Ich weiß nur, dass ich dich liebe - Denise Hunter - E-Book

Ich weiß nur, dass ich dich liebe E-Book

Denise Hunter

4,9

Beschreibung

„Lucy … Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest.“ Sie zog sich die Bettdecke bis unters Kinn. „Was denn?“ „Diese … Hochzeit.“ Er wies auf das Brautkleid, das in dem schmalen Kleiderschrank des Krankenhauszimmers hing. „Das war nicht unsere.“ Am Tag ihrer Hochzeit stürzt Lucy und verletzt sich am Kopf. Als sie in einem Truck Stop zu sich kommt und ihren vermeintlichen Verlobten Zac anruft, erfährt sie, dass sie sich vor einem halben Jahr getrennt haben – und sie einen anderen heiraten wollte. Lucy fällt aus allen Wolken. Was ist geschehen? Wer, bitte schön, soll der andere Bräutigam sein? Sie kommt sich vor wie in einem Albtraum. Doch dann beschließt sie zu kämpfen: um ihre Erinnerung – und um ihre wahre Liebe! Eine Braut, zwei Verlobte und ein Gedächtnisverlust. Der neue Liebesroman von Bestsellerautorin Denise Hunter!

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DENISE HUNTER

Aus dem Amerikanischen

von Antje Balters

ISBN 978-3-86506-962-7

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

First published under the title „The Goodbye Bride”.

© 2015 by Denise Hunter

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing Inc.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Antje Balters

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia jackfrog

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechszehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Siebenunddreissig

Achtunddreissig

Neununddreissig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Epilog

Danksagungen

EINS

Lucy Lovett öffnete die Augen und spürte sofort den pochenden Schmerz in ihrem Hinterkopf. Sie stöhnte und fasste sich an die Stelle, an der sich unter ihrem braunen Haar deutlich tastbar eine Beule abhob.

Sie schloss die Augen wieder und nahm jetzt weitere Einzelheiten wahr. Sie lag mit einer Wange auf einer kalten, harten Fläche, ihre Körpermitte war irgendwie eingeschnürt wie von einem Korsett, und ihre Zehen fühlten sich eingezwängt an.

Irgendwo in der Ferne war das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum zu hören, dann ein dumpfes Geräusch, und kühle Luft zog über sie hinweg.

Jemand gab einen Schreckenslaut von sich: „Oh nein! Miss? Ist alles in Ordnung, Miss? Ach du liebe Güte!“

Lucy öffnete wieder die Augen und drehte sich auf den Rücken, sodass die Beule am Hinterkopf auf den harten Boden traf. „Aua!“

Ihr Blick schweifte erst über die Deckenverkleidung, die voller Wasserflecken war, und dann abwärts zum rundlichen Gesicht einer brünetten Frau mittleren Alters.

„Wie viele Finger zeige ich?“, fragte die Frau. Drei pummelige Finger versperrten Lucy den Blick.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie.

„Ach, können Sie sich nicht mehr erinnern?“

Lucy schaute sich hektisch in dem Raum um. In ihrem Blickfeld befanden sich mehrere graue Toilettenkabinen, ein fleckiger Fußboden und zwei Keramikwaschbecken mit verrosteten Armaturen und Abflussrohren. Dann fiel ihr Blick auf ein gelbes Klappschild mit dem Warnhinweis: Vorsicht, Rutschgefahr.

Zur Veranschaulichung war noch ein stürzendes Strichmännchen darauf abgebildet.

„Ich bin hingefallen.“

Oder? Ja, so musste es gewesen sein. Wieso lag sie sonst mit einer Beule am Kopf auf dem nassen Boden? Als sie die Stelle an ihrem Kopf noch einmal betastete, zuckte sie wieder zusammen.

„Können Sie aufstehen? Ach, Sie haben sich den Kopf verletzt? Vielleicht sollten wir doch lieber einen Krankenwagen rufen.“

„Nein!“ Schon allein der Gedanke ans Krankenhaus sorgte dafür, dass sie sich rasch aufsetzte. „Hören Sie, ich bin nur …“ Sie senkte den Blick, schaute auf ihren Schoß und betrachtete das duftige weiße Kleid, das sie trug. Ihr Blick wanderte weiter zu der zarten Perlenstickerei an der Korsage und zu den bloßen Schultern. Ihre Gedanken gingen wild durcheinander auf der Suche nach Antworten, aber es kam nichts dabei heraus als jede Menge durcheinandergewürfelter Puzzleteile.

„Sagen Sie mir doch, mit wem Sie da sind, dann sage ich Bescheid, dass etwas passiert ist“, bot die Frau an.

„Ich – ich bin allein.“ Oder? Wieso konnte sie sich nicht erinnern?

„Dann rufen wir jemanden an. Vielleicht Ihren Bräutigam? Aber als Erstes hole ich Ihnen jetzt etwas zum Kühlen für Ihren Kopf, und dann sagen wir ihm Bescheid. Er ist sicher schon sehr in Sorge.“

Die Frau huschte zur Tür hinaus, während Lucy versuchte, die Fakten zusammenzusetzen, die ihr durch ihren dröhnenden Kopf gingen. Es konnte unmöglich ihre Hochzeit sein. Das ergab keinen Sinn, denn bis dahin war es doch noch über einen Monat. Vielleicht war sie ja bei einem Anprobetermin für ihr Brautkleid. Aber wieso konnte sie sich an absolut gar nichts erinnern? Weder daran, wie sie in das Brautkleid hineingekommen war, noch, wie sie hingefallen war?

Denk nach, Lucy. Denk nach.

Das Letzte, was sie wusste, war, dass sie am Abend zuvor mit Zac zusammen im Restaurant aufgeräumt und die Stühle hochgestellt hatte. Danach hatte er sie zu Fuß zu ihrer Wohnung gebracht. Der kühle Wind hatte ihm sein ziemlich langes schwarzes Haar zerzaust, er hatte ihr seine Jacke um die Schultern gelegt, und sie hatten geredet, bis sie vor ihrer Haustür angekommen waren. Dort hatte sie im Schein der Außenlampe in sein hübsches Gesicht geschaut – in seine ungestümen grauen Augen – und ein ganz klein wenig Angst verspürt. Die quälende Sorge, dass irgendetwas furchtbar schiefgehen könnte und sie den einen Menschen verlöre, den sie brauchte wie die Luft zum Atmen.

Vor dem Eingang zur Toilette waren jetzt Schritte zu hören und holten sie in die Gegenwart zurück. Es ging ihr gut. Sie musste nur aufstehen und Zac finden. Er würde ihr helfen, das alles hier zu verstehen.

Lucy zog die Knie an den Körper heran, rutschte mit dem Rücken zur weißgefliesten Wand und schob sich daran hoch, bis sie saß. Ihr Blick fiel auf die weißen Satinschuhe, in denen sich ihre Zehen so eingezwängt anfühlten. Es waren hochhackige Slingpumps mit Peeptoes und winzigen Schleifen, die sie ein paar Wochen zuvor bei einem Online-Schuhversand so bewundert hatte, die sie sich aber absolut nicht hatte leisten können. Deshalb hatte sie sie auch nicht bestellt, sondern ein süßes (wenn nicht sogar entzückendes) Paar in einer Boutique in Summer Harbor gekauft.

Noch einmal schaute sie auf die Schuhe, aber es waren tatsächlich die teuren Designerschuhe.

In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und die rundliche Frau, die sie gefunden hatte, tauchte mit einem Eisbeutel auf. Sie half Lucy auf, die sich den Eisbeutel auf die Beule an ihrem Kopf legte, in dem anscheinend ein Presslufthammer am Werk war – jedenfalls fühlte es sich so an. Der Schmerz war so heftig, dass sie nur unscharf sehen konnte und blinzeln musste.

„Kommen Sie, Schätzchen, setzen Sie sich erst mal auf einen Stuhl. Ich glaube, Sie sollten lieber Ihren Kopf röntgen lassen – nur zur Sicherheit. Sie kommen mir nämlich ein bisschen benebelt und durcheinander vor“, sagte die Frau.

„Aber es geht mir wirklich gut. Ich muss meinen Verlobten anrufen.“

„Natürlich müssen Sie das! Bei meinem Handy ist der Akku leer, aber die Geschäftsführerin leiht Ihnen bestimmt ihres. Ich glaube, sie hat schreckliche Angst, dass Sie sie verklagen.“

Die Damentoilette, in der sie gestürzt war, gehörte zu einem klassischen amerikanischen Diner, das mit seinen roten Kunstledersitzbänken und dem schwarz-weiß gefliesten Boden geradewegs aus den 1950er Jahren zu kommen schien. Doch ihr kam nichts bekannt vor, und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Es roch jedenfalls köstlich, und erst jetzt merkte Lucy, wie hungrig sie war.

Sie schaute durch das große Panoramafenster des Lokals nach draußen, wo die Sonne in der Ferne auf dem Meer glitzerte, aber die Geschäfte auf der anderen Straßenseite kamen ihr ebenfalls nicht bekannt vor. Ob das hier eine Ecke von Summer Harbor war, in der sie bisher noch nie gewesen war? Doch eigentlich konnte das nicht sein, denn der Ort war so klein, dass sie eigentlich schon alles davon kannte.

Die rundliche Frau holte jetzt ein Handy von der Dame, die mit sorgenvoll gerunzelter Stirn hinter dem Tresen stand, und gab es ihr.

„Sie rufen jetzt erst mal Ihren Verlobten an. Ich bin gleich wieder da“, sagte sie und verschwand dann auf der Toilette.

„Da steht doch extra ein Schild“, sagte die Frau hinter dem Tresen zu Lucy und sah sie wütend an. „Gleich an der Tür. Ist doch gar nicht zu übersehen.“

Als Lucy daraufhin nickte, pochte es noch heftiger in ihrem Kopf, und ihr Atem ging schnell und flach. Sie saß jetzt in einem Raum voller Menschen, konnte sich aber nicht erinnern, sich jemals so allein gefühlt zu haben. Außer einem Mal. Aber das war schon sehr lange her. Lange vor Zac.

Er ist nur einen Anruf entfernt.

Lucy wählte seine Handynummer und versuchte, die verärgerte Geschäftsführerin und die neugierigen Blicke der anderen Gäste zu ignorieren. Wahrscheinlich kam es nicht jeden Tag vor, dass eine Braut in das Lokal kam.

Zac ist sicher schon sehr beunruhigt meinetwegen, dachte sie, als sie es am anderen Ende der Leitung klingeln hörte. Sie hoffte, dass er nicht schon in der Kirche auf sie wartete. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Nein, dazu war es noch zu früh. Die Trauung sollte erst um 16.30 Uhr beginnen.

Mein Hochzeitstag. Was ist in den letzten Monaten passiert?

Aber sie schob diese Frage beiseite. Sie brauchte Zac jetzt mehr denn je und wählte die Nummer des Roadhouse.

Zac Callahan legte die weiße Kugel in die richtige Position, holte mit dem Queue aus und traf sie präzise. Sie rollte über den grünen Filz und berührte die blaue Kugel, die daraufhin in dem Eckloch versank.

Die umstehenden Gäste applaudierten und jubelten laut. Wenn es um eine Wette ging, fieberten die Zuschauer immer besonders stark mit.

„Das war doch reines Glück“, sagte Beau abfällig.

Zac richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,95 Metern auf und widersprach: „Das hatte mit Glück absolut nichts zu tun, großer Bruder.“

„Wie auch immer“, entgegnete der und verschaffte sich mit seinen beinah schwarzen Augen und gerunzelter Stirn einen Überblick über die neuen Positionen der Kugeln auf dem Tisch.

Zac machte es ihm wirklich schwer. Der Rest seines Feierabends stand auf dem Spiel, und Zac verlangte ihm wirklich alles ab. Marci, eine der Kellnerinnen, hatte sich krankgemeldet, und es wurde langsam voll im Lokal, sodass Zac unbedingt Hilfe brauchte.

„Ich kann es gar nicht erwarten, dich in einer Schürze zu sehen“, sagte er zu Beau.

„Das wird nicht passieren“, entgegnete der. Sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht, als er stieß, doch die Kugel verfehlte das Loch.

Beaus Verlobte Eden tröstete ihn mit einem Tätscheln und sagte dann tonlos in Zacs Richtung: „Ich kann es auch kaum erwarten.“

„Zac, Telefon für dich!“, rief da seine Serviceleitung.

Er legte sein Queue hin, zeigte auf Beau und sagte: „Aber nicht schummeln.“

Beau machte ein unschuldiges Wer-ich?-Gesicht, während Zac schon auf dem Weg zum Tresen war. Das Restaurant war wegen des Spiels der Red Sox, das im Fernsehen übertragen wurde, gut gefüllt. Die Menge johlte gerade bei einem entscheidenden Run.

Zac blieb kurz stehen, um hinzuschauen, und ging dann weiter. Er gab Sheriff Colton im Vorbeigehen einen Klaps auf die Schulter und mied bewusst die Nische, in der Morgan LeBlanc mit einer Freundin saß. Er hatte sich ein paarmal mit Morgan getroffen, und demnächst stand wieder ein Date an. Obwohl er sich wirklich Mühe gab, ihre Treffen aufregend zu finden, gelang es ihm irgendwie nicht.

Jetzt schob er sich hinter den Tresen, nahm den Hörer in die Hand und sagte: „Ja, hier ist Zac.“

„Zac, Gott sei Dank“, hörte er aus der Leitung.

Er spürte einen Adrenalinstoß, sodass es ihn am ganzen Körper kribbelte und seine Schultern sich verspannten. Seit sieben Monaten hatte er die Stimme nicht mehr gehört, den niedlichen Südstaatenakzent, bei dem er normalerweise Herzklopfen bekam, der jetzt aber dafür sorgte, dass ihm beinah das Herz stehenblieb.

„Es ist gerade etwas passiert. Ich … bin gestürzt, und ich weiß nicht so genau, wo ich hier bin. Kannst du mich bitte holen kommen?“

Er rieb sich die Stirn, und seine Gedanken gingen wild durcheinander.

„Wie bitte?“, fragte er völlig entgeistert.

„Ich möchte nicht zu spät kommen, aber ich bin nass geworden, und mein Haar …“

„Zu spät für was denn?“, fragte er nach.

„Das ist nicht lustig, Zac Callahan“, antwortete sie und schien den Tränen nah.

„Mein Kopf tut so weh, und ich … kannst du mich bitte hier abholen?“

„Lucy, was redest du denn da? Wieso rufst du mich an?“

Es folgte eine lange Pause, und dann fragte sie: „Willst du mich auf den Arm nehmen?“

Er erinnerte sich an den Tag vor sieben Monaten, an dem er von einer Wochenendtour zurückgekommen war, als wäre es gestern gewesen. All die unbeantworteten Anrufe, die vielen Male, die er an ihre Tür geklopft und keine Antwort bekommen hatte. Wie er voller Sorge ihren Vermieter angerufen und erfahren hatte, dass die Wohnung leer und Lucy weg war.

Er merkte, wie seine Finger den Hörer fester packten. „Ruf jemand anders an, Lucy. Das ist nicht mehr mein Problem“, sagte er schroff.

Er hörte sie erschrocken nach Luft schnappen, dann fragte sie mit bebender Stimme: „Wieso bist du so gemein zu mir?“

Ja, wieso war er …? Er nahm den Hörer vom Ohr weg, schaute ihn kurz finster an, nahm ihn dann wieder ans Ohr und erklärte: „Du bist es, die gegangen ist, Lucy. Wenn du irgendwo hin musst, nimm ein Taxi.“ Er wollte gerade auflegen, da sagte sie: „Warte bitte, Zac. Das kannst du mir doch nicht antun. Ich bin auf den Kopf gefallen, habe eine dicke Beule und schlimme Kopfschmerzen, und ich brauche Hilfe. Ich brauche dich.“

Es zog schmerzhaft in seinem Bauch. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Monaten danach gesehnt, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Sie klang … irgendwie verwirrt und so verloren. Und außerdem hatte sie doch niemanden – keine eigene Familie.

Und du bist ein Riesentrottel, Callahan.

„Bitte! Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder was passiert ist. Du musst mir helfen!“

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Bar und antwortete: „Geh ins Krankenhaus, Lucy. Du brauchst ein …“

„Ins Krankenhaus gehe ich auf gar keinen Fall!“, sagte sie panisch.

Zac strich sich mit der Hand über sein stacheliges Kinn, und ihm fiel wieder ein, dass sie ja diese Krankenhausphobie hatte. Hier am Telefon würde er sie niemals dazu überreden können, eine Notaufnahme im Krankenhaus aufzusuchen. Nicht einmal, als sie sich eine Sehne im Fuß gerissen hatte, war sie dazu bereit gewesen. Ein Freund von ihm, der in der Notaufnahme arbeitete, hatte sie schließlich zu Hause behandelt.

Wenn sie wirklich eine Kopfverletzung hatte, konnte das schlimme Auswirkungen haben, bis hin zu einer Hirnblutung.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und wusste, dass er genervt und hartherzig klang.

„Wo bist du denn?“, fragte er und dachte gleichzeitig, was für ein Trottel er doch war.

„Ich … ich weiß es gar nicht. Bleib bitte dran und leg nicht auf.“

Dann hörte er ein schlurfendes Geräusch am anderen Ende der Leitung und versuchte, trotz der Geräuschkulisse im Roadhouse etwas zu verstehen.

Er hörte, wie eine Frauenstimme eine Adresse herunterrasselte.

„Moment“, hörte er Lucy mit gedämpfter Stimme sagen. „In Summer Harbor?“

„Nein Schätzchen, in Portland.“

„Portland …?“, fragte Lucy erstaunt nach. „Portland, Oregon?“

„Was? Nein, Maine. Portland, Maine.“

Oh Gott – Zac drückte sich die Finger in die Augenhöhlen.

„Lucy“, sagte er und hörte wieder das schlurfende Geräusch. „Lucy.“

„Ich bin noch dran, Zac. Ich bin in …“

„Ich hab’s gehört“, sagte er leicht entnervt. Eigentlich hätte er nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden sollen, denn sie war einfach aus seinem Leben verschwunden, und er war endlich darüber hinweg.

Ja, klar bist du das. Deswegen eilst du ihr jetzt auch auf der Stelle zu Hilfe.

Er hatte schon immer eine Schwäche für Lucy gehabt. Schon seit sie das erste Mal ins Roadhouse gekommen war, hatte sie ihn völlig in der Hand. Bis sie ihm mit ihren schicken spitzen Schuhen über sein Herz gelatscht war.

„Ich hoffe für dich, dass das kein Trick ist, Lucy“, warnte er sie.

„Wieso sollte ich so etwas tun?“, fragte sie, und in ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Empörung und Verletztheit mit.

Er schnaubte. War er denn jemals aus ihr schlau geworden?

„Bitte, Zac. Ich weiß wirklich nicht weiter.“

Seine Entschlossenheit schwand, als er ihre tränenerstickte Stimme hörte. Verdammt noch mal. Er würde es sich niemals verzeihen, wenn ihr etwas zustieße. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sagte dann: „Bleib, wo du bist. Ich bin in ein paar Stunden bei dir.“

ZWEI

Lucy schaute hinaus auf den Hafen, in dem reges Treiben herrschte. Ihr Hintern war schon ganz taub vom langen Sitzen auf der Holzbank, die sie seit dem Anruf bei Zac nicht mehr verlassen hatte. Nach dem Ende des Telefonats hatte sie es eilig gehabt, der finster dreinblickenden Inhaberin, neugierigen Gästen des Lokals und dem Geruch aus der Küche, von dem ihr richtig übel geworden war, zu entkommen. Sie hatte den Rock ihres langen Kleides hochgerafft, die Straße überquert und war erleichtert gewesen, als sie ein wenig abseits eine Bank entdeckt hatte, wo sie für sich war und in Ruhe nachdenken konnte. Dazu hatte sie mittlerweile stundenlang Zeit gehabt – jedenfalls kam es ihr so vor – und war dabei zu einem beunruhigenden Ergebnis gekommen. Sie konnte sich an mindestens einen Monat ihres Lebens nicht erinnern, denn sie hatte keine Ahnung, wieso sie in Portland war und Zac in Summer Harbor, und außerdem musste sie sich der Tatsache stellen, dass ihr Kopf offenbar nicht einwandfrei funktionierte.

Ihr war ein bisschen schwindelig, und sie sah leicht verschwommen, sosehr sie auch versuchte, durch Blinzeln etwas daran zu ändern. Wenn sie aufs Wasser schaute, das in der Sonne glitzerte, fühlte es sich an, als würde ihr jemand mit einem spitzen Gegenstand in die Augen pieksen. Deshalb machte sie sie lieber zu und konzentrierte sich auf ihren Atem.

Die Kopfschmerzen und der Schwindel waren schon ziemlich heftig, aber noch viel schlimmer war die Angst, die ihr den Magen umdrehte. Was war nur mit ihr los? Ob die Erinnerung an die vergangenen paar Monate für immer weg war? War sie ernsthaft verletzt? Wie lange würde dieser benebelte Zustand wohl noch anhalten? Und was, wenn es so blieb?

Sie beobachtete, wie ein Hummerboot anlegte und die Fischer Feierabend machten. Wie spät es wohl sein mochte? Wieso brauchte Zac so lange? Was, wenn er gar nicht kam?

Lächerlich. Natürlich würde er kommen. Er liebte sie doch.

Sie dachte noch einmal an das Telefonat; daran, wie seine Stimme geklungen hatte, an seinen typischen Maine-Akzent, bei dem aus er-Endungen lange As wurden. Humma statt Hummer.

Sie runzelte die Stirn, während die Erinnerung an das Telefonat ihr noch nachging, aber das Gespräch war schon jetzt nur noch verschwommen da. Er hatte mürrisch und abweisend geklungen, aber sie konnte sich nicht mehr ganz genau erinnern, was er gesagt hatte.

Was, wenn sie eine Hirnverletzung hatte? Sie würde sich in einem Krankenhaus untersuchen lassen müssen, das war ihr klar, aber schon allein bei der Vorstellung bekam sie Panik. Plötzlich war sie wieder acht Jahre alt und saß allein am Krankenhausbett ihrer Mutter. Ein Apparat, der den Herzschlag aufzeichnete, piepste leise in regelmäßigen Abständen.

Bis das Piepsen plötzlich aufgehört hatte.

Bei dieser Erinnerung pochte Lucys Herz auch jetzt noch heftig, und ihre Kopfschmerzen wurden noch schlimmer. Krankenhäuser fühlten sich nach Tod an, aber trotzdem würde sie eines aufsuchen müssen.

Du stirbst nicht, Lucy. Was ist denn eigentlich los mit dir?

Sie hatte weder die Zeit, noch war sie in der Verfassung, diese Frage jetzt zu beantworten. Und wie kam es, dass sie sich an etwas erinnern konnte, das sechzehn Jahre zurücklag, aber nicht daran, wie sie das Brautkleid angezogen hatte, das sie trug?

„Lucy?“, hörte sie jetzt eine Stimme.

Sie drehte sich in die Richtung, aus der Zacs tiefe, volle Stimme kam, und als sie das vertraute markante maskuline Gesicht mit dem kantigen Kinn sah, ging ihr das Herz auf. Sie kannte jede Linie darin, obwohl ihr der Dreitagebart irgendwie fremd vorkam. Irritiert runzelte sie die Stirn. Auch sein schwarzes Haar, von dem ihm eine dicke Locke in die Stirn fiel, hatte sie anders in Erinnerung.

Zitternd vor Verwirrung, sprang sie auf und ging einen Schritt auf ihn zu, weil sie sich nach der Sicherheit und Geborgenheit seiner Arme sehnte, doch plötzlich schien alles um sie her zu kippen, und sie stolperte seitwärts auf den Gehsteig.

Zac kam ihr zu Hilfe, hielt sie am Ellbogen fest und sagte: „Was machst du denn?“

Sie zuckte zusammen, weil er so schroff klang, und hielt sich noch stärker an seinem Unterarm fest. Sie blinzelte wieder, um den Schwindel zu vertreiben, schaute ihm in seine grauen Augen und wünschte, sie könnte schärfer sehen. Er wirkte irgendwie so steif und klang kalt und distanziert – so ganz anders als ihr Zac.

„Zac … ich bin so froh, dass du da bist. Bringst du mich nach Hause? Bitte!“

„Jetzt setz dich erst mal hin“, sagte er und schob sie zurück, bis sie wieder die Bank erreicht hatte. Sobald sie saß, ließ er sie los und trat ein paar Schritte von ihr weg.

Sie schaute an ihrem Kleid hinunter und packte mit einer Hand den duftigen Stoff. Ihre Hochzeit war jedenfalls ruiniert. Und das nach all der Mühe, die sie sich gemacht hatten.

Plötzlich wurde ihr die Kehle eng, und ihr kamen die Tränen. „Du solltest mich eigentlich noch gar nicht sehen“, sagte sie mit erstickter Stimme.

Er hätte sie doch erst sehen sollen, wenn sie im Mittelgang der Kirche zum Altar schritt, wo er mit Staunen im Blick auf sie wartete. Darauf hatte jede Braut ein Recht. Sie hatte sich sogar gewünscht, dass am Altar das Licht richtig hell eingestellt würde, damit sie seinen Gesichtsausdruck auch wirklich gut sehen konnte.

Als sie jetzt daran dachte, runzelte sie wieder die Stirn. Die Kirche, in der die Trauung stattfinden sollte, war doch in Summer Harbor – und sie war in Portland. Das war alles so verwirrend. Sie massierte sich die Schläfen und sagte nach einer Weile: „Ich bin wohl ein bisschen durcheinander.“

„Wo hast du dir denn den Kopf gestoßen?“, fragte er.

„Auf der Damentoilette“, antwortete sie und deutete hinter sich. „In dem Lokal dort. Der Fußboden war nass, und ich bin wahrscheinlich … ausgerutscht.“

„Ich meine, wo am Kopf du dich gestoßen hast“, erklärte er.

„Ach so. Hier“, antwortete sie, nahm seine Hand und legte sie vorsichtig auf die Beule.

„Na, da hast du dir ja ein ganz schönes Ding eingefangen. Warst du bewusstlos?“, fragte er mit zusammengepressten Lippen.

„I … ich weiß es gar nicht. Ich glaube schon. Vielleicht?“ Nicht einmal daran konnte sie sich erinnern!

Er zog seine Hand wieder weg, und sofort vermisste sie die beruhigende Berührung. Wieso wollte er sie nicht anfassen? Wieso hielt er sie nicht einfach fest? Sie brauchte Trost, merkte er das denn nicht?

„Lucy … du bist bewusstlos gewesen, dir ist immer noch schwindelig, und du hast Erinnerungslücken. Du musst das abklären lassen.“

„Bitte nicht …“, flehte sie ihn an, und ihr kamen wieder die Tränen.

„Es muss sein. Ich komme auch mit“, sagte er.

Aber wo war die Wärme in seiner Stimme geblieben? Wo seine zärtlichen Berührungen?

„Und was ist mit der Hochzeit?“, fragte sie. „Wir müssen doch den Leuten zu Hause Bescheid sagen. Ich kann gar nicht fassen, dass mir so etwas passiert.“ Ihr Atem ging jetzt in kurzen, heftigen, schnellen Stößen.

„Beruhige dich doch, Lucy. Du musst langsamer atmen, sonst hyperventilierst du und fällst wieder in Ohnmacht. Glaubst du, dass du es bis zu meinem Wagen schaffst?“

Sie wollte in kein Krankenhaus!

Bitte, Gott, tu mir das doch nicht an!

Sie wollte einfach nur nach Hause ins Bett und sich die Decke über den Kopf ziehen, wollte von Zac ins Bett gebracht werden, so, wie er es manchmal tat, wenn sie völlig geschafft war. Und in diesem Moment war sie wirklich völlig geschafft.

„Kannst du gehen, Lucy?“, fragte er jetzt und klang dabei so ungehalten und genervt, dass es sich für sie anfühlte, als stieße er ihr einen Dolch in die Brust.

„Ich will aber in kein Krankenhaus“, wiederholte sie noch einmal und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme dabei bebte.

„Doch“, entgegnete er. „Es muss sein, und ich bringe dich jetzt dorthin.“

Sie wiegte sich vor und zurück, wie, um sich selbst zu beruhigen, aber es funktionierte nicht. Sie wusste ja, dass er recht hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Wenn Zac bei ihr blieb, würde sie es schon schaffen … oder?

„Bringst du mich danach nach Hause?“, fragte sie zaghaft.

„Ja“, versprach er.

Sie versuchte die Erinnerungen an damals auszuschalten, aber sie kamen trotzdem wieder hoch. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, das Piepsen der Überwachungsgeräte, der kalte, sterile Boden – und ihre Mama, oder das, was noch von ihr übrig war, still und blass in dem Bett.

„Könntest du nicht jemanden herholen, um mich zu untersuchen?“, versuchte sie es noch einmal und sah ihn hoffnungsvoll an. „Den netten Rettungssanitäter von vorhin vielleicht.“

„Wir sind in Portland, Lucy. Ich kenne hier niemanden.“

„Ach ja …“

„Und genau das ist auch der Grund, weshalb du dich untersuchen lassen musst. Du weißt ja noch nicht einmal, wo du bist, um Himmels willen.“

Sein Ton war so barsch, dass sie wieder zusammenzuckte und ihr die Tränen kamen. Er klang verärgert, so als interessierte es ihn kein bisschen, was mit ihr los war, dass sie vielleicht eine Hirnblutung hatte und jeden Moment tot umfallen konnte!

Er stand auf und sagte: „Es muss sein, Lucy. Also komm, lass uns fahren.“ Und dann hob er sie mitsamt ihrem bauschigen Brautkleid hoch, zwar behutsam, aber kein bisschen liebevoll, sondern irgendwie steif und mechanisch. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und schloss die Augen. Vielleicht war dieser Albtraum ja vorüber, wenn sie wieder aufwachte.

DREI

Zac stützte die Ellbogen auf seine Knie und schaute zu, wie die Schwester Lucy den Venenzugang herauszog. Sie hatten ihr etwas für den Magen gegeben, etwas gegen die Kopfschmerzen und auch etwas zur Beruhigung. Lucys Augen waren geschlossen, und ihre Stirn war nicht mehr ganz so angespannt, seit die Medikamente zu wirken begannen.

Die Schwester ging wieder, und Zacs Blick glitt über Lucys Gesicht – ihre zarten geschwungenen Augenbrauen, die helle Haut und ihren roten Kussmund. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, hatte immer noch dieselben verletzlichen blauen Augen, die an ihm zerrten, ihn richtiggehend wie an einer Schnur mit Haken zu sich hinzogen. Sie hatte die Haarspangen aus ihrem langen dunklen Haar gezogen, das ihr jetzt in üppigen Wellen über die Schultern fiel und einen Teil des hässlichen Krankenhausnachthemdes verdeckte. Wie froh war er gewesen, als sie endlich nicht mehr das Brautkleid anhatte!

Das Brautkleid. Als er sie dort am Hafen in dem Brautkleid auf der Bank hatte sitzen sehen, hätte er sich beinah wieder umgedreht und wäre gegangen. Es war erst sieben Monate her, dass sie verschwunden war. Wie hatte sie es nur geschafft, sich so schnell wieder zu verlieben und sogar zu verloben? Vielleicht war sie ja auch schon vorher verliebt gewesen. Vielleicht war das sogar der Grund, weshalb sie ihn verlassen hatte. Dieser Gedanke fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

Er lehnte sich auf dem Stuhl neben ihrer Liege zurück und verschränkte mit gerunzelter Stirn die Arme vor dem Körper.

Was, um Himmels willen, machte er hier eigentlich? Sie hatte einen Bräutigam, den sie liebte, und irgendwo in einer Kirche waren Menschen versammelt, die sich fragten, wo sie blieb.

Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Was hatte sie unmittelbar vor ihrer Trauung allein auf der Damentoilette eines kleinen Restaurants zu suchen gehabt?

Lucy war nicht die Einzige, die Fragen hatte.

Doch seine Fragen musste er fürs Erste beiseitestellen. Gleich würde auch noch ein Arzt kommen und jede Menge Dinge wissen wollen. Lucy hatte alle Formulare und Fragebögen selbst ausgefüllt und beim Aufschreiben ihrer Adresse ohne zu zögern die ihrer Wohnung in Summer Harbor notiert.

Sie hatte offenbar keine Ahnung über das Ausmaß ihres Gedächtnisverlustes, und auch, wenn sie ihn dermaßen hatte hängenlassen kurz vor der Hochzeit, hatte er das Gefühl, sie beschützen zu müssen, indem er ihr alles möglichst schonend beibrachte.

Lucys Augenlider öffneten sich flatternd. Es ging ihr schon viel besser. Wie gut, dass es wirksame Medikamente gab. Sie hatte ein bisschen das Gefühl zu schweben, aber das gefiel ihr eigentlich ganz gut. Jedenfalls war es besser als diese Panik, die den ganzen Körper erfasst hatte.

Ihr Blick ging zu Zac, der vornübergebeugt auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß. Gott sei Dank, er war noch da. Doch obwohl sie nicht richtig klar sehen konnte, bemerkte sie seine finstere Miene, und das tat ihr weh. Er war sonst immer so lieb, zärtlich und beschützend zu ihr gewesen.

„Warum bist du eigentlich wütend auf mich?“, fragte sie ihn jetzt flüsternd.

Er blickte mit einem Ruck auf, und seine Miene wurde weicher. „Geht es dir besser?“ „Ja, viel besser.“

„Gut“, sagte er. Dann stand er auf und ging auf der Längsseite des Zimmers auf und ab.

Er war sehr groß, hatte breite Schultern und überragte sie mit seinen 1,95 Metern um mehr als einen Kopf. Wenn er sie in die Arme schloss, fühlte sie sich auf eine Weise geborgen und geliebt, wie sie es nicht mehr erlebt hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Seine souveräne Art konnte einen ganzen Raum einnehmen, was im Moment auch tatsächlich der Fall war, weil er immer wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging.

Irgendwann blieb er stehen, sah sie an und sagte: „Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen musst, Lucy.“

Sie zog sich die Bettdecke hoch bis ans Kinn und fragte: „Was denn?“

„Diese … Hochzeit“, setzte er an und zeigte auf das Brautkleid, das an einem Bügel im offenen Schrank hing. „Also, das waren nicht wir beide, die da geheiratet haben.“

Sie blinzelte wieder, um ihn etwas deutlicher zu sehen und zu begreifen, was er da gerade gesagt hatte. „Was um Himmels willen willst du denn damit sagen?“, fragte sie völlig entgeistert.

Er holte tief Luft und erklärte dann ganz schnell: „Wir sind nicht mehr zusammen, Lucy.“

Wieso sagte er denn so etwas? Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihr kamen die Tränen, und sie hatte einen dicken Kloß im Hals.

„Schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst, aber der Arzt wird dir Fragen stellen, und du musst einfach wissen, dass du eine ziemlich große Erinnerungslücke hast.“

Sie fühlte sich, als ob dort, wo sonst ihr Herz war, ein riesiges schwarzes Loch klaffte. Das konnte unmöglich sein. Auf gar keinen Fall hatten sie sich getrennt. Zac liebte sie doch und sie ihn auch – sehr sogar.

Deshalb schüttelte sie nur immer wieder den Kopf und sagte: „Nein.“

Er kam näher ans Bett heran, blieb unmittelbar davor stehen, die Hände in den Hosentaschen, und sagte: „Doch, es ist so. Du hast eine Erinnerungslücke von mindestens sieben Monaten.“ Auch das sagte er in diesem furchtbar sachlich-nüchternen Tonfall, den sie schon immer schlimm gefunden hatte.

„Warum tust du das?“, fragte sie und musste ein Aufschluchzen unterdrücken.

„Weil du es wissen musst, und auch der Arzt muss es wissen, damit er herausfinden kann, was …“

Sein Blick blieb plötzlich bei der Zeitung hängen, die er am Kiosk gekauft hatte. Er nahm sie in die Hand und fragte: „Welches Datum haben wir heute, Lucy?“

„Heute ist … es ist … ich weiß es nicht. Der Tag unserer Hochzeit, also der 17. November.“ Daraufhin schaute sie ihm lange in die Augen. Beide sagten sie nichts, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schutzlos und verwundbar gefühlt hatte.

„Wir haben gerade eben draußen am Hafen gesessen, Lucy. Hat sich das für dich wie November angefühlt?“

Sie überlegte angestrengt, konnte sich aber schon nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Hatte sie gefroren?

„Es ist nicht November, Lucy, sondern Juni.“

Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte unmöglich sein. Sie hatte doch gerade ihre Wohnung für Thanksgiving dekoriert. Sie hatte die festliche Tischdecke herausgeholt und die braunen Kerzen und den großen Plüschtruthahn, der Truthahngeräusche machte, wenn man ihm auf den Bauch drückte. Den hatte Zac ihr vor ein paar Tagen geschenkt, und sie hatten beide so gelacht über das alberne Geräusch.

Er hielt ihr jetzt die Zeitung vor die Nase, und sie musste sich richtig anstrengen, um das Datum darauf zu erkennen. Es war der 15. Juni eines Jahres, an dessen Beginn sie sich nicht einmal erinnerte.

In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr wurde heiß, und sie merkte, wie ihr im Nacken der Schweiß ausbrach. Sie wünschte, die Schwester würde kommen und die Dosis ihres Medikamentes gegen die Panik verdoppeln, denn allem Anschein nach ließ die Wirkung gerade nach.

„Jetzt beruhige dich doch …“, sagte Zac.

„Mir fehlen sieben Monate? Sieben Monate?“ Bei diesem Gedanken wurde ihr noch schwindeliger. Was war in diesen sieben Monaten passiert?

Ihr wurde eng um die Brust, und sie massierte die Stelle mit der Hand, wo es richtig wehtat. „Wir haben Schluss gemacht?“, fragte sie noch einmal ungläubig.

„Ja“, antwortete er darauf nur kurz und knapp.

Er war das Einzige, was in ihrem Leben jemals richtig gut gelaufen war, das Einzige, ohne das sie nicht leben konnte. Ihr Blick fiel auf das Brautkleid.

„Aber wenn wir gar nicht mehr zusammen sind, wieso habe ich denn dann ein Brautkleid angehabt? Kannst du mir das sagen?“

Sein Mund war schmal wie ein Strich, als er antwortete: „Nein, ich weiß es nicht.“

„Aber das kann nicht sein. Du denkst dir das alles doch nur aus, oder?“

„Warum sollte ich das denn tun, Lucy?“, entgegnete er mit beinah tonloser Stimme.

„Wir sind doch verlobt!“, brach es aus ihr heraus.

„Sind wir das wirklich, Lucy? Wo ist denn der Ring, den ich dir gegeben habe?“

„Na hier“, antwortete sie, hielt ihre Hand hoch und sah den Ring, den sie am Finger hatte, zum ersten Mal. Einen Ring mit einem Diamanten, und zwar einem sehr großen – jedenfalls nicht der Verlobungsring von Zac.

Sie stieß eine Art Wimmern aus und wurde wieder von Panik erfasst. „Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie verzweifelt.

In dem Moment kam ein Pflegehelfer herein und sagte: „So, ich bringe Sie jetzt in die Radiologie zum CT.“ Er arbeitete schnell und umsichtig, kontrollierte noch einmal Lucys Personalien und kümmerte sich um die Infusion, bevor er das Bett in Bewegung setzte.

Lucy drehte sich noch einmal zu Zac um, und ihre Blicke begegneten sich. Reglos und mit versteinerter Miene stand er da, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Und dann war er genau so schnell verschwunden wie ihr Gedächtnis.

VIER

„Was ist denn das Letzte, woran Sie sich erinnern, Miss Lovett?“

Es war Mitternacht, und der Arzt stellte ihr jetzt seit etwa zehn Minuten Fragen, aber ihre Gedanken waren so verschwommen. Das CT sei in Ordnung, und auch sonst sähe alles gut aus, hatte er gesagt. Aber wieso konnte es gut aussehen, wenn es das doch eindeutig nicht war?

Der Arzt war etwa Mitte dreißig, hatte wirres dunkles Haar, blaue Augen und trug eine Nickelbrille. Irgendwie hatte er Ähnlichkeit mit Harry Potter. Wie konnte es sein, dass sie sich an Harry Potter erinnerte, aber nicht an den Verlust des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte? Wie konnten ihr sieben Monate ihres Lebens einfach fehlen? Sie hatte einen Freund – sogar einen Verlobten –, an den sie sich nicht erinnern konnte. Was hatte sie in den letzten sieben Monaten gemacht? Wo hatte sie gelebt?

„Lucy …?“, sprach Zac sie jetzt mit leichter Ungeduld an. „Das Letzte, woran du dich erinnerst.“

Sie räusperte sich und dachte intensiv nach. „Also, wir sind vom Roadhouse – Zacs Restaurant – zu Fuß nach Hause gegangen. Es war kalt. An der Haustür haben wir uns voneinander verabschiedet.“

Ganz plötzlich blitzte eine Erinnerung auf, und sie sah Zac an. „Du hast noch den Kürbis hochgehoben, der als Deko vor der Haustür steht, und hast getan, als könnte er reden.“

Sie hatte gelacht über seine Mätzchen und war erleichtert gewesen, wenigstens wieder ein bisschen den Zac zu erleben, den sie kannte. Seit dem Tod seines Vaters wirkte er eigentlich ständig bedrückt.

Er hatte den Kürbis wieder hingestellt, sie in die Arme genommen und gesagt, er könne es gar nicht erwarten, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen.

Jetzt suchte sie seinen Blick und sah darin, dass auch er sich daran erinnerte, aber er schaute ganz schnell weg.

„Wie lange ist das her?“, fragte der Arzt Zac, ohne zu merken, wie angespannt die Atmosphäre im Raum war.

„Das war Ende Oktober“, antwortete Zac.

Der Arzt klappte die Patientenkarte zu und sagte dann: „Also … Sie haben offenbar eine schwere Gehirnerschütterung erlitten mit einer retrograden Amnesie. Das heißt, die Ursache für ihren Gedächtnisverlust ist eine Kopfverletzung.“

„Wird ihre Erinnerung zurückkommen?“, fragte Zac.

Der Arzt zuckte mit den Schultern und antwortete: „Das ist möglich, aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Das ist von Fall zu Fall verschieden. Manchmal hilft es, wenn die betroffene Person sich in einer vertrauten Umgebung aufhält, in Gesellschaft von Menschen, die sie kennt. Manchmal hilft aber auch das nicht. Ich würde sie gerne eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten …“

„Nein, Doktor“, widersprach Lucy vehement. Sie konnte gar nicht schnell genug hier wegkommen. „Ich möchte nicht bleiben. Ich muss nach Hause. Sie haben doch gesagt, das CT sei in Ordnung, oder?“

„Ja, völlig normal. Und ich habe auch nichts dagegen, Sie nach Hause zu entlassen, aber nur, wenn in den nächsten 24 Stunden sichergestellt ist, dass jemand bei Ihnen ist.“

Sie warf Zac einen flehenden Blick zu. Nicht einmal große Mengen Beruhigungsmittel hätten sie dazu bringen können, hierzubleiben.

Zacs Blick wurde wieder angespannt, und ein Muskel an seinem Kinn zuckte. „Also gut“, sagte er schließlich.

„Sie müssen Sie heute Nacht alle zwei Stunden wecken. Sie braucht viel Ruhe und darf sich nicht anstrengen, bis die Symptome wieder weg sind. Ich verschreibe ein Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen und etwas gegen die Übelkeit. Die Schwester gibt Ihnen noch ein paar Verhaltensrichtlinien mit auf den Weg, und bitte vereinbaren Sie unbedingt einen Kontrolltermin bei Ihrem Hausarzt.“

„Und was ist mit meinem Gedächtnis?“, fragte Lucy. „Wird es zurückkommen?“

Der Blick des Arztes ging erst zu Zac, dann wieder zu ihr, und daraufhin sagte er: „Wir müssen abwarten. Versuchen Sie, sich darüber keine allzu großen Sorgen zu machen, sondern ruhen Sie sich aus, und schonen Sie sich.“

Als der Arzt gegangen war, presste sich Lucy die Fingerspitzen gegen die Stirn und fragte verzweifelt: „Ich soll mir keine Sorgen darüber machen, dass ich mich nicht an die letzten sieben Monate meines Lebens erinnern kann?“

„Wenn du dich aufregst, nützt es doch auch nichts“, sagte Zac nur.

„Du hast gut reden! Du bist ja auch nicht derjenige, in dessen Leben eine riesige Lücke klafft.“ Oder der jemanden liebte, der sie offensichtlich hasste.

Zac ließ sich in den Sessel neben der Liege sinken und versuchte, sie zu beschwichtigen: „Wenigstens brauchst du nicht hierzubleiben. Wir holen jetzt die Rezepte für die Medikamente bei der Schwester ab und suchen uns dann ein Hotel in der Nähe. Morgen früh versuche ich dann herauszubekommen, wo du hier in Portland wohnst, und setze mich mit deinen … Freunden in Verbindung.“

Entsetzt richtete sich Lucy auf und sagte: „Aber du hast versprochen, dass du mich nach Hause bringst.“

Daraufhin schaute Zac sie nur ganz ruhig an und erklärte: „Damit habe ich dein jetziges Zuhause gemeint.“

„Aber an das Zuhause kann ich mich ja nicht einmal erinnern! Und auch nicht an die Menschen dort. Ich möchte wieder mit dir zurück nach Summer Harbor.“ „Lucy, das geht …“

„Das hier ist nicht mein Zuhause. Ich kann mich hier an absolut gar nichts erinnern!“, unterbrach sie ihn mit Nachdruck.

„Na ja, das könnte sich doch wieder ändern. Vielleicht wachst du ja morgen früh auf, und alles ist wieder da“, erklärte er.

„Oder meine Erinnerung an das, was in dieser Zeit passiert ist, kommt nie wieder.“

Da flackerte etwas in Zacs Blick auf, das sie unbedingt brauchte. Ganz tief in seinem Innern hatte er immer noch das Gefühl, für sie verantwortlich zu sein, oder? Nach all dem, was sie gemeinsam gehabt hatten.

„Bitte, Zac, nimm mich mit nach Hause, wo ich hingehöre.“ Wieder kamen ihr die Tränen, und als sie sie unterdrückte, bahnten sich ihre Empfindungen einen Weg über ihre Zunge. „Du musst mich mit nach Hause nehmen. Ich liebe dich doch“, sagte sie.

Da wurde sein Blick hart, und er entgegnete: „Sag das nicht, Lucy.“

„Aber es ist wahr!“, versicherte sie.

„Das meinst du nur, Lucy. Du hast hier ein neues Leben, einen Job, ein Zuhause und einen Verlobten, der wahrscheinlich völlig außer sich ist vor Sorge.“

„Aber ich kann mich an nichts von alledem erinnern! Ich erinnere mich nur an Summer Harbor, an meine kleine Wohnung und an dich.“ Ihre letzten Worte erstarben ihr auf den Lippen.

Zac sprang mit einem Ruck auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ging ein Stück von ihr weg. Er würde sie nicht hängenlassen. Nicht der Zac, den sie kannte. Oder vielleicht doch? Er stand mit angespannten Schultern und dem Gesicht zur Wand da.

Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis er sich schließlich umdrehte und sagte: „Also gut.“

Sie war ganz froh, dass sie seinen Blick dabei nicht sehen konnte, dazu war er zu weit entfernt. Aber ihre Phantasie füllte die Lücken in ihrer Erinnerung schon viel zu gut aus.

„Ich nehme dich wieder mit“, sagte er. „Aber wir versuchen herauszufinden, was passiert ist, und zwar unabhängig davon, ob dein Gedächtnis wiederkommt oder nicht. Dein Leben ist jetzt hier und nicht mehr in Summer Harbor.“

Nicht mehr bei mir.

Diese unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen und verschlugen ihr den Atem. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder hierher zurückkommen oder Zac verlassen wollte, aber sie war klug genug, sich erst einmal mit dem zufriedenzugeben, was er ihr anbot, und sein Verantwortungsgefühl nicht überzustrapazieren.

„Also gut, in Ordnung“, sagte sie deshalb.

Sie würde wieder nach Summer Harbor zurückkehren, herausfinden, was dort schiefgelaufen war, und es wieder in Ordnung bringen, denn sie wusste, dass sie niemals jemanden so lieben würde wie Zac Callahan.

FÜNF

Zac bog auf den Harbor Drive und fuhr dann auf der zweispurigen Küstenstraße weiter. Die Scheinwerfer seines Silverado durchdrangen die Dunkelheit und beleuchteten den Weg vor ihnen, aber er hatte den gesamten Rückweg nach Summer Harbor eigentlich nichts richtig wahrgenommen.

Es war halb vier morgens, und Lucy schlief schon eine ganze Weile. Sie trug viel zu große Sachen aus dem Fundus des Krankenhauses. Das Brautkleid hatte er auf die Rückbank gestopft.

Als sie durch Ellsworth gefahren waren, hatte er gespürt, wie sie sich ein bisschen bei ihm angelehnt hatte, und inzwischen lag ihr Kopf schwer an seinem rechten Arm. Der vertraute Apfelduft ihres Shampoos lag in der Luft, sodass er sich in die Zeit zurückversetzt fühlte, als sie noch zusammen gewesen waren.

Sie drehte ihr Gesicht noch weiter zu ihm hin, schmiegte sich enger an ihn und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Komm schon, Gott. Ich bin auch nur ein Mann. Was soll denn das? Wieso kommt sie jetzt wieder zurück in mein Leben?

Noch vor zwölf Stunden hatte er sich nur um seinen eigenen Alltag gekümmert, sich bereit gemacht für einen hektischen und arbeitsreichen Abend im Roadhouse, und jetzt brachte er seine Ex-Verlobte wieder mit nach Hause.

Er nahm die letzte Kurve und bremste ab, als das Roadhouse in Sicht kam. Sein Blick ging hinauf zu seiner dunklen Wohnung in der ersten Etage, als er auf dem Parkplatz vor dem Lokal anhielt und den Motor ausstellte.

Lucy rührte sich nicht. In der plötzlichen Stille hörte er ihren leisen, regelmäßigen Atem, spürte an seinem Arm, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Im Licht der gelben Parkplatzbeleuchtung sah er auf ihr Gesicht hinunter. Ihre Wimpern waren so lang, dass sie die Wangen berührten, und das dunkle Haar fiel ihr bis auf die Schultern.

Lucy behauptete, man würde sie wahrscheinlich immer nur „niedlich“ finden wegen ihrer Grübchen und weil sie so klein und kompakt war, aber da irrte sie sich. Sie war eine Schönheit. Es juckte ihn in den Fingern, ihr das Haar zurückzustreichen, die Hand dann noch eine Weile auf ihrer zarten Wange ruhen zu lassen, mit den Fingern über ihre vollen Lippen zu streichen und nur ein paar Minuten lang so zu tun, als wäre noch alles wie früher.

Es reicht, Callahan, brachte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor und stupste sie mit der Schulter an, sodass sie aufwachte und zu ihm aufblickte. Sie schaute sich um und wusste anscheinend einen Moment lang nicht, wo sie war. Ganz kurz fragte er sich, ob vielleicht auf wundersame Weise ihr Gedächtnis wieder zurückgekehrt war.

Dann trafen sich ihre Blicke, und sie schaute ernüchtert drein. „Wie spät ist es denn?“, fragte sie.

„Nach drei.“

„Ich dachte … was ist denn mit meiner Wohnung?“

Sie war immer noch ein bisschen benommen von den Medikamenten, die sie bekommen hatte, und sah unglaublich verletzlich aus. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie zu trösten und zu beschützen, und rief sich zu diesem Zweck noch einmal ins Gedächtnis, dass sie ihn nicht nur verlassen, sondern außerdem in Portland einen Bräutigam hatte.

„Deine Wohnung ist längst wieder vermietet“, erklärte er ihr. „Aber du kannst heute Nacht in Rileys altem Zimmer schlafen.“

Er stieg aus und ging um den Wagen herum zur Beifahrertür, um ihr beim Aussteigen zu helfen, falls ihr immer noch schwindelig war. Als Zac das Roadhouse übernommen hatte, war das Zimmer als Lagerraum für alles Mögliche verwendet worden. Riley hatte es renoviert und dafür eine geringere Miete gezahlt.

„Wohnt er denn nicht mehr hier?“, fragte Lucy, als er ihr die Tür aufhielt.

„Er ist bei der Army. So, jetzt ganz langsam und vorsichtig“, sagte er, als sie schwankte. „Vergiss nicht, deine Medikamente zu nehmen, bevor du dich schlafen legst, ja?“

Er schloss die Haustür auf und führte sie durch das leere, dunkle Lokal, dann durch den kurzen Gang am Büro und seinem privaten Bad vorbei, und dahinter lag ein kleiner Raum, der nur mit dem Nötigsten ausgestattet war. Zac konnte sich nicht erinnern, wann die Bettwäsche das letzte Mal gewechselt worden war, und die Luft in dem Raum roch verbraucht und muffig, sodass er erst einmal das Fenster öffnete.

Dann holte er ihr ein Glas Wasser, damit sie ihre Medikamente nehmen konnte. Ihr Blick war schläfrig, und die Wimperntusche war verschmiert, sodass sie viel jünger aussah, als sie war. Sie wirkte so hilflos. Zum Schlafen holte er ihr ein T-Shirt oben aus seiner Wohnung, das ihr wahrscheinlich bis zu den Knien reichen würde.

Als sie schließlich mit allem versorgt war, drehte er sich an der Tür noch einmal um und sagte: „Ich komme dann in zwei Stunden, um dich zu wecken.“

Sie saß auf der Bettkante, das T-Shirt an sich gepresst, und sah ihn mit diesen großen blauen Augen an, nach denen er einmal völlig verrückt gewesen war.

„Danke, Zac“, sagte sie.

Er warf ihr noch ein ziemlich verkrampftes Lächeln zu und verschloss dann die Tür von außen. Eine Weile lief er einfach so herum und räumte dies und das im Lokal auf, um irgendetwas zu tun zu haben. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, und seine Nerven flatterten, als hätte er literweise Kaffee getrunken.

Gegen halb fünf Uhr morgens zwang er sich schließlich, sich auf der durchgelegenen Couch in seinem Büro auszustrecken, die viel zu kurz für ihn war. Er stellte seinen Wecker auf sechs, weil er dann nach Lucy schauen musste, aber als der Wecker dann klingelte, hatte er immer noch kein Auge zugetan. In den Gottesdienst würde er es also wahrscheinlich nicht schaffen.

Als er in Lucys Zimmer schlich, drangen durch das angelehnte Fenster morgendliche Geräusche herein, und das erste Tageslicht fiel durch die transparenten Gardinen auf ihre mit einer Flickendecke zugedeckte Gestalt in dem Bett. Sie lag mit angezogenen Knien auf der Seite, das Gesicht zur Tür.

Ganz kurz stellte er sich vor, wie es wohl wäre, wenn die letzten sieben Monate nicht gewesen wären, wenn sie nicht aus Summer Harbor weggegangen wäre und sie am 17. November tatsächlich geheiratet hätten. Wenn sie jetzt in ihrem gemeinsamen Bett läge und seine Frau wäre. Bei dieser Vorstellung begann sein Herz wie wild zu schlagen.

Mann, hör endlich auf damit!

Zac schlich hinüber zum Bett, berührte sie an der Schulter und sagte: „Lucy.“

Sie rührte sich nicht, also stupste er sie noch einmal an und wiederholte: „Wach auf, Lucy.“ Jetzt tat sich etwas.

„Zac?“ Ihre Stimme war noch rau vom Schlaf.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„Hmmm.“

„Gut. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gutgeht.“ Er wandte sich wieder zum Gehen, aber sie griff nach seiner Hand und sagte: „Bleib noch.“

Das brachte ihn beinah um, aber er entzog ihr seine Hand wieder und sagte: „Ich bin nebenan im Büro. Schlaf jetzt weiter.“

Wieder im Büro, stellte er den Wecker auf 9.00 Uhr, starrte dann aber wieder nur hellwach an die Decke und überlegte, was er tun sollte. Als Erstes würde er nach Hochzeiten in Portland suchen, dann recherchieren, in welcher Kirche die Hochzeit stattgefunden hatte und dort den Pastor um die Telefonnummer des Bräutigams bitten. Wenn er sich erst einmal mit Lucys Verlobtem in Verbindung gesetzt hatte, wäre es geschafft, doch bei diesem Gedanken hatte er ein hohles Gefühl im Bauch. Aber je schneller er sie wieder nach Portland bringen konnte, desto besser.

Er musste schließlich doch eingeschlafen sein, denn als er das nächste Mal die Augen aufschlug, schien die Sonne zum Fenster herein. Als der Wecker klingelte, schaute er nach Lucy, taumelte dann wieder zurück zur Couch und schlief auf der Stelle erneut ein.

Das nächste Mal wurde er durch ein Klopfen geweckt. Mit einem Ruck setzte er sich auf, und seine Gedanken gingen wild durcheinander. Doch dann war die vergangene Nacht wieder da: Lucys Anruf … die Notaufnahme im Krankenhaus … Lucy in seinem Gästezimmer.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Da klopfte es wieder. Zac stand von dem unbequemen Sofa auf und ging zum Hintereingang.

Auf der Veranda stand Beau in seinem Gottesdienstoutfit und sah ihn finster an.

„Wo warst du denn? Wir haben in der Kirche auf dich gewartet“, sagte er vorwurfsvoll.

Zac drehte sich wortlos um und ging wieder zurück ins Haus. Für so ein Gespräch war es wirklich noch zu früh. „Ich bin spät ins Bett gekommen und habe nicht viel geschlafen“, antwortete er deshalb nur und ging in Richtung seiner Wohnung im Obergeschoss, um sich dort einen Kaffee zu kochen, den er jetzt dringend brauchte. Beau kam hinterher und sagte: „Ich habe dir den ganzen Morgen SMS geschrieben.“

„Gab es denn etwas Wichtiges?“, erkundigte sich Zac.

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Du haust gestern Abend ohne eine Erklärung einfach ab, überlässt mir dein Lokal und tauchst dann heute Morgen nicht im Gottesdienst auf, was soll ich denn da bitte schön denken?“

Zac betrat sein Wohnzimmer, ließ die Wohnungstür offen und ging wie ein Zombie direkt zur Kaffeemaschine. „Gab es denn irgendwelche Probleme?“, fragte er.

„Nee, keine – was ist los, Zac? Du siehst richtig scheiße aus.“

„Kannst du mich nicht wenigstens erst mal einen Schluck Kaffee trinken lassen? Meine Güte!“ Er füllte Wasser in die Kaffeemaschine, Kaffeepulver in den Filter und schaltete dann das Gerät ein. Dabei hörte er die ganze Zeit, wie sein Bruder im Wohnzimmer hin und her tigerte. Das war Beau im Großen-Bruder-Modus.

Zac nahm einen Becher aus dem Schrank und drehte sich zu seinem Bruder um. Der schaute aus dem Fenster, von dem aus man den ganzen Hafen überblicken konnte. „Möchtest du auch Kaffee?“, fragte er Beau.

„Nein, danke.“

Der Gedanke an die Informationen, die er gleich zusammentragen musste, und an Lucy, die unten im Gästezimmer lag und schlief, bereitete ihm Kopfschmerzen. Mittlerweile war es fast halb eins. Wenn Beau wieder weg war, würde er nach ihr schauen und dann anfangen zu googeln.

Es würde sicher nicht lange dauern, die Informationen über ihre Hochzeit zu bekommen und ihren Verlobten ausfindig zu machen. Ungeduldig schaute er zu, wie der fertige Kaffee tröpfchenweise durch den Filter lief. Komm, mach schon!

Mit etwas Glück würde er die nötigen Informationen sicher rasch bekommen, und dann wäre Lucy schon vor Ende des Tages wieder in Portland. Wenn schließlich noch ihr Gedächtnis zurückkäme, gäbe es für alle ein Happy End.

Seine Gedanken gingen jetzt zu dem Mann, den Lucy hatte heiraten wollen. Der arme Kerl. Er hatte ja keine Ahnung, in was er da hineingeraten war und was auf ihn zukam.

Aber noch während er das dachte, erschien auch das Bild von der süßen Lucy in seinem Kopf, von der Lucy, die ihn und sein Leben auf so großartige Weise auf den Kopf gestellt hatte. Sie war alles gewesen, was er sich je von einer Frau erträumt hatte

Und dann hat sie dich einfach sitzenlassen.

Glücklicherweise begann in dem Moment die Kaffeemaschine zu gurgeln – das Zeichen, dass die Droge seiner Wahl fast fertig war. Er goss sich den Becher voll, trank einen Schluck und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Vielleicht konnte er Beau ja mit irgendeiner Ausrede dazu bewegen, wieder zu gehen.

Doch als er in der Tür zum Wohnzimmer ankam, erstarrte er, weil genau in dem Moment Lucy in der Wohnungstür auftauchte. Ihr dunkles Haar war zerzaust, das lockere T-Shirt ging ihr nur bis zur Mitte des Oberschenkels, und sie sah unglaublich sexy aus. Sie warf Zac einen zaghaften Blick zu und bemerkte erst da, dass Beau zu Besuch war.

Sie erschrak und brachte gerade noch ein „Hallo, Beau …“ heraus.

Der drehte sich um, bekam ganz große Augen und stammelte: „Nein … nein, das ist doch nicht wahr, oder?“ Dann ging sein Blick zurück zu Zac und durchbohrte ihn förmlich.

So ein Mist! Konnte man denn nicht einmal in Ruhe einen Becher Kaffee trinken?

„Du hast hier oben nichts zu suchen“, sagte Zac zu Lucy, und seine Stimme klang barscher als beabsichtigt.

Es war, als ob Lucy in sich zusammenfiel. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und begann: „Ich kann …“

„Ich bin gleich unten“, unterbrach er sie. Wahrscheinlich hätte er ihr einen Becher Kaffee anbieten sollen, aber er wollte sie nur möglichst schnell wieder aus seiner Wohnung haben.

Ihr Blick ging zwischen Beau und Zac hin und her, und dann sagte sie: „O – okay“, und verließ den Raum.

Zac schloss die Tür hinter ihr, trank noch einen großen Schluck Kaffee und merkte gar nicht, dass er sich heftig den Mund verbrannte. Er spürte Beaus Blick auf sich, als er sich in seinen Lehnstuhl setzte und versuchte, nicht daran zu denken, dass seine Ex-Verlobte, die immer noch in ihn verliebt war, nur mit einem T-Shirt bekleidet unten in seinem Gästezimmer saß.

„Was war das denn???“, fragte ihn sein Bruder völlig entgeistert.

Zac blickte auf, vermied es aber, seinen Bruder direkt anzusehen. Trotzdem sah er aus dem Augenwinkel, wie Beau mit fassungslosem Blick ungläubig den Hals reckte.

„Es ist nicht so, wie es aussieht“, sagte Zac deshalb.

„Wie ist es denn dann?“

„Sie hatte einen Unfall, bei dem sie sich verletzt hat, und ich habe ihr geholfen. Das ist alles. Ich bringe sie noch heute wieder nach Hause …“

„Du hilfst ihr?“, fragte Beau – immer noch mit ungläubigem Staunen in der Stimme.

„… wenn alles läuft wie geplant, ist sie heute Abend wieder zu Hause.“

„Sie hat dich verlassen, Zac!“

„Sie hat eine Gehirnerschütterung und eine Amnesie. Was sollte ich denn da deiner Meinung nach tun?“

„Darum ging es bei dem Anruf also? Nach allem, was sie dir angetan hat, ruft sie einfach so aus heiterem Himmel an, und du springst sofort wieder …“

„Jetzt geht das wieder los“, sagte Zac genervt.

„… um sie zu retten?“

„Sie kann sich an nichts erinnern – oder ist dir dieses kleine Detail gerade eben entgangen?“, fragte Zac seinen Bruder ziemlich verärgert.

Beau steckte seine Hände tief in die Taschen seiner Cargohose und entgegnete: „Es wäre mir völlig egal – und wenn sie Malaria hätte. Das ist doch nicht dein Problem. Sie hat jedes Recht verwirkt, dich um Hilfe zu bitten, als sie dich so kurz vor der Hochzeit einfach sitzenließ und es dir überlassen hat, alles abzusagen – nur falls du das schon vergessen hast.“

„Ich habe gar nichts vergessen! Wenn jemand etwas vergessen hat, dann sie“, erklärte Zac. „Sie kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie aus Summer Harbor weggegangen ist. Sie ist irgendwo auf dem Fliesenboden einer Damentoilette mit einer Beule am Kopf aufgewacht, und die letzten sieben Monate sind einfach weg.“

Beau sah ihn intensiv an, so als ob er versuchte, das alles irgendwie zusammenzubekommen.

Viel Glück – dachte Zac. Er selbst war dabei noch nicht einmal bis zum Brautkleid gekommen.

Beau ging jetzt zum Sofa und ließ sich gegenüber von Zac hineinfallen, stützte die Ellbogen auf die Knie und kniff wissend die Augen zusammen.

„Sie spielt doch irgendein Spiel mit dir, Zac“, meinte er schließlich.

„Das habe ich auch erst gedacht, glaub mir. Aber ich bin mit ihr im Krankenhaus gewesen, und sie hat wirklich eine schwere Gehirnerschütterung.“

„Woher weißt du denn sicher, dass sie den Gedächtnisverlust nicht nur vortäuscht?“, fragte Beau misstrauisch. „Ich weiß es einfach“, antwortete Zac.

„Komm schon, Zac, sei doch nicht so gutgläubig.“

Das tat jetzt richtig weh. Wütend starrte er Beau an und sagte dann: „Ich bin verdammt noch mal kein bisschen gutgläubig. Was willst du eigentlich? Den Arztbericht? Ich war doch selbst dabei, als der Arzt ihr die Amnesie bescheinigt hat.“

„Weil sie gesagt hat, dass sie sich an nichts erinnert? Komm schon, Zac. Du weißt, dass du eine Schwäche für sie hast. Nach all dem, was sie hier schon abgezogen hat, würde ich ihr so etwas auf jeden Fall zutrauen.“

„Du hast sie gestern Nacht nicht gesehen, hast nicht miterlebt, wie aufgewühlt und durcheinander sie war. Sie ist sogar ins Krankenhaus gegangen, und du weißt, wie schlimm das für sie ist. Wieso sollte sie lügen? Sie war es doch, die mich verlassen hat.“

„Vielleicht hat sie ja ihre Meinung geändert. Vielleicht ist das ein hinterhältiges Spiel mit deinen Gefühlen, damit du …“