in der wir nicht richtig ausgezogen in den Betten lagen.In der Nacht hörten wir immer wieder Schießen, auch Geschützdonner.Am Vormittag zu Bade, mit dem ich dann in die Karlstraße zusammen mit v. Zitzewitz, v. Köhne und v. Stüntzner zur Kommandantur ging, um uns dort als ehemalige Soldaten einschreiben zu lassen. Ich selbst kam aber nicht in Frage, da nur die Soldaten registriert wurden, die der Wehrmacht angehört hatten. So verduftete ich wieder. Arnsberg war zu Fuß nach Berlin gestartet, kam aber nur bis zur Glienicker Brücke, die von den Russen gerade repariert wurde. A. machte mir dann den sehr vernünftigen Vorschlag, Briketts zu besorgen, die auf dem freigegebenen Hofe der Zinnert’schen Fabrik unter dem Schutt lagern. Wir borgten uns einen Handwagen und zogen durch die Stadt. Während Arnsberg den Wagen bewachte, trug ich in 2 Eimern die Briketts heran, die A. schön säuberlich in den Wagen einpackte, sicher an 4 Zentner! Unterwegs lagen immer noch tote Pferde und ein toter Russe in der Elisabethstraße herum. Andere Tote waren einfach in den Vorgärten der Häuser u. auf freien Plätzen eingebuddelt worden, zu Häupten öfters ein Kreuz mit russischer Inschrift, alles mit roten Tüchern u. Sowjetsternen geschmückt.

Es heißt, dass Goebbels in Berlin den Tod auf den Barrikaden fand, (seine große Klappe wird wohl noch weiter geistern!), dass Himmler einen Waffenstillstand bei den Westmächten eingereicht hätte, aber abgewiesen sei, er sollte sich damit an Stalin wenden! Ritter v. Epp soll für den Gau Bayern kapituliert haben, Hitler aus Berlin fort sein! Dies »soll« hört man immer wieder. Wäre doch der 20. Juli geglückt, dann sähe es hier nicht so trostlos aus! Ich sprach Frau v. Dewitz, die auch ausgeplündert wurde, aller Schmuck geklaut! In die Wand des Zimmers ihres Mannes hatte ein Hitlerjunge mit der Panzerfaust hereingeschossen, alle Gehörne, Bilder etc. demoliert. Auch Cecilienhof soll sehr zerstört sein. Wieder ein »soll«!

Nach der Vesper wollte ich Professor Schüssler und Frau v. Werth besuchen, wo es noch von Russen wimmelte; die wiesen mich ab. Im Garten von Frau v. Werth standen russische Wagen und grasten Pferde. Freifrau v. Falkenhausen aus der Parkstraße 4 vergiftete sich mit den 4 jüngsten Kindern. Ebenso nahmen sich Dr. med. Hoeck und Dr. med. Caspary mit ihren Familien das Leben. Er, Falkenhausen, saß lange Zeit nach dem 20. Juli in Haft. Frau v. H. wurde von 6 Russen im Beisein ihres Mannes vergewaltigt!

Auf der Rasenfläche vor der Werth’schen Wohnung standen heute Mittag 5 schwarze Särge mit Namen, daneben 6 Grabhügel mit Namen May, Potente etc., auch Frauennamen. Auf dem Rückwege ging [ich] bei Bades vor[bei]. Er, Bade, war um ½ 18 Uhr noch nicht von seiner Registrierung zurück, zu der er um ½ 10 gegangen war!

3.5. Arnsberg startete um 8 Uhr zu Fuß nach Berlin-Zehlendorf. Ob er noch hinkommen wird? Ich stand von 8 bis ¾ 10 vor der Bäckerei Bachmann, um eine Nummer zu erhalten, auf die wir ein Brot bekommen können. 500 Nummern wurden ausgegeben, ich bekam die drittletzte! Hinter mir standen sicher noch an die 1000 Menschen!

Gestern haben wir Hubertus’ Bildnis aus dem Keller wieder heraufgeholt und im Wohnzimmer aufgehängt, ebenso noch andere Bilder, die wir vor Bombenangriffen in Sicherheit gebracht hatten. Alle Radios müssen im Werner-Alfred-Bad abgegeben werden, aber die Leute kommen mit den z. T. recht schweren Apparaten wieder zurück, da der Andrang zu groß ist und sie sonst lange Stunden stehen müssen.

Wie mag es Erika u. Burkard gehen? Dieser Gedanke bewegt uns immerfort. Wie lange wird es noch dauern, bis wir endlich mal Nachricht von den geliebten Kindern und Enkeln bekommen? Und wie werden sie sich auch um uns ängstigen! Ein ganz großes Glück, dass unsere Mausefalle so abseits liegt und dadurch von Plünderungen bewahrt blieb. Wie sehen da die Häuser u. Wohnungen aus, die an den Hauptstraßen liegen! Leider wurden sie z. T. selbst von Deutschen ausgeraubt!

Am Vormittag wollte ich den 90 Jahre alten Generallt. Krahmer besuchen, den ich aber leider nicht antraf. Auf dem Rückweg traf ich den Grafen Hardenberg, der aus dem Konzentrationslager Oranienburg (20.7.!!) zu Fuß mit anderen politischen Verbrechern nach hier gekommen war. Er hatte gehört, dass auch die Uckermark von den Russen besetzt sei. Das schöne Lübbenow, Lindhorst, Fahrenholz! Ein Forttrecken wird wohl keinen Zweck mehr gehabt haben. Die Russen sollen ganz Pommern besetzt haben.

Am Nachmittag holte ich mit A. mit unserem Wägelchen einen Waschkorb u. einen Sack voll Generatorholz aus der Gard-du-Corps-Kaserne. Vor vier Wochen wäre ich noch nicht mit Wägelchen durch die Stadt gezogen! Tempora mutantur! Oberstlt. v. Plessen, der Sohn des Generaladjutanten, fegte vor seiner Türe in der Kurfürstenstraße die Straße rein! Von Bekannten hat sich am ersten Tage der Russeninvasion hier auch der Landforstmeister Lach mit seiner Frau erschossen. Selbstmorde liegen zu Hunderten vor, vielleicht doch oft etwas voreilig!

Zum deutschen Kommandanten von Potsdam wurde Oberst v. Wolfersdorff ernannt, der russische Kommandant wohnt in der Albrechtstraße im Hause von Frau v. Stülpnagel, Witwe des Kammerherrn. Oberst v. Kretschmann, Pour le Mérite, wurde gleich an einem der ersten Tage festgenommen, da er der SS angehört hatte. Schwerin-Krosigk soll Außenminister geworden sein, Dönitz Nachfolger von Hitler, der angeblich in Berlin fiel. Andere behaupten, er wäre wie Göring getürmt.

Anneli bekam heute die neuen Lebensmittelkarten, so dass wieder etwas Ordnung in dies Durcheinander kommt. Am Abend des 2. Mai war noch Frau v. Schellwitz gekommen und hatte gefragt, wohin sie einen verwundeten Zivilisten bringen könnte, der unten in ihrem Haus durch die Lunge geschossen wurde. Ein Russe war eingedrungen u. suchte nach Waffen. Der Zivilist beteuerte, keine Waffe zu haben, als der Russe auf dem Tisch ganz offen einen Revolver liegen sah, den ein Russe hatte liegen lassen. Darauf schoss er dem Zivilisten durch die Brust.

4.5. Von 2 Uhr morgens an bis gegen 7 hörten wir fast ununterbrochen Kanonendonner nördlich von Berlin, auch hier fielen einzelne Kanonenschüsse u. noch mehr Gewehrschüsse. Obwohl das Betreten der Straßen erst ab 8 Uhr erlaubt ist, stehen die Leute bereits von 7 Uhr an vor den Bäckereien. Pro Kopf gibt es ein Dreipfundbrot pro Woche.

Am Vormittag brachte ich schweren Herzens 2 Aktentaschen mit 300 Schrotpatronen, Annelis Fotoapparat u. meinen zum Werner-­Alfred-Bad. Mein Name wurde notiert, worauf ein uniformiertes Flintenweib die Apparate auf einen Riesenhaufen anderer Apparate warf, die Patronen in eine andere Ecke. Tausende von Radios standen bis zur Decke gehäuft herum, Tausende draußen im Garten, völlig verregnet! Noch haben wir unsere nicht abgegeben!

Um ½ 4 erschien Arnsberg wieder, der auf dem Rade seiner 2. Tochter aus Zehlendorf wieder zurückkam, wo er sein Haus zwar heil, aber das Mobiliar total zerstört vorgefunden hatte. Nach dem Mittagessen stürzten A. und ich zur Deutschen Bank, aus der heute Vormittag allerhand aus dem Tresor auf Lastwagen verladen worden sein sollte. Wir sahen vor d. Türe einen Posten sitzen u. einen Volkswagen stehen, auf dem 2 Mäntel lagen. Vermutlich waren die beiden russischer Besitzer dieser Kleidungsstücke in die Bank eingedrungen. Hoffentlich bleibt unser Silberkasten u. ein großer Koffer mit Wäsche und Silber verschont!

Um 5 Uhr besuchte ich Exzellenz Krahmer u. traf dort seine Nichte, Frau v. Poten, die auch gehört hatte, dass Dönitz »Reichspräsident« geworden sei u. der Kampf weiterginge. Göring soll in Schweden sein, Hitler u. Goebbels tot, Mussolini ermordet. Bei Krahmer brannte schon wieder das elektrische Licht, so dass wir wohl auch »guter Hoffnung« sein dürfen!

Kurz vor dem Abendessen besuchte uns Erna v. Kotze, die in d. Jägerallee 38 bei Frau v. Sell unterkam, nachdem ihre Wohnung durch Artillerievolltreffer fast ganz zerstört wurde. E. erzählte, dass Herr v. Müldner seine Hausdame, s. Mädchen u. sich selbst in Cecilienhof erschossen hätte. Auch der sächs. Innenminister a. D. u. Präsident der Oberrechnungs-Kammer General Müller brachte seine Familie und sich um.

Bei dem schweren Bombenangriff am 14.4. abends wurde übrigens das Kasino des Inf. Regts. 9, in dem Erikas Hochzeit stattgefunden hatte, restlos zerstört.

Ich sah die verkohlten Bilderrahmen der früheren Kommandeure im Schutt.

5.5. In der Hindenburgkaserne wurde die große Werkstatt freigegeben. Ich ging sofort hin und organisierte Sägen, Zangen, Feilen, Zwirn, Wachstuch etc. Für Erika wurde allerhand zurückgelegt!

Am Nachmittag besuchten wir mit Arnsberg Bades, wo wir auf die heutige politische Lage zu sprechen kamen und unserem vernichtenden Urteil über den Führer keinerlei Zwang auflegten. Darauf stampften wie auf Kommando Frau Bade u. Tochter sowie 2 Freundinnen der beiden die Füße auf und verschwanden ostentativ aus dem Zimmer. Sie sind wirklich wie von Blindheit geschlagen oder – saudumm! Unsere Äußerungen entsprachen nur den Ansichten, die man jetzt mit der größten Offenheit beim Anstehen auf Brot etc. dauernd zu hören bekommt. Eine grenzenlose Wut hat das Volk erfasst, das jetzt den Irrsinn ausbaden muss. Unser Vaterland, unsere Kultur, unser Wohlstand, unser Familienleben wurden durch diesen einen Mann restlos vernichtet. Was ist uns allen vorgelogen worden!

Auf dem Rückweg gingen wir durch den neuen Garten und besahen das Marmorpalais, das auch einige Artillerietreffer abbekommen hatte. Ein Stück abgeschossenen Marmor nahm ich auf, um es der Prinzessin Wilhelm bei Gelegenheit zu geben.

Im Hause herrscht große Freude. Der Schwiegersohn von Wolters unten im Souterrain war an der Front desertiert u. fiel hier den Russen in die Hände. Er wurde von ihnen wegen seines mannhaften Verhaltens sofort freigelassen!

Aus dem Tresor der Deutschen Bank sollen an den beiden letzten Tagen Wagenladungen von Koffern, Kisten, Silberkästen etc., die dort zur »Sicherheit« deponiert waren, fortgeschafft worden sein. Wir zittern um unseren Silberkasten für 24 Personen, den ich 1911 von meiner Großmutter Henschel zur Hochzeit erhielt, ferner um einen Koffer mit Silber u. Wäsche.

6.5. Der 63. Geburtstag unseres Kronprinzen! Was wird er dazu sagen, wenn er das schöne Potsdam wiedersieht?

Seit heute gibt es wieder Wasser aus der Leitung! Die Frauen­schaftsführerin Jahn von Potsdam hat sich das Leben genommen, der Kreisleiter u. der Propagandaredner Direktor Schröder von der Wilh.-Frick-Schule sind natürlich rechtzeitig getürmt! Hoffentlich folgt man ihren Spuren.

7.5. Nachdem ich mit Anneli von 8 bis 10 ¼ nach Marken für Brot angestanden hatte, gab ich schweren Herzens im Werner-Alfred-Bad unser großes Radio ab, das ich in der 1. Etage niederlegen musste, wenigstens nicht im Freien, wo Tausende von Apparaten standen, natürlich verregnet!

8.5. Die russ. Kommandantur in der Karlstraße scheint sich eine Kuh zugelegt zu haben. Seit gestern hören wir dauernd das langgezogene Muuuh einer Milchspenderin zu uns herüberschallen! Wehmütige Erinnerungen ans Land werden wach!

Am Vormittag organisierte ich 2 große Handwagen voll Holz. Ich traf den Direktor Martin der Deutschen Bank. ­Tatsächlich ist der ­gesamte Inhalt des großen Tresors von den ­Russen mitgenommen worden. Anneli trauert ihrer guten neuen Wäsche nach, ich besonders dem hübschen Lindhorster Tablett, das ich für Erika ­bestimmt hatte.

Morgens um 10 startete der einarmige Dr. Arnsberg per Rad nach Bad Salzuflen, das er in 8 Tagen zu erreichen hofft. Wir gaben ihm Briefe nach Hoof, an Erika, Tante Hildegard mit, die er unterwegs an verschiedenen Stellen zur Post geben soll. Ich schrieb deshalb die Briefe mit Durchschlägen. Könnten wir doch auch unserem geliebten Jungen schreiben, dass wir noch am Leben sind und es uns gut geht. Wo mag er jetzt sein? Prof. Schüssler erzählte, dass die Armee Schörner, bei der Burkard steht, noch westlich von Brandenburg und in der Gegend von Chemnitz kämpfen soll. Wenn der gute Junge sich doch nach Potsdam durchschlagen könnte.

Frau v. Rappard erzählte gestern, dass ihr Vetter, der Polizeipräsident v. Dolega hier, SS, sich erschossen hätte. An der Glienicker Brücke fiel bei den Kämpfen Herr Archivrat v. Kauffmann vom Reichsarchiv. Es sollen in den Kämpfen in u. bei Potsdam über 1000 Mann gefallen sein, dazu ca. 8000 Menschen durch den Bombenangriff in der Nacht vom 14./15.4.

Am Nachmittag sägte und hackte ich fleißig Holz für den Küchenherd!

Anneli traf Frau D., die Frau des Wehrmachtpfarrers der Garnisonkirche, die von einem Russen vergewaltigt worden war, u. a. ebenso Frau B., DRK-Helferin. Die Ärztin der Hilfsstelle Jägerallee 1 erzählte, dass an die 1000 Potsdamer in den letzten beiden Wochen Selbstmord verübt hatten, meist durch Aufschneiden der Pulsadern.

9.5. An der Kommandantur in der Karlstraße las Anneli folgende Bekanntmachung: »9. Mai. Tag des Sieges. Der Krieg ist beendet. Ich empfange heute keinen Besuch.« So der russische Kommandant!

Am Vormittag organisierte ich wieder 2 große Handwagen voll Brennholz, so dass sich unser Keller in den letzten Tagen erheblich damit angefüllt hat.

In der Kaiser-Wilhelm-Straße traf ich 2 junge Russen, die zusammen auf einem Rad saßen und wie toll mit Gebrüll hinter einem Zivilisten herfuhren. Als sie ihn eingeholt hatten, nahmen sie ihm das Rad ab und fuhren nun befriedigt auf zwei Rädern davon!!

In der Stadt gab es heute in den meisten Schlächtereien Pferdefleisch. Leider erfuhr ich zu spät davon, denn anderes Fleisch wird es in der nächsten Zeit ganz bestimmt nicht mehr geben.

10.5. Himmelfahrt. Nachdem schon gestern Abend in der Stadt viel geschossen wurde, wohl als »Siegesfeier«, begann heute früh um 4 ein wahres Bombardement, fast stärker als am 25. April, aber wohl in die Luft! Es dauerte bis ½ 5 fast ununterbrochen.

Als vor einigen Tagen mehrere Stadtväter beim russ. Kommissar wegen der vielen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen vorstellig wurden, antwortete dieser sehr zutreffend, die SS usw. hätte in Polen etc. noch ganz anders gewütet, und Potsdam könnte froh sein, wenn es so glimpflich davonkäme!

An dem Tor des Polizeireviers I in der Kaiser-Wilhelm-Straße prangt seit heute ein Schild: Proletarischer Ordnungsdienst. Angeblich werden alle Radios in den nächsten Tagen wieder zurückgegeben! Ich besuchte heute Frau v. Dewitz-Krebs, die um 3000,- M in bar und ihren gesamten Schmuck, goldene Uhr ihres Mannes etc. verlor. Sie hatte alles in einem Päckchen unter einem großen Kokshaufen versteckt. Ein Russe stach aber mit dem Säbel in den Koks und traf auf das Päckchen! Das Friedensgeschieße am frühen Morgen war übrigens eine regelrechte Kampfhandlung. Bei Caputh hatte sich noch ein Bataillon Volkssturm gehalten, das noch nichts von dem abgeschlossenen Frieden weg hatte. Die Leute sollen nach Brandenburg abgeführt sein.

In der Stadt traf man heute wiederholt entlassene deutsche Soldaten, z. T. schon halb in Zivil, die von den Russen nach Hause geschickt waren. Wenn doch auch unser geliebter Junge plötzlich hier erschiene! Der Gedanke, ob er noch am Leben ist, bewegt uns Tag und Nacht. Wie schwer ist es, sich in Geduld zu fassen, bis endlich Nachricht von ihm kommt. Gott gebe in Seiner Barmherzigkeit, dass er nicht auch noch sein junges Leben für diesen Irrsinn hergeben musste.

11.5. Erikas 12. Hochzeitstag! Wenn doch bloß bald mal Post von ihr käme! Wäre Schwiegersohn Hans Heinrich hier, dann hätten ihn die Russen sicher wie so viele junge Zivilisten abgeführt.

Gestern kam Frau Asendorf aus dem Krankenhaus zurück, heute zog FrauKräh mit 11 Jahre alten Tochter auch noch bei uns ein, ebenfalls Flüchtling aus Göhren, Schwägerin von Frau Schmidt. Alle wollten heute zu Fuß nach Haus trecken, hatten sich einen Militärhandwagen organisiert, schwer beladen, obendrauf die beiden alten Omas. Es waren an 25 Mann. Aber sie bekamen den Wagen nicht von der Stelle und blieben reumütig wieder hier! Ich tauschte heute eine Konservenbüchse Sellerie (brrr!) gegen 15 Zigarren! Man sagt, dass in Berlin Typhus ausgebrochen sei und deshalb niemand hinein- noch herausfahren darf. Am Vormittag und Nachmittag hackte u. sägte ich wieder je 2 Stunden Holz in Ermangelung einer geistigen Arbeit. Ich besorgte heute 18 Tomatenpflanzen, die ich in 6 alte Marmeladeneimer pflanzte, hoffentlich mit Erfolg! Man sagt, dass Hitler noch lebt und nun eine Volksabstimmung sein sollte, um zu entscheiden, welch Todes er sterben sollte. Ich wüsste schon welchen!!

12.5. Wieder 4 Stunden Holz klein gemacht. Als ich nach dem Werner-Alfred-Bad ging, um mich nach der evt. Herausgabe der Radios zu erkundigen, wurden gerade 25–30 Apparate auf ein russisches Lastauto verladen! Natürlich nur die besten. In der Jägerallee 1 wurden heute die erste Etage und Parterrewohnung von russ. Soldaten geplündert, vor einigen Tagen die Westermann’sche Wohnung in der Kapellenbergstraße. Dabei sollen Plünderungen streng verboten sein!

Am Spätnachmittag erschienen bei uns 2 verwundete deutsche Soldaten, die aus ihrem mit 6000 Mann belegten Lazarett getürmt waren und zu Fuß in ihre Heimat am Bodensee wandern wollen, beide mit zerschossenen Beinen. Der eine gehörte zur 21. Panzerdivision von Burkard, stand auch südlich Cottbus. 80 % der Division soll in Gefangenschaft geraten sein. Wenn doch unser geliebter Junge auch plötzlich hier erschiene! Wir gaben den beiden Soldaten Abendessen und je 50,- M »Wegzehrung«, wofür sie sich immer wieder bedankten. Dann humpelten sie ab.

Herr v. Kottwitz war am Vormittag am Antikentempel gewesen, der von den Russen auch »besucht« wurde. Der Sarkophag der Kaiserin hat ein faustgroßes Loch, die Flagge fehlt. Der Sarg von Prinz Eitel Friedrich wurde anscheinend erbrochen, auf dem Deckel liegen Schrauben, und vom Sarg des Prinzen Wilhelm fehlen die Griffe. Das Kruzifix auf dem Sarg wurde nicht abgerissen. Auch von diesen beiden Särgen wurden die Flaggen fortgenommen.

13.5. Gestern Abend sah ich von der Loggia aus einen Reiher ziehen, heute Morgen hörte ich den ersten Kuckuck! Ich musste an Burkard denken u. an unsere Jagdtage in Tramnitz an der Hubertuswiese. Werden wir noch mal zusammen jagen können? Angeblich kann jeder von morgen an seine Post abholen, die seit Wochen auf der Hauptpost unsortiert lagerte. Aber wie alt sind dann die Nachrichten! Der letzte Gruß von Burkard ist vom 15.4., ein kurzer Zettel, den ein Arbeiter am 17. brachte.

14.5. Die Post wurde heute sogar ausgetragen: 2 Briefe von Burkard v. 12. u. 14.4., außerdem ein Brief v. 19.4. von Siegfried Stülpnagel. Burkards Brief v. 12. aus Langwasser klingt wie ein Abschied – es wäre gar nicht auszudenken, wenn wir auch diesen geliebten Jungen opfern müssten. Er schreibt so besonders herzlich u. zärtlich, wie es sonst nie seine Art war. Seine »für Churchill 2 Augenküsschen« am Ende des Briefes erschütterten mich aufs Tiefste.

Aus den meisten Häusern der Stadt hängen jetzt rote Fahnen heraus, aus denen man einfach das Hakenkreuz entfernt hat! Während ich am Vormittag Holz hackte, besuchte uns Bade mit der Neuigkeit, dass er sich scheiden ließe! Der Auftritt, den wir neulich dort miterlebten, schlug endgültig dem Fass den Boden aus.

15.5. Vor 3 Jahren wurde Hubertus schwer verwundet, vor 2 Jahren traf ich mich mit Burkard, der mit Rad kam, in Tramnitz, wo ich abends in seinem Beisein von der Hubertuskanzel einen Bock schoss, den B. zuerst gesehen hatte. Ich denke sehnsüchtig u. fürbittend an den lieben Büchsenspanner.

16.5. Heute Nacht war von 12 bis ½ 1 in der Mausefalle der Teufel los! Zwo betrunkene Russen waren in No. 38 eingedrungen, Frl. v. Goßler rief vom Balkon dauernd herunter: »Hilfe, Kommissar! Hilfe, Offizier!« Tatsächlich kam eine Patrouille von 3 Mann und schaffte wieder Ruhe.

Gestern Mittag zogen unsere netten Flüchtlinge Schmidt mit 2 Pferden u. 3 Wagen, begleitet von anderen Ortsgenossen, wieder nach Hause. Oben auf dem 2. zworädrigen Wagen wurde die 86 Jahre alte Oma verfrachtet, die gleich beim Anziehen der Pferde um ein Haar herunterkippte! Nur die Tochter Gertrud ist noch unser Tischgenosse.

Nach der Schmidt’schen Abfahrt wanderten A. und ich nach Fahrland u. holten dort 12 Pfund Spargel und 15 Pfund Rhabarber bei Kanias ab, ein Marsch von 17 km hin u. zurück! Die Tochter hatte sich mit ihrem Mann u. wenige Wochen alten Jungen beim Russeneinmarsch die Pulsadern aufgeschnitten. Während der Kleine verblutete, wurden die Eltern rechtzeitig gefunden und gerettet. Wie mir der Pfarrer erzählte, haben allein in dem kleinen Fahrland 36 Personen in diesen Tagen Selbstmord begangen!

Ich musste mich heute auf dem Arbeitsamt melden, alle männlichen Personen von 16 bis 60 Jahren. Ende der Woche muss ich wieder antreten u. höre dann, ob ich irgendwie eingesetzt werde.

Seit 15. Mai erscheint in Berlin eine neue Zeitung »Tägliche Rundschau«, sie wird auch hier an vielen Ecken angeklebt. Innerhalb Potsdams und eingemeindeten Orten geht seit heute wieder die Post, aber markenlos! Der Empfänger zahlt das Porto!

17.5. Heute vor 2 Jahren zottelten Burkard u. ich im Einspänner um 7 morgens von Tramnitz nach Emilienhof, sein Urlaub war zu Ende! Wo mag unser geliebter Junge jetzt sein? Die Potsdamer Creditbank wurde vorgestern angesteckt u. gesprengt, so dass nun auch noch Burkards 3 wertvolle Markenalbums zum Teufel sind, ebenso noch etwas Schmuck (goldenes Amethystkreuz!).

Seit heute ist die abendliche Verdunklung aufgehoben, außerdem die Ausgehzeit auf 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends umgeändert! Die Sommerzeit wird vorläufig beibehalten.

18.5. Die Post brachte heute 6 Briefe zurück, die wir v. 16. bis 19.4. an Burkard geschrieben hatten, die aber nicht mehr abgingen. Wie wird der gute Junge auf Nachrichten von uns warten! Heute Morgen stand ich wegen 300 Gr. Schweinefleisch von 7 bis 9 an, um dann zu hören, dass der Verkauf erst um 3 stattfindet. Um ½ 4 war ich bereits wieder auf Anstand in einer viel 100-köpfigen Menge, die immer wieder von dem Proletarischen Ordnungsdienst vertrieben wurde.

19.5. Um 6 Uhr morgens marschierte ich mit Bade nach Fahrland, wir kamen mit 2 schwer bepackten Rucksäcken voll Spargel u. Rhabarber zurück! Nachmittags besuchte ich Exzellenz Krahmer, bei dem Pfarrer Brinkmeyer am Vormittag gewesen war. Dieser hatte erzählt, dass der frühere Generalsuperintendent Dibelius Präses der Brandenburgischen Kirche geworden sei, Niemöller sein Stellvertreter. So haben wir durch die Russen die evangelische Kirche wieder neu bekommen!! Die 3 wilden Potsdamer Nazipfarrer Thom, Hermenau und Hossenfelder sollen angeblich nicht mehr amtieren dürfen.

Heute Bekanntmachung: Radios u. Fotoapparate brauchen nicht mehr abgegeben zu werden! Und unser gutes ist zum Teufel! Wir haben wenigstens den Volksempfänger der Jungens nicht verloren! Dann müssen bis 25.5. alle von »unverantwortlichen Elementen« geraubten Lebensmittel, Gegenstände etc., etc. abgegeben werden, sonst höchste Strafe. Strengste Haussuchungen sollen durchgeführt werden. Die vielen 1000e von Flüchtlingen haben ihr Schäflein bereits durch ihre Abreise ins Trockene gebracht, Pelze, Stoffballen, Schuhe, Handwerkszeug, Lebensmittel etc.!

Als ich heute etwas Rotdorn für Pfingsten kaufte, erklärte mir der Gärtner Grötzner, er könnte mir nur wenig geben, da der russ. Kommandant für 500,- M Rotdorn bestellt hätte. Als der Russe vor einigen Tagen 8 Köpfe Salat kaufte, hätte er dafür 20,- M auf den Tisch gelegt u. dem Mädchen, das die Salatköpfe aus dem Frühbeet geholt hatte, 80,- M geschenkt! Frau Baur, die Frau des bekannten Potsdamer Fotografen Max Baur (besonders schöne Ansichten von Potsdam u. Blumen!), erzählte mir, dass sie sich vor Arbeit kaum retten könnte. Die russ. Soldaten ließen sich en masse knipsen. Einer hätte ihr für 2 Dtzd. Postkarten mit seinem Bild einen Tausendmarkschein gegeben! Woher das viele Geld kommt, ist klar. Aus der Zitzewitz’schen Bank wurden 600.000 M, aus der Stadtsparkasse über 2 Millionen deutsches Bargeld von den Russen »organisiert«!

20.5. Heute ist Muttertag. Ob Burkard wohl noch einen Kalender besitzt? Dann wird der gute Junge sehr, sehr sehnsüchtig daran denken. Im vorigen Jahr kamen in seinem Auftrage 4 herrliche Primelsträuße.

21.5. Während die Damen in der Kirche waren, klopfte es an der Hintertür. Ein Mann fragte mich, ob ich jemanden im Hause wüsste, der auf den »Volks-Beschiss« abonniert hätte! Ich verstand ihn nicht, u. er erklärte mir dann, dass er den V. B. (»Völkischen Beobachter«) meinte, von dem er gern die letzte Nummer hätte. Leider konnte ich ihm nicht damit dienen!

Ich möchte dabei erwähnen, dass ich niemals »Mein Kampf« in den Händen gehabt habe u. auch niemals in der ganzen Wohnung ein Führerbild besessen habe! Desto mehr Hohenzollernbilder!

22.5. Morgens um 8 meldete ich mich wieder auf dem Arbeitsamt. Nach langem Grübeln sollte ich einem Möbeltransportwesen zugewiesen werden, worauf ich aber streikte; da das über meine Kräfte ginge! Der Erfolg: Ende der Woche wieder melden! Bade hatte gehört, dass in diesem Kriege ca. 8 Millionen Tote, Vermisste und Schwerverwundete auf deutscher Seite waren. An den Straßenecken war u. a. bekannt gegeben, dass der »Nazi-Generalfeldmarschall« Schörner in Tiroler Tracht verhaftet wurde! Er war der Armeeführer von Burkard und hatte den ganzen viehischen Befehl herausgegeben, dass der Soldat NUR zum Kämpfen, Schanzen und Sterben da wäre, und er verbot aufs Strengste, dass die Verwundeten aus der Kampfzone gebracht wurden. Hoffentlich bekommt dieser Bluthund seinen wohlverdienten Lohn.

23.5. Morgens um ¾ 6 starteten wir wieder mit Bade und Tochter nach Fahrland, waren um ½ 1 wieder zu Hause. Ergebnis: 10 Pfund Spargel und 14 Pfund selbstgepflückte Stachelbeeren u. verschiedenes anderes.

Auf den Straßen heute eine öffentliche Bekanntmachung, dass in Berchtesgaden eine amerikanische Kommission eingetroffen sei, die in den »kilometerlangen Felsengängen« alle Gegenstände besichtigte, die Göring gestohlen und dort in Sicherheit gebracht hatte! Seit einigen Tagen verkündet ein Lautsprecher am Klosterkeller in der Nauener Straße abends um 8 die neuesten Nachrichten. Beim ergebnislosen Anstehen nach 50 Gr. Heringen pro Kopf hörte ich heute Nachmittag, dass angeblich die abgegebenen Radios nur an die alten Besitzer zurückgegeben würden, die keine Pgs [NSDAP-Parteigenossen] gewesen wären!

Kurz vor dem Abendessen erschien plötzlich Dr. Arnsberg wieder, dem es nicht geglückt ist, über die Elbe zu kommen. Leider brachte er sämtliche Post wieder zurück, die wir ihm an Erika etc. mitgegeben hatten. Pech! Gestern wurde General von Ditfurth von den Russen verhaftet; allen an diesem Krieg beteiligten Generälen soll dieses Los blühen! Der russische Kommandant von Potsdam ist ein Oberst Werin. Ganz eigenartig ist die Grußpflicht der russ. Soldaten. Sie haben nur im Dienst ihre Vorgesetzten durch Handanlegen an die Mütze zu grüßen, im gewöhnlichen Leben schlaksen sie mit den Händen in der Hosentasche und der Zigarette im Gebrech an ihnen vorbei.

24.5. Heute Morgen um ½ 10 verließ uns Dr. Arnsberg wieder nach Berlin. Per Rad! Am Nachmittag erschien Frau v. Ditfurth ganz verzweifelt. Ihr Mann ist quasi seit 14. verhaftet, musste sich am Vormittag wie alle Offiziere melden, wurde eingehend verhört und dann entlassen. Abends erschien ein Auto mit einem Offizier und Dolmetscherin und sagten ihm, er müsste zur Klärung einiger Fragen noch mal mitkommen. Seitdem ist er nicht wieder erschienen. Und das im dünnen Sommeranzug ohne Waschzeug etc.!! Im D.’schen Hause hat sich eine Kommunistenfamilie breitgemacht, alle guten Kleider, Wäsche etc. von Frau v. D. sind bereits verschwunden, vergrabene Sachen im Garten ausgebuddelt!

Die ersten 7 Radieschen vom Balkon geerntet!

25.5.