Ich tue es für Euch - Margot Friedländer - E-Book
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Ich tue es für Euch E-Book

Margot Friedlander

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Beschreibung

Die Holocaustüberlebende und Zeitzeugin Margot Friedländer erinnert in diesem Interview-Buch gemeinsam mit ihrer Gesprächspartnerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an den Holocaust und ermahnt die Leser, dass so etwas nie wieder passieren darf. Zugleich ruft sie zu einem offenen, vorurteilsfreien Miteinander in einer vielfältigen Gesellschaft auf. In diesem Buch, das anlässlich zum Jubiläum "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" und Friedländers 100. Geburtstag sowie Leutheusser-Schnarrenbergers 70. Geburtstag erscheint, wird Margot Friedländer von der Antisemitismusbeauftragten Leutheusser-Schnarrenberger zu ihrem Leben als Jüdin in Deutschland während des Holocausts interviewt. Mit einem Vorwort von Armin Laschet.

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Seitenzahl: 188

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Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Miriam Nüberlin

Redaktionelle Mitarbeit: Simone Sabel

Lektorat: Arnold Klaffenböck

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

eBook-Herstellung: Lea Stroetmann

ISBN 978-3-8338-9001-7

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Coverabbildung: Laurence Chaperon für Lamalo Consulting GmbH

Fotos: privat Friedländer; Bundesregierung / Sandra Steins; Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (eDok) Nr. D_008746 / Fotograf: Thomas Platow; Laurence Chaperon für Lamalo Consulting GmbH; privat Leutheusser-Schnarrenberger

Syndication: www.seasons.agency

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»Zunächst muss ich sagen: Auch der Untergrund war keine Kleinigkeit, aber mich zu stellen, nachdem ich es angefangen hatte, wäre nur der letzte Ausweg für mich gewesen.

Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, für die Publikation »Doppelinterview Sascha Hellen mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Margot Friedländer«

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält ein Gespräch zweier starker Frauen, die eine ganze Generation trennt, aber das gemeinsame Engagement gegen Antisemitismus und Judenhass eint. Beide machen sich Sorgen, weil Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Jahren wieder hör- und sichtbarer geworden ist. Darum ist es so wichtig, dass starke Persönlichkeiten wie Margot Friedländer ihre Erinnerungen an Hass, Verfolgung und Verbrechen, aber auch an das Über- und Weiterleben jahrzehntelang an junge Menschen weitergegeben haben. Wir müssen immer wieder deutlich machen: Judenhass und Antisemitismus vergiften das Zusammenleben für uns alle. Daher bin ich dankbar, dass Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sich als Antisemitismusbeauftragte für unser Land engagiert und mit diesem Buch ein starkes Zeichen für das Fortdauern der Erinnerung und gegen Antisemitismus setzt.

Zugleich macht das Buch schmerzhaft klar, dass wir vor einer tiefen Zäsur in der Erinnerungskultur stehen: Es ist die Zeit der letzten Gespräche mit den Zeitzeugen, mit Überlebenden wie Margot Friedländer. Wenn diese Gespräche bald nicht mehr möglich sind, müssen wir Lebenden das Gedenken an Entrechtung, Verfolgung, Deportation – an das singuläre und unauslöschliche Menschheitsverbrechen der Shoah – erhalten und weiterentwickeln.

Und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass jüdisches Leben in unserem Land auch in Zukunft blüht und dass Jüdinnen und Juden sich in ihrem Alltag in Deutschland sicher und willkommen fühlen. Ein großer Beitrag dazu wird das bundesweite Festjahr 2021 – 321 sein. Wir feiern, dass es seit 1700 Jahren jüdisches Leben im heutigen Deutschland gibt – bezeugt durch ein Edikt des Kaisers Konstantin für den Magistrat der Stadt Köln, das es Juden erlaubte, Ämter der Kurie sowie in der Stadtverwaltung zu bekleiden. Dieses Leben fußt heute auf einem Vertrauen, das auch dank herausragender Persönlichkeiten wie Paul Spiegel oder Margot Friedländer entstanden ist. Lassen Sie uns die Erinnerung pflegen, um das Leben zu feiern. Ich bin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Margot Friedländer und Sascha Hellen sehr dankbar für ihren Beitrag dazu. L'Chaim!

Leben, um davon zu berichten: Das könnte das Leitmotto von Margot Friedländer sein. Leicht gebückt, aber ohne Hilfe führt sie durch ihre Wohnung unweit vom Berliner Ku’damm. Ein unabhängiges Leben mit 99 Jahren. Gerade erst hat sie das Mittagessen zubereitet, der Signalton auf dem iMac zeigt den Eingang neuer E-Mails an. Sie skypt mit Freunden in New York, erledigt ihre Post und liest mehrere Bücher zeitgleich.

Ein kalter Januarnachmittag in der Hauptstadt. Margot Friedländer und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger haben sich zum Gespräch verabredet. Im Eingangsbereich des Apartments hängen Fotos, die Frau Friedländer mit den Spitzen der Politik zeigen; mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller und dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Sein Amtsnachfolger ruft regelmäßig bei Margot Friedländer an. Sie sind freundschaftlich verbunden, man duzt sich.

Die Begrüßung der Damen fällt herzlich aus. Es ist das erste Mal, dass sie sich treffen. Zwei unterschiedliche Biografien. Ein Ziel. Beide wollen wachrütteln und erinnern. Margot Friedländer hat den Holocaust überlebt – als Einzige aus ihrer Familie. Sie musste sich verstecken und 15 Monate im Untergrund überleben. Margot Friedländer hat dem Bösen mehrfach ins Gesicht geblickt, den Naziterror hautnah zu spüren bekommen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wuchs wohlbehütet im westfälischen Minden auf. Sie wurde 1951 geboren und gilt heute als die Elder Stateswoman ihrer Partei. In der FDP hinterließ sie Spuren, kämpfte für Bürgerrechte und Freiheit. Wie kaum eine andere Politikerin steht sie für Haltung – nicht zuletzt durch ihren Rücktritt als Bundesministerin der Justiz im Zusammenhang mit der Entscheidung für den sogenannten Großen Lauschangriff, die akustische Wohnraumüberwachung. Das war zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl. Später zog sie erneut ins Bundeskabinett ein, unter Angela Merkel. Eine Frau, ein Ressort, zwei Bundeskanzler – ein Unikum in der bundesdeutschen Politik. Heute engagiert sich »SLS«, wie sie im Politikbetrieb und in großen Teilen der Medien genannt wird, ehrenamtlich als stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und als Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen. Ein kleines Team unterstützt sie hier, SLS arbeitet mit einem überschaubaren Budget. Als »politische Kosmetik« will sie diese Aufgabe aber nicht verstanden wissen. Sie will wachrütteln, mahnen, Initiativen gegen Judenhass fördern.

Der Journalist Sascha Hellen moderiert das Gespräch.

SASCHA HELLEN

Frau Friedländer, Sie werden im November 100 Jahre alt. Wir sitzen zu Beginn des Jahres 2021 in Ihrer Berliner Wohnung. Welche Erwartungen haben Sie an das neue Jahr?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Auch mit fast 100 Jahren bin ich ja noch immer sehr aktiv und nehme viele Termine wahr. Natürlich wird es für mich heute schwieriger, lauter und länger zu sprechen. Das fällt mir schwer. Aber es ist eine Mission geworden, über das Erlebte zu sprechen. Es ist mein Leben, meine Geschichte, die ich erzähle. Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben. Dass ich es geschafft habe, überlebt habe, verpflichtet mich. Es hat mir im hohen Alter wieder ein Ziel gegeben. Ich kann nur immer wieder erzählen, aus meinem Leben. Ganz sachlich. Was war, können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen. Ich tue es nicht für mich, ich tue es für euch. Für eure Zukunft, euer Wohl. Ich möchte nicht, dass einer das erleben muss, was wir erlebt haben. Diese Gefühle lassen sich nur schwer in Worte fassen. Mir ist es wichtig, Kindern und Jugendlichen zu begegnen, denn sie sind die Zukunft.

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Ich habe von Auschwitz nichts in der Schule gehört. Ich habe Anfang der Siebzigerjahre Abitur gemacht. Mein Geschichtslehrer auf dem Gymnasium in Minden kam im Unterricht bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Aber ich habe zu Hause über die Shoah und die Verfolgung zu Zeiten der NS-Diktatur gehört. Mein Großvater als Landrat in Gotha hat sich geweigert, 1933 in die NSDAP einzutreten. Er war eigentlich aus ganzem Herzen ein preußischer Staatsbeamter – durch und durch –, der dienen wollte, dem Staat, der nämlich dazu da ist, sich um das Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger zu kümmern, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Und da kamen die Nazis daher, und damit ist für ihn auf einmal diese ganze Welt zusammengebrochen. Also, er war selbst nicht in einem Konzentrationslager …

SASCHA HELLEN

Gab es andere Konsequenzen?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Sicher. Er wurde in den sofortigen Ruhestand versetzt, weil er die vom thüringischen Innenminister angeordnete Amtsenthebung aller sozialdemokratischen Bürgermeister öffentlich missbilligte und sogar noch einen draufsetzte: Er bedankte sich für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Das war 1933. Später weigerte er sich noch, Mitglied des nationalsozialistischen Versorgungswerks zu werden. Das führte zu seiner Entlassung aus dem Staatsdienst, da er sich »gegen die Regierung Adolf Hitlers gerichtet« hatte. 1939, als der Krieg begann, holte man ihn als Verwaltungsfachmann zurück und verpflichtete ihn zum Dienst im Wehrbezirkskommando Gotha. Mein Großvater war damals 62 Jahre alt und hatte dieses Amt bis Kriegsende inne. Danach setzten ihn die Amerikaner wieder in die Verwaltung ein; er wurde als politisch Verfolgter anerkannt und rehabilitiert. Er war ein geradliniger, fairer, gutmütiger Staatsbeamter. Ihm war der Dienst am Staat wichtiger als jede Parteizugehörigkeit.

SASCHA HELLEN

Was haben Ihre Eltern während des Krieges gemacht?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Mein Vater war im Krieg, meine Mutter war Apothekerin. Sie hat in einer Apotheke im heutigen Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet. Die Familie musste dann aber fliehen. Wir haben auch Wurzeln in Oberfranken, dort gibt es noch heute ein »Leutheusser-Bräu«, das war die Verwandtschaft meines Vaters. Da hat man sich dann getroffen, und nachdem mein Vater aus der Gefangenschaft kam – er war Gott sei Dank nicht lange in Gefangenschaft –, zog er Richtung Coburg. Wie so oft in dieser Zeit hat sich auch hier zufällig eine Chance aufgetan, und er hörte davon, dass im westfälischen Minden eine Anwaltskanzlei leer stand. Die hat mein Vater übernommen. Natürlich war alles furchtbar eng; die Kanzlei war auch gleichzeitig die Wohnung. Unsere Mutter hat uns das später immer wieder erzählt, wie beengt Mandantengespräche stattgefunden haben. Da wurde in einem Zimmer geschlafen, dann gab es einen Vorhang, davor war das Büro. Immer wenn ein Mandant kam, durfte kein Kaffee gekocht, kein Lärm gemacht werden … Äußerst einfache Verhältnisse. Aber auch die beiden hatten das große Glück, dass sie wieder neu anfangen durften.

SASCHA HELLEN

Wurden die Kriegsjahre – insbesondere die Kriegsgefangenschaft – zu Hause thematisiert?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Der Krieg wurde thematisiert. Mein Vater war in Norwegen gewesen … Er hatte Glück. Ihm war der ganze Krieg zuwider, und zu allem Überfluss war er auch noch in einer reitenden Truppe eingesetzt. Das passte ihm überhaupt nicht, denn er konnte Pferde nicht ausstehen. Er hat sicherlich viele schlimme Erlebnisse aus dem Krieg mitgebracht, aber keine, die ihn nachhaltig traumatisiert haben. Meine Mutter stammt ursprünglich aus dem Rheinland, aus Wuppertal. Sie war auch eine sehr starke, lebenstüchtige Frau, eine »Macherin«, die sich nie hat unterkriegen lassen, da gibt es sicherlich Parallelen zu Frau Friedländers Mutter. Ich habe meine Mutter in all den Jahren nie niedergeschlagen oder pessimistisch erlebt. Sie war für uns immer auch ein Vorbild. Als sie flüchten und den Job in der Apotheke aufgeben musste, hat sie anderswo mitgearbeitet, unter anderem als Krankenschwester. Ich weiß noch, dass sie uns immer auch aus dieser Zeit erzählt hat, von den Entbehrungen, die sie ertragen musste. Und dann hatte der Krieg natürlich auch eine eigene Dynamik. Sie musste mit dem Bollerwagen zehn Kilometer laufen, um einen Sack Kartoffeln zu holen, da lief ganz viel über Tauschgeschäfte. Gabeln aus dem Silberbesteck wurden gegen Lebensmittel getauscht. Das sind ja alles Dinge, die wir uns heutzutage nicht mehr vorstellen können und die wir glücklicherweise auch nicht erleben mussten. Der tägliche Kampf ums Überleben beeindruckt mich bis heute, und es ist für mich immer noch nicht nachvollziehbar, wie Menschen in einer solch schwierigen Situation Hoffnung und Haltung bewahren können. Das nötigt mir den größten Respekt ab. Die Generation der Menschen, die diese Kriegsjahre erleben mussten, ist oftmals nicht ausreichend gewürdigt worden. Das müssen wir auch bis in die heutige Zeit vermitteln.

MARGOT FRIEDLÄNDER

War Ihre Familie jüdischen Glaubens?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Nein, christlichen Glaubens. Doch in einem intellektuellen und interessierten Umfeld unterwegs. Mein Großvater war sehr staatstreu, immer nach dem Motto: Der Staat hat eine Verantwortung, alle Menschen nach dem Gesetz gleich zu behandeln. Das war für ihn ein Credo, eine Selbstverständlichkeit. Und plötzlich wurde all das mit Füßen getreten. Er war trotzdem keiner, der ständig gejammert hat, kein Pessimist. Mein Großvater hat stets nach vorne geschaut. Es hat ihn sehr getroffen, dass er sofort aus dem Staatsdienst entlassen und dadurch natürlich auch ein Stück weit ausgegrenzt wurde. Meine Großeltern wurden wegen ihrer politischen Auffassungen verfolgt, sind dann hochbetagt mit 97 und 96 Jahren verstorben. Ich erinnere mich, dass wir oft mit ihnen gesprochen haben, da war ich 14 oder 15 Jahre alt. Später ist mir bewusst geworden, wie wenig wir doch eigentlich über die Geschichte erfahren haben. Aber natürlich war Auschwitz bei uns zu Hause ein Thema, wir haben darüber gesprochen. Heute sind andere Möglichkeiten da für junge Menschen. Die können googeln, sich informieren, an so etwas war damals nicht zu denken. Und dennoch ist es erschütternd, wenn man Umfragen liest: Bis zu 40 Prozent der jungen Menschen haben keine Ahnung und noch nie was von Auschwitz gehört. Entsetzlich.

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ja, das finde ich auch. Darum ist es mir so wichtig, davon zu berichten.

SASCHA HELLEN

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ab wann sprechen wir eigentlich von »Antisemitismus«?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

»Antisemitismus« bedeutet Judenhass oder Judenfeindlichkeit und äußert sich immer dann, wenn Menschen wegen ihres jüdischen Glaubens oder jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen angegriffen werden. In Deutschland gibt es einen latenten Antisemitismus, er ist auch mit der Gründung der Bundesrepublik nicht verschwunden und findet sich in allen Gesellschaftsbereichen. Im Alltag äußert sich Antisemitismus häufig verpackt als Antizionismus und richtet sich gegen die Gründung und die Existenz Israels. Während des tausendfachen Raketenbeschusses Israels durch die Hamas aus dem Gazastreifen im Mai 2021 wurde in Deutschland vor Synagogen gegen die Politik Israels demonstriert und Israels Fahne verbrannt. Die Juden in Deutschland wurden mit Israel gleichgesetzt, das ist Judenhass und keine politische Kritik. Natürlich ist Kritik an der Politik Israels wie auch anderer Staaten erlaubt, das ist selbstverständlich. Dann soll man vor der israelischen Botschaft friedlich demonstrieren und sachliche Forderungen erheben.

SASCHA HELLEN

Was genau können Sie mit Ihrem Amt erreichen? Welche Möglichkeiten haben Sie als Antisemitismusbeauftragte?

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

In Nordrhein-Westfalen ist das kein kosmetischer Job, damit man sagen kann, man hat auch etwas getan. Ich habe von Anfang an gespürt, dass man es mit dieser Aufgabe ernst meint. Wir haben Antisemitismus in vielen Teilen der Gesellschaft – und er verbreitet sich. Der Tatsache muss man ins Auge sehen. Der Judenhass geht nicht plötzlich zurück, nur weil man jetzt ein solches Amt installiert hat. Das wäre natürlich toll. Ich werfe also den kritischen Blick auf folgende Punkte: Was haben wir denn für Strukturen in Nordrhein-Westfalen zur Prävention von Antisemitismus? Wo gibt es Defizite in der Justiz, in der Strafverfolgung, in der Schule? Wie kann zivilgesellschaftliches Engagement noch stärker unterstützt werden? Erinnern, informieren, aufklären. Mein Amt ist auch dafür da, Antisemitismus bewusst zu machen, gerade auch für alle Angehörigen öffentlicher Verwaltungen, besonders in der Schule, bei der Polizei und in den Sicherheitsbehörden.

Was Antisemitismus nicht nur mal war – in der Geschichte, besonders natürlich der bis heute unfassbare Mord an sechs Millionen Juden während des NS-Unrechtsregimes –, sondern was er heute bedeutet, in welchem Gewand er im Zeitalter der Digitalisierung daherkommt. Heute zeigt sich Antisemitismus häufig in verschlüsselten Zeichen, Codes und Begriffen, die nicht sofort jedem einleuchten, gerade das Internet ist ein Treiber von antisemitischen Stereotypen und Verschwörungsmythen. Und deshalb sehe ich die Einrichtung einer Beauftragten für Antisemitismus nicht als eine Alibiveranstaltung. Antisemitismus ist leider alltäglich geworden. Das ist gefährlich. Es gibt nach wie vor die Ideologie, dass Menschen eines bestimmten Glaubens – also der jüdischen Religion – nicht dazugehören. Und dann benutzen wir auch heute, im Jahr 2021, noch immer das Wort »Rasse« in Gesetzestexten, wenn wir genau diese Gruppen schützen wollen. Derzeit ist die längst überfällige Debatte, dieses Wort aus dem Grundgesetz zu streichen, in vollem Gange.

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ja, ein unglaubliches Wort! Es gibt keine Rasse. Wir sind Menschen! Wir kommen alle auf dieselbe Art und Weise auf die Welt.

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

So ist das. Ich bin Juristin und war zweimal Bundesjustizministerin, habe mich mit allen möglichen Fragen im Grundgesetz beschäftigt. Jetzt – 2021 – darf das Wort »Rasse« hier keinen Bestand mehr haben. Man hatte es natürlich damals, 1949, als es verabschiedet wurde, sozusagen gut gemeint. Man hat gesagt: Wir wollen gegen diesen Rassismus sein, wegen seiner Rasse darf niemand diskriminiert werden.

Aber im Grunde ist »Rasse« gar kein wissenschaftlicher Begriff, er ist im Gegenteil sogar per se diskriminierend. Und deshalb glaube ich auch fest daran, dass man ihn letztendlich rausnehmen wird.

MARGOT FRIEDLÄNDER

Das hoffe ich sehr. Ich habe mich schon immer gefragt: Rasse – wo gibt’s denn so was?!

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

»Rasse« war immer eine Diskriminierung, weil man damit Menschen kategorisiert hat.

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ja, diskriminierend und irgendwie auch total unverständlich. Es gibt doch nicht eine Rasse.

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Nein, es gibt Religionen, es gibt politische Haltungen, es gibt Abstammungen. Ob ich Verwandter bin, zum Beispiel. Aber Rassen? Dennoch muss man aufpassen, dass durch die veränderte Wortwahl der Schutzbereich des Grundgesetzes nicht betroffen ist. Denn er soll ja Minderheiten schützen. Man muss sich also wirklich in Ruhe Gedanken machen, es gibt auch schon eine Reihe von Alternativvorschlägen.

Für Sie muss es seltsam, wenn nicht gar verstörend sein, jetzt noch einmal zu erleben, dass über den Begriff »Rasse« so diskutiert wird. Man sagt sich doch eigentlich: Das kommt Jahrzehnte zu spät …

MARGOT FRIEDLÄNDER

Es geht ja auch nicht nur um die sechs Millionen Juden. Ich spreche für alle Menschen, die es nicht geschafft haben, die man umgebracht hat: Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Menschen mit anderer Religion. Auch Zeugen Jehovas und Sinti und Roma. Es war doch eine unvorstellbare Sache! Menschen, die andere Menschen brutal und mit System ermorden.

Das, was ich tue, gibt mir Hoffnung. Ich habe das Gefühl, ich werde etwas hinterlassen, mein Leben hat einen Sinn gemacht. Ich habe Hunderte, vielleicht Tausende von Danksagungen von Schülern, das bestätigt und beflügelt mich.

Margot Friedländer holt drei DIN-A4-Ordner aus dem Nebenzimmer. Sie sind voller Briefe und Zeitungsartikel – Reaktionen auf ihre Lesungen und Besuche in Schulen. Weitere Ordner stehen im Regal. Seit Erscheinen ihrer Autobiografie im Jahre 2008 war sie fast Tag für Tag unterwegs. In ganz Deutschland. Sie hat nicht nur Schülerinnen und Schülern aus ihrem Leben berichtet und Fragen beantwortet, sondern ist auch unzähligen anderen Einladungen von Organisationen, Ministerien, Museen, Medienverlagen und Privatpersonen gefolgt. Die Jugendlichen wollten alles wissen, sie hat fast alles beantwortet. Jetzt lassen die Kräfte nach. Sie kann nicht mehr reisen, wiederholt sie wehmütig.

SASCHA HELLEN

Frau Friedländer, unabhängig von den ganzen positiven Rückmeldungen … Bekommen Sie auch Drohbriefe?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Nein. Nicht einen einzigen. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass jemals jemand rausgegangen ist, während ich eine Lesung gemacht habe.

SASCHA HELLEN

Sind Sie, seit Sie wieder in Deutschland leben, schon einmal in irgendeiner Form antisemitisch angegriffen oder beleidigt worden?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Nein, glücklicherweise nicht. Ich habe im Gegenteil mehrfach erlebt, dass Menschen sich bei mir entschuldigt oder sie mir gesagt haben, sie schämen sich für das, was passiert ist.

SASCHA HELLEN

Ein Stück weit sind die Lesungen ja Ihre Lebensaufgabe geworden. Eine Mission, die Sie haben. Ist das nicht schwierig für Sie, immer wieder die eigene Vergangenheit aufs Neue zu durchleben?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ja und nein. Es ist natürlich nicht leicht, aber in gewissem Sinne ist es auch wie eine Therapie für mich, die Dinge auszusprechen. Denn das alles IST ja mein Leben. Ich kann es nicht einfach rausschneiden aus mir.

Und natürlich ist es auch meine Mission. Viele Menschen fragen mich oft, wie ich das machen kann, immer wieder meine Geschichte zu erzählen. Vor allem Schülerinnen und Schüler wollen das wissen. Ich sage dann: Ihr helft mir, dass ich es machen kann. Ihr hört mich an und gebt mir damit ein Gefühl, dass ich etwas im Leben erreicht hab’.

SASCHA HELLEN

Haben Sie manchmal Albträume?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ich denke sehr viel. Aber ich weiß nicht unbedingt, ob das Träume sind, denn ich kann nicht einschlafen. Mir geht viel durch den Kopf, weil das immer in mir ist. Es ist Part von uns – ein Teil von uns. Aber ich kann darüber sprechen, und das ist eine Stärke, weil ich das Gefühl habe, ich helfe euch damit ein bisschen, indem ich sage: Ich mag Menschen. Indem ich euch die Hand reiche, ihr das Gefühl habt, dass ich nicht gegen euch bin, will ich ein Zeichen setzen. Die Nachkommen können ja nichts dafür, und warum soll ich sie beschuldigen? Im Gegenteil. Ich möchte aber, dass ihr wisst, was war, denn ich will nicht, dass einer von euch so etwas erlebt, was wir erleben mussten. Dass jemals so etwas wieder passiert.

SASCHA HELLEN

Sie haben mir mal erzählt, dass Sie schlecht schlafen …

MARGOT FRIEDLÄNDER

Es dauert manchmal zwei oder drei Stunden, bis ich einschlafe.

SASCHA HELLEN

Weil die Ereignisse Sie verfolgen?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ja … Ich habe Tabletten, die nehme ich dann auch manchmal. Aber ich denke auch, trotz Tabletten, immer daran, was war. Es geht jetzt ein bisschen besser, aber Vergessen ist unmöglich.

SASCHA HELLEN

Träumen Sie von Ihrer Mutter und Ihrem Bruder Ralph?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Ich denke ununterbrochen an die beiden … Was passiert ist, wird mich nie verlassen. Sicherlich haben wir auch Fehler gemacht. Ich frage mich oft: Hätten wir uns besser anders verhalten sollen? Wir sind doch sehr zerbrochene Menschen.

SASCHA HELLEN

Was ist Ihre zerbrochene Seite?

MARGOT FRIEDLÄNDER

Wenn ich die alten Bilder sehe, damals … die Zehnjährigen, wie sie marschiert sind und gesungen haben. Das waren noch Kinder. Die haben sich erst das braune Hemd angezogen und viele von denen nach dem Krieg das weiße.

SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Wann haben Sie zum ersten Mal nach dem Krieg über die Ereignisse gesprochen?

MARGOT FRIEDLÄNDER