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Dania Dicken

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Beschreibung

Einige Jahre nach ihrer Entführung durch den Campus Rapist von Norwich ist Andrea mit ihrer Familie nach East Anglia zurückgekehrt, um für die Polizei als Profilerin zu arbeiten. Die Vergangenheit scheint vergessen, bis der Leichnam einer Studentin in den Sümpfen gefunden wird.
Kollege Christopher traut sich fast nicht, Andrea den Fall vorzustellen, denn die Todesumstände der jungen Frau ähneln denen der Campus Rapist-Opfer bis ins Detail. Dafür gibt es nur eine schlüssige Erklärung: Er hatte einen Mitwisser. Doch für Andrea ist klar, dass sie den Fall übernimmt, denn keiner kannte den Rapist so gut wie sie ...
Neuauflage des unter dem Titel "Damit du nie vergisst" veröffentlichten Thrillers von be.thrilled (2016)

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Prolog
OVERKILL
University of East Anglia, Dienstag
Norwich, Wohngebiet
Norfolk Constabulary, Freitag
Norwich, Stadtrand
SAMANTHA
Norwich, Dienstag
Norwich, Mittwoch
Norwich, Stadtzentrum
Norwich, Mittwoch
Wenige Tage zuvor
Norwich, Mittwoch
Norwich, Donnerstag
IM VISIER
Norwich
Norwich, Freitag
Norwich, Samstag
Norwich, Montag
University of East Anglia, Dienstag
Norwich, ein Jahr zuvor
BECCA
Norwich, Freitag
Norwich, Samstag
Norwich, Sonntag
Norwich, zur gleichen Zeit
FLASHBACK
Norwich, Montag
Norwich, Dienstag
Norwich, fünf Jahre zuvor
Norwich, Mittwoch
Norwich, fünf Jahre zuvor
INS VERDERBEN
Norwich, Donnerstag
Norwich, Freitag
Norwich, Samstag
Norwich, Sonntag
Norwich, zwei Tage zuvor
Norwich, Sonntag
Epilog
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Ihre innersten Dämonen

 

Profiler- Reihe 3

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Neuauflage 2023

 

Zuerst erschienen unter dem Titel „Damit du nie vergisst“ bei be.thrilled, Köln (2016)

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür,

dass der Wunsch zu töten sehr oft mit dem Wunsch,

selber zu sterben oder sich zu vernichten, zusammenfällt.

 

Albert Camus

Prolog

 

Du siehst, wie er den Kellerraum betritt. Gleich ist es so weit. Endlich. Wie gebannt sitzt du da und siehst zu. Beobachtest, wie er sich auf die Bettkante setzt, mit ihr spricht. Sie sieht ihn an.Fürchtet sich. Zwar hält sie sich erstaunlich tapfer, aber du weißt genau, was sie fürchtet.

Und es wird passieren.

„Hast du Angst?“, fragt er sie. Mit geweiteten Augen blickt sie zu ihm auf und nickt schließlich. Mehr bleibt ihr geknebelt auch nicht übrig.

„Das ist gut“, sagte er. „Weißt du, das macht es perfekt. Du bist einfach perfekt, kleine Andrea.“

Sie schließt die Augen, wimmernd. Dein Herz pocht, als du siehst, wie er sie anfasst. Du würdest alles dafür geben, dabei sein zu können. Seine Hand gleitet von ihrem Oberkörper bis in ihren Schoß und sie kann nichts dagegen tun. Gefesselt und splitternackt liegt sie da, starrt ihn an. Sie weint. An ihren schnellen Atemzügen und dem Ausdruck in ihren Augen liest du ihre Angst ab. Das fühlt sich gut an. Es ist richtig, dass sie Angst hat.

Dann hält er inne. Jetzt ist es so weit.

„Nein, ich glaube, so mache ich es jetzt nicht. Ich will, dass du vor mir kniest“, sagt er.

Erneut bricht sie in Tränen aus und zappelt, gerät in Panik. Will schreien, kann aber nicht. Er lässt sie nicht. Sie zappelt und schluchzt, aber er schlägt sie. Danach bindet er sie los. Sie versucht, sich zu wehren, doch ihre Gliedmaßen gehorchen ihr nicht. Außerdem kommt sie niemals gegen ihn an.

Er drückt sie vor dem Bett auf den Boden. Ihre Hände sind immer noch gefesselt; sie verharrt reglos, weinend. Dich ergreift eine ekstatische Freude, als du das siehst.

„Warum stellst du dich denn so an?“, fragt er. „Dein Freund hat das doch auch getan. Genau so, nicht wahr?“

Er packt sie an den Haaren, was dem Ganzen einen animalischen Ausdruck verleiht. Komm, tu es. Besorg es ihr, so wie sie es noch nie hatte.

Sie weint, wischt sich mit den zitternden, gefesselten Händen die Tränen ab. Armes Mädchen.

Er löst seinen Gürtel mit der einen Hand und berührt sie mit der anderen. Ja, komm schon. Tu es.

Geräusche. Erst klingt es wie ein Rascheln, aber dann begreifst du, dass es Schritte sind. Du siehst zwei Gestalten, eine davon in Uniform. Die andere ...

Das kann nicht sein. Polizei?

Dann geht plötzlich alles sehr schnell. Jon rammt dem ersten Polizisten das Messer tief in die Brust. Ein zweiter, bewaffneter Polizist erscheint in der Tür, gefolgt von ...

Das kann nicht sein. Er sagte doch, ihr Freund sei tot!

Aber das ist er nicht. Er ist sehr lebendig, wenn auch mit einem Verband am Kopf.

Nein. Das darf nicht wahr sein. Wie kommt er dorthin? Mit der Polizei ...

Ein Schuss löst sich. Er geht ins Leere und Jon nutzt die Chance, auch den zweiten Polizisten mit dem Messer zu attackieren. Dann starrt er ihren Freund an, bleibt jedoch ruhig. „Du bist doch tot.“

„Du bist nicht nur krank, sondern auch dumm“, erwidert ihr Freund.

Dein Herz rast und dir ist heiß, als du beobachtest, wie Jon ihn mit dem Messer angreift. Ihr Freund prallt mit dem Kopf gegen die Wand und geht halb ohnmächtig zu Boden.

In Windeseile schließt Jon die Tür, hat die Situation wieder unter Kontrolle. Dein Puls beruhigt sich langsam.

Jetzt könnte es sogar noch besser werden.

Draußen hämmert die Polizei an die Tür, aber sie kann nicht eingreifen.

Es nicht verhindern.

Jon lacht. Ein Lächeln schleicht sich auf deine Lippen, als er das tut.

„Du willst uns also Gesellschaft leisten?“, sagt Jon. Ihr nun folgendes ängstliches Wimmern bereitet dir eine geradezu ekstatische Freude.

„Bist du wach? Komm schon, das willst du bestimmt sehen“, sagt Jon zu ihrem Freund, der immer noch dasitzt und sich nicht rührt.

Das wird ein Fest. Eine Orgie.

Du siehst zu, wie Jon sich über sie beugt, sie würgt. Aber ihr Freund ist noch da, er ist noch wach. Als du mitansehen musst, wie er sich am Türgriff hochzieht, willst du schreien. Dann siehst du die Schusswaffe in seiner Hand und schreist wirklich.

Ein Knall. Du zuckst zusammen.

Ungläubig verfolgst du, wie Jon schwer zur Seite sackt. Tot. Mit einem Loch im Kopf.

Du schreist. Du brüllst geradezu. Du starrst auf die Szene, ohne noch etwas wahrzunehmen. Du siehst nur ihn, wie er daliegt.

Tot.

In dir fühlt sich alles genauso an. Das kann nicht wahr sein. Das ist unmöglich. Es war doch alles perfekt geplant. Es sollte jetzt so weit sein.

„Das würde ich dir nicht raten“, sagt ihr Freund, der die Waffe noch immer in der Hand hält. Die Waffe, die Jon den Tod gebracht hat.

Fast fegst du deine Tasse vom Tisch. Dann erst wird dir klar, dass sie dich kriegen, wenn du die Übertragung nicht sofort unterbrichst. Impulsiv ziehst du den Stecker aus der Buchse und sinkst zitternd zurück auf deinen Stuhl. Keuchend starrst du auf den Bildschirm und das Standbild, das darauf eingefangen ist. Andrea in den Armen ihres Freundes.

Das werden sie bereuen.

Dann verlierst du die Beherrschung.

OVERKILL

University of East Anglia, Dienstag

 

Ihre Hände waren nicht nur eiskalt, sondern auch schweißnass. Nervös wischte Andrea sie an ihrer Jeans ab und atmete tief durch. Sonores Murmeln erfüllte die Luft des Hörsaals, die ihr in diesem Augenblick stickig vorkam, ohne es zu sein.

Dann hob sie den Blick.

Die meisten Plätze waren bereits besetzt. Über einhundert Studenten waren schon anwesend, durch die Tür stießen noch weitere dazu. Andrea schluckte. Niemals hätte sie mit einem solchen Andrang zu ihrer allerersten Vorlesung gerechnet. Nicht einmal mit der Hälfte. Sie hatte unterschätzt, wie attraktiv die Disziplin des Profiling in Zeiten von Fernsehserien wie CSI auf junge Menschen wirkte.

Erneut atmete sie tief durch und versuchte, sich an den Anblick der vielen Studenten zu gewöhnen. Manche waren nicht viel jünger als sie. Zwei Mädchen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Andrea versuchte, es zu ignorieren. Schlimm genug, dass das ihre erste Vorlesung war, doch sie war nicht einfach nur eine aufgeregte junge Dozentin, die gleich ihre Feuerprobe durchstehen würde. Es war viel mehr als das.

Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es Zeit war, anzufangen. Sie schaltete das Mikrofon ein und öffnete die Präsentation auf ihrem Laptop. Das Tuscheln der Studenten wurde leiser.

„Ich freue mich, Sie alle hier begrüßen zu dürfen“, begann sie mit erstaunlich fester Stimme. „Mein Name ist Andrea Thornton. Wenn Sie hier sind, um die Einführungsveranstaltung der Vorlesung Psychologische Grundlagen des kriminalistischen Profiling zu hören, sind Sie hier richtig.“

Einige der Köpfe nickten. In den meisten Gesichtern las Andrea Interesse und Neugier, was ihrer Motivation einen ordentlichen Schub verlieh. Allmählich legte sich ihre Nervosität.

„Diese Vorlesung findet nun zum allerersten Mal statt, wie Sie vielleicht wissen. Bislang gab es nicht die Möglichkeit, die speziellen Fertigkeiten, die ein psychologischer Profiler benötigt, an der University of East Anglia zu erlernen. Ich selbst habe dieses Wissen im Profiling-Seminar von Dr. Joshua Carter in London erworben, während ich hier meinen Master in Psychologie abgeschlossen habe. Entsprechend bin ich ein ähnlicher Pionier wie Sie.“

Einige der Studenten lachten, was Andrea ein Gefühl der Sicherheit gab. Sie würde das schaffen. Sie würde die Vorlesung erfolgreich halten, ohne dass jemand einschlief – und sie würde kein Thema und keine Frage auslassen.

„Nach Abschluss meiner Fortbildung habe ich in London als Profilerin gearbeitet, bis ich Anfang des Jahres wieder nach Norwich zurückgekehrt bin, um die hiesige Polizei als Polizeipsychologin und Profilerin zu unterstützen. Das nur als kurze Einführung zu meiner Person, bevor wir uns nun dem eigentlichen Thema widmen.“

Andrea öffnete die nächste Seite ihrer Präsentation. „Vermutlich wissen Sie bereits, dass das US-amerikanische FBI Pionierarbeit auf dem Gebiet der psychologischen Fallanalyse geleistet hat. Seinen wirklichen Anfang nahm das Profiling bereits in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als der Psychiater James Brussel versucht hat, dem Mad Bomber von New York auf die Spur zu kommen. Er charakterisierte den Mad Bomber als einen unverheirateten Einzelgänger, der es nie geschafft hat, sich von seiner Mutterfigur zu lösen und vermutlich bei seiner Verhaftung einen zweireihigen Anzug mit zugeknöpftem Jackett tragen würde. Sie können sich denken, was los war, als vier Wochen später George Metesky gefasst wurde – ein unverheirateter Mann, der bei seinen Schwestern lebte und tatsächlich die von Brussel beschriebene Kleidung trug. Seither haftet dem Profiling ein Ruf der Zauberei an, der natürlich Unfug ist.“

Es war mucksmäuschenstill, als Andrea die folgende Folie aufrief. „Von Zauberei ist die operative Fallanalyse weit entfernt. Studien, Statistiken und Falldaten stützen die Profile, die wir erstellen. Die Merkmale, die für wir einen zu ermittelnden Täter annehmen, treffen jeweils mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu. Wichtig ist, nur gesicherte Daten zu berücksichtigen - Befunde vom Tatort, dem Fundort, aus der Obduktion. Die Profilerstellung wird natürlich ungleich schwieriger, wenn etwa der Tatort gar nicht bekannt ist oder aufgrund eines zu starken Verwesungszustands keine Obduktion mehr durchgeführt werden kann.“

Die nächste Seite der Präsentation zeigte die Fotos zweier Männer. Andrea warf einen kurzen Blick darauf. „Die FBI-Agenten John Douglas und Robert Ressler gelten als die Urväter des Profiling. Nach Gesprächen mit Serienmördern kamen sie zu dem Schluss, dass solche Täter sich in zwei Kategorien einteilen lassen: den organisierten und den unorganisierten Typ. Inzwischen wissen wir, dass diese Kategorisierung etwas zu kurz greift.“

Im Augenwinkel bemerkte Andrea eine Bewegung. Einer der Studenten, ein modisch gekleideter junger Mann, hob die Hand.

„Bitte“, sagte Andrea.

„Hatten Sie während Ihrer beruflichen Tätigkeit als Profilerin auch mit Serienmördern zu tun?“, fragte der Student.

Andrea antwortete nicht gleich. „In London nicht, nein. Ich war an den Ermittlungen im Entführungsfall der Millionärstochter Trisha Michaels beteiligt, aber wir hatten keinen Serienmord auf dem Tisch. Serienmorde kommen in der Praxis nicht allzu häufig vor, aber wenn, dann sind es oft sehr extreme Beispiele. So auch zum Beispiel in Gloucester im Fall des von der Presse so genannten House of Horrors. Den Fall werden viele von Ihnen sicherlich kennen.“

Ihre Überleitung war gerettet. Sie öffnete die nächste Seite der Präsentation und wandte sich wieder den Studenten zu. „Im Keller des Hauses von Frederick und Rosemary West wurden im Jahr 1992 zwölf Leichen gefunden. Das Ehepaar hat in einer eigens eingerichteten Folterkammer in ihrem Keller nicht nur mehrere Kindermädchen, sondern auch eine ihrer eigenen Töchter sadistisch gequält und ermordet. Der Fall ist in mancherlei Hinsicht sehr speziell, denn es gibt nicht häufig solche Mörderpaare wie die Wests. Was allerdings häufiger vorkommt, sind Täter wie Frederick West. Der sexuelle Sadist ist der häufigste Serienmördertyp.“

Andrea zog die Schultern hoch und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie konnte das. Sadisten jagten ihr keine Angst ein, das sagte sie sich innerlich gebetsmühlenartig auf. Immer wieder. Schließlich fuhr sie fort.

„Frederick West zeigte früh ein manifestes deviantes Sexualverhalten. Das ist auch der Grund dafür, dass bei der Suche nach einer Partnerin seine Wahl auf Rosemary Letts fiel. Bei ihrem Kennenlernen war sie wesentlich jünger als er und sexuell unerfahren. Frederick West hatte jede Möglichkeit, sie in ihrem Verhalten so zu formen, wie es seinen Zwecken dienlich war. Die beiden gingen eine krankhafte Symbiose ein, waren voneinander abhängig. Rosemary war ihm behilflich, wo sie konnte. Vermutungen legen nah, dass sie später sogar die treibende Kraft war. Sie zog mit ihm los und wiegte so zum Beispiel ihr Opfer Caroline Owens in trügerischer Sicherheit, als es darum ging, sie zum Einsteigen in den Wagen zu bewegen. Das Ehepaar folterte Caroline daraufhin eine ganze Nacht lang. Erst am nächsten Tag bot sich ihr eine Chance zur Flucht, doch obwohl sie das Verbrechen zur Anzeige brachte, fiel die Strafe für die Täter lächerlich gering aus. Man hätte sie damals stoppen können und die Gefahr erkennen müssen, die von den beiden ausging.“

Eine junge Frau mit blondem Kurzhaarschnitt und eckiger Brille hob die Hand. Andrea nickte ihr zu.

„War das nicht auch beim Campus Rapist so?“

Die Frage hallte in Andreas Kopf nach. Sie schluckte. Innerhalb von Sekunden waren ihre Handflächen wieder voller Schweiß. Ihr war heiß und sie schloss kurz die Augen, um sich zu fangen. Die Frage kam zu früh. Viel zu früh.

Sie stützte sich auf das Pult und hielt den Blick gesenkt, während sie antwortete. „Ja, beim Campus Rapist hätte man auch rechtzeitig erkennen können, wer er eigentlich ist. Seine Frau hätte es gekonnt.“

„Wissen Sie, warum sie nicht gehandelt hat?“

Andrea blickte wieder auf. „Wer gesteht sich schon gern ein, dass er ein Monster geheiratet hat?“

Sie wandte sich dem Laptop zu und suchte in der Präsentation, bis sie das Foto gefunden hatte – das Foto eines durchaus gutaussehenden Mannes Ende zwanzig mit blonden Haaren und stechend grünen Augen.

„Der Vierwochenrhythmus, in dem er gemordet hat, hätte seiner Frau auffallen müssen. Aber sie hat es verdrängt. Anders als viele andere Lebenspartnerinnen von Sexualmördern wurde sie nicht von ihm misshandelt, deshalb hätte sie es nur erahnen können. Aber vermutlich war sie der Grund dafür, dass seine Opfer Studentinnen waren. Sie selbst hatte ebenfalls studiert, er jedoch nicht. Sie war ihm intellektuell vermutlich überlegen, entsagte sich ihm zudem als Ventil für seine Phantasien. Seine Opfer waren Stellvertreterinnen für seine Frau.“

Ein anderer Student meldete sich. „Aber anders als Frederick West hat er immer allein gehandelt, oder?“

Andrea nickte sofort. „Er wäre kein Typ dafür gewesen, mit einem Partner zu handeln. Bei Mörderpaaren gibt es immer einen dominanten und einen unterwürfigen Partner, aber so, wie ich ihn einschätze, hätte er keinen Partner akzeptiert, egal wie unterwürfig. Nein, er war allein.“

Die Studentin mit der eckigen Brille hob wieder die Hand. „Sind Sie seinetwegen Profilerin geworden?“

Ein leichtes Zittern machte sich in Andreas schweißnasser Hand bemerkbar, als sie sich eine Strähne ihres rotbraunen Haares hinters Ohr zurückstrich. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte schon Profilerin werden, bevor ich ihm begegnet bin. Deshalb habe ich auch die Polizei inoffiziell bei den Ermittlungen unterstützt und ihnen ein Profil des Campus Rapist geliefert – zumindest, soweit das möglich war, denn die Spurenlage war damals mehr als dürftig. Irgendwann kannte ich seine Psychopathologie ... aber leider hat das nicht zu seiner Ergreifung geführt. Es hat mir nur geholfen, zu überleben.“

Plötzlich war es totenstill im Saal. Andrea versuchte, die Unsicherheit auszuhalten, die die zahllosen auf sie gerichteten Augenpaare in ihr auslösten.

„Ich war selbst noch Studentin hier an der Uni, als er den Campus in Atem hielt. Als Studentin hat man sich im Dunkeln kaum vor die Tür getraut. Zufällig bin ich Zeugin geworden, als er Caroline Lewis hier um die Ecke am Parkplatz vergewaltigt hat. Ich wollte ihr nur helfen, indem ich ihn angegriffen habe, doch das habe ich später immer wieder bereut. Das hat sein Handeln eskalieren lassen. Dadurch ist er zum Mörder geworden – und damals muss er sich in den Kopf gesetzt haben, sich an Caroline und mir zu rächen.“

Ihr war kalt. Eiskalt. Schon im Vorfeld hatte sie sich bewusst gemacht, dass es sich wohl nicht vermeiden ließ, über ihn zu sprechen. Deshalb hatte sie ihn auch in ihren Vortrag aufgenommen.

Auch nach über vier Jahren wusste man in Norwich noch, wer sie war. Sie hatte als Einzige die Entführung durch den Campus Rapist Jonathan Harold überlebt und sich damals geschworen, fortan alles zu tun, um solche Täter zu stoppen.

„Jonathan Harold ist, verglichen zum Beispiel mit Frederick West, erst sehr spät aktiv geworden“, fuhr Andrea fort. „Erst nach dem Tod seiner Eltern hat er sich getraut, seinen Fantasien freien Lauf zu lassen. Er hat schon bei seinen Vergewaltigungen immer tunlichst darauf geachtet, keinerlei hilfreiches Spurenmaterial zurückzulassen. Auch nach Monaten hatte die Polizei nicht mehr als seine DNA, einen Zahnabdruck und ein blondes Haar. Bis dahin hatte er aber auch schon drei junge Frauen getötet – zwei weitere sollten noch folgen.“

Die Studentin meldete sich wieder, so dass Andrea ihr zunickte. „Ich hoffe, das ist okay, wenn ich das frage ... aber Sie waren dort, als er Caroline Lewis getötet hat, oder?“

„Ja.“ Andrea nickte und holte tief Luft, um dem Zittern in ihrer Stimme Herr zu werden. „Er hatte erst Caroline entführt ... das war in der Nacht zum neunten Februar. Zwei Tage später stand er vor mir. Er hat mich zu Caroline gebracht und sie am nächsten Morgen vor meinen Augen erwürgt.“ Die zitternden Hände zu Fäusten geballt, versuchte Andrea, den gewaltigen Kloß im Hals zu ignorieren. „Sie war meine Freundin.“

Für einen Moment schloss sie die Augen. Es war immer noch still im Hörsaal. Schweigend und staunend zugleich warteten die Studenten ab, während Andrea mit scheußlichen Erinnerungen an Angst, Schmerz und Folter rang. „Vielleicht überlasse ich auch dir die Wahl. Überlege es dir. Willst du sterben oder willst du bei mir bleiben? Du könntest leben, als meine Gefangene.“

Sie blieb ruhig, während sie die Gedanken aus ihrem Kopf verbannte. Schließlich sprang sie in ihrer Präsentation an die Stelle zurück, an der sie mit ihrem regulären Vortrag stehengeblieben war, und fuhr fort. Um sich abzulenken, sprach sie einfach weiter und als sie an der Stelle im Vortrag angekommen war, die sich Jonathan Harold widmete, übersprang sie die Seiten, denn eigentlich war alles gesagt.

Alles, was in diesen Hörsaal gehörte. Sie hatte nicht vor, auch nur ein einziges weiteres Wort über die schlimmsten achtzehn Stunden ihres Lebens zu verlieren.

Die Studenten waren während der gesamten Vorlesung sehr still und hörten aufmerksam zu. Nicht nur aus Respekt ihrer Dozentin gegenüber, der man nicht angesehen hätte, was in ihr steckte. In Jeans und Turnschuhen stand sie vor ihren Studenten und unterschied sich rein äußerlich kaum von ihnen. Tatsächlich waren die Studenten einfach von ihren Ausführungen gefesselt.

Am Ende der Vorlesung trommelten sie auf die Tische, so dass Andrea verlegen lächelte. Als sie beobachtete, wie die Studenten mit ihren Rucksäcken über den Schultern ausschwärmten und den Hörsaal verließen, dachte sie beinahe ein wenig sehnsüchtig an ihre eigene Studienzeit zurück. Besonders an den Anfang – damals, als noch alles normal und in Ordnung gewesen war.

Sie hatte noch nicht ganz zusammengepackt, als Dr. Marlowe in der Tür erschien. Seine Geheimratsecken waren tiefer geworden, seit sie damals selbst als Studentin in seinen Vorlesungen gesessen hatte.

„Scheint ein richtiger Krimi gewesen zu sein“, sagte er. Sie hob den Blick und er fügte hinzu: „Mir kamen Trauben aufgeregter Studenten entgegen, die völlig gefesselt von Ihrem Vortrag waren.“

„Das hoffe ich doch.“ Andrea packte ihren Laptop ein.

„Sie haben es also wirklich getan.“

„Was?“

„Sie haben von Jonathan Harold gesprochen“, präzisierte er.

Achselzuckend griff Andrea nach ihrer Tasche und schulterte sie. „Sie glauben gar nicht, wie leicht man erkannt wird.“

„Trotzdem finde ich das mutig.“

„Es war auch nicht ganz einfach.“

Dr. Marlowe lächelte ihr zu. „Ich bin froh, dass wir Sie als Dozentin gewinnen konnten. Mit dieser Profiling-Vorlesung gewinnt unser Lehrstuhl noch an Profil.“

„Und ich freue mich, dass ich dabei sein darf“, erwiderte Andrea ebenfalls mit einem Lächeln. Gemeinsam schlenderten die beiden zum Treppenhaus und verabschiedeten sich dort voneinander. Gern hätte Andrea sich mit ihm unterhalten, doch sie musste los.

Andrea verließ das Gebäude Richtung Parkplatz. Es war ein goldener Herbsttag, wenn auch nicht sonderlich warm. Gruppen von Studenten schwärmten über die Wege oder standen plaudernd am Rand. Das zu sehen, fühlte sich sehr vertraut für Andrea an, regelrecht heimisch. Der moderne, angenehm grüne Campus hatte sich kaum verändert.

Gedankenversunken kramte sie nach ihrem Autoschlüssel. Im Schein der tiefstehenden Sonne stieg sie in ihr Auto, legte die Tasche auf den Beifahrersitz und fuhr los. Sie war müde, es war bereits früher Abend.

Inzwischen störte Andrea sich nicht mehr am Linksverkehr. Es fühlte sich an, als hätte sie schon immer in England gelebt; alles wirkte so vertraut. Die Häuser mit den roten Fassaden, englische Plakatwände, die üppig bunt dekorierten Vorgärten. Und nicht zu vergessen: der unvermeidliche Tee.

Im Radio wurde ein Lied von Mumford and Sons gespielt, während Andrea der Straße durchs Wohngebiet zum Haus ihrer Schwiegermutter Anna folgte. Leise summte sie die Gitarrenmelodie mit und freute sich auf das nahe Wochenende.

Minuten später erreichte sie ihr Ziel und stellte den Wagen vor Annas Haus ab. Nach dem Aussteigen streckte sie sich und griff nach ihrer Tasche. Sie hatte die Auffahrt noch nicht betreten, als die Haustür aufschwang und ein kleines Mädchen mit wehendem Lockenschopf freudestrahlend auf sie zustürmte. „Mami!“

Andrea ging in die Knie und fing ihre Tochter in den Armen auf. In diesem Moment wurde sie schlagartig ruhig und war ganz bei sich selbst. Wenn sie ihre kleine Julie an sich spürte, war alles andere vergessen. Das war seit ihrer Geburt vor zweieinhalb Jahren so. Jede böse Erinnerung, Stress und Ärger – alles war einfach weg. Das hätte sie sich vorher auch nicht träumen lassen.

Fröhliches Gebrabbel brach über ihr herein, während sie Julie auf die Stirn küsste und den kleinen warmen Körper fest an sich drückte. Zufrieden suchte Andrea den Blick ihrer Tochter und strich ihr über die dunkelbraunen Locken. Die hatte sie von ihrem Vater, ihre Stupsnase hingegen von Andrea.

Das war ein perfekter Moment. Er währte zwar nur kurz, aber er machte Andrea mühelos glücklich.

Im Hintergrund erschien Anna. Trotz ihrer geringen Körpergröße umarmte sie Andrea über Julies Kopf hinweg. Andreas Schwiegermutter war eine zierliche Frau, der man ihr Alter nicht ansah. Nur die weißen Haare verrieten es.

„Du bist früh dran“, sagte Anna überrascht. Wie immer sprach sie ihre Schwiegertochter auf Deutsch an, denn immerhin war es ihre gemeinsame Muttersprache.

„Findest du?“, erwiderte Andrea.

„Wenn Julie bei mir ist, bist du immer zu früh.“

Andrea grinste belustigt. „Das ist das Privileg der Großmutter. Es macht in der Hauptsache Spaß.“

„Ja“, stimmte Anna zu und schloss die Tür, als alle im Haus waren. „Endlich habe ich das kleine Mädchen, das mir selbst verwehrt geblieben ist.“

Grinsend dachte Andrea daran, wie ein kleiner Greg und ein noch kleinerer Jack ihr vor dreißig Jahren das Leben zur Hölle gemacht hatten. Denn das hatten sie bestimmt. Dabei war aus beiden etwas geworden – ein liebenswerter Chaot aus dem einen, ein wunderbarer Vater aus dem anderen. Andrea war froh, den beiden damals auf dieser Party begegnet zu sein, auch wenn sie nicht damit gerechnet hatte, an diesem Abend ihre große Liebe zu treffen.

„Wann macht Greg Feierabend?“, fragte Anna.

„Schwer zu sagen. Er ist heute vor Ort beim Kunden.“

„Dann hat er bestimmt auch Hunger auf Lasagne.“

Gespielt streng zog Andrea eine Augenbraue in die Höhe. „Du hast also doch gekocht.“

Über die Schulter hinweg warf Anna ihrer Schwiegertochter ihren schönsten Unschuldsblick zu. „Mir war langweilig.“

„Aber natürlich.“ Andrea lächelte kopfschüttelnd.

„Gib ihm doch Bescheid, dass er herkommen soll.“

Widerrede war zwecklos. Grinsend griff Andrea zu ihrem Handy und schrieb Gregory eine Nachricht, während Julie aufgeregt um ihre Mutter herumsprang. Sie war das hübscheste kleine Mädchen der Welt. Selbstverständlich war sie das – sie war immerhin Andreas Tochter. Die stolze Mutter hatte massive Probleme, ihr etwas abzuschlagen, wenn Julie sie berechnend mit ihren Kulleraugen ansah.

Andrea steckte ihr Handy weg und setzte sich in den Sessel, der mitten in Annas gemütlichem Wohnzimmer stand. Im Kamin glomm noch ein wenig Asche, ab und zu knackte es. Auf dem Kaminsims hatte Anna einen regelrechten Foto-Altar errichtet, doch davon abgesehen war es bei ihr nicht so kitschig wie in vielen anderen englischen Wohnzimmern.

Julie kletterte auf Andreas Schoß und schlang die Ärmchen um sie. Seufzend vergrub Andrea ihre Nase in Julies duftenden Haaren und spürte, wie ihr warm ums Herz wurde. Anna setzte sich den beiden gegenüber und beobachtete ihre Enkelin voller Liebe.

„Wie war es in der Uni?“, erkundigte sie sich.

„Ganz schön aufregend“, sagte Andrea. „Es hätte mir gereicht, meine erste Vorlesung zu halten. Aber ich musste ihn ja unbedingt thematisieren.“

Anna seufzte ergeben. „Mute dir nicht zu viel zu.“

„Nein, es geht schon“, erwiderte Andrea und lachte über Annas zweifelnden Gesichtsausdruck. „Ehrlich.“

Dabei hatte sie anfänglich selbst ihre Zweifel gehabt. Es war schon nicht ganz einfach für sie gewesen, nach Norwich zurückzukehren. In der Hauptsache hatte sie es Gregory zuliebe getan, der zuvor auch mit ihr nach London gegangen war, damit sie dort als Profilerin arbeiten konnte. Ein Beruf, der mehr Berufung war.

Er hatte schon so viel für sie getan. Mehr, als sie jemals erwartet hätte -– als sie hätte erwarten dürfen. Aber er hatte es trotzdem getan. Deshalb war es längst überfällig gewesen, ihm etwas zurückzugeben.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. „Hast du etwas von Jack gehört?“

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, mein Herr Sohn macht sich gerade ziemlich rar. Warum fragst du?“

„Nur so. Bei uns macht er sich auch rar.“

„Ach so? Wie interessant.“

„Warum?“

„Ich glaube, da hängt der Haussegen schief.“

„Oh nein.“ Andrea stöhnte. Für Gregorys jüngeren Bruder war es bereits eine Leistung, dass er mit seiner Freundin nun schon genau so lang zusammen war wie Gregory mit Andrea. Die bildschöne Krankenschwester Rachel hatte es irgendwie geschafft, den unverbesserlichen Schürzenjäger zu zähmen. Doch seit Julie auf der Welt war, beneidete Rachel Andrea um dieses Glück und wünschte sich sehnlich ein eigenes Kind. Jack war jedoch der Meinung, dass man mit zweiunddreißig viel zu jung zum Heiraten und zum Gründen einer Familie war. Da bevorzugte er die Pest!

„Haben sie dir nichts erzählt?“, riss Anna ihre Schwiegertochter aus ihren Gedanken. Als Psychologin war Andrea der offizielle Familienkummerkasten, ob sie wollte oder nicht.

„Nein. Obwohl ich auf Jacks Geburtstag den Eindruck hatte, dass etwas nicht stimmt.“

„Oh ja, ich auch. Sonst rede doch mal mit ihnen.“

„Anna“, stöhnte Andrea. „Ich werde hier niemanden therapieren.“

„Aber ihr seid doch befreundet. Wenn da etwas nicht stimmt, kannst du es einrenken.“

„Die beiden sind erwachsen.“ Zwar wusste Andrea, Anna meinte es nur gut, aber sie würde sich da nicht einmischen. Nicht ungefragt.

„Vielleicht hast du Recht.“ Anna stieß einen Seufzer aus. „Arme Rachel.“

Damit war es für Andrea nicht getan. Sie wusste, dass Rachel litt. Das war ein grundsätzliches Problem. Entweder die beiden konnten sich einigen oder es würde eine große Krise geben– was Andrea nicht hoffte.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil es klingelte. Anna ging zur Tür. Mit gespitzten Ohren lauschte Andrea und lächelte, als sie Gregorys Stimme erkannte. Der dunkle, sanfte Klang war ihr nicht nur vertraut, er sorgte bei ihr auch für ein Gefühl der Geborgenheit. Vor allem mochte sie seinen ganz leichten englischen Akzent, wenn er Deutsch sprach.

 Julie rannte in den Flur, als sie ihren Vater hörte. Sie liebte es, ihn zu begrüßen, wenn er nach Hause kam.

„My sweetheart“, sagte Gregory. Augenblicke später betraten alle drei das Wohnzimmer. Greg hielt Julie auf dem Arm, was ihn nicht davon abhielt, Andrea an sich zu drücken. Mit einer Hand fuhr sie durch seine lockigen dunklen Haare und gab ihm einen Kuss. Dazu musste sie sich größer machen, als sie war. Gregory überragte sie um mehr als einen Kopf und hatte einen muskulösen Körperbau, so dass Andrea sich immer winzig neben ihm vorkam.

„Ich war fast zu Hause, als ich deine Nachricht erhalten habe. Hier gibt‘s Lasagne?“, fragte er.

„Oh ja“, sagte Anna. „Ich schiebe sie gleich in den Ofen.“

„Ich bitte darum.“ Zufrieden ließ er sich noch mit Julie auf dem Arm aufs Sofa fallen. Dass sie sich mit den Schuhen gegen seinen Anzug stemmte, war ihm egal. Er griff nach ihren Zöpfchen und stupste ihre Nase mit seiner an. „I missed my little princess.“

Sie schenkte ihm ein fröhliches Lächeln. Gedankenversunken beobachtete Andrea, wie Gregory mit Julie spielte. Immer wieder staunte sie darüber, wie er jeden Tag sofort und uneingeschränkt in die Vaterrolle schlüpfte, sobald er von der Arbeit kam. Von diesem Zeitpunkt an gab es für ihn nur Julie und Andrea. Die Kleine zu haben, bedeutete ihm alles. Sie war sein absolutes Wunschkind.

Auch für Andrea war ihre Familie das Wichtigste. Bei Gregory hatte sie sich zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Familie nicht mehr einsam gefühlt. Der sechs Jahre ältere Engländer hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass Andrea ihm viel bedeutete. Er hatte seinen Charme spielen lassen und sie auf Händen getragen, sie immer unterstützt und an sie geglaubt. Die beiden teilten eine besondere Verbundenheit.

„Wie war die Vorlesung?“

Andrea schrak aus ihren Gedanken hoch, als Gregory sie ansprach, und lächelte.

„Die Studenten waren toll. Sehr aufmerksam, sehr interessiert. Ein besseres Publikum kann man sich nicht wünschen.“

„Das meine ich nicht“, sagte Gregory. „Hast du über ihn gesprochen?“

„Ja. Sie haben mich auch erkannt. Aber es war nicht so schlimm, wie ich dachte.“

Gregory nickte stumm und blickte ins Nichts. Andrea schwieg ebenfalls, denn sie wusste, dass er sich Sorgen machte. Schließlich war er mit ihr durch die Hölle gegangen, als Jonathan Harold sie gejagt und sie deshalb wochenlang unter Polizeischutz gestanden hatte. Wie ein Löwe hatte er sie verteidigt, als Jonathan Harold in ihre gemeinsame Wohnung eingebrochen war, um sie zu entführen, und dafür beinahe selbst mit dem Leben bezahlt. Aber noch aus dem Krankenhaus heraus hatte er mit Gehirnerschütterung und gebrochener Nase die Polizisten solange mobilisiert, bis sie Jonathan Harold gefunden hatten. Er war an vorderster Front dabei gewesen, als sie das Versteck und den Folterkeller des Campus Rapist gestürmt hatten – und er hatte sie Jonathan Harold entrissen und ihn getötet, bevor er Andrea etwas hatte antun können.

Fünf Monate später hatten sie geheiratet. Es war Gregorys Idee gewesen. Nach jedem Alptraum hatte er sie gehalten und beruhigt, war immer für sie da. Für sie und ihre kleine Tochter.

Ihr Blick wanderte zu den Fotos auf den Kaminsims. Neben den Hochzeitsfotos seiner Eltern und denen, die sie, Greg und Jack zeigten, stand nun auch schon das Hochzeitsbild von Gregory und Andrea. Ihr wurde warm ums Herz, als sie sah, wie glücklich Gregory darauf wirkte. Er strahlte regelrecht, mehr als sie. Und er sah so gut aus mit seinen markanten Gesichtszügen und den sanften braunen Augen. Auf dem Foto hatte er den Arm um sie gelegt, als wolle er sie gar nicht mehr loslassen.

Andrea wusste, dass das nicht nur so aussah.

Schon bald ließ der köstliche Duft der Lasagne ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Glücklicherweise war sie wenig später fertig und Anna rief zum Essen.

Es war köstlich. So köstlich, dass Julie nach dem Essen so aussah, als hätte sie dringend ein Bad nehmen müssen, aber in Annas Lasagne konnte man prima herummatschen. Andrea beschloss, sich das zu merken. Lasagne gehörte auf die schwarze Liste.

„Alles gut bei der Arbeit?“, erkundigte Anna sich bei ihrem Sohn.

„Alles bestens“, erwiderte Gregory. „Auch wenn die Aufträge hier anders sind als in London. Mehr öffentliche Gebäude und weniger Penthousewohnungen.“

Seit vier Jahren arbeitete Gregory als Innenarchitekt. Er war ähnlich kreativ wie sein Bruder, der sich als Mediendesigner verdingte.

„Das bleibt ja auch nicht aus“, kommentierte Anna. „Aber solange es Spaß macht.“

„Oh, das macht es.“

„Und bei dir, Kind?“, fragte Anna mit Blick zu Andrea. „Wie geht es dem Sergeant?“

„Bestens“, erwiderte Andrea. „Er ist ein prima Kollege, so wie die anderen auch. Es ist nicht ganz wie die Arbeit in London, aber es gefällt mir.“

Seit Jahresbeginn arbeitete Andrea sehr zu ihrer Freude mit Detective Sergeant Christopher McKenzie zusammen – dem Polizisten, mit dem sie sich während der Suche nach dem Campus Rapist angefreundet hatte. Wochenlang hatte er sie gemeinsam mit seinem Kollegen beschützt – und doch hatte er ihre Entführung nicht verhindern können. Jonathan Harold hatte ihn mit dem Messer lebensgefährlich verletzt und seinen Partner John sogar getötet, bevor er bei Andrea und Gregory eingebrochen war.

„Ich bewundere das“, sagte Anna. „Als Greg so alt war wie Julie jetzt, gab es ja auch schon Jack. Ich hätte mir nie vorstellen können, mit zwei Kindern zu arbeiten, so wie du es tust. Und du machst gleich auch noch zwei Jobs.“

„Das ergänzt sich gut“, fand Andrea. „Und mit deiner Hilfe ist das alles kein Problem.“

„Oh, ich mache das gern, das wisst ihr doch. Julie ist ein Engel.“

Gregory warf einen Blick auf die Soßenspritzer, die sich rund um Julies Teller ausgebreitet hatten. Engel war nicht ganz die Bezeichnung, die er gewählt hätte.

Als sie wenig später aufbrachen, trug Greg die Kleine auf den Schultern aus dem Haus. Anna verabschiedete ihre Enkelin mit einem Kuss.

„Danke für alles.“ Andrea umarmte ihre Schwiegermutter. „Das Essen war toll.“

„Siehst du. Und du wolltest nicht, dass ich koche.“

Gregory verkniff es sich, etwas zur Eigenwilligkeit seiner Mutter zu sagen und verschwand in seinem Auto. Julie winkte ihrer Großmutter, bis diese schon längst nicht mehr zu sehen war.

Wenige Straßen weiter waren die drei schon am Ziel. Ihr neues Haus war ein vollkommen unauffälliges, backsteinverkleidetes Reihenhaus mit Erker und kleinem Vorgarten. Very british, wie Andrea immer wieder dachte. Ihr gefiel es.

Greg hielt Frau und Tochter die Haustür auf, als sie die Auffahrt hinaufkamen. Ganz der Gentleman. Gleich darauf hielt er Julie davon ab, mit ihren Schuhen ins Wohnzimmer zu rennen. Neben dem Computer stellte Andrea ihre Tasche mit dem Laptop ab und seufzte. Sie liebte diese Normalität. Die hatte ihr viel zu lang gefehlt.

Voller Elan stürmte Julie die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Andrea ertappte ihren Mann dabei, wie er Julie verträumt hinterherschaute. Sie trat neben ihn und legte einen Arm um ihn, woraufhin er sie ansah.

„Ich bin so froh, dass wir sie haben“, sagte er.

„Ich auch“, stimmte Andrea ihm zu. Dabei war es Greg gewesen, der sich am meisten eine Familie gewünscht hatte. Er war immer ein Familienmensch gewesen und freute sich, nun schon Vater zu sein.

Als Andrea sich von ihm löste und in die Küche ging, blickte er ihr nachdenklich hinterher. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen, auch wenn ihre Beziehung schon viel mitgemacht hatte. Ihre Liebe war ein Geschenk, dessen war er sich jeden Tag aufs Neue bewusst. Eigentlich verdiente er sie gar nicht, seit er nicht verhindert hatte, dass Jonathan Harold sie in seinen Folterkeller sperrte.

Norwich, Wohngebiet

 

Irgendwann wird sie kommen. Dann wirst du wissen, ob du hier richtig bist. Warte ab. Sie wird kommen, wenn sie hier wirklich wohnt. Hab einfach ein wenig Geduld. Wenigstens fällst du hier an der Bushaltestelle niemandem auf. Mit der Zeitung in der Hand siehst du aus, als würdest du lesen. Dabei beobachtest du jeden Wagen, der vorbeikommt und in die Straße einbiegt. Irgendwann wird sie kommen.

Zur Tarnung blätterst du um. Den Skater im Kapuzenpulli interessierst du sowieso nicht. Auch die alte Frau hat nicht wirklich auf dich geachtet. Die Gleichgültigkeit der Menschen verschafft dir Deckung.

Ein Wagen bremst und biegt ab. Nein, das ist sie nicht. Du bist enttäuscht. Bist du sicher, dass du hier richtig bist?

Sie hast du nicht gefunden, also hast du über ihn gesucht. Du hast herausgefunden, wo Gregory Thornton lebt. Du hast aufs Türschild geschaut und da stand auch ihr Name. Warum sollte es nicht stimmen?

Es ist ein stilles Wohngebiet. Alles ergibt Sinn.

Aber wo bleibt sie?

Du weißt, Jon hat sie damals auch beschattet. Er ist ihnen gefolgt. Aber er hatte ein Auto und das fehlt dir. Egal - es muss auch ohne gehen.

Da kommt noch ein Wagen und verringert seine Geschwindigkeit. Du hebst den Kopf und bist elektrisiert, als du sie erkennst. Wie hypnotisiert starrst du dem kleinen Auto hinterher, faltest die Zeitung zusammen und stehst auf. Der Skater ignoriert dich, als du über die Straße gehst und dem Wagen langsam folgst. Du willst sie nur von weitem beobachten.

Noch ist es nicht so weit. Du hast Pläne.

Sie hält vor dem Haus. Du siehst, wie sie aussteigt – durchschnittlich groß, durchschnittlich schlank. Seit damals hat sie sich kaum verändert. Sie ist gut gekleidet, hat sich die rotbraunen Haare schlicht zurückgebunden, wirkt unauffällig. Du würdest es nicht merken, wüsstest du nicht, wer sie ist. Dass Jon seine Spielchen mit ihr gespielt hat.

Sie öffnet die linke hintere Tür und beugt sich hinein in den Wagen. Was tut sie da? Du verlangsamst deine Schritte, während du sie beobachtest. Erkennen kannst du nichts.

Dafür, dass sie etwas herausnimmt, dauert das aber verdammt lang. Was macht sie bloß? Sie kommt wieder zum Vorschein, hält die Hand in den Wagen.

Du traust deinen Augen nicht.

Ein kleines Mädchen.

Sie hat ein Kind! Du kennst dich zwar damit nicht aus, aber du würdest die Kleine auf weniger als drei Jahre schätzen.

Sie hatte nichts Besseres zu tun, als ein Jahr später ein Kind zu zeugen? Mit einem Mörder?

Du siehst der Kleinen ihren Vater an. Sie hat seine dunklen Haare.

Du kannst es nicht fassen. Deine Füße werden lahm, aber du zwingst dich, weiterzugehen. Nicht auffallen.

Sie haben geheiratet und ein Kind bekommen. Sie haben deine Welt zerstört und machen weiter, als sei nichts geschehen!

Jetzt wirst du ihre Welt zerstören. Und es wird mit ihrem Tod enden.

 

Norfolk Constabulary, Freitag

 

Andrea stellte den mit Reports beschrifteten Ordner zurück ins Regal und seufzte erleichtert. Berichte schreiben war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. Inzwischen verfasste sie viele Gutachten für die Polizei, führte schwierige Befragungen durch und half immer dann, wenn die Ermittlungen festgefahren waren.

Das brachte sie auf einen Gedanken. Sie verließ ihr Büro und ging über den grauen Flur hinüber zu Christopher und Martin. An der weißen Raufaserwand in ihrem Büro hing ein Foto von Sergeant John Baxter – lächelnd, die blonden Haare in der Sonne leuchtend. Er war nun schon so lange tot – ihretwegen. Andrea schüttelte den Gedanken ab und blickte zu Christopher, der in eine aufgeschlagene Akte starrte, den Kopf in die Hände gestützt. Hinter ihm stand eine halb verdurstete Topfpflanze auf der Fensterbank.

„Jungs“, sagte sie kopfschüttelnd und ging an seinem Schreibtisch vorbei, um die Pflanze zu nehmen. „Warum stellt ihr euch Pflanzen hin, wenn ihr sie tötet?“

„Das ist Sterbehilfe“, sagte Martin und lachte. Durch seine Sommersprossen wirkte es noch fröhlicher. Im Sommer, wenn seine roten Haare noch röter leuchteten, hatte er unzählige Sommersprossen.

Als Christopher immer noch nicht reagierte, beugte Andrea sich zu ihm hinab und versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen. Sein beinahe jungenhafter Charme, den sie so mochte, war ihm in diesem Moment vollkommen abhandengekommen.

„Jemand zu Hause?“, fragte sie.

Er schaute auf und fuhr sich durch die strubbeligen dunklen Haare. Sein Frust war offensichtlich. Dann fiel sein Blick auf die Pflanze in ihrer Hand. „Was tust du?“

„Ich werde sie retten. Und was tust du?“

„Wahnsinnig werden.“

„Unsinn.“ Andrea richtete sich auf und ging mit der Pflanze nach nebenan in die Teeküche, wo sie das arme Gewächs kurz unter den aufgedrehten Wasserhahn hielt. Christopher beobachtete, wie sie die Pflanze an ihren Platz zurückstellte.

„Es ergibt nicht den geringsten Sinn“, sagte er. „Er muss ein Zufallsopfer sein. Es gibt keinen Verdächtigen, kein Motiv, nichts. Ich habe nur einen Toten, der auf offener Straße erstochen wurde. Zeugen? Fehlanzeige. Der Mann ist nicht beraubt oder verprügelt worden. Er wurde in einer Nebenstraße in der Innenstadt erstochen. Das regt mich auf.“

„Gib her“, sagte Andrea, um keinen Widerspruch zuzulassen. „Fangen wir beim Opfer an, wenn wir keinen Täter haben. Erzähl mir etwas über den Toten.“ Sie streckte die Hand nach der Akte aus und setzte sich Christopher gegenüber vor den Schreibtisch.

„Danke“, sagte Martin von hinten.

Verdutzt drehte sie sich um. „Warum?“

„Weil du mich vor einem Tag ununterbrochenen Gejammers rettest.“

„Ich versuche es zumindest“, sagte sie augenzwinkernd. Christopher schob ihr die Fotos hin, die von dem Toten vor Ort gemacht worden waren.

„Wie viele Messerstiche?“, fragte Andrea angesichts seines blutgetränkten Hemdes.

„Vierzehn. Da wollte jemand sichergehen.“  

„Und das hat keiner gehört?“

„Angeblich nicht“, sagte Christopher achselzuckend.

„Egal. Weiter. Wer war er?“

„John Lambert, achtundvierzig. Er hat für eine Bank gearbeitet. Geschieden, zwei Kinder. Seine Familie lebt in Leeds und da war sie auch zur Tatzeit. Das war es also nicht.“

Andrea betrachtete den Mann auf dem Foto. Er hatte kurzes braunes Haar, war um die Körpermitte etwas beleibter, sah aus wie der typische Angestellte. Unspektakulär. Durchschnittlich.

„Was gab es bei ihm zu Hause? Interessante Einträge im Terminkalender? Schmutzige Pornos? Liebesbriefe? Ein geheimes Geld-Depot?“, fragte Andrea.

Deprimiert schüttelte Christopher den Kopf. „Nichts. Gar nichts. Das ist es ja. Aber irgendjemand hatte ein Problem mit ihm, das ihm vierzehn Messerstiche wert war.“

Andrea überlegte. Der Täter war ihm nah gekommen, mitten in der Innenstadt. Keine Zeugen. Seine volle Geldbörse war auf den Fotos zu sehen. Also auch kein Raubmord.

Sie hob die Akte an. „Darf ich?“

„Gern. Schaff mir das bloß aus den Augen.“ Christopher klang gereizt. Grinsend verließ Andrea den Raum und ging hinüber in ihr Büro. Für ein Büro war es ausnehmend gemütlich, denn Greg hatte ihr ein paar einfache Tipps gegeben, wie sie es wohnlicher gestalten konnte. Es gab Pflanzen, Bilder in warmen Farben, nicht nur schwarze Ordner im Regal, sogar ein kleines Sofa und einen Sessel. Manche Leute wurden plötzlich gesprächig, wenn sie sich in anheimelnder Atmosphäre befanden.

Sie legte die Akte auf den Couchtisch und brühte sich zuerst noch frischen Tee auf. Tee half beim Denken. Manchmal.

Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich aufs Sofa und begann, die Akte zu studieren. Sie hatte gewusst, dass Christopher gerade an einem vertrackten Mordfall arbeitete, aber da er sie bislang nicht um Hilfe gebeten hatte, hatte sie sich auch nicht aufgedrängt.

Bis jetzt. Seine schlechte Laune war ein verkappter Hilfeschrei gewesen, so viel stand fest. Martin hatte es bestätigt.

Zwanzig Minuten später wusste Andrea, warum der Fall Christopher aufregte. Es gab wirklich nicht den geringsten Hinweis auf einen Täter oder ein Motiv. Beim Opfer zu Hause war überhaupt nichts gefunden worden, was Hinweise geliefert hätte; der Mann hatte keine Feinde. Nichts.

Wahrscheinlich hatte Christopher mit seinem Zufallsopfer gar nicht Unrecht. Nichts an John Lambert hätte Andrea vermuten lassen, dass es einen Anlass gab, ihn mit vierzehn Messerstichen in die Brust niederzustrecken.

Also musste sie bei Mr. Unbekannt anfangen, beim Täter. Die Anzahl der Messerstiche behagte ihr überhaupt nicht. Das war ein klassischer Overkill. Der Obduktionsbericht verriet, dass schon zwei oder drei Stiche in der Herzgegend ausreichend gewesen wären, um Lambert zu töten. Sie waren auf einer Zeichnung markiert. Seine Lunge war voller Blut gewesen, die Stiche über seinen gesamten Oberkörper verteilt. Das war blinde Wut, unkontrollierter Hass.

Aber wenn er ein Zufallsopfer war, dann lag das Problem beim Täter. Entweder hatte Lambert irgendeinen Fehler begangen, der den Täter provoziert hatte, oder der Täter war nicht in der Lage, sich zu zügeln. Er war leicht reizbar, verlangte nach sofortiger Triebbefriedigung, ging ungehemmt vor.

Diverse psychische Störungen hätten der Grund für dieses übersteigerte Handeln sein können. Schizophrenie, Paranoia, Manien; Andrea wusste es nicht. Es war auch egal, denn das musste sie gar nicht wissen. Mit der Akte in der Hand ging sie wieder zu Martin und Christopher hinüber. Martin telefonierte gerade und Christopher hackte ohne Elan etwas in seine Tastatur.

„Wenn John Lambert dem Täter keinen spezifischen Grund geliefert hat, ihn zu töten, ist unser Täter vielleicht psychisch krank“, sagte sie. Christopher kniff die Augen zusammen.

„Das war ein Overkill“, fuhr Andrea fort. „Und ein Overkill an einem Unbekannten kennt nur eine begrenzte Anzahl an Ursachen. Vielleicht gibt es deshalb kein Motiv und keine sichtbare Verbindung: Es ist keine da.“

Die Überraschung in seinem Blick erstaunte Andrea. Schließlich hatte sie ihm schon öfter ein Profil oder zumindest Ansätze dafür geliefert.

„Danke.“ Er nahm die Akte entgegen. „Du rettest meine Nerven.“

„Wenn ihr alles allein machen würdet, wäre ich arbeitslos“, erwiderte sie grinsend.

„Dann werde ich jetzt diversen Leuten Scherereien wegen ihrer ärztlichen Schweigepflicht machen“, beschloss er, nun wesentlich enthusiastischer.

Andrea nickte und ging wieder hinüber. Dort wartete ein weiterer hochspannender Bericht darauf, verfasst zu werden. Sie setzte sich an den Computer, nippte an ihrem Tee und begann. Bei der Sache war sie jedoch nicht. Zehn Minuten später minimierte sie das Dokument und überlegte. Etwas spukte ihr im Kopf herum.

Das Messer. Natürlich. Sie griff zum Telefon und rief im Norfolk Constabulary Headquarters in Wymondham an. Inzwischen wunderte sich niemand mehr, wenn er von ihr hörte. Sie ließ sich mit dem Inspector verbinden, der vor einigen Wochen wegen der Ermordung einer jungen Prostituierten ermittelt hatte. Er hatte sie um ihre Expertise gebeten, aber vielleicht musste sie die revidieren.

„Wheeler“, meldete er sich gelangweilt. „Ist Ihnen noch etwas eingefallen, Mrs. Thornton?“

„Vielleicht. Was sagte der Gerichtsmediziner zur Tatwaffe im Fall Sue Williams?“

„Ein Butterflymesser, aber das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen.“

Ihr wurde heiß. „Wenn das stimmt, haben wir vielleicht eine Verbindung zu einem anderen Mordfall.“

„Tatsächlich?“

Sie erzählte von John Lambert und ergänzte: „Der Gerichtsmediziner vermutete auch in diesem Fall ein Butterflymesser als Tatwaffe. Das wäre ungewöhnlich.“

„Das stimmt. Bei Sue Williams ist es das nicht unbedingt. In ihrem Milieu ist eine solche Waffe weit verbreitet.“

„Sicher, aber vielleicht haben wir deshalb falsch gedacht. Wir vermuteten den Täter doch unter den Zuhältern oder in ähnlichen Kreisen.“

„Aber Lambert wurde erstochen. Sue Williams hat man die Kehle durchgeschnitten“, sagte Wheeler.

„Ja, und post mortem hat der Täter ihr Herz durchbohrt. Fünf Mal. Das ist auch ein Overkill. Vielleicht war Sue Williams ein austauschbares Zufallsopfer, an dem der Täter nur geübt hat. Vielleicht war es in beiden Fällen derselbe Täter. Bei Sue Williams gab es ebenfalls weder einen Verdächtigen noch ein Motiv.“

„Sie war Prostituierte.“

Andrea gefiel nicht, wie er das sagte. Unter Polizeibeamten wurden Prostituierte als high risk-Gruppe gehandelt; als Menschen in rechtlicher und moralischer Grauzone, die erhöhten Risiken ausgesetzt sind. In solchen Fällen wurde nicht immer mit dem größten Nachdruck ermittelt. Da hatte eben jemand eine Bordsteinschwalbe aufgeschlitzt – na und?

Andrea teilte Wheeler die Vermutung mit, die sie zuvor Christopher gegenüber geäußert hatte, und war zufrieden, als sie seinem Unterton entnahm, dass er die Idee gut fand. Das war ein neuer Ermittlungsansatz.

Bis zum Nachmittag schaffte sie den langweiligen Bericht, so dass sie pünktlich Feierabend machen konnte. Gern hätte sie sich von Christopher verabschiedet, aber das Büro war leer. Er war unterwegs, um seine Arbeit zu machen. Grinsend ging sie zum Auto und beschloss, sich nicht länger darüber zu wundern, dass sein Privatleben litt. Er war ein Workaholic.

Gut gelaunt fuhr Andrea in südlicher Richtung und parkte zehn Minuten später den Wagen vor dem Kindergarten. Die Fenster waren mit farbenfrohen Bastelarbeiten der Kinder geschmückt, deren Gelärme sie begrüßte, sobald sie die Tür geöffnet hatte. Sie fand ihre Tochter nur mit Hilfe einer der Erzieherinnen in der Ecke, wo die Plüschtiere aufgehoben wurden. Um sich herum hatte Julie Teddys, Elefanten und Kätzchen ausgebreitet und war völlig vertieft, so dass sie ihre Mutter erst bemerkte, als Andrea sie ansprach. Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht und hatte die Plüschtiere gleich vergessen. Ihre Zöpfe waren schief, aber das störte sie nicht.

„Komm, Süße, lass uns nach Hause fahren“, sagte Andrea. Julie zappelte unruhig, als Andrea versuchte, ihr die Jacke anzuziehen. Mit großen Augen schaute Julie ihr dabei zu, wie sie den Reißverschluss schloss. Die Kleine versuchte das immer wieder selbst, schaffte es aber nicht. Ihr fehlten noch ein wenig das Fingerspitzengefühl und die Geduld dafür.

Als sie fertig war, streckte sie die Hand in die Höhe und tastete nach Andreas. Es war ein Ritual. Sie wollte immer an der Hand ihrer Mutter gehen, sei es auch nur für drei Schritte.

Gemeinsam näherten sie sich dem Auto. Plötzlich quiekte Julie verzückt und zeigte auf einen kleinen Hund auf der anderen Straßenseite.

„Mami, da“, sagte sie mit leuchtenden Augen.

„Magst du Hunde?“, fragte Andrea.

Julie nickte eifrig. „Will haben!“

„Vielleicht bekommen wir ja einen“, sagte Andrea augenzwinkernd. Julie wusste genau, dass Greg ebenfalls Hunde liebte und Andrea hatte schon Befürchtungen, dass ihre Tochter ihn später darauf ansprach.

Andrea spürte die interessierten Blicke einer anderen Mutter, weil sie Deutsch mit ihrer Tochter sprach. Gregory und sie hatten sich das im Vorfeld genau überlegt. Andrea sprach mit Julie Deutsch und er Englisch, in ihrer Anwesenheit benutzten sie untereinander auch meistens Englisch, damit Julie sich daran gut gewöhnen konnte. Das klappte bestens. Jedes Mal, wenn sie in den Kindergarten kam, plapperte sie gleich auf Englisch los. Sie wusste, dass nur Andrea, Greg und seine Familie sie verstanden, wenn sie Deutsch sprach. Andrea beneidete sie um die Chance, zweisprachig aufzuwachsen und verstand immer noch nicht, wie sie die Sprachen trennte.

Nur Minuten später waren sie zu Hause. Julie stürmte ins Haus und nahm ihr kleines Stoffkrokodil Leelu in Empfang. Nach einem kurzen Besuch in ihrem Zimmer fragte sie, ob sie fernsehen dürfe. Andrea war einverstanden und setzte sich in einer Ecke des Wohnzimmers an den Computer, um ihre Mails abzurufen. Zu ihrer Freude fand sie eine Mail von ihrer Freundin Sarah. Sie arbeitete als Gutachterin und Betreuerin fürs Jugendamt in Leicester. An der Uni waren die beiden Zimmernachbarinnen gewesen. Sie fehlte Andrea sehr, denn sie sahen einander nur noch selten. Inzwischen hatte Sarah einen Freund, mit dem sie zusammenwohnte, aber manchmal kam sie allein zu Andrea und Gregory, um sie zu besuchen. Immerhin war sie Julies Patentante.

Andrea hatte die Mail gerade zur Hälfte beantwortet, als die Haustür geöffnet wurde, deshalb stand sie auf und ging Gregory zur Begrüßung entgegen. Ohne etwas zu sagen, küsste sie ihn. Früher hatte sie einmal gedacht, dass man sich aneinander gewöhnte; dass die Leidenschaft nachließ, wenn man eine Weile verheiratet war. Aber das stimmte nicht.

„Hallo.“ Er strich ihr übers Haar. „Schön, dass du schon da bist.“

„Hast mir gefehlt.“

„Hier bin ich.“

„Hattest du einen guten Tag?“

Er nickte. „Wir konnten den Auftrag beenden. Und bei dir?“

„Ich hoffe, ich konnte Christopher helfen. Er kam bei einem Mordfall nicht weiter.“

„Du kannst ihm immer helfen.“ Gregory zwinkerte seiner Frau zu. „Wo ist denn unsere Prinzessin?“

„Fernsehen.“

„Aber nicht diese Barbie-Serie, oder?“

Lachend folgte Andrea ihm ins Wohnzimmer. Nein, es war nicht die Barbie-Serie. Julie hatte zum Glück für eine Zweieinhalbjährige viel Geschmack. Dennoch war immer Zeit für eine ausgiebige Daddy-Begrüßung. Sie schlang die Ärmchen um sein Bein und sah Andrea zufrieden an, so als würde sie ihr sagen wollen, dass Papa jetzt ihr gehörte.

Er hatte alle Hände voll zu tun, die kleine Klette wieder loszuwerden, um Andrea in die Küche zu folgen. Dasselbe tat Julie allerdings auch. Gregory strich ihr übers Haar und lächelte.

„Will Arm!“, forderte sie entschlossen, die Arme vor der Brust verschränkt. Mittendrin spähte Leelu heraus.

Gequält sah Gregory seine Frau an, beugte sich zu Julie hinab und hob sie auf den Arm. „Du bist aber ganz schön schwer.“  

Sie schüttelte grinsend den Kopf.

„Doch, ich denke schon.“ Er gab ihr einen Stupser auf die Nase. Wieder schüttelte sie den Kopf.

„Was ist los, wer hat Hunger?“, fragte Andrea.

„Ich!“, krähte Julie.

„Wer kocht?“, fragte Greg. Andrea bot an, es diesmal zu übernehmen, so dass er die ersehnte Chance nutzen konnte, sich ein wenig die Zeit mit Julie zu vertreiben. Von der Küche aus beobachtete Andrea die beiden, während sie sich um Fischstäbchen, Spinat und Kartoffelbrei kümmerte. Die Kleine versetzte Andrea gedanklich zurück in ihre eigene Kindheit, so oft gab es jetzt Kinderessen. Aber das störte sie nicht, denn es war lecker.

Greg und Julie fochten einen fürchterlichen Kampf auf dem Teppich vor dem Sofa. Sie wollte ihm zeigen, wer das Sagen hatte und thronte nach kurzer Zeit siegreich auf seiner Brust.

„Oh nein“, rief Gregory gespielt. „Ich bin besiegt! Bitte Gnade ...“

„Nein!“, rief Julie entschlossen.

„Nein? Ah, da fällt mir etwas ein. Pass auf, ich kitzle dich, bis du nicht mehr kannst.“

Julie kreischte vor Entsetzen, als Gregory sie ohne große Mühe festhielt und kitzelte. Sie lachte und wollte weglaufen, aber er ließ sie nicht.

„Mami!“, schrie sie schließlich, als sie unter ihm lag und Tränen lachte. „Mami!“

Mit skeptischem Blick kam Andrea näher. „Was treibt ihr?“

„Ich gewinne gerade“, sagte Gregory.

„Das darfst du nicht. Sie ist doch eine Prinzessin.“

„Genau!“, rief Julie triumphierend.

„Oh, natürlich. Entschuldigt, Hoheit“, sagte Gregory und warf sich theatralisch vor seiner Tochter auf die Knie. Julie nutzte die Gunst der Stunde und kletterte auf seinen Rücken. Sie versuchte, sich so weit hochzuziehen, dass sie sich auf seine Schultern setzen konnte. Da sie es allein nicht schaffte, half er ihr dabei.

„Bin ich jetzt dein Thron?“, fragte er.

„Thron?“

„Du weißt schon, der tolle goldene Stuhl, auf dem die Majestäten immer sitzen.“

„Ja! Daddy Thron!“

Andrea lachte darüber, dass Julie das wie selbstverständlich auf Englisch kundtat. Dann kehrte sie in die Küche zurück, allerdings folgten die beiden ihr. Gregory erklärte Julie, dass die Fischstäbchen irgendwann mal Flossen gehabt hatten und fing sich dafür einen ziemlich verständnislosen Blick von Andrea ein.

„Nachher glaubt Julie das noch“, sagte sie. „Kühe sind auch nicht lila, nur weil Milka das behauptet.“

„Ich weiß.“ Gregory machte sich gemeinsam mit Andrea daran, den Tisch zu decken und übernahm es kurz darauf sogar, Julie beim Essen zu helfen. Das fand Andrea sehr lieb von ihm. Überhaupt war sie glücklich damit, wie er sich um seine Tochter kümmerte. Greg war einer der Väter, die ihren Nachwuchs auf Händen trugen. Andrea hatte schon Angst, dass Julie eines Tages verwöhnt und verzogen war.

Sie waren gerade mit dem Essen fertig und räumten die Spülmaschine ein, als es klingelte. Greg nickte Andrea zu, deshalb ging sie zur Tür und stutzte, als sie Rachel durch die Scheibe sah. Sie war allein – und sie hatte geweint.

Oh nein, dachte Andrea. Sie war der Wahrheit in Gedanken zu nah gekommen. Rachels hübsches Gesicht so traurig zu sehen, machte sie betroffen.

Schnell öffnete sie und begrüßte Rachel mit einem Lächeln. „Du bist es. Komm doch rein.“

Doch Rachel bewegte sich nicht, sah Andrea nur schniefend an. Die glatten braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, ihre blauen Augen waren gerötet, ihre Züge versteinert.

„Komm schon“, sagte Andrea und winkte ihr. Jetzt bewegte sie sich doch. Wortlos umarmte Andrea sie und wartete ab. Wieder schniefte sie, mit den Tränen kämpfend.

„Wer ist da?“, fragte Greg aus der Küche.

„Es ist Rachel“, sagte Andrea, schob sie sanft in den Flur und schloss die Tür. „Was ist denn los?“

„Ich habe Scheiße gebaut“, stammelte Rachel unverblümt. „Verdammt ...“

„Greg, kannst du Julie nach oben bringen?“, bat Andrea.

„Klar.“

Sie waren schon verschwunden, als Andrea mit Rachel das Wohnzimmer betrat. Nebeneinander setzten sie sich aufs Sofa, wo Rachel erst einmal nach einem Taschentuch suchte.

„Ich habe es so verbockt ...“ Sie tupfte sich über die Augen.

„Erzähl es mir.“

Ihre Hände zitterten, sie wagte kaum, Andrea anzusehen. „Ich bin schwanger.“

Im ersten Moment fühlte es sich auch für Andrea an wie ein Schock. Um sich den Schreck nicht anmerken zu lassen, lächelte sie. „Das ist doch toll.“

„Dann frag mal Jack ...“

Andrea runzelte die Stirn. „Wieso? Was ist denn los?“

Wieder wischte Rachel sich über die Augen. „Du weißt, wie gern ich ein Kind hätte. Darüber habe ich immer wieder mit ihm gesprochen. Stundenlang. Er denkt wohl, dass er sich in die Sklaverei begibt, wenn er heiratet und eine Familie gründet. Ich weiß nicht, was das soll. Er liebt Julie. Ich würde es verstehen, wenn er sagen würde, er will keine Kinder. Aber seit Jahren höre ich nur: Nicht jetzt. Zu früh.“

Andrea nickte nur und schwieg, um sie nicht zu unterbrechen.

„Langsam habe ich es satt. Er will sich nicht festlegen. Als ich ihn gefragt habe, wann er es sich wünschen würde, sagte er, er wisse es nicht. Er lässt mich total in der Luft hängen. Ich bin jetzt dreißig, wie alt soll ich noch werden? Mit jedem Monat, den ich warte, wird es riskanter.“

„Jetzt noch nicht.“

„Ja, aber wann ist es dem Herrn denn genehm? Ich habe es satt. Und ich habe die Pille abgesetzt. So sieht es aus.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Jetzt war Andrea alles klar. Ihre erste Reaktion war Entsetzen. Reflexartig wollte sie Rachel an ihre Verantwortungslosigkeit erinnern, aber dann hielt sie den Mund. Das Ganze war etwas komplexer.

„Du sagst gar nichts“, stellte Rachel gleich fest.

„Was soll ich denn sagen?“

„Zum Beispiel, dass ich übergeschnappt bin. Das waren jedenfalls Jacks Worte.“

„Ist mir völlig egal, was Jack gesagt hat“, erwiderte Andrea. „Mich interessiert, warum du das gemacht hast.“

„Weil ich nicht mehr weiter wusste ... ich habe schon darüber nachgedacht, mich von ihm zu trennen. Ich will eine Familie, Andrea. Jetzt. Nicht erst in fünf Jahren. Wir hatten deshalb nur noch Streit. Ich bin an den Punkt gelangt, an dem ich mich dafür entschieden habe, eine Familie zu wollen. Wenn er damit ein Problem hat, schön. Dann soll er seiner Wege gehen und ich ziehe mein Kind allein groß. So weit bin ich jetzt. Ich habe die Pille abgesetzt, um zu sehen, was passiert. Ich dachte, vielleicht freut er sich, wenn es klappt. Aber als ich es ihm vorhin gesagt habe, ist er ausgerastet.“

Was Andrea verstehen konnte. Aber sie konnte auch Rachel verstehen. Sie war verzweifelter, als Andrea vermutet hatte. Und Jack war ein wahnsinnig netter und witziger Mensch, aber er konnte auch ernsthaft böse werden. Darin war er seinem Bruder sehr ähnlich. Beide waren grundsätzlich geduldig und friedlich, aber wenn man ihnen zu nah kam, konnten sie auch beißen. Und zwar heftig.

„Was ich mir dabei gedacht hätte, schließlich hätte er da auch noch mit zu entscheiden. Aber das ist genau der Punkt. Bislang hat immer er entschieden. Er hat entschieden: Jetzt nicht. Und ich habe ihm gesagt, dass ich es Leid bin und ihn eher verlasse, als mich noch länger hinhalten zu lassen.“ Plötzlich brach Rachel in heftiges Schluchzen aus. Andrea legte einen Arm um ihre Schultern und reichte ihr noch ein Taschentuch.

„Ich soll gehen. Das hat er gesagt. Wenn ich schon bereit bin, mein Kind ohne ihn zu kriegen, soll ich gehen und ihn damit in Ruhe lassen.“

Sie war überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Andrea allerdings auch nicht. In ihr gärte eine stille Wut. Man durfte nicht auf die leichte Schulter nehmen, was Rachel getan hatte. Das war ein großer Vertrauensbruch und es ging hier nicht um Kleinigkeiten. Insofern war Jacks Wut berechtigt. Aber Rachel hatte tatsächlich nur den Spieß umgedreht und deshalb hatte er kein Recht, jetzt einfach auf stur zu schalten.

„Was ist denn hier los?“ Gregory war in der Tür erschienen.

„Hm“, machte Andrea, während Rachel laut weinte. „Wo fange ich da an?“

„Wo ist mein Bruder?“

„Das ist es ja. Dein Bruder regt mich gerade auf.“

„Warum das?“ Greg setzte sich ihnen gegenüber und Andrea versuchte, ihm möglichst objektiv zu erzählen, was passiert war. Allerdings fing sie anders an als Rachel und erzählte zuerst, welche Probleme es bei ihr und Jack gab, um dann dazu überzuleiten, was geschehen war.

Gregory bedachte Andrea schließlich mit ungefähr dem Blick, den sie sich auch bei Jack vorstellte. „Das ist jetzt nicht euer Ernst.“

Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung. Egal, wie falsch Rachel vielleicht gehandelt hatte, Vorwürfe konnte sie gerade nicht brauchen.

„Sie hat einfach die Pille abgesetzt, ohne es ihm zu sagen?“, platzte er trotzdem heraus.

Andrea verdrehte die Augen. „Das war nicht richtig, keine Frage. Aber findest du vielleicht richtig, was dein Bruder macht? Er schiebt die Entscheidung vor sich her. Und warum? Aus Faulheit. Er hat keine Lust, Verantwortung zu übernehmen. Das könnte lästig sein. Julie findet er ganz toll, denn sie kann er wieder abgeben. Nur ein eigenes Kind will er jetzt nicht, das könnte Arbeit machen.“

„Moment. Stop.“ Greg hob die Hand. „Mein Bruder ist für Rachel schon ein völlig anderer Mensch geworden.“

„Ich weiß. Also liegt ihm etwas an ihr.“

„Natürlich. Aber es ist schon viel für ihn, dass er überhaupt ein Kind in Erwägung zieht. Noch vor fünf, sechs Jahren hätte ich alles darauf verwettet, dass er das nie tut.“