Im Auftrag der Dunkelheit - Narcia Kensing - E-Book

Im Auftrag der Dunkelheit E-Book

Narcia Kensing

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Beschreibung

England, spätes neunzehntes Jahrhundert. Die kesse Taschendiebin Jill muss für ihre zerrüttete Familie den Großteil des Lebensunterhalts verdienen - eine schwere Bürde. Ein Ausbruch aus einem Leben in Armut scheint unmöglich. Als eines Nachts jedoch Cryson, ein äußerst wohlhabender und charmanter junger Mann, in Jills Leben tritt, scheint sich das Blatt endlich zu wenden. Was vielversprechend beginnt, endet jedoch in einem Albtraum, denn Crysons Interesse an Jill ist nicht nur rein romantischer Natur. Er entführt sie in eine von Vampiren bevölkerte Stadt und beauftragt sie mit dem Raub eines wertvollen Artefakts. Der Lohn? Ein Leben in Reichtum. Doch sogar für eine talentierte Taschendiebin erweist sich die Aufgabe als brandgefährlich ...

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Narcia Kensing

Im Auftrag der Dunkelheit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Ausblick auf Band 2:

Weitere Werke der Autorin:

Impressum neobooks

Prolog

Haven, Südengland, 12. August 1849

Der Liebreiz dieser Nacht war trügerisch, denn nach dem anhaltenden Regen der letzten Tage war sie wie geschaffen für einen Hinterhalt. Eine Schande, den Frieden mit Blut besudeln zu müssen, aber eine Gelegenheit wie diese würde alsbald nicht wiederkehren. Keine Wolke trübte den Blick auf das schwarze, mit unzähligen Sternen gespickte Firmament. Hier am Stadtrand brannten die Gaslaternen nicht die ganze Nacht hindurch, und so umhüllte die Dunkelheit zwei Gestalten, die sich lautlos über die Dächer bewegten. Die Straße unter ihnen war zu so später Stunde menschenleer, nur ein paar Ratten huschten über den Bürgersteig, reckten ihre Nasen schnüffelnd in den Wind und verschwanden dann in einem Loch unter der Bordsteinkante.

»Hier ist es. Bleib stehen«, flüsterte Lesward. Ray drehte sich zu ihm um und nickte. Mit einer Hand umfasste er eine verzierte steinerne Säule, die den oberen Abschluss der Gebäudemauer bildete. Er suchte mit den Füßen einen sicheren Halt zwischen den Dachpfannen und ließ sich langsam auf sein Hinterteil sinken. Sein Kamerad tat es ihm nach. Wie so oft oblag Lesward das Kommando über die Gruppe. Ray respektierte seine Entscheidungen, obwohl er nur widerwillig Befehle ausführte.

Ray verengte die Augen zu Schlitzen und spähte auf die von hohen Pappeln gesäumte gegenüberliegende Straßenseite. Das dichte Laubwerk verwehrte ihm den Blick auf die dahinter liegende alte Lagerhalle.

»Bist du sicher, dass es der richtige Ort ist?«, knurrte er.

»Camael observiert die Halle schon seit mehreren Nächten«, sagte Lesward, den Blick starr nach vorn gerichtet. »Es ist ein Treffpunkt für Jugendliche und Verliebte.« Lesward verdrehte unmerklich die Augen, und die Art, wie er seinen letzten Satz betonte, ließ keinen Zweifel darüber offen, was er von romantischen Liebeleien hielt. Sich selbst hingegen betrachtete Lesward als einen finsteren, unwiderstehlichen Gesellen, dem die Frauen zu Füßen liegen mussten. Und meistens behielt er in diesem Punkt sogar Recht. Seine blonden, stets ungekämmten Haare und der gelbliche Schimmer in seinen Augen verliehen ihm ein geheimnisvolles Aussehen.

Ray schüttelte seine Gedanken ab. Sie hatten schließlich eine Mission zu erfüllen. »Was lagern die Menschen dort?«

»Nichts mehr. Die Halle ist leer. Zumindest war sie es bis gestern noch.«

Ray wandte den Kopf nach vorn und suchte die Straße mit den Blicken ab. »Wo sind die anderen?«

Lesward deutete mit dem Kinn auf die Halle. »Sie behalten den Hintereingang im Blick. Ich weiß nicht genau, welchen Platz sie sich ausgesucht haben. Ich denke, sie sitzen irgendwo in den Bäumen.«

Ray lauschte in die Nacht hinein. Außer dem weit entfernten Lärm der Stadt konnte er keine verdächtigen Geräusche ausmachen. Nur wenige Schritte hinter der Lagerhalle warfen sich seichte Wellen gegen die Kaimauer, ansonsten blieb es still. Dieser alte Teil des Hafengeländes wurde von den Menschen schon seit langem nicht mehr genutzt. In der Ferne flackerten vereinzelt Lichter, die auf der Wasseroberfläche zu tanzen schienen. Es waren die erleuchteten Behausungen auf Falcon’s Eye, der Insel der Besserverdienenden, die auch für Ray und die anderen Krieger eine Heimat war.

Ray verlor das Zeitgefühl. Er wusste nicht, wie lange sie bereits vom Dach des dreistöckigen Gebäudes auf die darunter liegende Straße starrten. Seine Muskeln waren angespannt, er fühlte sich hellwach. Eine Mischung aus Erregung, Anspannung und Vorfreude durchflutete seinen Körper. Er wusste, dass seine Augen aufgrund der Konzentration und der inneren Unruhe gelblich funkelten. Lesward erging es scheinbar wie ihm.

 Ray fürchtete sich nicht. Er fürchtete sich nie. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal das beklemmende Gefühl von Angst in sich gespürt hatte. Er wusste, dass es ihm eines Tages zum Verhängnis werden konnte, aber auch in dieser Nacht rang er seine Emotionen nieder. Es zählte einzig ihre Mission.

Die Haare auf seinen Armen sträubten sich, als er in der Ferne das lauter werdende Geräusch von schlurfenden Schritten vernahm. Er drehte den Kopf und sah, wie sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit schälten. Sie waren noch zu weit entfernt, um mehr als ihre vagen Silhouetten erkennen zu können.

Lesward schnaubte. »Ein Mann und eine Frau. Möchte wetten, sie treiben sich heimlich in der Hafengegend herum. Ehebrecher möchte ich meinen.«

Ray bewunderte Leswards scharfe Sinne bisweilen. Erst eine ganze Minute später konnte auch Ray den Hut des Mannes und das wallende Kleid der Frau erkennen. Rays Sinne waren zwar schärfer als die der Menschen, aber Lesward war um Jahrhunderte älter als er und sein Blut war rein. Er konnte in der Dunkelheit perfekt sehen.

Ein glockenreines Lachen hallte von den Häuserwänden wider. Der Mann legte seinen Arm um die Hüfte der Dame, die Ray auf höchstens achtzehn Jahre schätzte. Sie stieß den Arm ihres Begleiters herausfordernd beiseite, lachte ihn dabei jedoch an. Ihr Verehrer drückte sie daraufhin nur noch fester an sich und küsste sie energisch auf den Mund. Arm in Arm verschwanden die beiden hinter der nächsten Ecke. Noch Minuten später konnte Ray ihr angeheitertes Lachen hören.

Ein frischer Wind kam auf. Er peitschte Ray die Haare ins Gesicht. Er fror nicht, trotzdem schloss er die Knopfleiste seines Ledermantels. Plötzlich riss Lesward in einer ruckartigen Bewegung den Kopf nach oben und neigte ihn, als ob er lauschte. Seine gelben Augen zuckten hin und her. Ray erinnerte er in diesem Moment an einen Raubvogel.

»Es kommt jemand«, flüsterte Lesward.

Aus einer Seitengasse, die neben dem Gebäude, auf dem sie sich befanden, in die breite Hafenstraße mündete, tauchten fünf Menschen auf, drei junge Männer und zwei Damen. Sie unterhielten sich flüsternd. Ihre schlurfenden Schritte hallten überdeutlich laut in Rays Ohren. Sie steuerten geradewegs auf die alte Halle zu. Um die Schultern der jungen Frauen hingen Umhänge aus dickem Pelz. Vermutlich gehörten sie zur Oberschicht. Die halbwüchsigen Kerle trugen je einen Rucksack. Ihre Haare waren streng gescheitelt, die Anzüge tadellos.

»Sind sie das?«, flüsterte Ray.

Lesward nickte. »Das sind sie. Sie treffen sich hier, um zu trinken und sich der Wollust hinzugeben. Mehrmals pro Woche kommen sie hierher. Das wissen unsere Feinde auch.«

Ray beobachtete, wie der erste Mann durch ein zersplittertes Seitenfenster in die Halle hinein stieg. Er reichte seiner weiblichen Begleitung eine Hand. Als auch die anderen beiden Männer und die verbliebene Frau im Inneren der Halle verschwunden waren, drang ein schwacher Lichtschein durch die zerstörten Fenster. Vermutlich hatten sie eine Lampe entzündet. Wenn Lesward Recht behielt, würden ihre Feinde ebenfalls bald hier aufkreuzen. Junge Menschen allein in einer abgelegenen Halle – das war ein gefundenes Fressen für diesen Abschaum. Lesward bezeichnete sie auch gerne als die Parasiten der Unterwelt. Sie kamen nachts aus ihren Löchern und vergingen sich an ahnungslosen Menschen. Seit mehr als einem Jahrhundert lieferten sie sich Kämpfe mit dem Orden, in den Ray hinein geboren wurde und der sich seinerseits einen Spaß daraus machte, die Ritter zu töten. Genau genommen gehörten sie allesamt zur selben Art und es handelte sich um Brudermord, aber davon wollte Lesward nichts wissen.

Das Licht im Inneren der Halle flackerte, gelegentlich drangen Wortfetzen oder Gelächter an Rays Ohren. Es dauerte keine halbe Stunde, als sich erneut etwas auf der Straße bewegte. Ray lief ein kalter Schauder über den Rücken. Er krallte sich in den Stuck der Gebäudemauer, bis sich seine Fingerknöchel weiß färbten. Sein Blut schien zu kochen, als er die drei Gestalten beobachtete, die lautlos über die Straße schwebten. Ihre Bewegungen waren schnell, schneller als die der Menschen, und trotzdem von einer Eleganz wie man sie nur bei Raubkatzen findet. Sie trugen lange Mäntel, deren Kapuzen sie tief ins Gesicht gezogen hatten. Sie sahen sich kurz nach allen Seiten hin um, bevor sie ebenfalls durch das zerbrochene Fenster in die Halle eindrangen. Ray knurrte und knirschte mit den Zähnen.

»Da sind sie. Ich will ihr Blut riechen«, sagte er.

Er wollte gerade mit einem gewaltigen Satz vom Dach springen, als Lesward ihn an der Schulter zurück hielt.

»Lass das. Wir wollen da drin keine Panik. Wir warten, bis sie wieder heraus kommen. Lass uns hoffen, dass sie wenigstens den Anstand besitzen, den Menschen anschließend das Gedächtnis zu löschen.«

Wenn sie sie nicht vorher töten, fügte Ray in Gedanken an. Er spürte Wut in sich aufschäumen. Er suchte mit schnellen Augenbewegungen die Bäume und Gebäude rings um die Halle ab. Irgendwo dort hockten sein Vater und die beiden anderen Krieger. Nichts rührte sich. Scheinbar warteten sie auf Leswards Befehl.

Ein spitzer Schrei drang aus dem Inneren der Halle. Danach rumpelte es. Rays Muskeln verhärteten sich, Schweiß trat auf seine Stirn. Lesward saß noch immer regungslos neben ihm, die Beine über die Dachkante baumelnd. Als es abermals rumpelte und jemand hustete, hielt es Ray auf seinem Posten nicht mehr aus. Er stieß sich von der Mauer ab und landete beinahe lautlos auf dem Bürgersteig.

»Bist du verrückt? Komm sofort wieder her«, krächzte Lesward mit gedämpfter Stimme. Ray ignorierte ihn. Er tastete nach den beiden Säbeln, die an seinem Gürtel baumelten und schlich auf das zerbrochene Fenster der Halle zu. Die Reste der Fensterscheiben waren staubblind. Ray spähte durch das Loch. Eine kleine Laterne stand in einiger Entfernung auf dem Boden der Halle. Einer der Anhänger des befeindeten Vampirclans hatte den Arm um die Schultern einer Frau gelegt, ein anderer lieferte sich ein Gerangel mit einem der jungen Burschen.

Rays empfindliche Ohren vernahmen einen leisen Pfiff hinter ihm. Blitzartig drehte er sich um, konnte aber nichts sehen.

»Hier oben«, flüsterte eine Stimme.

In einer der Pappeln hockte sein Vater auf einem Ast. Auch seine Augen glühten gelblich. »Was machst du da unten? Willst du uns verraten?« Er zog die Augenbrauen verärgert zusammen.

Ray schüttelte den Kopf. »Ich kann das einfach nicht mit ansehen.« Er wandte sich ab und machte sich daran, die Halle durch das zerbrochene Fenster zu betreten. Hinter ihm verspürte er einen Luftzug, dann lag eine Hand auf seiner Schulter. Sein Vater war ihm gefolgt. »Du gehst dort nicht alleine hinein. Ray, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du vorsichtiger sein musst. Deine Starrköpfigkeit wird dich eines Tages umbringen.«

Ray ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Sein Vater stieß nur ein kurzes Knurren aus, zog ein Klappmesser aus seiner Tasche und folgte ihm.

Die Halle war groß, und bis auf ein paar Fässer und Kisten, die überall verteilt herum standen, auch vollkommen leer. Ray zog seine Säbel und stürzte sich wütend auf den Vampir, der die Frau belästigte. Sie kreischte, als sie die Waffen sah. Als sie Ray erblickten, machten zwei der drei Vampire einen unmenschlich hohen Satz, hangelten an der Deckenkonstruktion entlang, traten ein weiteres Fenster ein und schwangen sich nach draußen. Ray versuchte nicht, ihnen zu folgen. Er war sich sicher, dass Lesward sich um sie kümmern würde.

Ray griff nach dem Arm des verbliebenen Kerls. Zu seiner Überraschung schien sich dieser nicht einmal wehren zu wollen. Stattdessen zeigte er ihm ein breites Grinsen. Einer der jungen Menschenmänner rannte panisch zum Ausgang, stieß auf seinem Weg aber ein Fass um. Sofort stieg Ray der Geruch von Schwarzpulver in die Nase.

»Pass auf!« Die Stimme seines Vaters klang angstverzerrt. Ray hatte ihn niemals panisch erlebt. Der Vampir, der bis dahin immer noch die junge Frau festgehalten hatte, ließ sie los und griff mit der freien Hand in die Innentasche seiner Jacke. Ray erwartete, dass er einen Revolver zog, deshalb holte er mit seinem Säbel aus. Noch während sich die Klinge in den Hals seines Feindes bohrte, erkannte Ray, dass er keine Waffe, sondern ein kleines Gefäß in der Hand gehalten hatte. Die Szene spielte sich in unendlicher Langsamkeit vor Rays Augen ab. Er hörte, wie sein Vater hinter ihm schrie: »Komm da weg!«

Es war zu spät. Das Glasgefäß fiel zu Boden. Erst jetzt begriff Ray, was geschehen war. Der Vampir hatte die Krieger in eine Falle gelockt, und Ray war geradewegs hinein getappt. Nitroglycerin! Zu dumm, dass die Märchen von der Unsterblichkeit von Vampiren nicht ganz der Wahrheit entsprachen.

Das nächste, an das er sich erinnerte, waren die gewaltigen Schmerzen in seinem Gesicht und seiner linken Brustseite. Er riss die Augen auf. Er wusste nicht, wie er an die Kaimauer geraten war, aber direkt neben ihm schlugen die Wellen gegen das Ufer. Ein entsetzlicher Pfeifton in seinem Kopf übertönte jedes andere Geräusch. Er schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge. Als er den Kopf drehte, klaffte dort, wo sich die Lagerhalle befunden hatte, ein Loch in der Häuserreihe. Plötzlich dämmerte ihm, was geschehen war. Der Sprengstoff hatte ihm den Körper zerfetzt. Der letzte Gedanke, bevor die erlösende Ohnmacht in einhüllte, galt seinem Vater.

Kapitel 1

Fünfzig Jahre später

Sie wollte ihn töten. Ja, sie verspürte den wahrhaftigen Drang, hinaus zu gehen und ihm das Genick zu brechen. Jeden Morgen dasselbe Theater! Dieser grausame Lärm, der auf ihre Nerven einhackte, weckte Aggressionen in Jill.

Sie zog sich die Decke über den Kopf und schrie aus voller Kehle in ihr Kissen. Es tat gut, seinem Ärger Luft zu machen. Sie musste sich wieder beruhigen, ansonsten würde der Hahn des Nachbarn keinen weiteren Sonnenaufgang erleben.

Es half nichts. An Schlaf war nicht mehr zu denken, egal wie fest Jill sich die Decken auf die Ohren presste. Wie konnten nur all die anderen Nachbarn dieses Kikeriki ignorieren? Das Biest würde alsbald jedenfalls nicht aufgeben, Jill in den Wahnsinn zu treiben, deshalb setzte sie sich schlaftrunken im Bett auf. Draußen war es noch fast dunkel. Sie hatte sicherlich nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Sie verfluchte sich dafür, die halbe Nacht durch die Wohnviertel geschlichen zu sein, nur um sich den Inhalt halb geleerter Bierflaschen einzuverleiben, die die feiernde Bevölkerung an einem Freitagabend achtlos weggeworfen hatte.

Ihr Kopf schmerzte. Jill strich sich die zotteligen Haare aus dem Gesicht, stieß einen missmutigen Seufzer aus und schlug die Decke beiseite. Dann stand sie auf, schlüpfte in ihre zerschlissenen Pantoffeln und taumelte zur Tür. Sie trat auf den Flur hinaus und lauschte. Aus dem Nebenzimmer drangen keine Laute, ihre Schwester schlief noch tief und fest. Unten aus der Stube hörte Jill das laute Schnarchen ihres Vaters. Vermutlich war er wieder betrunken zu Bett gegangen.

Es war kalt im Haus. Dana musste vergessen haben, am Abend den Kachelofen neu zu bestücken. Wenn ihr Vater erwachte, würde es ein Donnerwetter geben.

Jill zog sich ihr Nachthemd enger um die Schultern und stieg die knarrende Treppe hinunter in die Küche. Sie entzündete eine Petroleumlampe und schlüpfte in ihre Kleidung, die sie in der Nacht über eine Stuhllehne gehängt hatte. Sie wusste, dass sie sich eigentlich hätte waschen müssen, aber Jill verspürte nicht den Drang, das Haus zu verlassen und den ganzen Weg bis zur Wasserpumpe zu gehen. Sie entwirrte notdürftig ihre Haare mit den Fingern und rieb sich das Gesicht. Ihr Blick fiel auf den Herd und die alte Teekanne, die darauf stand. Sie hätte jetzt ein warmes Getränk vertragen können, doch dazu hätte sie Feuer machen müssen. Die Faulheit siegte schließlich. Jill nahm den Teekessel vom Herd. Es war noch Wasser darin. Sie goss sich etwas davon in eine Tasse und trank. Das Wasser schmeckte widerlich abgestanden. Dann setzte sie sich auf den Küchenstuhl, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte ihren Kopf mit den Händen. Bald würde ihre Schwester aufstehen und frisches Wasser holen, so lange würde sie noch warten müssen. Wahrscheinlich müsste Jill sich dann wieder das Genörgel anhören, weshalb sie denn bloß so faul sei. Nebenan schnarchte der Vater noch immer.

Jill wusste nicht genau, ob sie eingenickt war, aber als sie hochschreckte, ging draußen bereits die Sonne auf. Sie stieß mit dem Arm versehentlich ihre halb geleerte Tasse vom Tisch, die daraufhin über den Dielenboden polterte und gegen den Metallfuß des Herdes stieß. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Nur Augenblicke später vernahm Jill das verärgerte Knurren ihres Vaters aus der angrenzenden Stube. Sie hörte das Knarren des Sofas, dann schlurfende Schritte.

»Jill!« Seine Stimme war tief und laut. Er betrat die Küche, sein Hemd war zerknittert, die Schuhe hatte er scheinbar auch nicht ausgezogen, bevor er eingeschlafen war. Schon aus der Distanz roch Jill den Schnaps in seinem Atem.

»Jill, was soll das? Hast du nicht alle Tassen im Schrank?«

Jill blieb vollkommen ungerührt. »Nein, im Schrank ist die Tasse tatsächlich nicht mehr. Sie liegt unter dem Herd.«

»Wenn du wieder frech wirst, dann kannst du was erleben.« Ihr Vater machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. Dann schwankte er jedoch zur Seite und stützte sich gegen den Türrahmen. Jill gab sich unbeeindruckt. Sie kannte die Ausbrüche ihres Vaters nur allzu gut, vor allem, wenn er getrunken hatte.

»Du nichtsnutziges Ding, wie spät ist es?« Seine Worte und Reaktionen waren die eines Säufers, unlogisch und unberechenbar. Jills Blick glitt hinüber zu der Pendeluhr, die über der Kommode in der Küche hing. Sie hatte nie gelernt, eine Uhr zu lesen, doch sie wusste, dass die Position der Zeiger bedeutete, dass es noch furchtbar früh war.

»Entweder machst du dich bald nützlich, oder du fliegst aus meinem Haus!«

»Ohne mich könntest du deinen Suff gar nicht finanzieren, Brad.« Jill verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück. Wenn sie sich mit ihrem Vater stritt, sprach sie ihn grundsätzlich mit seinem Vornamen an. Die Bezeichnung Vater hatte er auch eigentlich gar nicht verdient.

»Ich biete dir ein Dach über dem Kopf.«

Jill machte eine abwertende Handbewegung. »Ich streite nicht mit dir, wenn du betrunken bist.« Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und stand auf. In diesem Moment hörte sie Schritte auf der Treppe. Nur wenig später erschien ihre Schwester Dana hinter ihrem Vater in der Küchentür.

»Warum müsst ihr euch schon am frühen Morgen anschreien?« Ihre Stimme klang flehend, beinahe weinerlich. Danas Füße waren nackt, die dunkelbraunen Locken unter einer Schlafhaube verborgen.

»Weil deine dumme Schwester sich die halbe Nacht herumtreibt anstatt für ihre Familie zu sorgen«, lallte Brad. »Und kalt ist es hier auch. Kannst du nicht wenigstens das Feuer im Ofen anfachen?«

Jill sog geräuschvoll die Luft ein. »Wessen Aufgabe ist es denn in anderen Familien, das Geld heran zu schaffen? Die der Kinder? Denk mal genau nach, Brad.«

Seine Augen verengten sich. »Ihr seid beide alt genug, um einen Mann zu finden, der sich um unser Haus und den Hof kümmert. Ein alter Mann sollte nicht schuften müssen, bis er in den Sarg steigt.«

Jill verbrannte ihren Vater mit einem bitterbösen Blick. »Alt. Brad, du bist noch nicht alt. Du könntest durchaus arbeiten, wenn du doch nur nicht so viel trinken würdest.« Jill wandte sich um und griff nach der Türklinke der Wohnungstür.

»Möchtest du nicht frühstücken?«, fragte Dana. Es war bewundernswert, wie sehr sich ihre ältere Schwester darum bemühte, die Familie seit dem Tod ihrer Mutter zusammen zu halten. Für Jill gab es da nichts mehr zu kitten. Mehr als eine Zweckgemeinschaft waren sie nicht.

»Ich besorge mir selbst etwas zu essen.« Jill öffnete die Tür zum Hof. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen. Sie hörte, wie jemand hinter ihr in der Blechdose kramte, die immer auf der Kommode in der Küche stand. Dann prallte etwas kleines Hartes gegen ihren Hinterkopf. Sie fuhr herum und bückte sich danach. Es war ein Schilling.

»Geh und bring Milch mit, wenn du wiederkommst. Und wehe du gibst das Geld für etwas anderes aus«, knurrte ihr Vater.

Jill hob das Geldstück auf und steckte es in ihre ausgebeulte Hosentasche. Dann zerrte sie die Milchkanne aus dem kleinen Schuppen hinter dem Haus hervor, öffnete das quietschende Tor zum Grundstück und trat auf die Straße hinaus.

Hier am Stadtrand bewegten sich kaum Menschen auf den Straßen, die meisten waren mit der Bewirtschaftung ihrer Felder und der Versorgung des Viehs beschäftigt. Das Grundstück von Jills Familie verfiel seit Jahren, und Vieh besaßen sie schon lange keines mehr. Die Nachbarn mieden die Familie Tevell, und Jill konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Sie mochte diese Gegend nicht, sondern bevorzugte das geschäftige Treiben in der Innenstadt. Dort konnte sie weitgehend anonym untertauchen, dort gab es kein Gerede. Und dort konnte sie am ehesten dem nachgehen, was sie am besten konnte: stehlen. Sie war nicht stolz darauf, aber sie hatte durchaus Talent. Außerdem liebte sie die hohen Häuser, die Geschäfte, die bunten Plakate und die vornehm gekleideten Menschen, die sich in der Stadt tummelten. Manchmal bekam sie sogar eines der neuartigen Automobile zu sehen.

Jill betrat den breiten Bürgersteig der großen Hauptstraße, die Milchkanne baumelte an ihrem Handgelenk. Der Morgen war kühl und der Wind pfiff um die Häuserecken. Es war ein Tag im Spätsommer, trotzdem schaffte es die Sonne nicht, die Luft unter der dicken grauen Dunstschicht aufzuwärmen. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden, wenn sich der Nebel gelichtet hatte.

Die ersten Kaufmänner begannen damit, die Schilder und Warenständer vor ihre Geschäfte zu zerren. Der Blumenhändler, der gerade damit beschäftigt war, die Eimer mit den Margeriten neben dem Eingang seines Ladens aufzustellen, warf Jill einen grimmigen Blick zu. Jill überlegte, ob er einen Grund hatte, sie so missmutig anzusehen. Hatte sie ihn kürzlich bestohlen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war er einfach schlecht gelaunt, oder ihm missfiel Jills sonderbares Auftreten. In ihren Herrenhosen und dem groben Leinenhemd wirkte sie nicht sehr damenhaft, aber das war Jill egal.

Ein helles bing bing riss Jill aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf. Eine Straßenbahn ratterte um die Ecke. Hier in der Innenstadt gab es schon elektrische Bahnen, weiter draußen zogen Pferde die Waggons. Jill sah dem leuchtend grünen Gefährt sehnsuchtsvoll hinterher. Gerne wäre sie einmal mit der Bahn gefahren, aber sie wollte das Geld für ein Ticket nicht achtlos vergeuden. Sicherlich hätte ihr eine solche Fahrt viele Wege erleichtert, doch sie war jung und gut zu Fuß. Kaum jemand konnte so schnell laufen wie sie, nicht einmal die halbwüchsigen Jungen aus ihrer Nachbarschaft.

Nachdem Jill ihren Einkauf beendet hatte, wäre sie gerne noch ein wenig länger in der Stadt geblieben und durch den Park geschlendert, aber sie wusste, dass der Vater zuhause ungeduldig auf seine Milch wartete, deshalb trat sie den Rückweg unverzüglich an. Der Griff der schweren Kanne schnitt ihr in die Handflächen.

Gedankenverloren schlenderte sie die lange Hauptstraße zurück nach Garnick, dem Viertel der Bauern und einfachen Bürger, als sie plötzlich jemand von hinten gegen die Schulter stieß. Jill stolperte und hatte alle Mühe, keine Milch zu verschütten.

»Pass doch auf!«, fuhr Jill den Rüpel an, noch bevor sie sein Gesicht gesehen hatte. Ein hagerer junger Mann stand hinter ihr, die Fäuste in die Luft gereckt, im Gesicht ein boshaftes Grinsen. Seine Haare waren kupferrot, die Ohren standen ihm vom Kopf ab. Jill hätte dieses Gesicht überall wiedererkannt.

»Was willst du, Ricky?« Sie sah ihm herausfordernd in die Augen. Er überragte sie um eine ganze Kopflänge, doch Jill fürchtete sich nicht vor ihm.

»Du schuldest mir noch etwas«, sagte er.

»Tatsächlich? Was soll ich dir denn schulden? Einen Schlag auf die Nase?«

Ricky kam einen Schritt auf sie zu. Die ersten Passanten reckten die Köpfe nach den beiden, gingen jedoch ihres Weges.

»Geld. Für Zigaretten.« Ricky verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte mit der rechten Fußspitze ungeduldig auf den Boden.

»Zigaretten?« Jills Stimme kippte. Immer, wenn sie sich aufregte, klang ihre Stimme schrill. »Die Zigaretten waren ein Geschenk. Von Geld war nie die Rede.«

»Seit wann schenke ich dir etwas? Da du mir nicht deine Brüste dafür zeigen wolltest, muss ich eben Geld verlangen.« Er grinste und offenbarte seine schiefen Hasenzähne.

»Du spinnst wohl. Damit du irgendetwas von mir zu sehen bekommst, müsste ich schon sehr betrunken sein. Und jetzt verzieh dich.«

Jill wandte sich um und wollte die Milchkanne wieder aufnehmen, als Ricky diese mit einem Tritt umstieß. Die Milch versickerte im Rinnstein.

»Jetzt reicht’s.« Jill krempelte die Ärmel hoch und holte zum Schlag aus, aber jemand hielt von hinten ihr Handgelenk fest. Ricky rannte davon. Jill drehte sich um. Ein Mann mit Hut und Frack stand hinter ihr. Sein Schnauzbart zuckte verärgert.

»Mach, dass du hier verschwindest, oder ich hole die Polizei«, brummte er. »Eine Prügelei wollen wir hier nicht haben. Das gehört sich außerdem nicht für eine Dame!«

Jill riss ihren Arm los, nahm wortlos die leere Milchkanne auf und setzte ihren Weg fort. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Sie achtete nicht auf die Menschen um sie herum, und beinahe wäre sie auf einen kleinen Hund getreten. Seine Besitzerin schimpfte lauthals, aber Jill achtete nicht darauf.

Sie wusste, dass es zuhause ein Donnerwetter geben würde. Sie hatte keine Angst vor Brad, aber es tat ihr leid um ihre Schwester, die nach einem heftigen Streit immer ganz aufgewühlt war und oft stundenlang in ihrem Zimmer saß und weinte.

Als Jill das Bauernviertel Garnick erreichte, war der Vormittag bereits fortgeschritten. Es roch nach Unrat, weil einige der Bäuerinnen die Nachttöpfe im Rinnstein geleert hatten. In der Innenstadt roch es niemals schlecht, dort gab es wenigstens richtige Toiletten. Jill rümpfte die Nase und ging eiligen Schrittes weiter.

Als sie das quietschende Tor zum Hof öffnete, stand Brad bereits im Vorgarten.

»Da bist du ja endlich. Hast du die Milch?«, stieß er hervor und riss Jill die Kanne aus der Hand. »Da ist nichts drin. Was soll das?« Er schlug mit der Kanne nach Jill, aber sie duckte sich rechtzeitig.

»Jemand hat die Milch verschüttet, es war nicht meine Schuld.«

Eine Weile lang sagte er nichts, als müsse er angestrengt über ihre Worte nachdenken. Mittlerweile trug er ein frisches Hemd, vermutlich hatte Dana ihm beim Ankleiden geholfen.

»Das glaube ich dir nicht. Du hast das Geld wieder ausgegeben. Für Drogen nehme ich an.« Seine Stimme wurde lauter.

»Ich nehme grundsätzlich keine Drogen.«

»Egal, wofür du es ausgegeben hast, du sorgst dafür, dass bis heute Nachmittag neues Geld da ist, sonst kannst du heute Abend nicht mehr sitzen!« Er reckte eine Faust in die Luft. Jill ließ sich nicht provozieren, deshalb nahm Brad die Hand wieder herunter. In ruhigerem Tonfall sagte er: »Dana geht gleich hinunter zum Marktplatz. Geld verdienen. Mit ehrlicher Arbeit.« Er betonte seine letzten Worte besonders abfällig. »Du wirst ihr dabei helfen.«

Jill schritt an ihrem Vater vorbei hinter das Haus. Sie hatte mit wesentlich mehr Ärger gerechnet, deshalb wollte sie ihn nicht noch weiter provozieren.

 Dana stand mit aufgekrempelten Ärmeln an der Pumpe und gab sich alle Mühe, ihre Waschwanne mit Wasser zu füllen. Sie trug ein einfaches blaues Tuchkleid mit Schürze, auf ihrem Kopf saß ein weißes Kopftuch. Jill lächelte amüsiert. Ihre Schwester bemühte sich, eine redliche Dame zu sein. Manchmal tat sie ihr leid. Seit ihre Mutter gestorben war, fielen ihr sämtliche Aufgaben im Haushalt zu. Wenn Jill nicht diejenige gewesen wäre, die das meiste Geld nach Hause brächte, hätte sie vermutlich ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch so verteilten sich die Aufgaben wohl gerecht.

»Hast du keine Kraft in den Armen, Schwesterchen?«, zog Jill sie auf.

Dana ließ den Hebel der Pumpe los. »Wenn du alles besser kannst, kümmere dich doch selbst um die Hausarbeit.« In ihrer Stimme lag Bitterkeit.

»Vater hat gesagt, ich soll mit dir zum Markt gehen.«

»Ich weiß, er war kaum zu überhören.«

Jill glaubte, Missmut in ihrer Stimme zu hören.

»Aber vorher gehst du dich waschen und kämmst dir die Haare«, sagte Dana. »Du vertreibst mir noch die Kunden.«

***

Zwei Stunden später hatte Jill sich die Haare gekämmt und ihrer Schwester zuliebe ein frisches Kleid angezogen. Sie mochte Kleider nicht besonders, weil sie sie beim Klettern und rennen behinderten. Jill betrachtete sich im Spiegel an der Innenseite der Küchentür und musste unwillkürlich lachen.

»Was ist so lustig?«, fragte Dana, die gerade damit beschäftigt war, die Kerzen und Honiggläser in den Handkarren zu laden.

»Ich sehe aus wie ein Mütterchen.«

»Du siehst endlich einmal nach dem aus, was du bist: eine hübsche junge Frau von zwanzig Jahren.«

Jill strich sich über die glatt gekämmten schwarzen Haare. Dana hatte Recht, sie sah aus wie eine anständige Frau im besten Heiratsalter. Jill verzog das Gesicht und schnitt sich selbst Grimassen. Der Gedanke war derart absurd, dass sie sich über sich selbst wunderte. Niemals würde sie heiraten.

»Willst du jetzt albern sein oder mir mit den Gläsern helfen?« Dana wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Jill half ihr, die restlichen Gläser im Wagen zu verstauen. Die beiden Bienenstöcke waren der ganze Reichtum der Familie Tevell. Sie versorgten sie mit Honig, und Dana verkaufte ihre selbst gezogenen Kerzen jede Woche auf dem kleinen Marktplatz von Garnick. Sie verdiente weniger Geld als Jill mit der Stehlerei. Sie wusste, dass es ihre Schwester störte.

Sie verließen den Hof, als die Sonne hoch am Himmel stand. Es war doch noch ein schöner Tag geworden, aber nicht besonders warm. Ein angenehm kühler Wind streifte durch die Gassen.

Der Marktplatz von Garnick lag nicht mehr als zwei Meilen entfernt, sodass sie den schweren Karren nicht allzu weit ziehen mussten. Trotzdem war der Weg beschwerlich, denn weder die Straßen noch der Marktplatz von Garnick waren asphaltiert oder gepflastert. Große und kleine Steine, Löcher und Erhebungen ließen die Gläser unter der Plane beängstigend klirren. Als sie den Marktplatz erreicht hatten, stand Dana der Schweiß auf der Stirn. Sie war nicht besonders sportlich. Jill fragte sich, wie sie es bloß schaffte, diesen beschwerlichen Weg Woche für Woche allein zurückzulegen.

Dana hatte einen kleinen Klapptisch im Karren verstaut. Sogleich machte sie sich daran, ihre Waren darauf aufzubauen. Ein kleiner befleckter Sonnenschirm mit roten Streifen schützte die empfindlichen Bienenwachskerzen vor der Sonne. Sie waren nicht allein, auch andere Bauern und Händler waren gekommen, um ihre Waren feilzubieten. Eine Mannigfaltigkeit verschiedener Gerüche hüllte Jill ein.

»Lederriemen und Seile! Heute besonders günstig!«

»Haare schneiden für Damen und Herren! Kommt heran und lasst euch die Haare schneiden!«

Mit jeder Minute stieg die Anzahl der Menschen, die sich um Jill herum drängten, und auch immer mehr Händler bauten ihre Stände um sie herum auf. Blumen, Käse, Stoffe, Kräuter, Früchte, Hühner und allerhand anderen Krempel gab es hier zu kaufen. Jills Blick streifte neugierig die Waren der anderen Verkäufer.

»Denk nicht einmal dran«, sagte Dana, als sie hinter ihrem Tisch Stellung bezog.

»Wie bitte? Woran denken?« Jill warf ihr einen verwirrten Blick zu.

»Etwas davon zu stehlen.«

»Du hast eine ziemlich schlechte Meinung von mir, Schwesterherz«, sagte Jill empört. »Ich stehle nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

Jill wusste, dass sie sich selbst belog. In Wahrheit liebte sie es, wenn sie sich etwas nur für sich allein gönnen konnte. Einer Zuckerstange oder Zigarette war sie nie abgeneigt. Nicht jeder Penny, den sie ergaunerte, kam der gesamten Familie zugute.

Jill malte mit den Fußspitzen Muster in den staubigen Boden. Sie überließ das Verkaufen ihrer Schwester. Stattdessen machte sie sich Gedanken darüber, wie sie den verlorenen Schilling wiederbeschaffen könnte.

Nach einer endlos langen Weile, in der Jill ihre Schwester beim Verkaufen der Kerzen beobachtet hatte, riss Jill schließlich der Geduldsfaden. »Dana, ich gehe noch einmal in die Stadt hinaus«, sagte sie. Es war keine Frage oder Bitte. Dana wusste, dass Jill ohnehin ihren Kopf durchsetzen würde. Was sollte sie auch weiter hier herumstehen und Maulaffen feilhalten?

Ihre Schwester verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Geh nur, du bist mir ohnehin keine Hilfe.«

Jill warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und wandte sich ab. Sie wollte ins Stadtzentrum zurückgehen, vielleicht sogar zum Hafen. Wenn sie Glück hatte, traf sie Firio dort. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Sicherlich würde er sich freuen, wenn Jill ihm ein wenig Gesellschaft leistete.

Sie erreichte die Hauptstraße und mischte sich unter das geschäftige Volk. Kinder mit Zöpfen und Schürzen spielten nahe der Bordsteinkante mit Glasmurmeln, gut gekleidete Herren mit Hüten und Anzügen eilten an ihr vorbei. Alle Geschäfte waren geöffnet, gemusterte Markisen überspannten die Gehsteige, bunte Werbeschilder prangten über und in den Schaufenstern. Die reich mit Stuck verzierten Häuser verfügten über mehrere Stockwerke. Frauen schüttelten Kissen und Decken hinter geöffneten Fenstern aus. Hier wohnten die Bürger, die mehr besaßen als zwei Bienenstöcke und ein heruntergekommenes Bauernhaus. Hier roch es auch nicht nach Unrat.

Jill erreichte einen großen Platz, in dessen Mitte ein Denkmal die Köpfe der Menschen überragte. Es stellte einen Reiter auf einem Pferd dar. Sein Umhang überdeckte den Rücken des steinernen Tieres beinahe vollständig. Er trug ein Schwert an seiner Seite, die Augen blickten streng nach vorn. Jill wusste nicht, wen die Statue darstellte, denn sie konnte die metallene Gedenkplatte auf dem Sockel nicht lesen. Sie war nicht einmal ein Jahr lang zur Schule gegangen, bevor sich ihre Eltern das Schulgeld nicht mehr leisten konnten. Dana war in der Lage, flüssig zu lesen und zu schreiben, doch für die Ausbildung der zweiten Tochter hatte das Geld nicht mehr gereicht.

Jill suchte mit den Augen die Parkbänke ab, die zu Füßen des Reiters den Platz säumten, doch Firio war nicht hier.

Sie setzte ihren Weg zum Hafenviertel fort. Es war ein weiter Weg, sie brauchte beinahe eine ganze Stunde, um endlich die Wasseroberfläche am Horizont aufblitzen zu sehen. Der salzige Geruch des Meeres wurde zunehmend dominanter, je näher sie dem Ufer kam. Hier waren die Gebäude niedriger, große Hallen rahmten die Hafenpromenade ein. Einige Schiffe lagen vor Anker, darunter auch ein imposantes Dampfschiff. Jill stellte sich an eine Kaimauer und beobachtete, wie Männer das Schiff beluden. Fässer wurden hinein gerollt, auch Kisten, Teppiche und Pferde bugsierte man über die Planken. Sie fragte sich, wohin das Schiff fahren würde. Seit ihrer Geburt war Jill nie weiter als bis in die Nachbarstadt gelangt, aber sie hatte Landkarten gesehen, die ganz England und sogar Europa darstellten. Sicher würde ihr nie die Ehre zuteilwerden, einmal mit einem Dampfschiff fahren zu dürfen.

Sie ließ den Blick über die Wasseroberfläche schweifen. In einiger Entfernung glitzerten die blank polierten Scheiben der Villen auf Falcon’s Eye, der Insel der Adligen, in der Sonne wie Diamanten. Nicht einmal bis dorthin war Jill in ihrem Leben je gelangt, obwohl dies sicher keine Schande war. Man bewachte die Insel pedantisch, und Jill kannte niemanden persönlich, der sie je betreten hätte. Man erzählte sich, dass die Behausungen dort durchweg über elektrischen Strom verfügten, beinahe jeder Einwohner besaß ein Automobil.

Sie riss ihren Blick von der Insel los und seufzte. Sie erschrak, denn als sie sich umdrehte, stand Firio direkt hinter hier.

»Hallo Jill, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er strahlte sie freundlich an, sein bunter Anzug leuchtete in der Sonne.

»Das hast du aber!« Jills Miene hellte sich auf.

Firio grinste und ein Satz strahlend weißer Zähne lugte durch seinen dichten Bart hervor. »Wie siehst du denn aus?« Er musterte sie von oben bis unten. »Für wen hast du dir die Haare gekämmt und ein Kleid angezogen?« Er stieß sie freundschaftlich in die Seite.

»Ich wollte mit meiner Schwester auf dem Markt Kerzen verkaufen, aber ich habe mich schrecklich gelangweilt dort.«