Ich werde gesehen, also bin ich - Martin Altmeyer - E-Book

Ich werde gesehen, also bin ich E-Book

Martin Altmeyer

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Beschreibung

Im digitalen Zeitalter sind die Schaubühnen für Selbstdarstellung allgemein zugänglich geworden. Die Reservate des medialen Narzissmus, früher den Schönen, Reichen und Wichtigen vorbehalten, haben sich geöffnet. Heute kann jeder und jede sich öffentlich zeigen. Die Spiegel- und Echoräume der Medienwelt werden von immer mehr Menschen genutzt, um sich selbst mit dem eigenen Bild, den eigenen Gedanken und Gefühlen oder dem eigenen Werk einem interessierten Publikum zu präsentieren. Darauf verweisen die enorme Attraktivität von sozialen Netzwerken, der anhaltende Erfolg von interaktiven TV-Formaten oder auch die rasante Karriere des »Selfie«. Als universelles Kommunikationsmittel ist das Smartphone zum ständigen Begleiter des modernen Individuums geworden. Das Internet wird genutzt, um sich miteinander auszutauschen, aufeinander zu beziehen, voneinander abzugrenzen, gegeneinander in Stellung zu bringen – und nicht zuletzt, um Bestätigung, Anerkennung, Identität zu finden. Der Psychoanalytiker Martin Altmeyer untersucht, wie sich in der Mediengesellschaft mit der sozialen Lebenswelt auch das Seelenleben verändert. Und zwar aus der Sicht einer zeitgemäßen »Wissenschaft vom Unbewussten«, welche nicht mehr allein das Triebleben, wie noch zu Freuds Zeiten, sondern die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst und zur Welt aufzuklären versucht – einschließlich der dunklen Seiten der menschlichen Psyche.

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Herausgegeben von

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Martin Altmeyer

Ich werde gesehen, also bin ich

Psychoanalyse und die neuen Medien

Mit 5 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Angelus Novus, 1920/Heritage Images/Fine Art Images/akg-images

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-6401ISBN 978-3-647-99921-0

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Prolog

Kapitel 1: Unterwegs im Cyberspace. Wohin treibt die Internetgeneration?

1.1Die Welt am Abgrund: Endzeitstimmung in der gehobenen Modernekritik

1.2Im Griff des Todestriebs: Ein psychoanalytisches Kapitel im Schwarzbuch der Moderne

1.3Auf dem Boden der Wirklichkeit: Die heutige Jugend ist besser als ihr Ruf

1.4Identitätsspiele mit Kamera: Neue Formeln der Selbstvergewisserung

Kapitel 2: Die vernetzte Seele. Grundzüge einer modernen Psychoanalyse

2.1Vom Trieb zur Beziehung: Die Psyche als soziale Netzwerkerin

2.2Zwischen Innen und Außen: Die latente Scharnierfunktion des Unbewussten

2.3Im Spiegel des Anderen: Die intersubjektive Kehrseite des Narzissmus

2.4In ständiger Verbindung bleiben: Das Smartphone als Übergangsobjekt

Kapitel 3: Das exzentrische Selbst. Eine Zeitdiagnose der Gegenwartsmoderne

3.1Massenandrang auf gesellschaftliche Teilhabe: Die soziale Öffnung der Lebenswelt

3.2Aufbrechen des Charakterpanzers: Die zeittypische Lockerung des Seelenlebens

3.3Hoffen auf Umweltresonanz: Ein Wandel in der Beziehung von Selbst und Welt

3.4Morden im Rampenlicht: Über die öffentliche Inszenierung von Allmacht und Größenwahn

Nachwort

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.

Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internetbasierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Die neuen Informationstechnologien haben die Jahrtausendwende entscheidend geprägt: Interaktive Massenmedien verändern die Kommunikation unter den Menschen und revolutionieren den Zugang zu Wissen. Wer die Psychoanalyse als Medium der Aufklärung ansieht, darf nicht in das populistische Weltuntergangsgeheul einstimmen, das derzeit den intellektuellen Diskurs bestimmt, sondern muss Gefahren und Chancen dieser Entwicklung balanciert diskutieren und dabei wissenschaftliche Fakten von ideologisierten Angstszenarien trennen. Damit beginnt dieser Band. Zu oft wird das Zeitalter des Internet »als Epoche eines sozialen, kulturellen und seelischen Niedergangs« beschrieben. Doch während die neuen Technologien dämonisiert werden und »Big Data« als neuer Menschheitsfeind aufgebaut wird, nutzen jugendliche Adressaten ihre Möglichkeiten im Netz ohne Umschweife und zeigen, dass sie offenbar mehr Angst haben, übersehen als überwacht zu werden. »Big Brother ist eigentlich Big Mother …!« Beiträge der Psychoanalyse zur Psycho- und Soziopathologie der modernen Kommunikationsgesellschaft muten über weite Strecken besonders »schwarz« an und scheinen die apokalyptischen Phantasien noch zu beflügeln. Narzissmus, Persönlichkeitszerfall, Suchtmechanismen, Zwang zur Selbstoptimierung und Entfremdung zwischen den Generationen münden in eine völlig entsolidarisierte Gesellschaft. Doch wer bereit ist, auch wissenschaftliche Fakten zu berücksichtigen, kann zu dem Schluss kommen, dass die heutige Jugend besser als ihr Ruf ist. Es gibt einen Trend bei 12- bis 25-Jährigen, mehrheitlich zukunftsoptimistisch, abweichungstolerant, selbstkritisch, umweltbewusst und kosmopolitisch ausgerichtet zu sein. Soziale Medien werden aktiv und kritisch genutzt. Die Psychoanalyse kann auch nach der unbestreitbaren Attraktivität des Internets fragen oder die Themen des Neuen, Ungewohnten und Befremdlichen aufgreifen. Der Autor, der in diesem Diskurs seit Jahren erwiesenermaßen kundig ist, nennt die Formel: Ich werde gesehen – also bin ich. Diese entwicklungspsychologische Identitätsformel verdeutlicht: Nicht mehr Sexualität, sondern Identität stellt das seelische Hauptproblem der Gegenwart dar. Der Andere ist nicht bloß das Objekt des Begehrens, sondern auch ein Spiegel des Selbst. Diese Problematisierung des menschlichen Selbstverhältnisses hat auch vor der Psychoanalyse selbst nicht Halt gemacht. Ein Ausgangspunkt für ihre intersubjektive Wende? Im zweiten Kapitel beschreibt der Autor die moderne Psychoanalyse als Antwort auf eine Modernisierung der Gesellschaft. Dabei nimmt das Unbewusste eine Scharnierfunktion zwischen Innen- und Außenwelt ein: Aus dem triebhaften Unbewussten wird ein relationales Unbewusstes. Der Begriff des Narzissmus kann intersubjektiv neu formuliert werden. Könnte das Smartphone ein Übergangsobjekt sein? Im dritten Kapitel wird eine ambivalente Gegenwartsdiagnose angeboten. Vom Selbst ausgehend richtet sich das Bedürfnis nach Resonanz an die Welt »da draußen«, um von dort als Widerhall zum Selbst zurückzukehren. Doch auch Inszenierungen von Allmacht und Größenwahn können sich medial mit großem Echo verbreiten lassen. Die Medaille hat zwei Seiten. Virtuelle und »wirkliche« Realität sind keine Gegensätze. Beide zusammen gestalten unsere Lebensbedingungen. Hasskommentare und Humor, Darknet und öffentliche Breitenwirkung sind Ausdruck der Offenheit des Internets. Sollte nicht gerade die Psychotherapie darauf vertrauen, dass die »Internetgeneration sich die Lebenswelt der reflexiven Moderne auf ihre besondere Weise« aneignen wird? Ein kundiges und aufklärerisches Buch!

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Prolog

Im Jahr 1983 wurde das erste Mobiltelefon produziert, das fast ein Kilogramm wog. In Deutschland kam die erste E-Mail 1984 an, versandt aus den USA einen Tag zuvor. Im gleichen Jahr wurde das Kurznachrichtensystem SMS eingeführt. 1996 war das Geburtsjahr des handlicheren »Cellphones« oder »Handys«, das seit 1999, mit einer Kamerafunktion versehen, auch das Versenden von Bildern erlaubt. Das erste I-Phone kam 2007 auf den Markt, eine Kombination aus Computer und Handy, mit deren Hilfe man nicht nur telefonieren, Briefe und Nachrichten verschicken, sondern auch Fotos bearbeiten, Rechnungen bezahlen, Bestellungen aufgeben, Reisen buchen oder Wege finden konnte. Facebook, das erste soziale Netzwerk mit massenhafter Nutzung und zahlreichen Funktionen für Selbstdarstellung und Kommunikation, gibt es seit 2004. Das Internet befand sich also noch in den Kinderschuhen, als Umberto Eco (1987) in »Über Gott und die Welt« auf einen Generalbefund der gängigen Kulturkritik hinwies mit der ihm eigenen Ironie: »Es waren einmal die Massenmedien, sie waren böse« (S. 162).

Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Adorno (1963) bereits den Begriff der Massenmedien als »Ideologie der Kulturindustrie« gegeißelt, die ihr »Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde« übertrage, wie er im »Résumé über Kulturindustrie« befindet. Denn deren Kunde sei keineswegs »König, ihr Subjekt, sondern ihr Objekt« und der Geist, der den Massen »eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn«, der unter der Maske der Abwechslung, des Fortschritts, des Neuen für »unkritisches Einverständnis« werbe (S. 60 f.). Es war die Wiederholung eines noch älteren Verdachts, den Horkheimer und Adorno in ihrer »Dialektik der Aufklärung« (1947/1969) schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die kapitalistische Kulturindustrie erhoben hatten: Sie betrüge »ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht« (S. 125). Im Informationskapitalismus des 21. Jahrhunderts richtet sich der kulturkritische Generalverdacht gegen die großen Internetkonzerne, deren Nutzer nicht nur um die Versprechungen betrogen, sondern zudem noch manipuliert, ausspioniert und überwacht würden.

Wir werden sehen, ob die interaktiven Massenmedien wirklich böse sind oder ob es darauf ankommt, von welchen Menschen, zu welchen Zwecken und mit welchen Zielsetzungen sie genutzt werden. Wer beispielsweise Donald Trump nur als »Twitter-Präsidenten« attackiert und damit die sozialen Netzwerke für seinen Wahlsieg verantwortlich macht, sollte wissen, dass überraschende Wahlsiege in der jüngeren Geschichte der USA stets unter massivem Einsatz neuer Medien zustande kamen. Teddy Roosevelt gewann mithilfe des damals gerade zur Welt gekommenen Radios. John F. Kennedy nutzte die Möglichkeiten des noch jungen Fernsehens. Obama gewann nicht zuletzt deshalb, weil er zusammen mit seinem jungen Team erstmals das Internet und die neuen Medien professionell einsetzte und damit die Jugend begeisterte.

Die Psychoanalyse ist selbst ein Medium, und zwar ein Medium der Aufklärung gleich in dreifacher Hinsicht. Als Psychotherapiemethode dient sie der individuellen Selbstaufklärung in Gegenwart eines Anderen: Der Patient benutzt den Therapeuten als Mittel, um sich im Spiegel von dessen Deutungen selbst zu erkennen, einschließlich seiner verdrängten, verleugneten, abgespaltenen oder sonst irgendwie abgewehrten Selbstanteile. Als wissenschaftliche Persönlichkeitstheorie dient sie der kollektiven, wenn auch schmerzhaften Selbstaufklärung der Gattung: nach der kosmologischen Kränkung durch die kopernikanische Wende und der biologischen Kränkung durch die darwinistische Evolutionstheorie nun die psychologische Kränkung durch die Entdeckung des Unbewussten. Als angewandte Gesellschafts- und Kulturanalyse dient sie der zeitdiagnostischen Aufklärung der gegenwärtigen Lebenswelt: Mit ihrer Hilfe verständigen wir uns über Fragen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens.

Wir werden sehen, ob die Psychoanalyse diesem dreifachen Aufklärungsauftrag heute noch gewachsen ist oder ob angesichts der Veränderungen von Lebenswelt und Seelenleben in der digitalen Moderne die eigene Modernisierung ansteht, um zu verstehen, was in der inneren und äußeren Wirklichkeit vor sich geht. Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts! Das hat Hanns Eisler einmal gesagt, jener revolutionäre Komponist mit dem Faible für dialektische Wendungen, der mit Bertolt Brecht zusammen die »Dreigroschenoper« verfasste und mit Theodor W. Adorno zusammen »Komposition für den Film«. Was für die Musik gilt, gilt ebenso für die Psychoanalyse, die sich allzu lange in die hermetische Innenwelt ihrer Institutionen, in die Esoterik ihrer Theorien und in den Intimraum der klinischen Praxis eingesperrt hatte, bevor sie im Zuge ihrer intersubjektiven Wende den Anderen und damit die Welt »da draußen« wiederzuentdecken beginnt.

Inzwischen wissen wir, dass das Virtuelle keineswegs der Gegensatz zum Realen ist, sondern seinerseits »durch und durch real«, wie Alessandra Lemma und Luigi Caparotta (2016) in »Psychoanalyse im Cyberspace« schreiben (S. 28). In ihrem lesenswerten Sammelband begegnen die Autorinnen und Autoren ihrem Gegenstand vor allem empirisch und ohne die professionstypische Voreingenommenheit. Sind nicht auch Wünsche und Phantasien, Empfindungen und Gefühle, Hoffnungen und Erwartungen, Träume und Tagträume im strengen Sinne virtueller Natur, während sie zugleich der realen Welt angehören, wenn auch einer subjektiven? Der Cyberspace ist ein Möglichkeitsraum, der eben nicht nur der Flucht aus der Realität dient, sondern zugleich ein Teil von ihr ist.

Im digitalen Zeitalter wird die Polarisierung von realer und virtueller Welt obsolet. Der psychoanalytische Dualismus von Innen und Außen, von Selbst und Anderem, von Trieb und Gesellschaft gehört zum cartesianischen Erbe von Freud. Er hat sich überlebt und wird in der modernen Psychoanalyse von einem Denken in Vermittlungen, Interaktionen und Relationen abgelöst. Um menschliche Verhaltensweisen, Gefühlsdynamiken und Beziehungsstörungen in ihrer Vielfalt zu verstehen, so Peter Fonagy in seinem klugen Vorwort zu Lemma und Caparotta (2016), haben sich sowohl das klassische Triebmodell als auch das postfreudianische Bindungsmodell als unterkomplex erwiesen. Um unsere gattungsgeschichtlich wie soziobiologisch angelegte Hinwendung zu anderen Menschen zu begreifen, braucht man ein komplexeres Kommunikationsmodell: Wir kommunizieren miteinander, um »etwas über das eigene Selbst zu erfahren« und »über die Beschaffenheit der Welt« (S. 10 f.). Deshalb sind Menschen »anfällig für das, was das Internet anzubieten hat: nämlich Aufmerksamkeit für die einzelne Person«. Angesichts dieser Anfälligkeit für die zeitgenössischen Medienangebote darf »Paranoia nicht die Antwort sein« (S. 15).

Um bessere Antworten auf die Komplexität der medialisierten Lebenswelt zu finden, müssen wir genau hinschauen, bevor wir werten oder gar abwerten; sorgfältig protokollieren, bevor wir interpretieren oder gar »wilde Deutungen« abgeben; hinreichend gut verstehen, bevor wir urteilen oder gar verurteilen.