#IchBinHanna - Amrei Bahr - E-Book

#IchBinHanna E-Book

Amrei Bahr

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit 2007 prekarisiert das Wissenschaftszeitvertragsgesetz Arbeitsbedingungen und Berufsaussichten des akademischen Mittelbaus: Das Gros der Wissenschaftler:innen hangelt sich von einem befristeten Job zum nächsten, und wer nach zwölf Jahren keine feste Stelle hat, fällt endgültig aus dem System heraus.

Als 2021 ein Video des Forschungsministeriums in den Fokus gerät, in dem am Beispiel der fiktiven Biologin »Hanna« die vermeintlichen Vorzüge des Gesetzes gepriesen werden, lancieren Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon den Hashtag #IchBinHanna. Binnen weniger Stunden machen zahllose Wissenschaftler:innen ihrem Ärger Luft. Sie schildern die Auswirkungen der Prekarität auf ihr Leben, berichten von Überlastung und Depressionen. Die Medien greifen das Thema auf, und »Hanna« schafft es wenig später sogar in den Bundestag.

In ihrer Streitschrift legen die Initiator:innen dar, welche Folgen das »WissZeitVG« für Forschende und Studierende, aber auch für den Wissenschaftsstandort Deutschland und unsere Gesellschaft insgesamt hat. Sie resümieren die Erfahrungsberichte unter #IchBinHanna und präsentieren ihre Forderungen für bessere Arbeitsbedingungen in Forschung und Lehre.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 139

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

3Amrei Bahr/Kristin Eichhorn/Sebastian Kubon

#IchBinHanna

Prekäre Wissenschaft in Deutschland

Suhrkamp

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Zur Gewährleistung der Zitierfähigkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

Erste Auflage 2022edition suhrkampSonderdruckOriginalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werksfür Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus

Umschlagillustration: Sylvia Wolf Illustrationen

eISBN 978-3-518-77295-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung – oder: Wer ist Hanna?

Erste Reaktionen auf #IchBinHanna

Prekarisierung als gesamtgesellschaftlicher Trend

1. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und Konkurrenz in der Wissenschaft aus historischer Perspektive – oder: Wie kam es zur gegenwärtigen Situation?

Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Die Entwicklung der gesetzlichen Befristungsregelungen und ihre Diskussion

Die zwei Leitdogmen der wissenschaftlichen Personalpolitik

Personelle Fluktuation als Hemmnis für die Wissenschaft

Konkurrenz als Prinzip: Die Vergabe von Mitteln im Wettbewerb unter den Bedingungen des New Public Management

2. Probleme des aktuellen deutschen Wissenschaftssystems für seine Beschäftigten und die Wissenschaft als Ganzes

Individuelle Folgen

Folgen für Wissenschaft und Studium

3. #QuoVadisHanna? Lösungsvorschläge und Reformansätze

Anmerkungen

Anmerkungen zum Vorwort

Anmerkungen zur Einleitung

Anmerkungen zu Kapitel 1

Anmerkungen zu Kapitel 2

Anmerkungen zu Kapitel 3

Informationen zum Buch

3

5

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

7Vorwort

In diesem Tweet vom 10. Juni 2021 wurde zum ersten Mal der Hashtag #IchBinHanna (noch in der nicht barrierefreien Version) genutzt. Dass er zur Blaupause für viele #IchBinHanna-Tweets werden würde, war an diesem Donnerstag, wenn überhaupt, höchstens eine kühne Hoffnung. Zum Ausdruck kam in dieser Anklage vielmehr vor allem der persönliche, spontane und tiefe Ärger über die sich im Hanna-Video ausdrückende Ge8ringschätzung, mit der hochmotivierte und kreative Wissenschaftler*innen als »Verstopfung« und somit als Verschleißmaterial bezeichnet werden. Aber auch darüber, dass man offensichtlich glaubte, mit einem derart ungeschickten Video sogar noch Zustimmung zu diesem Regime einwerben zu können. Es ging bei diesem ersten Tweet bzw. unseren ersten Tweets darum zu zeigen, dass unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das von entfristeten Beamt*innen und konservativen Wissenschaftspolitiker*innen verteidigt, ja sogar gerühmt wird, nicht nur die Wissenschaft an sich leidet, sondern eine Vielzahl individueller Wissenschaftler*innen, konkrete Menschen (und deren Angehörige), deren Lebensläufe davon zutiefst beeinträchtigt werden.

Es hat uns positiv überrascht, dass sich so viele Kolleg*innen – davon viele unter Klarnamen – beteiligt haben. Das zeigt aber zugleich, dass die Prekarisierung der Wissenschaft so weit vorangeschritten ist, dass die Strukturen inzwischen für viele Menschen unerträglich geworden sind. Abgesehen davon, dass faire Arbeitsbedingungen gerade für staatliche Arbeitgeber einen Wert an sich darstellen sollten, zeigte sich, dass viele Betroffene in der Wissenschaft überhaupt keinen Zusammenhang mehr erkennen können zwischen Leistung, Engagement und Erfolg auf der einen Seite sowie Karrieremöglichkeiten oder zumindest einer halbwegs planbaren Perspektive auf der anderen. Die Hochschulen scheinen sich in einen Bereich verwandelt zu haben, in dem akademische Meriten für ein Fortkommen nicht länger hinreichend sind.

9Wir, die Urheber*innen des Hashtags, haben uns über Twitter durch die Vorläuferaktion #95vsWissZeitVG kennengelernt. Dabei wurden am Reformationstag 2020 spontane Unmutsäußerungen über die verwahrloste Arbeitskultur im Wissenschaftssystem kanalisiert und in 95 Thesen gegen das WissZeitVG gegossen.1 Während wir dieses Buch gemeinsam verfassen, haben wir drei uns – nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie – noch nie in Realpräsenz getroffen, sondern stehen ausschließlich per Twitter-Chat, Zoom und E-Mail in Kontakt. Die Plattform Twitter erwies sich dabei als sehr gut geeignet, um die Grassroots-Bewegung #IchBinHanna zu initiieren, viel beschäftigte Arbeitnehmer*innen des akademischen Prekariats zu vernetzen und Missstände öffentlichkeitswirksam anzuprangern.

Dabei sind wir alle drei auch strukturell Hannas. Wir kritisieren das System nicht aus einer gesicherten Position heraus und auch nicht als Inhaber*innen entsprechender Ämter (professorale Solidarität kommt gleichwohl durchaus vor und ist gewünscht). Niemand von uns hat bislang je eine entfristete Stelle gehabt. Die Arbeit für #IchBinHanna ist ein aufwendiges, in aller Regel gänzlich unbezahltes freiwilliges Engagement, das häufig zwischen 4:30 und 8:30 Uhr stattfindet, wenn in diesen pandemischen Zeiten mal wieder der Kindergarten geschlossen ist. Es tritt zu unseren beruflichen Tätigkeiten hinzu, die den unter #IchBinHanna kritisierten Logiken unterliegen. Außerdem ist der Einsatz gegen prekäre Arbeit keine leichte Aufgabe, muss man die Probleme des Wissenschaftsbetriebs doch selbst gegenüber denjenigen immer wieder beschreiben und erklä10ren, denen sie im Kern seit Jahren bekannt sein sollten.

Es gibt allerdings auch Dinge, die Hoffnung machen: Letztlich führte ein Tweet an einem Juni-Morgen zur Entstehung eines Netzwerks, das die Politik so in Bewegung gebracht hat, dass wesentliche Forderungen von #IchBinHanna sogar im Koalitionsauftrag der neuen rot-grün-gelben Bundesregierung auftauchen. Auch das Berliner Hochschulgesetz (was immer man im Detail davon halten mag) hat den Automatismus, wonach Wissenschaftler*innen persönlich die Risiken ihrer befristeten Anstellung tragen, unterbrochen und die Hochschulleitungen gezwungen, sich über eine vernünftige Personalentwicklung ernsthaft Gedanken zu machen. Natürlich bleibt abzuwarten, welche konkreten Entwicklungen folgen. Erkennbar ist jedoch, dass Wissenschaftspolitik, die bislang eher ein Nischenthema für wenige Abgeordnete auf Bundes- und Landesebene darstellte, nun als attraktives Arbeits- und Gestaltungsfeld für Politiker*innen gesehen wird, als zentrale Aufgabe von Politik und Gesellschaft, von der die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend mit abhängt. Die Zeit ist reif für Experimente und visionäre Umbauten im Wissenschaftssystem. Das gilt auch für die Leitungen der Hochschulen und der öffentlichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen (AUFs) wie den Max-Planck-Instituten (MPIs) oder den Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft. Wer jetzt mutig gestaltet, die*der kann sich als neuer Humboldt in die deutsche Wissenschaftsgeschichte einschreiben – gegen den Kleinmut derjenigen, die nicht sehen, welche Chancen die gegenwärtige 11Situation nicht nur für die prekär beschäftigten Wissenschaftler*innen, sondern für die Wissenschaft als Ganzes bietet. Dazu freilich braucht es den Willen und die Befähigung, über bestehende Strukturen hinauszudenken, statt nur punktuell innerhalb des Systems zu reformieren. Wer die Wissenschaft entfesseln will, wie es im gegenwärtigen bayerischen Entwurf für ein Hochschulinnovationsgesetz unter Rückgriff auf frühere Formulierungen heißt, die*der sollte den befristeten Wissenschaftler*innen ein Mehr an Sicherheit und Perspektiven bieten. Die zu erwartende wissenschaftliche Dividende dürfte enorm sein. Nicht zuletzt wird Wissenschaft dann auch wieder ein attraktiver Beruf.

Wir danken allen Personen, befristet und unbefristet, die sich auf Twitter und in der realen Welt für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit eine faire und zukunftsfähige Wissenschaft einsetzen. Dank auch den Kolleg*innen, die dem Abdruck ihrer Tweets zugestimmt haben, sowie Heinrich Geiselberger für das engagierte Lektorat. Durch den Folgehashtag #IchBinReyhan wurde der Blick mittlerweile auch darauf gerichtet, dass Wissenschaftler*innen aus marginalisierten Gruppen mit weiteren und besonderen Problemen konfrontiert sind. Diese Probleme müssen an anderer Stelle von dafür berufenen Personen ausführlicher behandelt werden, als wir das hier tun können. Dennoch: Den Hannas und Reyhans in der Wissenschaft, denen, die es einmal waren, und denen, die es zukünftig gar nicht erst werden sollten, weil alle Wissenschaftler*innen bessere Bedingungen verdienen, sei dieses Buch gewidmet.

12Einleitung – oder: Wer ist Hanna?

Wer ist eigentlich Hanna? Diese Frage wurde uns in den letzten Monaten häufig gestellt, nachdem es uns im Juni 2021 gelang, den Hashtag #IchBinHanna zu etablieren und zeitweise zur Nummer eins in den deutschen Twitter-Trends zu machen. Mehr als 134 ‌000 Tweets sind inzwischen zusammengekommen, in denen Personen, die in der Wissenschaft arbeiten oder gearbeitet haben, über ihre prekäre Situation berichten und Dauerbefristung sowie Missstände aller Art anprangern. Wie kam es dazu?

Schaubild 1: Aufkommen von Tweets (in tausend) mit dem Hashtag #IchBinHanna im Zeitverlauf; die Grafik wurde vom #IchBinHanna Research Collective erstellt.1

13Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz regelt in Deutschland seit 2007 die Befristungsmöglichkeiten von Arbeitsverhältnissen in der Wissenschaft.2 Das Besondere: Wissenschaftliche Institutionen verfügen damit über ein großzügiges Sonderbefristungsrecht, das weit über die Befristungsobergrenzen in anderen Branchen hinausgeht, wo nur das Teilzeit- und Befristungsgesetz einschlägig ist, das in der Regel eine Entfristung nach maximal zwei Jahren vorsieht.3 Zum Zwecke der Qualifikation darf wissenschaftliches Personal in Deutschland maximal sechs Jahre bis zur Promotion und sechs Jahre danach (hier eigentlich mit dem Ziel der Habilitation oder äquivalenter Leistungen, die für eine Professur qualifizieren) befristet beschäftigt werden – nicht eingerechnet diverse Sonderbestimmungen, die die Befristungsdauer verlängern können (insbesondere die mögliche Anrechnung von Kinderbetreuungszeiten und die sogenannte »Corona-Verlängerung«).

Diese Rechtslage, auf deren Fußangeln wir im Folgenden detaillierter eingehen werden, führt unterhalb der Professur als fast einzigem unbefristetem Beschäftigungsverhältnis in der Wissenschaft zu Befristungsquoten, die die Verhältnisse im Vergleich zum restlichen Arbeitsmarkt, wo die Quote 2019 bei gerade einmal 7,4 Prozent lag,4 regelrecht umkehren. Ist dort die unbefristete Stelle tatsächlich der Normalfall (auch das Bundesarbeitsgericht hat ein Normalarbeitsverhältnis in Deutschland als unbefristet definiert5), haben in der Wissenschaft 92 Prozent aller Personen unter 45 Jahren ohne Professur nur Zeitverträge6 – mit entsprechenden Folgen für die Planbarkeit von Karriere, Familie und 14Lebensmittelpunkt. Aufgrund dieser unhaltbaren Zustände steht das WissZeitVG bereits seit seiner Einführung in der Kritik; eine Novelle von 2015/16 hat daran wenig geändert. Gegenwärtig wird das Gesetz evaluiert. Diese Evaluation hätte laut § 8 der Novelle bereits im Jahr 2020 erfolgen sollen, wurde jedoch von der letzten Bundesregierung verschleppt. Mit den Ergebnissen ist laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) frühestens im Frühjahr 2022 zu rechnen.

Entsprechend groß ist der Frust unter den wissenschaftlich Beschäftigten. Seit Jahren gibt es praktisch keine Konferenz und kaum gemeinsame Mittagessen in der Mensa, bei denen sich der Unmut über die Lage nicht in der einen oder anderen Form Bahn bricht. Da Personen auf befristeten Verträgen aber immer vom Wohlwollen ihrer Vorgesetzten abhängen und um die nächste Verlängerung bangen, war die Bereitschaft, sich öffentlich zu diesen Themen zu äußern oder sich (gewerkschaftlich) zu organisieren, lange Zeit sehr gering. Zu groß war aus Sicht der Betroffenen das Risiko, durch einen eigenen Fehler die wissenschaftliche Karriere zu ruinieren – und entsprechend hoch die Bereitschaft zur Anpassung und zum Verschweigen von Kritik.

Das hat sich in den letzten Jahren nicht zuletzt dank der Sozialen Medien geändert. Insbesondere auf Twitter äußern sich Personen aus der Wissenschaft und bilden eine immer weiter wachsende Community, die eine echte Vernetzung zwischen Einzelpersonen ermöglicht. Außerdem wird so deutlich, dass die vom Individuum erfahrenen Probleme oft kein eigenes Versagen – und schon gar kein Einzelfall – sind, sondern systembe15dingt. Eine erste größere Twitter-Welle gab es Ende 2018 unter dem Hashtag #unbezahlt, mit dem all die Arbeitsvorgänge sichtbar gemacht werden sollten, die in der Wissenschaft selbstverständlich erledigt werden, ohne dass dafür eine Entlohnung erfolgt: von unsichtbaren Überstunden über unentgeltliche Lehre bis hin zu Vortragsreisen und Publikationen, für die die Kosten aus eigener Tasche finanziert werden, obwohl sie klar zu den Dienstaufgaben gehören.7 Auch die #FrististFrust-Kampagne der Gewerkschaften GEW und Verdi sowie des »Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft« (NGAWiss) führte zu einigem Protest auf Twitter.8

Entscheidend war aber die Entwicklung ab Oktober 2020. Befeuert durch die mit der Corona-Krise verbundene Mehrbelastung und die Verschiebung des gesamten sozialen Austausches in digitale Formate, war die Zeit reif für die Aktion #95vsWissZeitVG, in der wir – Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon – erstmalig zusammengefunden haben. In Anspielung auf den Reformationstag sammelten hier mehrere hundert Wissenschaftler*innen über einige Tage Thesen gegen das WissZeitVG, die wir schließlich einen Monat später zunächst als Blog sowie im Jahr darauf auch als Buch veröffentlicht haben.9 Noch während die Aktion lief, pries das BMBF mit der Formulierung »a certain degree of flexibility« auf seiner englischsprachigen Homepage das WissZeitVG für die Flexibilität, die es den Hochschulen in der Personalpolitik biete.10 Der entsprechende Tweet des Ministeriums löste unter dem Hashtag #ACertainDegreeOfFlexibility erneut Aufruhr aus, der 16so groß war, dass anschließend eine Tagung unter diesem Titel stattfand.11

Somit war der Boden bereitet für den Aufschrei, der schließlich im Juni 2021 unter #IchBinHanna losbrach. Hanna ist eine fiktive an ihrer Doktorarbeit sitzende Biologin auf einem Dreijahresvertrag. Anhand dieser Figur wollte das BMBF 2018 das WissZeitVG und seine Anwendung erklären.12 Das Video, das bis 2021 praktisch unbemerkt auf der Website des Ministeriums gestanden hatte, bevor es entdeckt und zum Skandal wurde, machte sich allerdings dadurch angreifbar, dass es Befristung zur Grundvoraussetzung funktionierender Wissenschaft erklärt. Das WissZeitVG, so heißt es im Video, solle sicherstellen, »dass nicht eine Generation alle Stellen verstopft«; vielmehr solle Fluktuation geschaffen werden, welche wiederum »die Innovationskraft« fördere. Diese inhaltlich höchst fragwürdige und gegenüber den wissenschaftlich Beschäftigten alles andere als wertschätzende Rhetorik – kennt sie doch Menschen nur als austauschbares Material, das möglichst schnell durch das System Wissenschaft gespült werden muss – nahmen wir zum Anlass, auf die individuellen Schicksale hinzuweisen, um die es hier tatsächlich geht. Unter #IchBinHanna haben Tausende Wissenschaftler*innen der Trickfigur Hanna ein reales Gesicht (bzw. sehr viele Gesichter) gegeben – so viele wie noch nie und die meisten mit auffindbaren Klarnamen (beispielhafte Tweets sind in Kapitel 2 abgedruckt).

17Erste Reaktionen auf #IchBinHanna

Schon am 13. Juni 2021 (bezeichnenderweise einem Sonntag) sah sich das BMBF gezwungen, mit einer online veröffentlichten Pressemitteilung auf den seit dem 10. Juni 2021 tobenden Twitter-Sturm zu reagieren. Die Antwort auf die unter #IchBinHanna vorgetragene Kritik war jedoch bestenfalls unbeholfen und ließ jede Bereitschaft zu einer echten Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fehlentwicklungen vermissen. In einem paternalistischen Duktus brachte man zum Ausdruck, dass man das Problem vorrangig als Kommunikationsdefizit verstand, also glaubte, man müsse das Gesetz nur noch einmal besser erklären, dann würden auch die Betroffenen die Vorteile der katastrophalen Arbeitsbedingungen erkennen. So hieß es wörtlich: »Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) wird kritisiert, weil sich [sic] vor allem jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund von Befristung keine Planungssicherheit haben. Was dabei vergessen wird: Das Gesetz hat seinen Sinn.«13 Dabei operiert der Text mit zwei einander widersprechenden Argumenten: Einerseits seien die kritisierten Arbeitsbedingungen für die Wissenschaft unabdingbar; andererseits setze man sich durchaus für mehr Dauerstellen ein.14 Mit der anonymen Ansprache von oben herab und den vielen argumentativen Widersprüchen verfehlte die Stellungnahme das vom Ministerium verfolgte Ziel – Beschwichtigung – deutlich. Vielmehr wurde sie von den Betroffenen als weitere Provokation wahrgenommen. Der Twitter-Sturm erhob sich erneut.

18Tags darauf wurde das Hanna-Video von der Seite des BMBF entfernt. Es ist aber natürlich im Netz archiviert, und man wird vermuten dürfen, dass gerade das Herunternehmen die Klickzahlen weiter nach oben getrieben hat. Die Presseabteilung des Ministeriums hatte offenbar den Streisand-Effekt nicht einkalkuliert.15 Die Proteste in den Sozialen Medien wurden folglich immer lauter. Somit sah sich Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas genau eine Woche nach dem ersten Tweet gezwungen, per Videobotschaft die »lieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler« zu adressieren.16