Krieg der Schatten - Narcia Kensing - E-Book

Krieg der Schatten E-Book

Narcia Kensing

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Beschreibung

Jetzt wird es spannend, erotisch und gefährlich ... Die Geschichte um Jill, Ray, Cryson und die anderen Vampire setzt sich fort! Jill ist an ihrer Aufgabe, das Artefakt zu stehlen, gescheitert. Als wäre dies nicht frustrierend genug, sind Crysons Pläne aufgeflogen und Jill ist in die Fänge ihrer Feinde geraten. Unter ihnen befindet sich ein Mann, der ihre Gefühle gehörig durcheinander wirbelt. Er ist ein echter Draufgänger und kämpft zudem auf der falschen Seite! Soll sie weiterhin zu Cryson und seinen ehrwürdigen Kämpfern halten oder eine verbotene Liebe zulassen? Und was hat es mit diesem Artefakt auf sich, das die Macht besitzt, einen Krieg zwischen den Vampirclans auszulösen?

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Seitenzahl: 301

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Narcia Kensing

Krieg der Schatten

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Epilog

Weitere Werke der Autorin:

Impressum neobooks

Kapitel 1

Etwas flog mit hoher Geschwindigkeit nur eine Handbreit an ihrem Kopf vorbei. Ruckartig wandte Jill sich um und erblickte einen Dolch, der hinter ihr in der Rinde eines knorrigen alten Baumes steckte. Er vibrierte noch. Vom Schreck vollkommen paralysiert, blieb sie wie angewurzelt stehen, als eine Gestalt aus dem Unterholz auf sie zusprang. Binnen eines Sekundenbruchteils hatte Jill an den schnellen, katzenartigen Bewegungen erkannt, dass es sich um einen Vampir handeln musste.

Jill konnte einen flüchtigen Blick auf das Gesicht ihres Angreifers werfen. Seine Augen glühten gelblich, die kurzen dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab.

»Canor, komm zurück. Das ist ein Mensch und keiner der Wächter!«, zischte eine männliche Stimme aus dem Hintergrund. »Willst du unser Versteck verraten?«

Doch genau dies schien bereits geschehen zu sein. Weitere Gestalten schälten sich aus der Dunkelheit, Jill zählte mindestens fünf. Sie stürmten auf den Mann zu, der Jill angesprungen hatte und nun deckungslos mitten auf dem Weg stand. Ein Zischen ertönte, dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus. Ein Pfeil, oder etwas, das einem Pfeil ähnelte, steckte in seinem Unterleib. Eine blonde Frau in einem schwarzen hautengen Anzug stand einige Yards von dem Verletzten entfernt. In ihren Armen lag etwas, das wie eine Armbrust aussah, jedoch weitaus imposanter wirkte. Schon zog sie einen weiteren Bolzen aus einem kleinen Köcher, der auf ihren Rücken geschnallt war. Der Verwundete taumelte kurz, blickte mit seinen gelben Augen auf die Wunde hinab, griff nach dem darin steckenden Bolzen und brach ihn dann ab wie einen Zahnstocher. Für einen Menschen hätte diese Wunde tödlich sein müssen, doch der Vampir warf den abgebrochenen Bolzen mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht achtlos in ein Gebüsch, als handelte es sich dabei um nicht mehr als einen Splitter, den er sich soeben entfernt hatte. Nur einen Lidschlag später zog er einen unterarmlangen krummen Säbel aus einer Scheide, die an seinen Oberschenkel geschnallt war. Kleine Dampfschwaden stiegen aus dem Griff der imposanten Waffe auf. Der Mann betätigte einen Knopf, woraufhin die Klinge rötlich zu glühen begann. Starr vor Schreck stand Jill da, das Blut rauschte in ihren Ohren. Fassungslos beobachtete sie das Geschehen, niemand beachtete sie. Weitere Männer tauchten aus den Gebüschen auf. Ein Schreck fuhr Jill wie eine Revolverkugel durch den Leib, denn darunter erblickte sie auch Crysons Gesicht. Seine Haare waren zu einem dicken schwarzen Zopf geflochten, er trug einen schwarzen Overall. An seinem Gürtel steckten zwei Pistolen in ihren Halftern. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, Cryson wich mit einem Schlag sämtliche Farbe aus seinem hübschen Gesicht.

»Was machst du denn hier? Los, verschwinde! Bring dich in Sicherheit! Henry, pack sie dir sie und schaff sie…« Cryson kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn ein Angreifer richtete seine Pistole auf ihn und betätigte den Abzug. Jill vermutete, dass es sich um einen Wächter handelte. Wer sonst würde mitten im Stadtpark seine eigenen Artgenossen angreifen? Doch diese schienen auf den Hinterhalt vorbereitet gewesen zu sein, denn sie alle waren bis an die Zähne bewaffnet.

Das leise Klicken, kurz bevor der Schuss sich löste, hatte Cryson aufschrecken lassen. Einzig seinen übermenschlich schnellen Bewegungen war es zu verdanken, dass er der Kugel ausweichen konnte.

Als Jill endlich aus ihrer Unbeweglichkeit erwachte, taumelte sie einige Schritte zurück, den Blick panisch auf die Kämpfenden gerichtet. Noch immer beachtete sie niemand, auch Cryson war jetzt viel zu sehr in den Kampf vertieft, um sich um die zierliche Menschenfrau zu kümmern, die wieder einmal Zeuge eines Gemetzels wurde. Als sie mit dem Rücken gegen einen Baum stieß, griff Jill in einer instinktgesteuerten Bewegung nach einem tief hängenden Ast und schwang sich hinauf. Sie kletterte bis in die Baumkrone und krallte sich in das Astwerk.

Bitte nicht noch einmal. Ich kann das nicht noch einmal ertragen. Weshalb bin ich nicht bei Firio geblieben?

Das Treiben im Park hätte zweifellos einer Horrorgeschichte entstammen können. Schwerter wurden gezogen, Pistolen abgefeuert. Mindestens zwanzig Männer und Frauen kämpften gegeneinander. Sie bewegten sich lautlos und schnell. Jill war kaum imstande, ihren Bewegungen mit den Augen zu folgen.

Der Träger des glühenden Schwerts hob die Klinge weit über seinen Kopf, stürzte nach vorne und versetzte einem der Wächter, der ihm den Rücken zuwandte und damit beschäftigt war, sich mit bloßen Händen seines Gegners zu entledigen, einen Schwertstreich quer über den Nacken. Die Wunde im Unterleib des Schwertträgers schien ihm keine ernsten Verletzungen zugefügt zu haben. Immerhin war er noch imstande, diesen feigen Angriff auszuführen.

Ein lautes Zischen, ein markerschütternder Schrei und der widerliche Gestank und verbranntem Fleisch zeugten von den Qualen, die die letzten Sekunden im Leben des Vampirs kennzeichneten. Er sank wie ein nasser Sack auf den Boden. Wieder einmal fragte sich Jill, ob es bestimmte Regeln gab, nach denen man einen Vampir töten konnte.

Die Frau, die zuvor die Armbrust gehalten hatte, stieß einen Laut des Entsetzens aus. Sie ließ ihre Armbrust fallen und wollte auf den am Boden liegenden Toten zulaufen, doch ein anderer Wächter hielt sie an der Schulter zurück. Die Frau blickte dem Getöteten noch einmal mit einem bestürzten Blick in die leeren Augen, bevor sich ihr Gesicht zu einer zornigen Grimasse verzog. Sie zog ein gewöhnliches Kurzschwert aus der Scheide an ihrem Gürtel und stürzte in wilder Raserei auf einen der anderen Vampire zu. Dieser parierte ihren Schlag mit seinem Krummsäbel mühelos. Mit einer raschen Aufwärtsbewegung durchbrach er ihre Deckung  und stieß ihr die Waffe aus der Hand. Dann holte er zum vernichtenden Schlag aus, doch ein anderer Wächter stürzte herbei und trennte ihm mit zwei wirbelnden Zwillingsschwertern sauber den Kopf von den Schultern. Der Vampir, oder das, was von ihm noch übrig war, kippte nach hinten, die Arme immer noch erhoben. Entsetzen stieg in Jill auf wie eine alles verschlingende Flut. Das Gesicht des Toten, das sie aus leeren Augen anzustarren schien, kam ihr bekannt vor... Es gehörte zu Gavin, jenem Vampir, mit dem sie einst ein paar fröhliche Partien Karten gespielt hatte. Es war eine bizarre Vorstellung, dass sein abgetrennter Kopf dort am Boden lag. Jill würgte, doch in ihrem Magen befand sich nichts, das sie hätte ausspucken können.

Der Mann, der Gavin mit seinen beiden Schwertern getötet hatte, klopfte der Frau freundschaftlich auf die Schulter. Jill glaubte, ein geflüstertes Danke von ihren Lippen ablesen zu können. Jills Arme und Beine zitterten vor Angst und Bestürzung. Erst jetzt erkannte sie, dass der Mann mit den Zwillingsschwertern Ray war. Auch er trug einen schwarzen Kampfanzug. Er wirkte wach und vital, er musste folglich Nahrung zu sich genommen haben. Eine weitere Welle des Entsetzens brandete durch Jill hindurch, abgelöst durch ein Gefühl ohnmächtiger Wut. Dieser Bastard hatte Gavin getötet! Es war nicht gerecht!

Jill ermahnte sich zur Ruhe. Die beiden Lager waren seit Jahrhunderten verfeindet. Was hatte sie erwartet? Dass sie sich hier die Hand reichen würden? Jill atmete tief ein und versuchte, den Blick nicht mehr auf die Leichen zu richten, die unter ihr im Matsch lagen.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn sie vernahm einen erstickten Schrei abseits dieser Szene. Panisch wandte sie den Kopf, aber sie konnte nichts erkennen. Das schwache Mondlicht ließ sie ohnehin nur eine begrenzte Anzahl Yards weit sehen. Das Waldstück hinter dem Kiesweg lag in vollkommener Dunkelheit.

Ray wandte sich ebenfalls erschrocken um. Seine gelblich glühenden Augen waren von Hass und Entschlossenheit erfüllt. Jetzt konnte auch Jill erkennen, woher der Schrei gekommen war. Nur wenige Yards neben Ray kämpfte einer seiner Kameraden mit einem eisernen Schlagstock gegen einen mit einer Axt bewaffneten Sedhianer. Dieser drängte den Wächter immer weiter zurück. Ray eilte ihm zu Hilfe, versetzte auf dem Weg dorthin einem am Boden liegenden Feind mit seinem Schwert den Gnadenstoß und zog dann eine Schusswaffe aus seinem Gürtel. Der Vampir mit der Axt hatte die Gefahr nicht kommen sehen. Die Wucht des Schusses traf ihn mit voller Breitseite. Ray überließ den Todgeweihten sich selbst und wandte sich ab. Mittlerweile hatte sich der Boden in rot gefärbten Morast verwandelt. Wieder einmal würde die Polizei im Dunkeln tappen, wenn sie am nächsten Tag die Spuren dieses grausamen Kampfes entdeckte.

Plötzlich tauchte Cryson wieder in Jills Sichtfeld auf. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Er war mit Blut besudelt, an seinem Hals klaffte eine triefende Wunde. Er rannte auf Ray zu, der ihm den Rücken zuwandte und nichts von der nahenden Gefahr zu ahnen schien. Cryson stapfte über die Toten und Verwundeten hinweg, als seien sie nichts weiter als Dreck unter seinen Füßen. Er nahm eine Waffe vom Boden auf, die weder einem Schwert noch einer Pistole ähnelte. Sie war länglich und hatte einen Griff, dies waren aber auch schon die einzigen Ähnlichkeiten. Zahnräder unterschiedlicher Größe reihten sich hintereinander an der Außenseite auf. Cryson betätigte einen Hebel, vermutlich spannte er den Mechanismus. Das Geräusch veranlasste Ray dazu, in einer ruckartigen Bewegung herumzufahren. Seine Hand schnellte hervor und griff Cryson an die Kehle. Entsetzt schnappte Jill nach Luft. Um die beiden herum tobte der Kampf noch immer, doch ihre ganze Aufmerksamkeit galt diesen beiden Männern. Cryson ließ vor Schreck die Waffe fallen, ein Schuss löste sich. Ein länglicher Bolzen schoss aus dem Lauf hervor und traf einen der Vampire unbeabsichtigt ins Bein. Jill vernahm ein Aufheulen, doch sie hatte keinen Blick für den Verwundeten.

Sie sah die Szene in unnatürlicher Langsamkeit vor sich ablaufen. Sie blickte in die Gesichter der Männer, Zorn sprühte aus ihren gelb glühenden Augen. Crysons Zopf hatte sich gelöst, die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht wie ein Vorhang. Es war ein Kampf zweier ungleicher Männer: Ray, der ungehobelte Rohling, dessen vernarbtes Gesicht ihn wie eine Gestalt aus einem Horrormärchen erscheinen ließ, und Cryson, der gutaussehende und wohlhabende Gentleman.

Mit einer eisernen Umklammerung hielt Ray die Hand um Crysons Hals geschlungen. Cryson stolperte rückwärts über eine Wurzel. Ray drückte ihn zu Boden, bis er bäuchlings über ihm lag. Ray machte Cryson mit seinem massigen Körper bewegungsunfähig. Jill wollte schreien, doch ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Sie allein trug die Schuld an diesem Desaster. Sie hätte sich mehr anstrengen müssen, um das Blutlicht zu finden und den Wächtern das Handwerk zu legen. Mit einem Mal hatte sie nun gar nicht mehr das Gefühl, an diesem Krieg nicht beteiligt zu sein. Sie war untrennbar damit verbunden.

Cryson umfasste mit beiden Händen Rays Handgelenk und versuchte, seinem Würgegriff zu entkommen. Keiner der umliegenden Vampire kam ihm zu Hilfe. Sie waren alle selbst  darum bemüht, sich ihrer Gegner zu erwehren.

Cryson stieß einen unartikulierten Laut aus, er schnappte röchelnd nach Luft. Dann schlug er mit den Fäusten auf Ray ein, doch dieser blieb unnachgiebig. Das Blut an Crysons Hals wirkte wie ein Schmiermittel, er schaffte es schließlich, sich unter Ray zu winden wie ein Aal und seinen todbringenden Griff zu lockern. Er schien seine Schmerzen mit Wut zu ersticken, denn plötzlich stieß er Rays massigen Körper in seiner Raserei von sich herunter und ging seinerseits zum Angriff über. Krachend schlug er Ray seine Stirn ins Gesicht, sofort quoll Blut aus der Platzwunde hervor. Ray blieb zunächst benebelt auf seinem Hinterteil sitzen, bevor er zur Seite kippte und sich nicht mehr bewegte. Cryson zog einem der Toten eine Pistole aus dem Halfter. Jill beobachtete, wie er die Waffe auf Rays Oberkörper richtete und abdrückte. Ray zuckte einmal kurz zusammen, dann entspannten sich seine Muskeln. Er sackte in sich zusammen.

Während Jill noch gegen das Grauen und die Fassungslosigkeit ankämpfte, riefen die Vampire nach Verstärkung. Weitere Gestalten strömten in den Stadtpark. Schließlich waren sie in der Überzahl und drängten die Wächter immer weiter zurück. Jemand brüllte: »Rückzug! Rückzug!« und in Windeseile stoben die Wächter auseinander und verschwanden lautlos wie Schatten wieder zwischen den Bäumen. Die Jubelrufe der Sedhianer drangen nur noch in einen Winkel von Jills Bewusstsein vor, denn sie war erschöpft, schwitzte und zitterte als wäre sie selbst am Kampfgeschehen beteiligt gewesen.

»Wo ist Jill? Wo ist das Mädchen?«, rief jemand. Jill hob den Kopf, gab jedoch keinen Laut von sich.

Sie sah Cryson, der wie besessen umher rannte und die Gebüsche durchsuchte.

»Jill! Jill, wo bist du?«, rief er. Verzweiflung lag in seiner Stimme. Jill rührte sich nicht. Sie wusste nicht, weshalb, aber sie wollte jetzt allein sein. Sie hatte nicht mehr die Stärke, diesem Mann gegenüberzutreten.

Er hatte Ray getötet.

Er war zwar ein Wächter gewesen und Jill hatte ihn gehasst, aber sie hatte ihn gekannt. All die anderen Leichen bedeuteten ihr nichts, sie waren namenlose Schatten, die in Jills Leben keine Rolle gespielt hatten.

»Verdammt, ich will das Mädchen!«, brüllte Cryson. »Sucht nach ihr!«

Einige Vampire schwärmten aus und durchforsteten das umliegende Waldstück. Andere begannen damit, die Leichen ihrer eigenen Leute fortzuzerren. Die toten Wächter ließen sie liegen. Spätestens am Morgen, wenn die ersten Spaziergänger mit ihren Hunden hierher kamen, würde man die Spuren des Kampfes entdecken.

Jill beobachtete, wie jemand Cryson eine Hand auf die Schulter legte. »Komm jetzt mit, Cam und Rio werden das Mädchen schon finden«, sagte der Mann. Seine Kleidung war zerfetzt, sein rechtes Auge blau und geschwollen. Cryson nickte und verließ mit gesenktem Haupt den Tatort. Jill jedoch blieb noch minutenlang regungslos auf ihrem Ast liegen, bevor sie schließlich in unendlicher Langsamkeit hinab kletterte.

Es war totenstill. Der Mond hüllte die Szene in ein unwirkliches Licht. Die Stimmung war gespenstischer als auf einem Friedhof.

Jill blickte auf Rays Körper hinab. Er lag auf der Seite, die Beine bis an den Körper heran gezogen. Er sah aus, als schliefe er. Jill hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, als er plötzlich die Augen aufschlug und ihre Blicke sich trafen. Ein leises Stöhnen entwich seiner Kehle. Seine Mundwinkel zuckten, als versuchte er zu lächeln.

Jill stand wie angewurzelt da und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine Woge aus gemischten Emotionen brandete über sie hinweg. Erschütterung, Hilflosigkeit, Verwirrung und Schuldgefühle wechselten sich ab. Sogar ein wenig Erleichterung suchte sich seinen Weg in ihr Bewusstsein.

Stöhnend drehte Ray sich auf den Rücken. Sein schwarzer Anzug glänzte feucht von Blut. Unter dem linken Schlüsselbein klaffte ein Loch im Stoff.

»Wie kann das möglich sein?«, flüsterte Jill. »Du lebst ja noch.«

Ray hustete. »Schade, oder?« Seine Stimme war leise und belegt. Er verzog sein vernarbtes Gesicht zu einem schiefen Grinsen, bevor es sich wieder im Schmerz verzerrte. Er hob eine blutverschmierte Hand und streckte sie nach Jill aus, aber er war zu schwach und Jill zu weit von ihm entfernt, als dass er sie hätte erreichen können. Das gelbliche Glühen war aus seinen stechend blauen Augen gewichen, stattdessen lag darin jetzt ein Flehen, das Jill das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Ich kann dir nicht helfen, was soll ich denn tun?«, versuchte sie sich zu rechtfertigen.

»Dann geh und lass mich allein sterben«, murmelte Ray und schloss die Augen. Er bewegte sich nicht, aber sein Brustkorb hob und senkte sich in flachen, unregelmäßigen Atemzügen. Jill wollte sich abwenden und gehen, aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen.

Er gehört zu den bösen Buben in diesem Spiel, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Er hat es verdient, zu sterben. Geh und vergiss alles, was dich je mit diesem Volk verbunden hat.

In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Ray ihr die Erinnerungen gelöscht hätte, als noch Gelegenheit dazu war.

Jill, die für ihre spontanen und übereilten Aktionen bekannt war, sah sich nun mit ihrer eigenen Unentschlossenheit konfrontiert. Sie konnte Ray nicht helfen. Er würde ohnehin sterben. Aber sie konnte auch nicht so herzlos sein, ihn hier liegen zu lassen. Er war ein arroganter Wichtigtuer, der selbst zahllose Leben auf dem Gewissen hatte, aber Jill schaffte es einfach nicht mehr, den Hass auf ihn wiederzuerwecken.

Rays Atmung verlangsamte sich. Es begann bereits zu dämmern. Jill hatte das Zeitgefühl völlig verloren. Es kam ihr vor, als starrte sie schon seit Stunden auf ihn hinab. Wenn er doch nur endlich sterben würde… Oder lag es daran, dass er ein Vampir war? Dem Anschein nach waren diese Wesen zwar hart im Nehmen, aber keinesfalls unverwundbar.

Es würde nicht mehr lange dauern, ehe der Parkwächter seine erste Runde drehte. Wenn Jill dann noch immer hier stand, würde sie sich automatisch zu einer Verdächtigen machen. Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.

»Ray?«, flüsterte sie. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal die Augen aufschlagen, geschweige denn etwas sagen würde, doch er schien noch immer bei klarem Verstand zu sein.

»Du bist ja immer noch hier«, hauchte er. Jill war sich nicht sicher, ob sie es sich einbildete, doch sie glaubte, eine Träne in Rays Auge aufblitzen zu sehen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinab. Ihre Glieder fühlten sich steif an vom langen Stehen.

Wieder hob Ray seine Hand ein paar Zentimeter an. Jill gab dem Impuls nach, danach zu greifen. Seine Haut war kühl. Sie spürte, dass er sie zu sich heran ziehen wollte, und obwohl seine Kraft bei Weitem nicht dazu ausreichte, ließ sie sich dazu erweichen, ihren Kopf auf seine Schulter zu legen. Jill wusste nicht, ob es an der Müdigkeit lag, die sie zu übermannen drohte, aber schlagartig durchfuhr sie eine innere Kälte, als ihr Gesicht die Haut in seiner Halsbeuge berührte. Sie wehrte sich nicht einmal dagegen, als Ray in den Stoff ihres Shirts über ihrer Schulter biss, ihn zerriss und mit seiner Zunge über ihr Schlüsselbein fuhr. Ein kurzer scharfer Schmerz, ähnlich eines Wespenstichs, durchfuhr sie. Mit jeder Sekunde fühlte sie sich schwächer, bis sie dagegen ankämpfen musste, nicht die Besinnung zu verlieren. Um sie herum rauschten die Blätter im Wind, irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Bellte wieder. Ein zweiter Hund antwortete.

Ray gab ein leises Brummen von sich, das beinahe wie das Schnurren einer Katze klang. Mit der freien Hand fuhr er Jill durch die Haare und streichelte ihr über den Rücken.

Nach einer Weile löste er sich von ihr, leckte über ihre Haut und ließ den Kopf entspannt zurück sinken.

»Ich danke dir«, sagte er. Seine Stimme brach.

Er verstärkte den Druck und umarmte sie. Seine Kräfte schienen zu ihm zurückgekehrt zu sein. Jill genoss die Berührung, sie fühlte sich mit einem Mal beruhigt und unbekümmert. Sie spürte eine innere Verbundenheit zu ihm, als wären ihre Körper miteinander verschmolzen. Sie wusste, dass sie wütend auf ihn sein sollte, aber es gelang ihr nicht mehr. Und sie wusste auch, dass das Gefühl der Verbundenheit lediglich der sonderbaren Magie anzulasten war, die die Vampire dazu verwendeten, den Menschen Lebenskraft zu entziehen.

Jill umfasste mit einer Hand Rays Nacken und presste seine Wange gegen ihre. Fühlte sich so das Sterben an? Alle Sorgen fielen von ihr ab, ihre Muskeln waren entspannt. Sie wollte diesen Zustand dieser wunderbaren Unbekümmertheit für immer festhalten. Sie spürte, wie eine Träne sich aus ihrem Auge löste und ihr bis ins Ohr lief.

Ray hatte Blut von ihr genommen, und damit viel ihrer Energie. Sie hatte dieses Gefühl der Leichtigkeit schon einmal mit Cryson erlebt, wenn auch längst nicht so stark. Es war nur ein Trugbild. Wenn Ray sie aus diesem Zustand entließ, würde sie wieder Jill sein. Jill, eingeschlossen in ihrer sterblichen Hülle.

Sie hob den Kopf und sah Ray in die Augen. Ihre Gesichter waren nah beieinander, sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange. Auch in seinen Augen funkelten Tränen.

»Ich muss zusehen, dass ich hier wegkomme«, sagte er. Seine Stimme klang nun wieder fest. »Bald geht die Sonne auf, und ich bin immer noch schwach. Ich entschuldige mich bei dir.«

Jill runzelte die Stirn. »Wofür?«

»Ich habe dein Blut dazu benutzt, meine Wunde zu heilen und mich soweit zu kräftigen, dass ich vielleicht aufstehen kann. Verzeih mir.«

»Diese Entscheidung musste getroffen werden. Ich bin froh, dass du sie mir abgenommen hast.«

»Dann hasst du mich nicht?«

Jill überlegte einige Sekunden. »Ich möchte es, aber ich kann es einfach nicht mehr.« Unwillkürlich musste sie lächeln. Ray tat es ihr nach.

»Ich habe zwar bislang nie selbst die Erfahrung gemacht, aber ich weiß, was der Biss eines Vampirs in einem Menschen auslöst. Lesward hat oft genug von Menschen getrunken, wenn er auf Frauenfang war. Es macht sie willenlos und zahm, sie lassen danach beinahe alles mit sich machen, was man von ihnen verlangt. Es ist etwas so Intimes, das sich niemals zwischen Fremden abspielen sollte.«

»Ich lasse bestimmt nicht alles mit mir machen, nicht einmal jetzt.«

Ray grinste und entblößte seine makellosen Zähne. »Du bist ja auch die starrköpfigste Zicke, die ich je kennengelernt habe.«

Sie kicherten wie zwei Kinder, die etwas angestellt hatten. Dann löste sich Jill aus Rays Umarmung und richtete sich auf. Stöhnend wuchtete Ray seinen Oberkörper nach oben. Er presste seine rechte Hand auf die Wunde und biss die Zähne aufeinander, als er sich zuerst auf die Knie erhob und dann langsam aufstand. Er wankte. Ein gräulicher Lichtschein im Osten kündigte den nächsten Tag an.

Ohne lange darüber nachzudenken, umfasste Jill mit einem Arm seine Hüfte und legte sich seinen anderen Arm über die Schulter. Der Größenunterschied war ihr dabei ein Hindernis. Sein Gewicht lastete schwer auf ihr. Ihre Beine waren noch immer schwach und zittrig.

»Komm, ich bringe dich noch nach Hause«, keuchte Jill unter der Last seines massigen Körpers.

***

Allmählich stieg das Gelände an. Schon bald ächzte und stöhnte Dana angesichts der Anstrengung, die dieser Aufstieg ihr abverlangte. Und dann tauchte er jäh wie aus dem Nichts vor ihr auf: der Tempel mit dem Weißen Obelisken auf dem Dach. Unwillkürlich schnappte Dana nach Luft, als sie das prachtvolle Gebäude aus glattem hellem Stein vor sich sah. Der Obelisk war noch viel imposanter als in ihrer Vorstellung. Er war mindestens so hoch wie ein zweistöckiges Haus, bestand aus weißem Stein und seine Oberfläche schimmerte vollkommen glatt und perfekt. Am Sockel maß er mehrere Yards im Durchmesser, nach oben hin verjüngte er sich zu einer Spitze. Einige Trampelpfade führten zum Eingang des Tempels, aber sie waren bereits von Gras überwuchert und nur noch schwer erkennbar. Die Pforte des Gebäudes wurde von zwei mächtigen Säulen umrahmt, die Frontseite blieb fensterlos. Die Wände waren vollkommen ebenmäßig, es gab keine Verzierungen und keinen Stuck. In seiner Schlichtheit war der Tempel wunderschön. Efeu rankte sich an einer Seite die Wände hinauf und einige Stellen wurden von grünlichen Moosflecken bedeckt, aber das konnte seiner Vollkommenheit keinen Abbruch tun.

Langsam trat Dana auf den Durchgang zwischen den Säulen zu. Der Tempel hatte keine verschließbare Tür. Sie berührte den kalten Stein einer Säule mit den Fingerspitzen. Ein Gefühl von Ehrfurcht durchfuhr jede Faser ihres Körpers. Dana hatte schon oft davon gehört, dass Pilger manchmal hierher kamen, doch es schien, als hätte seit langer Zeit niemand mehr diesen Ort besucht.

Dana betrat den Innenraum, der nicht so dunkel war, wie es von außen den Anschein gemacht hatte. Auf der Rückseite des Tempels gab es unterhalb der hohen Decke mehrere quadratische Löcher, die das Licht hineinfallen ließen. Altes Laub und Zweige bedeckten den Boden, ansonsten war der Raum leer. Nur ein kniehoher kleiner Sockel am gegenüberliegenden Ende durchbrach die Leere. Er war nur so breit und so lang wie Danas Arm. Sie trat darauf zu. Vielleicht war dies ein Altar?

Sie berührte ihn und strich mit den Fingern die Kanten nach. Der Sockel war vollkommen sauber und glatt, nicht einmal Staubkörner waren darauf zu sehen. Doch Dana hatte keine Zeit, diesen Ort noch ausgiebiger zu erkunden.

Ich muss einen Weg auf das Dach finden. Von dort kann ich mir die Stadt von oben ansehen.

Dana drehte sich herum, um den Tempel wieder zu verlassen, als sie die dunkle Silhouette eines Menschen zwischen den beiden Säulen der Pforte stehen sah. Unwillkürlich stieß sie einen kurzen Schrei aus, der von den Wänden mehrfach widerhallte. Sofort begannen ihre Beine zu zittern. Die Soldaten hatten sie also doch verfolgt.

»Bitte, es tut mir leid«, stieß Dana hervor. Tränen quollen unkontrolliert aus ihren Augen hervor und tropften auf den Kragen ihres Kleids. »Ich muss doch meine Schwester finden! Ich hatte nichts Böses im Sinn. Bitte, ich will nicht ins Gefängnis.« Ihre Stimme kippte und ein Schluchzen überkam sie. Die Person im Türeingang stand vollkommen unbeweglich da. Es war ein Mann, dies erkannte Dana an seiner Statur und Körpergröße.

Er räusperte sich. »Du bist also die kleine Schnüfflerin, nach der sie suchen.« Seine Stimme war tief und angenehm.

Dana schnappte nach Luft, sie fühlte sich außerstande, zu sprechen. Immer wieder ergriffen Schluchzer und Seufzer von ihr Besitz.

Langsam trat der Mann aus dem Lichtkegel heraus. Er kam auf Dana zu. Im Halbdunkel sah sie, dass er keine Uniform trug, sondern einen schwarzen Anzug und einen langen Ledermantel. Ein Halfter mit einer Pistole lugte darunter hervor. Er war groß, seine Schultern breit und die Haltung aufrecht. Sein Gesicht wirkte jung, Dana schätzte ihn auf nicht viel älter als sie selbst. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich jemand illegal auf Falcon’s Eye aufhält«, sagte er. Seine Stimme klang gelassen, weder überrascht noch empört. »Die Soldaten durchkämmen die ganze Stadt nach einer jungen Frau.«

Dana wagte es kaum, dem Fremden ins Gesicht zu sehen. Immer wieder glitt ihr Blick ab. »Sie haben mich nicht gesehen, als ich aus dem Boot geklettert bin, sonst hätten sie mich doch sofort geschnappt. Argus muss mich verraten haben, um seine Haut zu retten.«

Der Mann streckte langsam seine Hand nach Danas Gesicht aus. Sie wich zurück, aber er folgte ihr und strich ihr eine braune Locke aus der Stirn.

»Du musst vor mir keine Angst haben«, sagte er. »Und um den alten Fischer brauchst du dir ebenfalls keine Sorgen zu machen. Ja, er hat dich verraten, aber ganz sicher nicht, um seine Haut zu retten. Es existiert ein Abkommen zwischen ihm und der Stadtwache. Du bist nicht die erste, die der Widerling ins offene Messer hat laufen lassen.«

Dana nickte und starrte auf ihre Fußspitzen. Sie war nicht einmal überrascht darüber, dass Argus schlechte Absichten gehegt hatte. Sie hätte nicht so gutgläubig sein dürfen. Immerhin hatte sie es trotzdem geschafft, den Soldaten vorerst zu entkommen, auch wenn sie nicht besonders weit gekommen war.

»Dann können Sie mich jetzt verhaften. Ich gebe alles zu.« Dana streckte dem Mann ihre Hände entgegen. Mit einem Mal fühlte sie sich erleichtert. Nun würde das Versteckspiel endlich ein Ende haben.

Der Fremde zögerte einen Moment. Dann legte er Dana eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Ich nehme dich erst einmal mit auf mein Revier. Dann werden wir sehen, was wir mit dir anstellen.« Sanft aber unnachgiebig schob er sie aus dem Tempel heraus. »Du brauchst mich übrigens nicht zu siezen. Nenn mich einfach Lesward. Wie ist dein Name?«

»Dana.«

Lesward nickte. »Ein schöner Name.«

Er bugsierte Dana einmal um den Tempel herum. Im Schatten eines alten Baumes führten einige Stufen abwärts unter die Erdoberfläche. Am Ende der Treppe befand sich eine riesige Metalltür. Danas Herz klopfte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Eingang zum Revier der Stadtwache die ganze Zeit über so nahe gewesen war. Sie hätte niemals unbemerkt auf das Dach des Tempels gelangen können ohne gesehen zu werden.

»Sie sind sehr nett für einen Polizisten«, sagte sie. »Ich habe gedacht, man würde mich sofort erschießen, wenn ich erwischt werde.«

Lesward lachte und zog einen kleinen Schlüssel aus der Innentasche seines Mantels. »Aber nein, natürlich nicht!« Er warf ihr einen verschmitzen Blick von der Seite zu. »Im Übrigen bist du auch sehr nett für eine gesuchte Verbrecherin. Und wenn ich mir den Kommentar erlauben darf – auch außerordentlich hübsch.«

Dana spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Machte er sich nur lustig über sie? Sie musste einen erbärmlichen Anblick abgeben. Er hingegen roch extrem gut, seine Kleidung war sauber und sein Erscheinungsbild tadellos.

Er steckte den Schlüssel in das Schloss. Es knackte und zischte, einige Zahnräder setzten sich knarrend in Bewegung. Dana starrte die Tür mit großen Augen an.

Sie betraten den dahinter liegenden Flur, der von flackernden Glühbirnen erleuchtet wurde. Als die Tür hinter ihnen krachend ins Schloss fiel, brandete eine Welle der Panik durch Dana hindurch. Sicher würde sie das Tageslicht niemals wieder sehen. Lesward schien ihre Unsicherheit zu spüren.

»Wundere dich nicht über diese außergewöhnliche…« Er machte eine Pause. »…Lokalität. Es ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Aber du musst verstehen, dass wir auf Sicherheit bedacht sein müssen. Deshalb haben wir das Revier unter die Erde verlegt. Absolut ausbruchsicher, das garantiere ich dir.« Er zwinkerte.

Danas Magen krampfte sich zusammen und die feinen Haare in ihrem Nacken sträubten sich. Lesward schien ein netter Kerl zu sein, und für einen Polizisten sah er außerordentlich gut aus, aber seine Gegenwart löste Unbehagen in ihr aus. Sie blieb stehen und schlug seinen Arm von ihrer Schulter.

»Ich möchte nicht da runter gehen. Bring mich woanders hin« flehte sie.

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Dana auf dem Absatz kehrt und rannte den Gang zurück bis zur Tür. Sie schlug mit den Fäusten dagegen, bis sie außer Atem war. Sie wusste, dass ihr Verhalten kindisch war, trotzdem wehrte sich alles in ihr dagegen, Lesward tiefer hinein in dieses Gefängnis zu begleiten.

»Ich kann mir vorstellen, dass du dich fürchtest.« Lesward war mit einem Mal hinter ihr, obwohl er nur einen Lidschlag zuvor noch unten im Gang gestanden hatte. »Aber du musst mir glauben, dass dir bei mir nichts geschehen wird. Die anderen Männer von der Wache sind weit weniger zimperlich mit Eindringlingen.«

Dana lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und ließ sich langsam auf den Boden gleiten, bis ihr Kinn ihre Knie berührte. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Ich bin ganz allein auf der Welt und möchte doch bloß meine Schwester finden.«

Lesward beugte sich zu ihr hinunter. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht in eine Gefängniszelle sperre.« Er lächelte. Seine stechend grünen Augen blickten verständnisvoll zu ihr hinab. »Ich könnte niemals zulassen, dass einer so hübschen Frau ein Leid widerfährt.« Er strich mit den Fingerspitzen die Linie ihres Kinns nach. »Ich bringe dich erst einmal zu einer Kollegin von mir. Du kannst dich waschen und dir frische Kleidung anziehen. Natürlich bekommst du auch etwas zu essen. Aber jetzt musst du mir versprechen, dass du mit mir kommst.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, zögerlich griff Dana danach und ließ sich auf die Beine ziehen. Sie schniefte, aber der Tränenfluss war versiegt.

Lesward führte sie durch ein weitläufiges Gängesystem unter der Erde. Mehrere Türen zweigten von dort aus ab. Als sie um eine Ecke bogen, wäre Dana beinahe vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Ein mannshohes metallenes Rad bewegte sich knirschend und zischend auf sie zu. Es war messingfarben, kaum breiter als eine Elle. Auf der Achse des Rades saß ein Mensch. Dampfschwaden stiegen aus dem Gerät auf. Es machte den Eindruck, als entstammte es einem Zirkus der Zukunft. Das Gefährt fuhr an ihnen vorüber.

Der Mann auf dem Sitz hob grüßend die Hand. »Hey Lesward, wen bringst du denn da mit?«

Lesward drehte sich zu dem Fahrer um. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Cole«, rief er ihm hinterher.

Dann knatterte das Metallrad um die Ecke und war außer Sichtweite. Dana starrte noch sekundenlang auf die Stelle, an der sie es zuletzt gesehen hatte.

»Was war das?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Dies musste ein Traum sein, ein sehr schlechter Traum.

»Das ist ein Kevel, auch Dampfrad genannt. Wundere dich nicht über derlei Dinge, wir erfinden gerne praktische Sachen.« Lesward schüttelte leicht den Kopf. »Ist einfach langweilig hier unten, wenn du verstehst.«

Dana verstand nicht, ihr Verstand war nicht mehr dazu in der Lage, überhaupt noch irgendetwas aufzunehmen und zu verarbeiten. Vollkommen verängstigt ließ sie sich von Lesward in einen Raum führen, der für eine Gefängniszelle viel zu gemütlich wirkte. Doch Dana konnte sich nicht entspannen. Steif wie ein Stock setzte sie sich auf einen gepolsterten Sessel. Ein Schreibtisch stand in einer Ecke des kleinen Zimmers, darüber waren zahlreiche Bücherregale angebracht, die sich unter ihrer schweren Last verbogen.

»Das ist mein Arbeitszimmer. Warte hier, ich schicke eine Kollegin. Sie wird sich um dich kümmern.«

Mit diesen Worten verschwand Lesward aus der Tür.

***

»Ich hoffe, es ist essbar«, sagte die Frau, die sich als Nola vorgestellt hatte. »Es kommt nicht allzu häufig vor, dass wir Besuch bekommen von…« Sie machte eine Pause, als müsse sie nach passenden Worten ringen. »…Leuten von oben.«

Dana nickte und biss beherzt in das Brötchen, das ihr Nola zusammen mit einer Tasse Tee gebracht hatte. Die hübsche blonde Frau, die Lesward geschickt hatte, um sich um Dana zu kümmern, war freundlich, jedoch distanziert. Das Zimmer, in das sie Dana nach dem Bad gebracht hatte, war spartanisch eingerichtet. Außer einem Bett, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem Kleiderschrank gab es keine Einrichtungsgegenstände. Dies sei ein Zimmer für Gäste, sagte sie, in welches Lesward des Öfteren jemanden unterbrachte.

Als Dana das Brötchen gänzlich hinuntergeschlungen hatte, senkte sie verlegen den Blick. Ihre Tischmanieren waren für gewöhnlich besser, aber der Hunger hatte sie beinahe um den Verstand gebracht.

»Wie lange muss ich hier bleiben?« Sie spielte nervös mit einer Locke ihres vom Waschen noch immer feuchten Haares. Sie zwang sich, Nola in die kühlen blauen Augen zu sehen. »Wann wird mir der Prozess gemacht? Ich kann mir leider keinen Anwalt leisten.«

Nolas Stirn legte sich in Falten. Sie warf Dana einen Blick zu, als hätte diese sich gerade danach erkundigt, wie man mit Messer und Gabel isst. »Prozess? Anwalt?« Ihre Miene verfinsterte sich. »Was zum Henker hat Lesward dir erzählt?« Nola stieß ein tiefes Knurren aus und ballte die Hände zu Fäusten. »Dieser Patriarch treibt es allmählich zu weit mit seinen Eskapaden.« Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Sie legte eine Hand auf Danas Unterarm. »Ach Schätzchen, glaub Lesward bloß nicht zuviel. Was auch immer er dir erzählt hat, hier wird garantiert niemandem der Prozess gemacht.«

Dana war hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Entsetzen. Das Schicksal schien sich einen Spaß daraus zu machen, sie als Spielball zu benutzen.

»Und was habt ihr stattdessen mit mir vor? Wer ist Lesward wirklich? Und wer bist du?« Ihre Stimme war leise und zittrig.

Nola lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es reicht, wenn du weißt, dass wir ein Haufen Sonderlinge sind, die unter der Erde wohnen. Wir sind unabhängig vom System, eher eine Art selbsternannte Ordnungshüter. Aber mach dir keine Sorgen, du hast bei uns nichts zu befürchten. Lesward ist ein Charmeur, der die Finger nicht von schönen Frauen lassen kann. Du brauchst vor ihm keine Angst zu haben.« Nola pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Allerdings wäre ich an deiner Stelle ganz schön sauer, weil er dir solche Märchen aufgetischt hat. Lesward - ein Soldat der Stadtwache? Pah! Am besten erklärt er dir das alles selbst, denn ich bin es leid, mich ständig um die armen Dinger zu kümmern, die er anschleppt.« Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal über die Schulter hinweg um. »Ich werde Lesward jetzt suchen und zu dir schicken. Ich halte mich ab sofort aus der Angelegenheit heraus.«

Dann war Dana wieder allein. Sie zog sich den Bademantel, den die seltsame Fremde ihr gegeben hatte, enger um die Schultern. Das Hemd, das sie darunter trug, war sauber, aber viel zu groß, ebenso die Hose. Dana war froh, das scheußliche Kleid von Argus endlich abgelegt zu haben, auch wenn ihr ihr momentanes Äußeres ebenfalls missfiel. Dana legte den Kopf auf die Tischplatte und schloss die Augen. Der Strom ihrer Gedanken zog sie immer tiefer in einen Abgrund. Wohin hatte Lesward sie gebracht und welche Ziele verfolgte er? Vielleicht war er wirklich bloß ein harmloser Menschenfreund, der Mitleid mit ihr gehabt hatte. Oder… Dana musste unwillkürlich schmunzeln. Vielleicht hatte sie ihm wirklich gefallen? Gleich darauf verwarf sie den Gedanken.

Was soll das für ein Kerl sein, der eine dreckige Herumtreiberin mit verfilzten Haaren aufliest, weil er Gefallen an ihr findet? Seltsamer Frauengeschmack!