Ich und mein Plural - Jens Nielsen - E-Book

Ich und mein Plural E-Book

Jens Nielsen

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Beschreibung

Einmal bringt Jens Nielsen mit seinen Wort- und Denkkunststücken unsere Welt auf verführerische Weise durcheinander. Er macht das als Erzähler so ordentlich wie René Magritte als Maler, der Männer im Anzug vom Himmel regnen lässt. "Man blättert durch sein Menschenleben und stellt fest / Überall sind Dinge vorgefallen die nicht möglich sind", sagt das erzählende Ich zu Beginn. Seine Abenteuer lassen sich in Episoden lesen oder als Roman, den wir bis zum Schluss nicht aus der Hand legen. Nielsen schafft damit ein neues Genre: den surrealistischen Schelmenroman. Für dessen Protagonisten bestehen Notwendigkeiten wie für seine Vorläufer darin, dass sie ihn in der Not wendig werden lassen. Er fuhrt uns in die Vergangenheit, also ins Heute, ins Tierreich, also zum Menschen, in die Physik, also in unser Innerstes, in die Medizin, also ins Verhängnis, in den Zerfall, also ins Wohlsein, in die Welt, also nach Hause. Mit Selbstverständlichkeit erlebt er so die ausgefallensten Abenteuer und fragt sich zum Schluss, warum alles eins sein soll, wenn doch "alles zusammen unendlich viel ist." In neugierigem Staunen legt er seine Bekenntnisse ab, nicht in reuiger Bussbereitschaft. Und wir wundern uns mit ihm und merken: Mit dem Staunen beginnt das lustvolle Denken, und das Ich gerät in den Plural.

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Ich und mein Plural

Bekenntnisse

Jens Nielsen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

… ich will hier nicht schlafen, nur der Lockung gebe ich nach, mich hier so einzurichten, wie wenn ich schlafen wollte …

 

Franz Kafka Der Bau

 

 

 

 

Der Überblick

 

1   Damals – also kürzlich

Mein Gehirn

Der Brunnen

Auf dem Schulweg

Das Stoppelfeld

Durst

Meine Schwester

Wahre Sachen

Das Karma-Lasso

Lebensmitte

 

2   Ich bin viele Tiere schon gewesen

Zollhund

Mantis religiosa

Anthropos

Der Fisch

Elefant

Den Vogel im Gesicht

Die Fliege

Aus Holz

Vogel sein

 

3   Natürliche Kräfte

Urschrei

Sitzkultur

Diebstahl

Anstatt Kennenlernen

Seiltänzer

Gewichtheben

Ballonfahren

 

4   Das ist alles mein Gebiet

Leiter

Kleinfamilie

Besuch

Duschen

Im Wohngebiet

Im Museum

Taschenrechner

 

5   Nur nicht zum Arzt

Fast gerade

Husten

Atemzüge

Gelbfieber

Noch ein Arzt und noch einer

Beim Roten Kreuz

 

6   Varianten des Zerfalls

Aufrecht

Etwas wie Verstehen

Personalwechsel

Der Enkeltrick

Mein Gewicht

Schnecken

Meine Schwächen

Der unvermeidliche Zerfall

Aus der Bodenperspektive

Die Verfügung

 

7   Eine Art Orientierungslauf

Argentinien

Reiseführer

Kap der Angst

Zahlen

 

 

 

 

Der Überblick

 

Man blättert durch sein Menschenleben und stellt fest

Überall sind Dinge vorgefallen die nicht möglich sind

Oder die man noch erinnert

Aber nicht mehr glaubt

Oder noch seltsamer

Die man sich nur vorgestellt hat

Und dann wurden sie tatsächlich so

Ein Beispiel

Einmal war ich einsam

Unruhig

Vielleicht weil ich am Stadtrand wohnte hinter Gittern

Als ich entwischen konnte

Zog ich hastig durch die Straßen

Alles sah wie ein Versprechen aus

Lange hielt ich das nicht durch

Ich eilte in die Innenstadt

Zum Stadthaus

Dort aufs Standesamt

Ich suchte nach zurückgelassenen Verlobten

Und tatsächlich

Eine Frau saß neben einem Garderobeständer

Im Brautkleid

Ihre Schminke um die Augen war verwischt

Das schön gemachte Haar unordentlich

Sie hatte keinen Namen mehr

Ich lud sie ein für eine Nacht in ein Hotel

Sie sagte ständig Ja ich will

Das hat mich irgendwie beruhigt

Wie lange soll man so in seinem Leben blättern

Bis man sich entscheidet

 

 

 

1 Damals – also kürzlich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Gehirn

 

Seit meiner Geburt

Genauer als ich ein paar Jahre lang schon lebte

Hatte meine Mutter immer mehr den Eindruck

Etwas stimme nicht mit mir

Was sollte denn nicht stimmen fragte ich

Du bist manchmal etwas seltsam

Ich bin seltsam

Schau einmal dich an

Aber darauf wollte sie nicht eingehen

Nicht bevor ein Arzt mich untersucht hatte

Zuerst ein Kinderpsychologe

Gut

Wir fuhren hin

Er begrüßte uns

Er sagte

Wen haben wir denn hier

Ich sagte

Wir haben hier mich

Das fand er lustig

Kurz

Es versprach eine lockere Sprechstunde zu werden

Mit kleinen Späßen zwischen Tests

Die ich durchmachen musste

In deren Verlauf sich weisen sollte

Dass sich meine Mutter grundlos sorgte

Aber ganz so einfach war es nicht

Der Psychologe wollte noch mehr Abklärung

Für diese mussten wir zu einem Neurologen

Der direkt in meinen Schädel schaute

Erst machte der auch kleine Späße

Dann runzelte er zunehmend die Stirn

Am Ende meinte er

Dass wirklich etwas nicht in Ordnung sei

Mit meinen Hälften im Gehirn

Ich hatte nur eine

Die rechte

Nein die linke

Nein

Nie wusste ich welche Hirnhälfte mir fehlte

Der Neurologe sagte

Das sei schon ein Merkmal dieser Fehlentwicklung

 

Indessen zeigte sich

Genau genommen hatte ich durchaus zwei Hälften

Nur war die eine klein geblieben wie ein Hirsekorn

Und funktional bedeutungslos

Während sich die zweite Hälfte ausgebreitet hatte

Auf der leeren Seite

Weil da ungenutzter Platz war

Und sie im Verlauf der Zeit dort alles überwuchert

Eine Art von zerebraler Kolonie gegründet hatte

Eine kleine Weltmacht war in meinem Kopf entstanden

In der Stille meiner frühen frühen Kindheit

 

Meine Mutter hatte ein Talent

Sie konnte eine schlechte Nachricht sogleich einordnen

Als etwas Gegebenes

Mit dem es möglichst ohne Klagen umzugehen galt

So betonte sie

Es gehe mir im Allgemeinen gut

Einfach mein Benehmen sei ein wenig seltsam

Dann fragte sie den Neurologen

Was das alles heiße für meine weitere Entwicklung

Entwicklung

Sagte der

Und zögerte

Er wolle keine Angst verbreiten

Er habe so einen Befund noch nie erhoben

Noch nie von einem solchen Fall gehört

Er könne daher gar nicht sagen

Was es für meine allfällige Entwicklung heiße

Er habe aber einem Spezialisten meinen Fall geschildert

Dieser möchte mich nun untersuchen

Gut

Wir bekamen den Termin bei einem weiteren Arzt

Dann fuhren wir nach Hause

 

Ich schaute auf dem Rücksitz aus dem Fenster

Deckte mir abwechselnd mit der Hand das eine Auge zu

Das andere

Um festzustellen ob ein Unterschied

Denn der Neurologe hatte mir erklärt

Die Augen seien einzeln mit den Hirnhälften verbunden

Über Kreuz

Und tatsächlich

Mit dem einen Auge sah ich in der Landschaft Tiere

Die mit dem anderen fehlten

Auf einer abgemähten Wiese stand ein Tapir

Der aber nicht da war

Als ich mit dem Auge schaute

Das zum Hirsekorn gehörte

Ich war also auf diesem Auge teilweise blind

Etwas später kroch entsprechend ein Waran am Straßenrand

Große Vögel kreisten über uns

Und zwischen ein paar Tannen

Die am Dorfeingang seit je beisammen standen

Versteckte sich ein Elch

Merkst du einen Unterschied

Fragte meine Mutter

Die mich im Rückspiegel beobachtete

Ich sagte Nein

Und bis heute habe ich es niemandem erzählt

 

Seit diesen Kindertagen bin ich groß und alt geworden

Ich habe längst erfahren

Das Gehirn hat gute Fähigkeiten

Fehlentwicklung an sich selbst zu korrigieren

Wirklich sah ich den Waran schon bald mit beiden Augen

Auch den Tapir und die anderen Tiere

Mein Gehirn hatte den Mangel ausgeglichen

Aber wie erwähnt

Auch dem Spezialisten sagte ich nichts

Er untersuchte mich noch mehrmals

Eine Weile galt ich als ein medizinisch interessanter Fall

Dann vergaß man mich

Es wurden andere ins Rampenlicht gezerrt

Der Kinderpsychologe äußerte sogar die Ansicht

Ich hätte mir mein seltsames Benehmen ausgedacht

Um Aufmerksamkeit zu erzeugen

Als ich sah

Wie gerne meine Mutter diesen Irrtum glauben wollte

Sagte ich

Jaja

Das könne sein

Entschuldigung

 

 

 

Der Brunnen

 

An einem Nachmittag im Frühjahr

Meine Schulzeit hatte kaum begonnen

Stachelte mich meine Schwester an zum Schuleschwänzen

Ich weiß ein neues Spiel versprach sie mir

Es heißt Brunnentrog verstopfen

Gut

Wir gingen nach dem Mittagessen los

Das war nicht weit

Um die Zeit war es auf dem Dorfplatz ruhig

Wenn kein Verkehr war auf der Hauptstraße

Hörte man das Plätschern aus dem Trog als lautestes Geräusch

Die Bauern waren bei der Arbeit

Saßen draußen auf den Feldern auf Traktoren

Säten vielleicht aus

Flickten einen Zaun der Vieh beisammen hielt

Oder richteten in einer Tenne eine Landmaschine her

Bäuerinnen waren nachmittags im Garten bei der Arbeit

Auf dem Feld

Beim Einkaufen im Dorfladen

Oder sie standen eine Weile bei den Nachbarn

Vor den Hauseingängen um zu plaudern

Jetzt aber sahen wir

Viele Leute standen auf dem Dorfplatz

Versammelt um den Brunnen

Immer mehr kamen hinzu

Nur Kinder waren nicht dabei

Keine meiner Kameraden

Die saßen wohl gehorsam in der Schulbank

Um die spärlichen Lektionen zu erdulden

Die zwar unterbrochen sein mussten

Denn ich sah

Die Lehrerin kam eben auch zum Brunnen

Sie hatte ihre Schüler offenbar verlassen

Sitzen lassen in der Schule

Sonst aber hatten alle Dorfbewohner mit der Arbeit aufgehört

Gleichzeitig soweit wir sehen konnten

Und waren auf dem Weg hierher

Oder schon angekommen

Sie grüßten nicht

Noch redeten sie sonst ein Wort

 

Meine Schwester stand mit mir inmitten dieser Szene

Wir schauten einem Vorgang zu

Den niemand sonst bezeugen konnte

Die Dorfbewohner wollten später nichts mehr wissen

Sie hatten einer Kraft gehorcht

Die nach dem Zwischenfall verschwunden war

Vergessen

Abgestritten was weiß ich

Nicht mehr gefühlt

Wir aber sahen es

Von allen Seiten kamen sie

Aus den Häusern

Von den Feldern

Auf den Dorfplatz

Sie standen eine Weile still

Wie um sich zu konzentrieren

Zogen ihre Schuhe aus

Dann kletterten sie in den Brunnen

Das Wasser schwappte über

Als die ersten darin standen

Und den nächsten halfen wenn es nötig war

Denn es fiel nicht allen leicht den Brunnenstein zu übersteigen

Bald war der runde Trog gefüllt mit Menschen

Sie standen eng zusammen

Die Gesichter hin zur Mitte

Es sah aus wie die Besprechung einer sehr geheimen Sache

Nur dass eben niemand etwas sagte

 

Nun war der Brunnen groß für einen Brunnen

Aber viel zu klein um alle Dorfbewohner aufzunehmen

Jedenfalls so dachte ich

Doch wie viele Menschen auch hinzuströmten

Und von allen Seiten in den Brunnen stiegen

Er war zwar immer voll

Aber immer groß genug

Alle fanden darin Platz

Sie standen dicht an dicht

Rückten dabei langsam gegen innen

Einer Mitte zu die wir nicht sehen konnten

Nach einer Weile waren alle in den Brunnentrog gestiegen

Und zum großen Teil

Ich muss es sagen

Nicht mehr da

Meine Schwester sprach ein paar der Leute an

Die als Letzte eingestiegen waren

Und uns den Rücken zeigten

Guten Tag Frau Wasserfallen

Geht es Ihnen

Niemand reagierte

Meine Schwester gab mir einen Schubs

Los komm

Wir machen etwas anderes

Wir gehen Süßigkeiten ausleihen im Laden

Ja gut

Von mir aus

Und wir gingen hin

Der Dorfladen war menschenleer

Ich stopfte mir die Hosentaschen voll Bonbons und Schokolade

Ich plante es als Beute zu verstecken

Meine Schwester legte keinen Vorrat an

Sie aß einfach drauflos

Bis ihr der Appetit verging

Wir streiften noch etwas umher im Laden

Bis wir keine Lust mehr hatten

Schlichen dann hinaus

 

Als wir ein zweites Mal zum Brunnen kamen

Plätscherte er ruhig

Rund um den Brunnen

Ordentlich gereiht

In Kreisen

Standen hunderte Paar Schuhe

Und die Menschen waren weg

Der Brunnentrog enthielt sie nicht

Sie sind in der Geschichte die das Quellwasser erzählt

Sagte meine Schwester

Ich wusste nicht was sagen

Also gingen wir nach Hause

 

Beim Abendessen erzählte meine Schwester was geschehen war

Ohne Erfolg

Iss deinen Teller leer

Sagte die Mutter

Du bist dünn

Mich fragte sie

Wozu ich all die Steine in den Hosentaschen hatte

Tatsächlich war mir da etwas herausgefallen

Was auf den harten Küchenboden sprang wie Steine

Ach die

Nur so

 

Am nächsten Tag war alles wieder gleich wie immer

Was sollten wir da sagen

Es blieb unsere Geschichte

Die nach Maßgabe der anderen nie geschehen war

Warum aber hatten weder meine Lehrerin

Noch der fortschrittliche Lehrer meiner Schwester

Noch die Kameraden es bemerkt

Dass wir in der Schule fehlten an dem Nachmittag

Meine Schwester schien das nicht zu kümmern

Und ich behielt die Frage still für mich

Denn sie enthielt den Kern der Sache wie ich glaubte

Aber kein Versprechen je auf eine Antwort

 

 

 

Auf dem Schulweg

 

Wenn ich auf dem Schulweg stehen blieb

Schaute ich bei Regenwetter eher auf die Schnecken

Bei Sonnenwetter eher in die Wolken

Bis mich jemand sah von denen

Die damals schon erwachsen waren

Die mich näher kannten

Und mir einen Schubs gaben

Heutzutage könnte ich das selbst

Könnte ich mir sagen

Komm

Geh weiter

Die Schule fängt gleich an

Jetzt aber war ich sieben

Oder neun

Und so war es etwa eine Nachbarin

Auf ihrem Weg zum Dorfladen

Die mich stehen sah am Straßenrand

Und mir die Schule zeigte

Sie kannte meine Neigung

Ich glaube meine Mutter hatte es erzählt

 

Die Schule war auf meinem ganzen Schulweg eigentlich in Sichtweite

Das musste ich schon zugeben

Wer sich mit sieben Jahren

Oder auch mit neun

Auf diesem kurzen Weg verlor

Bei dem war vielleicht wirklich etwas nicht

Manchmal folgte mir die Mutter selbst

Dann machte sie mir Vorwürfe

Hinter ihrem Ärger war aber kein Zorn

Nur Sorge

Das hatte ich herausgefunden

Weil sie mochte dieses Mädchen auch

Und vermisste es

Vielleicht um meinetwillen

Es hilft dir nichts an diesem Ort zu stehen

Sagte sie

Du machst es dir noch schwerer

Verstehst du das

Jaja

Manchmal blieb ich ja nicht stehen

An diesem Ort

Wie ihn meine Mutter nannte

Sondern ich ging weiter

In irgendeine Richtung

Vielleicht in der Erwartung

Über einen Umweg doch die Schule zu erreichen

Das war nicht so unvernünftig wie es klingt

Ich war nicht unvernünftig für mein Alter

Wir wohnten zu der Zeit in einem kleinen Dorf

Mit nicht sehr vielen Häusern

Wenn man sich beeilte

War es möglich

An einem Tag bei allen Häusern anzuklopfen

Und zu fragen ob hier die Schule sei

So hätte man sie früher oder später

Ich habe das nie gemacht

Ich möchte einfach sagen

Möglich war es

 

Manchmal jedenfalls

Zum Beispiel heute

Wenn es so aussah

Als kennte ich meinen Schulweg nicht

Machte ich das was immer alle sagten

Ich blieb an diesem Ort nicht stehen

Im Idealfall hätte ich die Straße überquert

Um die Schule zu erreichen

Aber diesmal ging ich die Hauptstraße entlang

Und aus dem Dorf hinaus

Wo sie bergauf verlief und schnurgerade war

Wo es aussah

Als führte sie dort vorne in den Himmel

Viele Autofahrer gaben Gas auf dieser Strecke

Gaben alles

Sie freuten sich auf die Kuppe bei der Anhöhe

Wo sie sich einen Augenblick umso leichter fühlen würden

Je stärker sie beschleunigt hatten

In der Gegenrichtung

Also auf das Dorf zu

War der Reiz ein ähnlicher

Nur die schöne Aussicht in das weite Tal

Und auf die Berge

Die sich bei der Fahrt hinaus

Und bei gutem Wetter plötzlich dort eröffnete

Die hatte man bei Fahrten auf das Dorf zu nicht

Man sah die Aussicht bloß im Rückspiegel verschwinden

Vielleicht war es die Trauer

Um diesen plötzlichen Verlust an Aussicht

Die sich in dem Moment spontan in Wut verwandelte

Und so manche Fahrer anstachelte

Auch aus dieser Richtung auf das Dorf zu

Und hindurch zu rasen

Unter Missachtung der Gebotstafel

Auf der später 50 stand

Und damals 60

 

 

 

Das Stoppelfeld

 

Auf der Anhöhe der Hauptstraße

Außerhalb des Dorfes wo ich langsam größer wurde

Bog ein Feldweg ab nach links

Vom Dorfkern ging man zehn Minuten bis zu dieser Abzweigung

Der Feldweg

Den ich dort entlang ging

Führte bergauf

Als der Weg weniger steil wurde blieb ich stehen

Zwischen einem Wäldchen und einem Stoppelfeld

Das Wäldchen war schmal

Wäre ich rechts durch das Gehölz gegangen

Wäre ich nach 50 Metern wieder aus dem Wald hinaus

Auf eine Wiese gekommen

Und nach der Wiese wiederum zu einem Wäldchen

Das gleichermaßen schmal den Berg hinab verlief

Diese beiden Wäldchen

Mit dem Streifen Wiese in der Mitte

Waren eine Grenze meines Dorfes

Alles was dahinter lag

Gehörte Bauern aus dem Nachbardorf

Eine Witwe von dort besaß zwar auch das Land dazwischen

Doch vor einer Weile hatte sie erneut geheiratet

Einen Mann aus meinem Dorf

Nun lag der Grund als doppelter Besitz am Hang

 

Ich ging aber nicht rechts vom Weg ab in den Wald

Sondern links

Dort lag zwischen mir und meinem Dorf ein Stoppelfeld

Gerste war hier kürzlich abgemäht worden

Ich hatte es schon gemerkt

Dass dieser nicht mein Schulweg war

Und ich ihn heute Morgen auch nicht gehen würde

Also blieb ich trotzdem wieder stehen

Hier oben war es still

Wenn unten auf der Hauptstraße ein Auto fuhr

Hörte man wie es beschleunigte

Man hörte es aber so

Wie schnell fahrende Autos tönen von weit weg

Als nicht sehr lautes

Irgendwie staubiges Geräusch

Ich schaute auf die gelben Stoppeln

Ging ein paar Schritte in das Feld hinein

Krähen flogen auf

Sie flogen nicht sehr weit

Und landeten gleich wieder

Natürlich um zu fressen

Selten lagen so viel Körner überall verteilt

Wie nach der Ernte mit dem Mähdrescher

Nur nach der Aussaat war das Angebot noch üppiger

Dann aber standen Vogelscheuchen auf dem Acker

Und damals glaubten Krähen noch an Vogelscheuchen auf dem Land

 

Ein Stoppelfeld hat eine ganz eigene Art

Einem den Spaziergang etwas zu behindern

Nämlich erschweren die Stoppeln das Aufsetzen der Füße

So dass man denkt

Wenn die kurzen Halme etwas stärker wären

Und ein wenig dichter stünden

Könnte man auf ihnen gehen

Fünfzehn Zentimeter über Boden

So stark sind sie aber nicht

Sie brechen immer ein

Aber je mehr Stoppeln sich unter dem Schuh befinden

Desto mehr verzögern sie das Durchtreten der Sohle auf die Erde

Man kann das ganz vermeiden wenn man will

Indem man eher schlurft als geht

So dass die Halme auseinanderbiegen

Anderseits

Man kann das Beinaheschweben auf dem Acker unterstützen

Wenn man die Füße gut anhebt

Und dabei sorgfältig

Und wie von oben herab geht

Dann erwartet man bei jedem Schritt

Dass die Stoppeln vielleicht wirklich tragen

Bevor man doch einbricht

Auch wenn man keine 30 Kilo wiegt

 

In dieser Weise ging ich heute Morgen auf dem Feld

Wie gesagt ein wenig außerhalb von meinem Dorf

Das sich denselben Berg hinaufzog

Den ich von der Straße weg heraufgekommen war

Und das sich

Was die Anzahl neu gebauter Häuser anging

Gegen oben mehr und mehr verbreitete

Als letzter Neubau auf der Seite des Dorfes

Man könnte auch sagen

Am anderen Ende des Stoppelfeldes

Stand das Haus in dem das Mädchen wohnte

Das neben mir in der Schulbank saß

Ihre Mutter

Früh verwitwet

Hatte wieder geheiratet

Und war dazu mit ihrer Tochter hergezogen

Aus dem Nachbardorf

Bis letzten Sommer saß das Mädchen neben mir

Und jetzt war vielleicht Herbst

 

Ich schaute dieses Haus nicht an

Wusste aber trotzdem dass es dort war

Ich blieb ein wenig stehen

Ging ein wenig weiter

Ich merkte das Krachen der brechenden Halme unter den Schuhen

Wieder flogen Krähen auf

Sie hielten mich für eine Vogelscheuche

Ich schaute mir die Wolken an am blauen Himmel

Die heute wenig Eile hatten

Fast so wenig wie die Schnecken nach dem Regen

Und ich vergaß die Zeit

Jaja

Meine Mutter würde sich bei meiner Lehrerin erklären müssen

Mir würde sie sagen

Also gut

Ein letztes Mal noch mache ich es für dich

Oder sie würde sagen

Letztes Mal war schon das letzte Mal

Ich müsse es jetzt selbst tun

Ich sei alt genug

Nachher würde sie sich mit der Lehrerin besprechen

Weil so alt war ich ja doch nicht

 

Heutzutage

Wie erwähnt

Hätte ich mir vorhin selbst den Schubs gegeben

Und wenn der nicht geholfen hätte

Hätte ich mich selbst entschuldigt

Aber damals

Also kürzlich

Was weiß ich

Ich könnte gar nicht sagen

Wann mein Orientierungssinn zurückkam

Ob überhaupt

In welchem Maß

Und ob er sich entwickelte

So wie man es erwartet in der Norm

Vielleicht steht das noch bevor

Dafür weiß ich plötzlich wieder dass ich acht war

Acht Jahre alt