Im Auge des Taifuns - Clive Cussler - E-Book

Im Auge des Taifuns E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Drogen machen sie zu Supersoldaten, und nur ein Mann kann sie aufhalten: Juan Cabrillo!

Eigentlich wurden Juan Cabrillo und die Crew der Oregon nur angeheuert, um eine Gemäldesammlung im Wert von einer halben Milliarde Doller sicherzustellen. Da taucht auf den Philippinen eine Droge auf, die normale Soldaten in Superkrieger verwandelt. Um die Verbreitung zu stoppen, muss Cabrillo nicht nur deren Anführer in seine Gewalt bringen, sondern auch den südafrikanischen Söldner abwehren, der die Droge selbst kontrollieren möchte. Und während Cabrillo alles daran setzt, einen Krieg zu verhindern, der ganz Asien in Flammen aufgehen lassen könnte, zieht ein nie dagewesener Megasturm auf.

Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Juan Cabrillo nicht entgehen!

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Seitenzahl: 695

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Autoren

Clive Cussler konnte bereits dreißig aufeinanderfolgende New-York-Times-Bestseller landen, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, und ist auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Boyd Morrison arbeitete als Ingenieur für die NASA und Microsoft, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Außerdem ist er professioneller Schauspieler und Jeopardy!-Meister. Er lebt mit seiner Frau in Seattle.

Die Juan-Cabrillo-Romane:

Der goldene Buddha

Der Todesschrein

Todesfracht

Schlangenjagd

Seuchenschiff

Kaperfahrt

Teuflischer Sog

Killerwelle

Tarnfahrt

Piranha

Schattenfracht

Im Auge des Taifuns

Weitere Bände in Vorbereitung

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Clive Cussler

& Boyd Morrison

Im Auge des Taifuns

Ein Juan-Cabrillo-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Typhoon Fury (Juan Cabrillo 12)« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Dudarev Mikhail; plampy; Jason Salmon; Aphelleon; Michal Zduniak; andrey polivanov)

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, GmbH

ISBN: 978-3-641-22684-8V003

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

ZWEITESCHLACHTVONCORREGIDOR 1945

Sergeant Daniel Kekoa Soldat der 24th Infantry »Hawaiian« Division.

Captain John Hayward Biochemiker in der Abteilung für Informationenbeschaffung und -analyse des Office of Strategic Services (OSS).

THECORPORATION

Juan Cabrillo Chairman der Corporation und Kapitän der Oregon.

Max Hanley Vizedirektor der Corporation, Juans Stellvertreter und rechte Hand sowie Chefingenieur der Oregon.

Linda Ross Vizedirektorin der Operationsabteilung der Corporation und U.-S.-Navy-Veteranin.

Eddie Seng Direktor der Abteilung für landgestützte Operationen der Corporation und ehemaliger CIA-Agent.

Eric »Stoney« Stone Leitender Steuermann der Oregon und U.-S.-Navy-Veteran.

Mark »Murph« Murphy Leitender Waffenoffizier der Oregon und ehemaliger Waffenkonstrukteur der U.S. Army.

Franklin »Linc« Lincoln Agent der Corporation und ehemaliger U.-S.-Navy-SEAL.

Marion MacDougal »MacD« Lawless Agent der Corporation und ehemaliger U.-S.-Army-Ranger.

George »Gomez« Adams Hubschrauber- und Drohnenpilot an Bord der Oregon.

Hali Kasim Nachrichtenoffizier der Oregon.

Dr. Julia Huxley Leitende Bordärztin der Oregon und mit Juan Cabrillo befreundet.

Kevin Nixon Chef des Magic Shop der Oregon.

Maurice Chefsteward der Oregon und als Veteran der Royal Navy ihren Traditionen verhaftet. Versieht seinen Dienst wie ein ausgebildeter Butler.

PHILIPPINISCHENATIONALPOLIZEI

Luis Navarro Inspektor und zuständig für Gefangenentransporte.

Captain Garcia Kapitän eines Gefangenentransportschiffs.

CHINESISCHESMINISTERIUMFÜRSTAATSSICHERHEIT

Zhong Lin Agent.

NATIONALSECURITYAGENCY

Abby Yamada Leitende Computer-Kryptoanalytikerin.

CENTRALINTELLIGENCEAGENCY

Langston Overholt IV Leitender CIA-Direktor und als Juan Cabrillos Mentor für den Kontakt zur Corporation zuständig.

PHILIPPINISCHERKOMMUNISTISCHERAUFSTAND

Salvador Locsin Anführer der Rebellen.

Nikho Tagaan Locsins rechte Hand und Schiffsingenieur.

Stanley Alonzo Beamter des Innenministeriums und Spion der Rebellenbewegung.

Mel Ocampo Biochemiker im Dienst der Rebellenbewegung.

Maria Santos Biochemikerin im Dienst der Rebellenbewegung.

Dolap Aufständischer und Locsins Cousin.

THAILAND

Beth Anders Expertin für Kunstraub und Gutachterin.

Raven Malloy Beth’ Leibwächterin und ehemalige Ermittlerin der U.S. Army Military Police.

Udom Anführer einer Drogenbande.

Alastair Lynch Chef des Interpol-Büros in Bangkok.

Gerhard Brekker Anführer einer südafrikanischen Söldnertruppe.

Altus Van Der Waal Brekkers Stellvertreter und rechte Hand.

UNITEDSTATESARMY

Greg Polten Ziviler Biowaffenexperte.

Charles Davis Greg Poltens Assistent.

General Amos Jefferson Direktor der Abteilung für Biowaffentests am Dugway Proving Ground.

PROLOG

ZWEITER WELTKRIEGZWEITE SCHLACHT VON CORREGIDORPHILIPPINEN20. Februar 1945

Der Tunnel explodierte.

Sergeant Daniel Kekoa warf sich auf den Boden und bedeckte den Kopf mit den Armen, während der M4 Sherman, der auf den bereits stark beschädigten Eingang gefeuert hatte, von der zweiten mächtigen Explosion im Innern des Tunnels mehrere Meter zurückgeworfen wurde. Der Dreißig-Tonnen-Tank vollführte eine Rolle seitwärts und landete auf seinem Gefechtsturm, ehe ihn eine durch die Erschütterung in der Munitionskammer aus ihrer Halterung herausgefallene Geschützgranate in einem Feuerball auseinanderriss.

Nachdem der Trümmerregen, der um ihn herum auf den Erdboden prasselte, versiegt war, kämpfte sich Kekoa schwankend auf die Füße, im Kopf schrillte nach der ohrenbetäubenden Explosion ein Klingeln. Dutzende von amerikanischen Soldaten lagen reglos im Tunneleingang oder krümmten sich vor Schmerzen. Er drehte den Mann, der ihm am nächsten lag, auf den Rücken. Die leeren Augen und der Stahlsplitter, der aus der Brust des Soldaten ragte, zeigten, dass für ihn jede Hilfe zu spät kam.

Voller Abscheu schüttelte Kekoa den Kopf. Die Informationen des Geheimdienstes der Army besagten, dass sich in speziell diesem Tunnel feindliche Soldaten versteckten, um die strategisch ideal an der Einfahrt zur Manila Bay gelegene Inselfestung zu verteidigen. Kekoa hatte den Panzer angefordert, um einer selbstmörderischen Banzai-Attacke zuvorzukommen, wie sie bei den fanatischen Japanern in dieser Phase der Schlacht üblich war. Aber es hatte keinerlei Hinweise gegeben, dass in nächster Nähe des Tunneleingangs größere Mengen Munition und Sprengstoff lagerten.

Captain John Hayward, die Hände noch immer auf die Ohren gepresst, kauerte nicht weit entfernt in einem der vielen Granattrichter, die das Gelände nach dem Bombardement übersäten, mit dem die Amerikaner ihre Invasion eingeleitet hatten. Kekoa beugte sich zu ihm hinab und reichte ihm eine Hand, um ihn auf die Füße hochzuziehen. Der schmächtige Mann mit dem braunen Haar und einer Nickelbrille mit kreisrunden Gläsern zitterte am ganzen Leib.

»Alles klar jetzt, Captain«, sagte Kekoa. »Ich hatte Ihnen versprochen, dass ich Sie in einem Stück durch diese Schlacht bringe.« Natürlich hatte Kekoa ein solches Versprechen eigentlich nicht geben können, aber was sollte er diesem Offizier, dessen Sicherheit die Army in seine Hände gelegt hatte, anderes sagen?

»Danke, Sergeant. Das rechne ich Ihnen hoch an. Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe.« Hayward starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Gemetzel. »Was ist passiert?«

»Offenbar haben sie die Höhle als Munitionslager genutzt. Ihre Leute vom OSS haben uns erzählt, die Munition würde viel tiefer im Tunnelsystem aufbewahrt werden.«

»Das sind nicht meine Leute. Diese Information ist aus einem anderen Bereich des Office of Strategic Services gekommen. Ich bin kein Spion, Sergeant Kekoa. Ich bin Wissenschaftler und arbeite in der Abteilung für Forschung und Analyse.«

»Wenn ich mir ansehe, wie Sie Ihren Karabiner in der Hand halten, kann ich nicht behaupten, dass mich das überrascht.«

Die Einsatzbesprechung für diese Mission war erstaunlich kurz gewesen. Der Bataillonskommandeur hatte ausdrücklich verlangt, dass Kekoa für Captain Hayward den Babysitter spielte und seine Befehle ausführte, während er gleichzeitig dafür sorgen sollte, dass er den Einsatz überlebte. Alle anderen Informationen waren geheim und nur bestimmten Personen zugänglich, und als einfacher Landser in der 24th Infantry »Hawaiian« Division brauchte Kekoa offensichtlich nicht über jede Einzelheit informiert zu sein. Alles, was Hayward seiner Einheit mitgeteilt hatte, war, dass er unbedingt in die Untergrundfestung gelangen müsse, ehe sich den Japanern die Gelegenheit bot, sie zu zerstören.

Die Insel Corregidor, deren Umrisse frappierende Ähnlichkeit mit einer Kaulquappe hatten, und die auf ihr in Stellung gebrachten Feldhaubitzen bewachten die Einfahrt zur Manila Bay, einem der größten natürlichen Häfen des Pazifiks. Der strategisch wichtige Außenposten, auch unter dem Namen The Rock bekannt, war sechs Kilometer lang und an seinem »Kopfende«, wenn man sich das Aussehen einer Kaulquappe vor Augen hielt, kaum mehr als anderthalb Kilometer breit.

Als Mitglied des Commonwealth der Vereinigten Staaten waren die Philippinen die letzte amerikanische Bastion, die dem japanischen Angriff zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen war, nachdem die Streitkräfte der Insel den Japanern bis zum Mai 1942, zwei Monate nach General Douglas MacArthurs Evakuierung, hatten standhalten können.

Kekoa und die Einheit, die er führte, waren Teil der Operation, den Malinta Hill am schmalen Ende der Insel zurückzuerobern. Dessen ausgedehntes Tunnelsystem wurde von einem acht Meter breiten Hauptgang unterteilt, der als Lazarett und MacArthurs Stabsquartier gedient hatte. Dutzende von kleineren Tunneln zweigten von dieser Hauptader ab und bildeten ein Netzwerk, das vor Bombenangriffen weitgehend sicher schien. Es war derart weitläufig, dass dort nicht nur Munition, Lebensmittel und Trinkwasser für eine große Garnison gelagert wurden, die damit einer monatelangen Belagerung standhalten konnte. Darüber hinaus war auch ausreichend Platz für das Lazarett mit eintausend Betten. Die drei Jahre, während derer die Japaner Corregidor kontrollierten, hatten sie genutzt, um wichtige Positionen zu sichern und weiter zu befestigen, sowie zusätzliche Tunnel zu graben, um das System, das von den Amerikanern angelegt worden war, immer mehr auszudehnen. Einige Tunnel waren vor der Kapitulation im Mai 1942 absichtlich zum Einsturz gebracht worden.

Auf einen dieser Tunnel und das, was sich in ihm befand, hatte Hayward es abgesehen.

Kekoa zählte Dutzende von Gefallenen und musste dabei feststellen, dass zwei der Toten zu seinem Zug gehörten. Kekoa hatte mit beiden Männern in der Nationalgarde in Honolulu gedient, ehe er nach dem Angriff auf Pearl Harbor in die Army eingetreten war. Danach hatte er während der Invasion von New Guinea auf der Philippineninsel Leyte Seite an Seite mit ihnen gekämpft. Sie waren nicht die ersten Männer, die er verloren hatte, und dem Irrsinn dieser Mission nach zu urteilen würden sie auch nicht die letzten sein.

Die Explosion hatte den Eingang verschlossen. Sie mussten sich einen anderen Weg hineinsuchen. Auf Haywards Befehl hin sammelte Kekoa seinen Zug und marschierte zur Südseite des Malinta Hill. Der Lärm von Gewehrfeuer und Artilleriegeschützen ringsum auf der Insel wurde nicht weniger, und die Luft, die Kekoa und seine Männer atmeten, war mit dem Gestank von Schießpulver und verbranntem Fleisch geschwängert.

Sobald sie ihre neue Position erreicht hatten, suchten Kekoa und Hayward in einem Schützenloch Deckung, um den Angriff zu planen.

Als er Hayward um weitere Befehle bat, zögerte der Captain und fragte dann: »Was schlagen Sie vor?«

»Haben Sie überhaupt schon mal an einem Kampfeinsatz teilgenommen, Sir?«

»Ich denke, die Antwort auf diese Frage ist Ihnen bekannt. Meine Wirkungsstätte ist mein Büro im neuen Gebäude des Pentagons. Dies ist das erste Mal, dass ich außerhalb der Vereinigten Staaten tätig bin und erst recht unter feindlichem Beschuss.«

»Was tun Sie in Washington?«

»Ich bin Biochemiker.«

»Ich weiß noch nicht einmal, was das ist. Was ich aber weiß, ist, dass es reiner Selbstmord wäre, diese Tunnel zu betreten, ehe wir sie ausgeräuchert haben.«

Mühsam brachte Hayward ein Lächeln zustande. »Ich dachte, Sie hätten versprochen, mich in einem Stück durch diese Geschichte zu lotsen.«

»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Aber diese Verteidiger sind fanatisch. Ich habe von Soldaten in einigen der anderen Kampfbataillone gehört, dass sie sich mit Sprengstoff gefüllte Westen überziehen und kamikazeähnlich auf uns zugerannt kommen. Unser Schlachtplan sieht vor, dass sich unsere Leute so nahe wie möglich an die Tunnel heranarbeiten, um Benzin in die Eingänge zu schütten, es in Brand zu setzen und die Eingänge dann zu verschließen, damit der gesamte Sauerstoff verbrannt wird.«

»Genau deshalb muss diese Mission erfolgreich durchgeführt werden«, sagte Hayward. »Wir müssen hineingelangen, ehe das geschieht.« Er sah sich um und senkte die Stimme, damit die anderen Männer seine Worte nicht hören konnten. »Glauben Sie, mir gefällt es, gerade in diesem Augenblick hier zu sein, Sergeant? Ich habe eine Frau und zwei Kinder und ein hübsches Haus an einem Stadtrand in Virginia. Ich war Professor auf dem College in Georgetown, bevor dies alles angefangen hat. Ich bin kein Kämpfer.«

»Warum sind Sie dann hier, Sir?«

Hayward seufzte resignierend. »Viel darf ich Ihnen darüber nicht erzählen, aber Sie verdienen es, die Risiken zu kennen, falls Sie wegen mir sterben sollten. Sie können doch ganz bestimmt erkennen, wohin dieser Krieg führt, nicht wahr? Dass wir in Richtung Norden von einer Insel zur anderen hopsen.«

Kekoa nickte.

»Der Krieg in Europa ist fast vorbei. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Deutschland kapituliert, was bedeutet, dass die Vereinigten Staaten alle Ressourcen in diesem Teil der Welt zusammenziehen. Unsere Regierung hat erklärt, dass wir nicht mehr und nicht weniger akzeptieren als eine bedingungslose Kapitulation – also, was meinen Sie, könnte unser Ziel im Pazifik liegen?«

»Die Invasion Japans?«

»Richtig. Sehen Sie sich um. Wir kämpfen auf diesem winzigen Felsen um jeden Meter Boden. Und jetzt versuchen Sie sich vorzustellen, was es kosten wird, die Heimatinseln zu unterwerfen, wenn jeder Bewohner bereit ist, für seinen geliebten Kaiser bis zum Tod zu kämpfen.«

Kekoa runzelte die Stirn. »Ich möchte ebenso wenig an der Küste Japans landen wie jeder andere friedliche Mensch, aber wenn genau das nötig sein sollte, um den Krieg zu beenden, dann bin ich bereit, auch dies zu tun.«

»Meine Forschungsgruppe nimmt an, dass sich in diesen Tunneln irgendetwas befindet, das die Einnahme der Heimatinseln zu einem Risiko mit den grässlichsten Folgen machen würde, die sich auszumalen eine gewöhnliche Phantasie nicht ausreichen wird.«

Kekoa starrte Hayward ungläubig an und deutete mit einer ausholenden Geste auf die Zerstörung ringsum. »Schlimmer als dies?«

Hayward nickte ernst. »Haben Sie nicht die Gerüchte gehört, dass die Army in Vorbereitung auf die Invasion Japans eine halbe Million Purple Hearts anfertigen lässt?«

»Das ist dummes Gerede.«

»Es ist die Wahrheit.« Der Captain deutete auf den Tunnelkomplex. »Wenn wir mit unserer Vermutung hinsichtlich dessen, was sich möglicherweise dort drinnen befindet, richtig liegen, dann wird diese Anzahl bei weitem nicht ausreichen.«

Kekoa nickte grimmig. »Wir bringen Sie dort hinein. Wo genau müssen Sie hin, sobald wir drin sind?«

»Danke, Sergeant«, sagte Hayward. »Ich suche ein Labor in einem der Navy-Tunnel. Es ist möglich, dass er während der Invasion der Japaner eingestürzt ist, aber es könnte genauso gut sein, dass der Feind ihn seitdem freigeräumt und zugänglich gemacht hat. Auf der Südseite des Berges sollte ein kleiner Eingang zu finden sein, der den Zugang ermöglicht.« Er holte eine Landkarte hervor und zeigte Kekoa die Position, die er meinte. Kekoa runzelte die Stirn und blickte auf seine eigene Landkarte.

»Bei mir ist der Eingang nicht eingezeichnet.«

»Sie können mir ruhig glauben«, sagte Hayward. »Er befindet sich ganz sicher dort. Das heißt, wenn ihn die Japaner nicht zugeschüttet haben.«

Kekoa vermutete, dass der Captain seine Personalakte gelesen hatte, und wusste, dass seine Mutter Japanerin war, so wie die Eltern vieler Männer in seiner Division. Aber Hayward war anscheinend nicht im Geringsten besorgt, dass Kekoa ein potentieller Verräter sein könnte, was den Captain in seinen Augen einige Sprossen auf der Wertschätzungsleiter aufsteigen ließ.

Kekoa führte seine Männer vorsichtig zu dem Ort, den Hayward ihm auf der Landkarte gezeigt hatte, und tatsächlich, dort befand sich eine Tunnelöffnung, versteckt hinter dem restlichen Buschwerk, das durch das Bombardement nicht zerfetzt worden war. Hätte sie der Captain nicht dorthin geführt, wären sie einfach daran vorbeigelaufen, ohne auch nur etwas von ihrer Existenz zu ahnen.

Per Funk forderte Kekoa weitere Unterstützung an und erlebte eine Überraschung, als ihm diese sofort bewilligt und zugesagt wurde. Hayward hatte offenbar mehr Einfluss, als Kekoa ihm zugetraut hatte.

Ein zweiter Sherman-Panzer rasselte durch das Gelände in Richtung Tunneleingang. Diesmal befahl Kekoa seinen Männern, in volle Deckung zu gehen, bevor der Tank feuerte. Nachdem er »Feuer frei!« durchgegeben hatte, schlug ein Explosivgeschoss im hinteren Tunnelbereich ein. Eine dichte Wolke aus Staub und Rauch wallte aus der Öffnung, aber eine zweite Explosion folgte nicht. Wer auch immer sich in dem Tunnel aufgehalten hatte, er konnte den Treffer nicht überlebt haben. Aber Kekoa gab der Panzerbesatzung den Befehl, zur Sicherheit drei weitere Geschosse abzufeuern, diesmal jedoch keine Geschützgranaten, um den Tunnel nicht vollständig zu zerstören.

Er rief seinen Flammenwerfertrupp nach vorn und wies die Männer an, ihm in den Berg zu folgen. Alle fünf Meter stieß der Flammenwerfer einen Feuerstrahl aus, um japanische Marinesoldaten, die sich möglicherweise in Felsnischen versteckten, zu eliminieren, und erhellte damit jedes Mal für einen kurzen Moment den zuvor noch vollkommen dunkel gewesenen Tunnel.

Kekoa hatte bei der Vorstellung, als Silhouette vor der taghellen Tunnelöffnung ein einladendes Ziel abzugeben, ein bohrendes Gefühl in der Magengegend. Er wandte sich zu Hayward um, der seinen Karabiner umklammerte, als wäre er ein Glück bringender Talisman.

»Es müsste der zweite Quergang sein«, sagte Hayward, seine belegte Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Auf der rechten Seite.«

Kekoa gab seinem Trupp ein Zeichen, in Bewegung zu bleiben und weiterzugehen, bis sie die Abzweigung erreichten, und versuchte, im Licht der Feuerlanze etwas zu erkennen. Sie kamen etwa sieben Meter weit, als vor ihnen in dem pechschwarzen Tunnel ein schrilles Geschrei aufbrandete, begleitet von dem wilden Getrommel rennender Füße.

»Gebt ihnen Zunder!«, brüllte Kekoa, warf sich auf den Boden und zog Hayward mit sich.

Der Flammenwerfer trat in Aktion und spuckte dicke Wolken brennender Flüssigkeit in den breiten Felsenkorridor. Dieser Feuersturm hätte die Japaner aufhalten und zum Rückzug zwingen müssen, aber sie stürmten trotz des lodernden Infernos vorwärts. Vier Männer rannten durch die Flammenwand, als wäre sie nicht mehr als eine leichte Brise, und stürzten sich auf den Soldaten, der die Düse des Flammenwerfers hin und her schwenkte, und auf seinen Partner, der ihm Feuerschutz geben sollte. Ehe dieser zum Schuss kam, durchbohrten sie beide Amerikaner mit ihren Bajonetten, obwohl sie selbst in hellen Flammen standen.

Als er erkannte, dass keine Chance mehr bestand, sein Flammenwerferteam zu retten, rief Kekoa: »Feuer frei!«

Ein Kugelregen raste in den Tunnel, da jeder verfügbare Mann dem Befehl gehorchte. Sogar Hayward hatte seinen Karabiner im Anschlag und feuerte.

Dennoch dauerte der Sturmlauf der Japaner unvermindert an. Kekoa konnte sehen, wie die Kugeln ihre Ziele fanden und sich in Leiber bohrten, aber diese brachen unfassbarerweise nicht zusammen. Sie griffen weiter an, als wären sie Figuren aus einem Superhelden-Comic.

Kekoa ging auf ein Knie hinunter und zielte auf den Kopf des Mannes an der Spitze der angreifenden Meute. Sein brennender Körper sank zu Boden, und die Flammen schlugen über ihm zusammen und hüllten ihn vollständig ein. Wenigstens waren sie nicht unzerstörbar.

Kekoa nahm den nächsten Angreifer ins Visier, aber dieser erreichte ihn, noch bevor er seine Waffe in Anschlag bringen konnte. Kekoa wehrte das Bajonett mit dem Kolben seines Gewehrs ab und rammte dem Japaner mit voller Wucht ein Knie in den Unterleib. Doch auch damit erzielte er nicht die geringste Wirkung.

Im flackernden Lichtschein der Gegner, deren Kleider in Brand geraten waren, konnte Kekoa einige Einzelheiten erkennen. Diese Marineinfanteristen hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den fast verhungerten Soldaten, deren Angriffe sie schon seit Tagen auf der Insel abwehren mussten. Dieser Mann hatte eine Statur wie ein Bodybuilder, und in seinen Augen, die Kekoa aus dem Dunkeln anfunkelten, brannte eine geradezu raubtierhafte Blutgier.

Kekoa spürte, wie sich die Bajonettklinge seinem Hals unaufhaltsam näherte. Er konnte den Gegner nicht abschütteln, war trotz der schrecklichen Wunden, die den Mann bereits zeichneten, nicht einmal in der Lage, ihn zurückzudrängen.

Dann flog der Kopf des Japaners zur Seite, als rechts neben Kekoa ein Schuss erklang. Hayward hatte den Karabiner noch immer schussbereit an der Schulter, als der Gegner zurücksackte und liegen blieb.

Bevor sich Kekoa bedanken konnte, warf sich der letzte lebende japanische Soldat auf Hayward und erwischte ihn mit einer Machete seitlich unterhalb des Brustkorbs. Hayward schrie auf und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Kekoa entlud das Magazin seiner Thompson-Maschinenpistole auf den Angreifer, der sich danach nicht mehr rührte. Sie hielten sich zwar noch für eine zweite Angriffswelle bereit, aber niemand kam ihnen mehr entgegen.

Die brennenden Reste des Benzin-Diesel-Gemisches aus dem Flammenwerfer spendeten den amerikanischen Soldaten ausreichend viel Licht, um sich zu orientieren. Kekoa ging neben Hayward, der eine Hand gegen seine Seite presste, auf die Knie hinunter. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor.

Kekoa hob ihn hoch. »Sie brauchen einen Sanitäter. Wir müssen Sie hinbringen.« Er machte Anstalten, zum Höhlenausgang zu marschieren, aber Hayward wehrte ihn ab.

Sein Gesicht war schmerzverzerrt, als er sagte: »Nicht bevor ich … nachgesehen habe, was sich … in diesem Tunnel befindet.« Als Kekoa zögerte, fügte er hinzu: »Das ist ein Befehl, Sergeant.«

Widerstrebend setzte Kekoa seinen Vorgesetzten ab und stützte ihn, während sie weiter in den Tunnel vordrangen. Zwei seiner Soldaten bildeten die Vorhut, einer von ihnen war mit dem Flammenwerfer seines toten Kameraden bewaffnet.

Nach etwa dreißig Metern erreichten sie einen Raum, dessen Einrichtung ihn als Labor kennzeichnete und der Hayward offensichtlich vollkommen vertraut war. Zu der Laboreinrichtung gehörten mehrere Aktenschränke und ein Schreibtisch, der mit einem Wust von Schriftstücken bedeckt war. Aus dem Tunnel drang ein leises Zischen an ihre Ohren.

»Meine Kamera«, verlangte Hayward. »Sie ist in meinem Sturmgepäck.«

Kekoa griff in den Rucksack, kramte darin herum und fand die Kamera, die über ein betriebsbereites Blitzlicht verfügte. Er überließ Hayward der Obhut eines anderen Soldaten, während er ein Foto von der Laboreinrichtung schoss. Als das Blitzlicht aufflammte, bemerkte Kekoa etwas an der Tunneldecke, einige Meter von ihnen entfernt.

»Sieh mal nach, was das ist«, sagte er zu einem seiner Männer, der daraufhin eine Stablampe anknipste, um den Fund zu untersuchen. Als er den Lichtstrahl auf den Punkt richtete, erkannte Kekoa zu seinem Schrecken den Ursprung des Zischens. Auf zwei dunkelgrauen Stangen, die an der Tunneldecke klebten, waren japanische Schriftzeichen zu erkennen. Er wusste, was sie bedeuteten: Dynamit. Das Zischen verursachte die brennende Zündschnur.

»Die Ladung geht jeden Moment hoch!«, brüllte er. »Alle sofort raus hier!«

»Nein!«, protestierte Hayward. »Wir brauchen Informationen!« Er riss sich los, machte zwei schwankende Schritte zum Schreibtisch, ehe Kekoa ihn zurückhalten konnte, und griff nach einem Aktenorder, der darauf lag.

Zusammen mit einem anderen Soldaten, der ihm behilflich war, lud sich Kekoa seinen Vorgesetzten zur Hälfte auf die Schulter und rannte mit ihm zum Tunnelausgang. Kekoas Lunge brannte von der Anstrengung und den Rauchschwaden, die ihm und seinen Leuten den Weg ans Tageslicht versperrten. Aber der Gedanke, unter Tausenden Tonnen von Geröll verschüttet zu werden, mobilisierte sämtliche Energiereserven in ihm. Sie waren die Letzten, die die Tunnelöffnung erreichten, und dann explodierte die unterirdische Festung wie ein Vulkan. Die Druckwelle schleuderte sie zu Boden.

Die beiden Dynamitstangen mussten mit anderen Sprengladungen, die an verschiedenen Punkten des Tunnelsystems deponiert worden waren, verbunden gewesen sein, denn der gesamte Berg erzitterte unter einer Serie von nachfolgenden Explosionen. Bäume wurden entwurzelt, Felsbrocken polterten die Berghänge herab und wirbelten Staubwolken auf, die so dicht waren, dass Kekoa nicht mehr als höchstens zwanzig Meter weit in jede Richtung blicken konnte.

Während er mühsam nach Luft rang, stellte er fest, dass Hayward neben ihm lag und sich nicht bewegte. Kekoa drehte ihn behutsam auf den Rücken und sah, dass er noch atmete. Seine Hand umklammerte den Schnellhefter, den er aus dem Tunnel mitgenommen hatte.

»Sanitäter!«, rief Kekoa. »Ich brauche sofort einen Sanitäter!« Er blickte auf Hayward hinunter, der in diesem Moment die Augen aufschlug. »Bleiben Sie bei mir, Captain. Nicht wegtreten!«

»Ich gehe nirgendwohin.«

»Beinahe hätte uns dieser Ordner alle das Leben gekostet.«

»Aber … ich musste ihn an mich bringen«, sagte Hayward. Seine Finger tippten auf den Deckel des Ordners. Darauf befand sich ein Bild neben japanischen Schriftzeichen. Das Bild stellte das Laubblatt einer Pflanze dar. »Sagen Sie mir, was auf dem Deckel steht.«

»Ich denke, das kann warten, bis …«

»Nein, das kann überhaupt nicht warten«, keuchte Hayward und wurde immer wieder von rasselnden Atemzügen unterbrochen. »Deshalb hatte ich Sie schließlich für diesen Einsatz angefordert. Sie beherrschen die japanische Sprache. Bitte, sagen Sie es mir.«

Kekoa entdeckte einen Sanitäter, der sich im Laufschritt näherte. Daher erfüllte er die Bitte des Captains.

»Dort steht Project Typhoon. Morale Division, Unit 731.« Bei der Erwähnung von Unit 731 wurde Haywards Gesicht noch bleicher, als es ohnehin schon gewesen war. Kekoa hatte keine Ahnung, was diese Reaktion zu bedeuten hatte, aber dass der Militärwissenschaftler zutiefst entsetzt war, blieb ihm nicht verborgen.

Der Sanitäter kümmerte sich um Haywards Wunde und injizierte ihm eine hohe Dosis Morphium. Während das Betäubungsmittel allmählich seine Wirkung entfaltete, murmelte Hayward: »Wo … ist sie stationiert?«

»Meinen Sie die Morale Division?«

Hayward nickte mit halb geschlossenen Augen.

»Der Name einer Militärbasis wird nicht genannt, wenn Sie sich so etwas erhofft haben sollten«, sagte Kekoa, »aber der Name einer Stadt.«

»Tokio?«

Kekoa schüttelte den Kopf. »Hiroshima.«

1

VIETNAMGEGENWART

Wie angewiesen stand Eddie Seng am Bordstein der Zufahrt zum Ankunftsbereich des Da Nang International Airport. Das breite Vordach des modernen Gebäudes schützte ihn vor der Sonne dieses frühen Nachmittags, machte den schwülen Julitag für ihn in seinem leichten Wollanzug jedoch nur unwesentlich erträglicher. Wie erwartet erschien eine elegante schwarze Limousine, glitt über die Auffahrt und hielt neben ihm an. Eddie wusste, welche Fahrzeugmodelle bei Führungskräften besonders beliebt waren, und identifizierte den Wagen sofort als einen Mercedes Maybach S600, also die absolute Crème de la Crème exotischer Autos.

Der livrierte Chauffeur ging um die Motorhaube des Wagens herum und öffnete eine breite Tür. Eddie stieg ein, ließ einen schnellen Blick durch das gediegen elegante Reiseabteil schweifen, machte es sich in einem der weichen cremefarbenen Ledersitze bequem und fragte sich, ob er aus diesem rollenden Luxussalon jemals wieder lebend herauskäme.

Ein Mann in schwarzem Anzug, der auf dem mittleren Platz der nach hinten ausgerichteten Sitzreihe saß, fuhr mit einem Metalldetektor an Eddies Körper auf und ab, um ihn auf mitgeführte Waffen zu überprüfen. Aber Eddie hatte die Instruktionen befolgt und war unbewaffnet. Auf der Rückbank neben Eddie saß Zhong Lin, hochrangiger Außendienstmitarbeiter des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit, und musterte ihn prüfend, während sich der Wagen wieder in Bewegung setzte und vom Bordstein entfernte. Anstatt eines Anzugs trug er ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Baumwollhose. Winzige Falten rauten seine Lippen auf, das typische Merkmal eines langjährigen starken Rauchers. Einen Augenblick lang sagte Zhong gar nichts, sondern taxierte lediglich die Person, die er als taiwanesischen Verräter namens David Yao kannte.

Eddie war tatsächlich in der Chinatown von New York City von seinen Eltern zweisprachig mit Mandarin und Englisch aufgezogen worden. Da er beide Sprachen vollkommen akzentfrei beherrschte, hatte er die vorangegangenen zwei Wochen in Taipeh, der Hauptstadt von Taiwan, verbracht, um sich den örtlichen Dialekt anzugewöhnen.

Den größten Teil seiner Dienstzeit bei der CIA hatte er als verdeckter Agent und Schläfer auf dem chinesischen Festland verbracht, daher war es für ihn nichts Neues, eine besondere Rolle auszufüllen. Jedoch war er noch nie zuvor so nah an einen Agenten des chinesischen Geheimdienstes, kurz MSS, herangekommen, seit seine CIA-Tarnung aufgeflogen und er gezwungen war, überstürzt in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Als gesuchter Gesetzesflüchtling war er in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, und sein Gesicht war den Polizeiorganen Chinas bestens bekannt. Falls Zhong Lin auch nur den geringsten Verdacht schöpfte, wer er wirklich war, würde er aus Vietnam herausgeholt, in Ketten nach Peking geschafft und ohne Aufschub hingerichtet werden.

Seine derzeitige Tarnung sollte dies möglichst verhindern. Der echte David Yao war ein Mitglied der Ghost Dragon Triade, einer der berüchtigtsten Verbrecherbanden Taiwans. Yao war verdächtigt worden, in großem Stil Erpressungen und Drogengeschäfte organisiert und Mordkomplotte geplant zu haben, aber seine verstümmelte Leiche war zwei Wochen zuvor von einem Schiff der U.S. Navy aus dem Ozean gefischt worden. Als die CIA erkannte, dass der Fund seiner Leiche ideale Voraussetzungen für Eddies derzeitige Operation schuf, bat sie die Navy, die taiwanesischen Behörden einstweilen nicht über den überraschenden Fund zu informieren und diesen Schritt auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

Ebenso wie Eddie war Yao Mitte dreißig, schlank und athletisch, aber man hätte sie niemals für Brüder halten können. Um die Verkleidung zu vervollständigen, war eine radikale Veränderung seines Gesichts unausweichlich – die Nase wurde verbreitert, das Kinn stärker ausgeprägt, und sogar die Augenform wurde modifiziert; hinzu kamen ein Schnurr- und ein Kinnbart sowie unechte Tätowierungen auf Armen und Hals.

Nach einigen Sekunden sagte Zhong auf Mandarin: »Haben Sie die Informationen, die wir brauchen?«

Eddie ließ sich seine Erleichterung darüber, dass er nicht erkannt wurde – schließlich war Zhong ein Regierungsvertreter und dürfte seinen Steckbrief gelegentlich zu Gesicht bekommen haben –, durch nichts anmerken. »Alles wurde bestätigt. Sie nehmen den Austausch in einem Zug vor. Alle Plätze wurden reserviert, sodass keine anderen Fahrgäste zugegen sind, und das Zugpersonal besteht ausschließlich aus Vietnamesen, die von der Triade rekrutiert wurden und später auch von ihr ausgezahlt werden.«

»Wo?«

»Irgendwo zwischen Da Nang und Hue. Sie teilen mir in einer Textnachricht mit, welcher Zug es sein wird, damit ich rechtzeitig am Bahnhof bin und sie abfangen kann, wenn sie eintreffen.«

»Und haben die Ghost Dragons den Memory-Stick bei sich?«

Eddie nickte. Er hatte den Dialog mit dem chinesischen Secret Service eröffnet, indem er hatte durchblicken lassen, welche Daten auf dem USB-Stick gespeichert seien. Das war eine Information, über die nur sehr wenige Außenstehende verfügten. Die taiwanesischen Ghost Dragons, die dem kommunistischen Regime auf dem Festland feindlich gesinnt waren, hatten einen nahezu selbstmörderischen Raubüberfall inszeniert, um einem Kurier des MSS den Speicher-Stick zu stehlen. Eddie gab in seiner Rolle als Yao vor, nicht nur seine Heimat Taiwan zu verraten, sondern auch seine Brüder in der Triade.

»Weshalb tun Sie das eigentlich?«, fragte Zhong.

»Sie wissen genau, weshalb«, erwiderte Eddie. »Wegen fünf Millionen US-Dollar.«

»Sie können nie mehr nach Taiwan zurückkehren. Nicht nach dieser Sache. Die Triade wird darüber Bescheid wissen, wer sie verraten hat.«

»Ich möchte gar nicht zurück. Mir ist schon seit einiger Zeit klar, dass ich bei den Ghost Dragons nie in einen mir angemessenen höheren Rang aufsteigen werde. Ich werde mir in Melbourne in Australien eine Frau suchen und mich dort niederlassen.«

Zhong zuckte die Achseln. »Wenn Sie bereit sind, Ihr Land zu verkaufen, dann zahle ich gerne dafür.« Er tippte auf das Display seines Smartphones. Dann sagte er: »Zwei Komma fünf Millionen wurden soeben auf Ihr Konto überwiesen.«

Eddie holte sein eigenes Mobiltelefon hervor und vergewisserte sich, dass die Überweisung ausgeführt worden war. »Und der Rest?«

»Folgt, sobald wir den Speicher-Stick in Händen halten.«

Anstatt auf die Schnellstraße abzubiegen, steuerte der Mercedes einen privaten Bereich des Flughafens an.

»Wohin fahren wir?«, fragte Eddie Seng. »Es war verabredet, dass Sie mich am Bahnhof absetzen.«

Zhong lächelte. »Sie haben doch nicht ernsthaft angenommen, wir würden Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Brüder zu warnen, dass wir die Absicht haben, die Übergabe zu verhindern, oder?«

»Ich sagte Ihnen doch, mit denen bin ich fertig.«

»Das haben Sie mir erzählt, aber warum sollte ich jemandem Glauben schenken, der auch schon seine Kameraden belogen hat?«

Der Wagen stoppte neben einem Eurostar AS350. Die Rotoren des Hubschraubers begannen sich langsam zu drehen. Neben ihm stand ein zweiter Helikopter, besetzt mit schwarz gekleideten Männern, die mit Sturmgewehren und aufgeschossenen Seilschlingen bewaffnet waren.

»Ich weiß, dass Sie bei der taiwanesischen Armee waren«, sagte Zhong, »deshalb begleiten Sie uns, um dafür zu sorgen, dass wir den USB-Stick auch wirklich erhalten.« Der Agent nahm Eddie das Telefon aus der Hand und fuhr auf der Suche nach Abhörmikrofonen mit einem Detektorstab an seinem Körper entlang. Da kein verräterisches Zirpen ertönte, war er überzeugt, dass Eddie nicht verwanzt war.

Der Helikopter startete, sobald sie an Bord waren, mit Eddie eingezwängt zwischen zwei chinesischen Agenten auf den hinteren Sitzen und Zhong vorn neben dem Piloten.

»Was passiert jetzt?«, fragte Eddie über sein Headset.

»Das werden Sie in dem Augenblick verstehen, wenn wir dort sind«, antwortete Zhong. »Wie viel zahlen die Amerikaner für den USB-Stick?«

»Die Ghost Dragons haben einhundert Millionen Dollar verlangt, aber die Amerikaner konnten sie auf die Hälfte herunterhandeln.«

»Fünfzig Millionen? Nicht schlecht, zumal es nur zwei potentielle Käufer gibt – uns und die Amerikaner. Und dann zu bedenken, dass die Triade uns natürlich kein ähnliches Angebot gemacht hat. Sie sollten lieber hoffen, dass die Daten auf dem Stick nicht den Amerikanern in die Hände fallen.«

Bei dieser Drohung mimte Eddie den Ängstlichen. »Was ist, wenn die Ghost Dragons den Speicher-Stick kopiert haben und die Daten später den Amerikanern anbieten können?«

Zhong schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich. Dieser Flash-Speicher hat eine spezielle Verschlüsselung. Er kann nur von Großrechnern ausgelesen werden, die an sicheren Orten in China stehen. Sollten die Ghost Dragons versuchen, die Daten auf dem Stick zu lesen, löschen diese sich automatisch selbst und überschreiben den frei gegebenen Platz, sodass die Daten nicht wiederhergestellt werden können. Im Grunde hoffe ich sogar, dass die Ghost Dragons versucht haben, auf die Daten zuzugreifen. Mein Problem wäre damit gelöst.«

»Warum sind dann die Amerikaner so scharf auf den Stick?«

»Weil sie als Einzige auf der Welt über ein anderes Computersystem verfügen, das den Flash-Speicher möglicherweise auslesen kann. Aber dieser Rechner steht zurzeit in der Zentrale der National Security Agency in Fort Meade. Solange wir uns den Memory-Stick verschaffen können, ehe er in die Vereinigten Staaten gelangt, können wir sicher sein, dass er nicht geknackt wurde.« Zhong wandte sich um und sah ihn an. »Deshalb begleiten Sie uns bei der Aktion. Wenn der Speicher-Stick nicht dort ist, wo er Ihrer Aussage nach sein soll, werden sich die Schmerzen, die Sie ertragen müssen, ins Grenzenlose steigern, bis wir herausbekommen, wo sich der Stick befindet.«

Eddie schluckte, die Augen vor überzeugend gespielter Angst weit aufgerissen.

»Möchten Sie an Ihrer Geschichte irgendetwas ändern?«, fragte Zhong. »Ich würde wahrscheinlich eher jetzt bereit sein, ein Auge zuzudrücken, als nach einer fehlgeschlagenen Operation.«

Eddie schüttelte heftig den Kopf. »Ich schwöre, dass der Austausch genau an dem Ort stattfinden wird, den ich von Anfang an genannt habe.«

Zhong hielt Eddies Telefon hoch. »Hoffen Sie lieber, dass der entsprechende Text gesendet wird – und auch ankommt.«

Die Hubschrauber jagten in geringer Höhe über den hügeligen Urwald und folgten den Bahngleisen, die sich an der Küste entlangschlängelten. Wenige Minuten später setzten sie auf einer in einem flachen Tal gelegenen Lichtung auf.

Sobald die acht Männer, Zhong und Eddie eingeschlossen, ausgestiegen waren, erhoben sich die Hubschrauber wieder in die Luft.

Eddie sah sich verwirrt um. Es schien, als seien sie mitten im Nirgendwo gelandet.

»Hier entlang«, sagte Zhong.

Sie marschierten zehn Minuten lang durch den tropischen Urwald, bis sie zu einem Berghang gelangten, von wo aus Eddie den Ozean sehen konnte. Die Eisenbahnschienen tief unten am Fuß des Berghangs verschwanden in einem Tunnel.

»Dies dort ist unser Ziel.« Zhong deutete auf die Tunnelöffnung.

Nun ergaben die aufgeschossenen Seile einen Sinn. Von einem Hubschrauber aus in den Zug zu gelangen hätte ihre Absicht bereits aus meilenweiter Entfernung verraten. Sie auf das Dach des Zuges herunterzulassen, wenn er aus dem Tunnel kam, wäre viel unauffälliger.

»Bekomme ich wenigstens eine Waffe?«, fragte Eddie, während sie zur Tunnelöffnung hinabstiegen.

Dafür hatte Zhong nur ein raues Lachen übrig. Die anderen fanden den Vorschlag offenbar ähnlich amüsant und stimmten in Zhongs Gelächter ein. Dabei marschierten sie zügig weiter.

Falls Zhong mit leeren Händen nach Peking zurückkehrte, würden er und seine Männer wegen ihres Versagens vor einem Erschießungskommando enden. Dessen war sich Eddie ganz sicher. Denn der Speicher-Stick, den sie an sich bringen wollten, damit er den Amerikanern nicht in die Hände fiel, enthielt die Namen aller chinesischen Agenten, die zu diesem Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten aktiv waren.

2

PHILIPPINEN

Die Sturmfront zog eher auf, als Luis Navarro erwartet hatte. Im Wetterbericht hatte es geheißen, dass sie erst nach Sonnenuntergang das Operationsgebiet erreichen würde. Windböen rüttelten am vorderen Fenster der Kommandobrücke des dreißig Meter langen Schiffes und überschütteten es mit breiten Regenvorhängen. Die Sicht war stark begrenzt. Er blickte zu Negros Island zurück, konnte Dumaguete City aber nicht mehr sehen. Ihr GPS-Gerät zeigte an, dass ihr Ziel – Dapitan City auf Mindanao – noch knapp fünfzig Kilometer entfernt war.

Kapitän Garcia befahl seinem Ersten Offizier, Gas zurückzunehmen. Die kleineren Begleitboote auf beiden Seiten drosselten ebenfalls die Geschwindigkeit, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Die Beamten auf beiden Booten, die sich hinter ihren Maschinengewehren auf dem Deck einsatzbereit hielten, boten einen bemitleidenswerten Anblick in dem Wolkenbruch.

»Was tun Sie?«, wollte Navarro wissen. »Nicht langsamer werden!«

Der Erste Offizier sah Garcia an, einen alten Fahrensmann, der offensichtlich nicht daran gewöhnt war, dass seine Anweisungen rückgängig gemacht wurden. »Inspektor, wenn wir bei diesen Bedingungen volle Kraft beibehalten, laufen wir Gefahr, eine höhere Welle aufzunehmen und abzusaufen.«

Obgleich jünger und gedrungener als der Kapitän, ließ sich Navarro nicht einschüchtern. »Der Chef der Philippinischen Nationalpolizei hat mir die Leitung dieser Mission übertragen, und ich befehle Ihnen, sofort wieder auf volle Kraft voraus zu gehen.«

»Mag sein, dass Sie das Kommando bei dieser Mission innehaben, aber dies ist mein Schiff. Wollen Sie heil in Mindanao ankommen oder nicht? Wäre der Chef der PNP hier, ich glaube, er würde gern am Leben bleiben.«

»Sie wissen, wen wir an Bord haben«, sagte Navarro.

Garcia nickte. »Und ich wünsche mir noch mehr als Sie, dass er mein Schiff verlässt. Also lassen Sie mich gefälligst meinen Job machen.«

Navarro murmelte einen ungehaltenen Kommentar, verzichtete jedoch darauf, seine Forderung zu wiederholen. Sein Land war für die hohe Anzahl gesunkener Schiffe weltweit berüchtigt. Bei einem Bevölkerungsaufkommen von über einhundert Millionen Menschen, die verteilt auf den siebentausend Inseln lebten, aus denen die Philippinen bestanden, wurde ein Großteil des Handels und des Transports von Waren und Menschen auf dem Wasserweg abgewickelt. Daraus ergab sich, dass alljährlich Dutzende von Booten und Schiffen während Unwettern und Stürmen wie diesem sanken.

Er konnte es sich keinesfalls erlauben, den Plan, nach dem diese Operation ablief, auch nur geringfügig zu verändern. Ihr Gefangener, Salvador Locsin, Anführer des Philippinischen Kommunistischen Aufstands, einer Splittergruppe der Neuen Volksarmee, der entschlossen war, die demokratisch gewählte Regierung der Philippinen mit allen Mitteln zu stürzen, gehörte zu den meistgesuchten Personen der Nation. Verhandlungen zwischen der Regierung und den Rebellen hatten sich über Jahre dahingeschleppt, und Locsin war allmählich des Stillstands und der Ergebnislosigkeit überdrüssig geworden. Seine Terrorkampagne, die sich gegen wichtige politische Persönlichkeiten und Regierungseinrichtungen wandte, hatte Dutzende von Menschenleben gefordert und mehrere Gebäude zerstört. Woher das Geld stammte, mit dem er seine Aktivitäten finanzierte, war nach wie vor ein Rätsel, aber Navarro hatte sich geschworen, diesen Punkt aufzuklären, sobald sie Locsin in einen sicheren Verhörraum gebracht hätten.

Dank eines anonymen Hinweises war er im Verlauf einer Razzia in Kabankalan City verhaftet worden. Ihn von der Insel herunterzuschaffen, hatte sich jedoch angesichts Tausender Rebellen auf Negros Island, die ihm treu ergeben waren, als gefährlich erwiesen. Der erste Versuch, Locsin in die Hauptstadt Manila zu bringen, sollte auf dem Luftweg stattfinden, aber die Rebellen inszenierten einen Angriff auf den Flughafen, der zwar fehlschlug, doch wurde dabei die Maschine beschädigt, sodass sie nicht starten konnte, und drei Polizeibeamte fanden bei der Attacke den Tod.

Danach hatte man entschieden, einen zweiten Versuch vorzutäuschen und ihn von einem anderen Flughafen der Insel starten zu lassen. Zur gleichen Zeit wurde Locsin auf dem Landweg nach Dumaguete gebracht, wo drei Schiffe bereitlagen, um ihn an Bord aufzunehmen. Bekanntlich war auf Mindanao eine weitaus geringere Zahl von Rebellen aktiv, daher glaubte man, es sei weitaus weniger gefährlich, ihn von dort auszufliegen.

Das Walkie-Talkie, das an seinem Gürtel hing, meldete sich. Der Rufer, dessen blecherne Stimme aus dem Lautsprecher drang, war in heller Panik. »Senior Inspektor Navarro, Sie müssen sofort hierherkommen!«

»Was ist los?«, fragte Navarro.

»Officer Torres ist tot!«

Als er die Meldung hörte, schaute Kapitän Garcia, der auf die Nachricht von dem heraufziehenden Sturm zwar wachsam, aber gelassen reagiert hatte, Navarro mit Angst in den Augen an. Er trat neben seinen Ersten Offizier und schob den Fahrtregler zentimeterweise nach vorn.

»Ich bin unterwegs«, sagte Navarro.

Jedes Mal zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte Navarro ins Schiffsinnere hinunter. Der Fischkutter war vom Polizeiapparat zwangsweise von seiner ursprünglichen Aufgabe entbunden und zum Gefangenentransporter umgebaut worden. Anstelle der Kühlkammer, in der Makrelen oder Thunfische gelagert wurden, waren kleine vergitterte Zellen eingebaut worden, die einem Gefangenen gerade genug Platz boten, um auf einer schmalen stählernen Bank zu sitzen.

Als Navarro den Lagerraum erreichte, sah er Torres auf dem Rücken vor einer der Zellen auf dem Boden liegen. Sein Kopf bildete einen unnatürlichen Winkel zu seinem restlichen Körper, und seine Augen waren weit aufgerissen und starrten blicklos ins Leere. Zwei andere Polizeibeamte standen hinter ihm.

Navarro trat über die Schwelle, innerlich vor Zorn rasend, weil er einen weiteren Mann verloren hatte. »Was ist geschehen?«

Der ältere Beamte blickte nervös zur Arrestzelle, dann sah er Navarro an. »Torres wollte gerade zur Toilette. Wir haben wahrscheinlich nicht aufgepasst, denn plötzlich und ohne Vorwarnung lag er mit gebrochenem Genick auf dem Boden.«

Navarro fixierte den einzigen Gefangenen, den sie an Bord hatten. Salvador Locsin saß auf der Zellenbank, hatte die Augen geschlossen und lächelte glückselig. Seine Bizepse mit Muskelsträngen dick wie Schiffstaue spannten die Ärmel seines T-Shirts, und die Adern seiner Unterarme sahen aus, als würden sie die Haut, die sie bedeckten, jeden Moment zerreißen. Sein schwarzes Haar kräuselte sich über seiner Stirn und glänzte feucht vom Schweiß, der darunter hervorsickerte und über das Gesicht perlte.

Navarro starrte seine Männer wütend an und richtete einen Finger auf Locsin, als wollte er ihn damit aufspießen. »Habe ich euch nicht gewarnt, dass ihr darauf achten sollt, nicht zu nahe an seine Zelle heranzukommen?«

»Aber es sah aus, als ob er schliefe, als Torres aufstand, um hinauszugehen«, protestierte der jüngere Beamte. »Wie hätte er es schaffen sollen, jemandem durch die Gitterstäbe das Genick zu brechen?«

Navarro ging weiter zu der Zelle, machte einen Schritt zwischen Torres’ Beine und trat dicht an das Gitter heran. Beide Polizisten brachten ihre Waffen in Anschlag, um ihm Deckung zu geben.

»Dafür wird man Sie zur Verantwortung ziehen, Locsin«, sagte Navarro.

Locsin antwortete in einem fremden Dialekt einer der mehr als einhundertsiebzig Sprachen, die von den philippinischen Eingeborenen gesprochen wurden. Navarro beherrschte nur die beiden Amtssprachen des Landes, Englisch und Tagalog.

»Nun kommen Sie schon, Locsin«, fuhr Navarro auf Englisch fort. »Ich weiß, dass Sie mich verstehen.«

Locsin schlug die Augen auf. Jede einzelne Iris war so dunkel, dass sie mit dem Schwarz seiner Pupillen zu verschmelzen schien. Navarro taumelte beinahe zurück – vor der Wucht dieses Blicks und vor dem gebündelten Bösen, das sich tief in seine Seele bohrte.

»Ich sagte doch, dass ich bereits tot bin, oder etwa nicht?«

Navarro sammelte sich so weit, dass er antworten konnte, ohne dass seine Stimme schwankte. »Ich weiß nicht, wie hoch Ihre Strafe ausfallen wird, aber Sie müssen für Ihre Verbrechen bezahlen.«

»Das werde ich, Inspektor Navarro, und zwar mit einem wesentlich höheren Preis, als Sie jemals ermessen können.« Locsin schloss die Augen wieder.

Navarro trat zurück, und die beiden Beamten kamen näher, als wollten sie Torres aufheben.

»Lasst ihn dort liegen«, sagte Navarro. »Wir kümmern uns um ihn, sobald wir den Gefangenen von Bord gebracht haben.«

Die beiden Beamten starrten ihn sichtlich geschockt an, machten jedoch keinerlei Anstalten, seinem Befehl zu widersprechen.

»Was soll jetzt mit ihm geschehen?«, fragte der ältere Polizist und deutete mit seinem Gewehr auf den Gefangenen.

»Behaltet ihn ständig im Auge. Er muss am Leben bleiben, damit wir ihn verhören können. Wenn es sein muss, verwundet ihn, aber tötet ihn nicht.«

»Jawohl, Sir«, sagten die beiden wie aus einem Mund.

Die Drehzahl der Schraube wurde plötzlich gedrosselt, bis die Maschine nur noch im Leerlauf blubberte und das Boot stetig langsamer wurde, bis es in trägem Kriechtempo durchs Wasser glitt.

»Was ist jetzt schon wieder?«, murmelte Navarro, während er zur Kommandobrücke hinaufeilte.

Er platzte durch die Tür und sah, dass Kapitän Garcia ins Funkgerät sprach und aus dem Fenster blickte. Der Erste Offizier kurbelte am Ruder und verließ ihren ursprünglichen Kurs.

»Sieht so aus, als stünde die Fähre in Flammen«, sagte Garcia soeben. Er hielt den Sprechknopf gedrückt. »Ich sehe Überlebende im Wasser, weitere sind auf dem Boot zu erkennen. Wie lange wird es dauern, bis Sie hier sind?«

Navarro folgte Garcias Blick und entdeckte das sinkende Schiff mehr als eineinhalb Kilometer halb backbord vor ihnen. Das stumpfe Heck der Autofähre wurde bereits von den ersten Wellen überspült, und Rauch quoll aus dem Deckaufbau. Navarro zählte mehr als zwei Dutzend Menschen im Wasser, einige mit Schwimmwesten, andere wild mit den Armen rudernd, als kämpften sie verzweifelt dagegen an, in den Wellen zu ertrinken.

»Das nächste Patrouillenschiff ist mindestens eine Stunde entfernt«, erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. Sie musste einem Mitglied der Küstenwache gehören. »Wir funken alle Schiffe in der näheren Umgebung an und bitten sie um Unterstützung.«

»Danke. Wir sammeln so viele wie möglich auf.« Garcia legte das Funkgerät beiseite und befahl dem Ersten Offizier, sie an die Überlebenden heranzumanövrieren.

Navarro starrte den Kapitän entsetzt an. »Was fällt Ihnen ein? Was tun Sie?«

Garcia erwiderte den Blick des Polizeiinspektors mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens. »Ich helfe einem havarierten Schiff und seinen Passagieren und seiner Besatzung, wozu wir nach den internationalen Schifffahrtsregeln verpflichtet sind.«

Das kleinere, wendigere der beiden Begleitschiffe hatte bereits den Unglücksort erreicht, und seine Matrosen zogen die ersten Überlebenden aus dem Wasser.

»Es wird nicht gestoppt!«, befahl Navarro. »Setzen Sie die Fahrt fort, und schließen Sie diese Operation wie geplant und befohlen ab.«

»Sind Sie verrückt geworden? Wir können nicht zulassen, dass diese Leute ertrinken!«

»Ich habe bereits einen Beamten verloren, er liegt tot unter Deck. Locsin ist raffiniert, skrupellos und gefährlich. Was meinen Sie, was geschehen wird, wenn wir Scharen von Zivilisten an Bord holen, während er unten in seiner Zelle sitzt?«

»Dann behalten wir sie oben an Deck.«

»Nein. Sie würden meine Beamten bei der Durchführung ihrer Aufgaben behindern. Das lasse ich nicht zu.«

»Und ich werde auf keinen Fall meine Pflichten als Kapitän dieses Schiffes verletzen. Ich lasse keinen Schiffbrüchigen ertrinken, wenn es in meiner Macht steht, ihn zu retten!« Garcia wandte sich zu seinem Ersten Offizier um und bedeutete ihm mit einer Geste, den Kurs zum Wrack beizubehalten.

Navarros Hand glitt zur Pistole an seinem Gürtel hinab. Es widerstrebte ihm, mit Gewalt zu drohen, aber der Kapitän ließ ihm keine Wahl. Er begriff einfach nicht, welche Bedrohung Locsin darstellte.

Aber Navarro hatte keine Zeit mehr, seine Waffe zu ziehen, bevor eine schrille Stimme aus dem Funkgerät drang.

»Transport One, hier ist Escort One! Es ist eine Falle! Es sind keine Passagiere der Fähre! Sie haben meine Männer überwältigt, aber ich konnte noch eine Spreng…« Der Polizist wurde unterbrochen, als ein Schuss fiel, und dann brach die Funkverbindung ab.

Navarro blickte zur Fähre und sah jetzt, dass Escort 1 gewendet hatte und Kurs auf das Schiff mit dem Gefangenen nahm. Escort 1 war nur zweihundert Meter entfernt, und Navarro konnte auf dem Oberdeck einen Mann in Zivil erkennen. Er stand hinter der Maschinengewehrlafette und zielte in ihre Richtung.

»Runter! In Deckung!«, brüllte Navarro, während er sich auf Garcia stürzte und ihn aufs Deck warf. Kaliber-dreißig-Projektile schlugen in die Kommandobrücke ein, zertrümmerten die Fenster und töteten den Ersten Offizier, der im Kapitänssessel zusammensackte.

»Bringen Sie uns von hier weg!«, verlangte Navarro.

Er blickte hinaus und verfolgte, wie Escort 1 hin und her schwankte und dann explodierte. Das musste die Sprengladung sein, die der Beamte auf Escort 1 erwähnt hatte, ehe er starb.

Garcia kämpfte sich auf die Füße und schob den Fahrtregler auf volle Kraft voraus.

»Der Navigationscomputer wurde durch Gewehrtreffer beschädigt. Ich muss uns nach dem Kompass steuern.«

Navarro angelte sich ein Fernglas, suchte sich in der Nähe des Eingangs zur Kommandobrücke eine Position, in der er ausreichend Deckung hatte, und sah, dass Escort 2 ebenfalls gewendet hatte und auf sie zusteuerte. Der Mann in Zivil, der sich des Maschinengewehrs bemächtigt hatte, zielte auf sie und hielt sich bereit zu schießen, sobald sich das Gefangenenschiff in Schussweite befand. »Wie lange brauchen wir noch bis Dapitan City?«

»Bei diesem Seegang mindestens eine Stunde. Möglich, dass wir etwas schneller sind als dieses kleine Schiff. Es hängt davon ab, wie lange der Sturm andauert.«

Navarro rief sich die Unterhaltung des Kapitäns mit der Küstenwache ins Gedächtnis. »Wir sollten versuchen, in Erfahrung zu bringen, aus welcher Richtung der Hilfskutter kommt und ihm entgegenfahren. Geben Sie mir das Funkgerät.«

Garcia hob das Gewünschte vom Boden auf, lachte bitter und warf es ihm zu. Es war von einer Kugel durchlöchert worden.

Wütend schlug Navarro mit der flachen Hand auf das Deck. Er hatte sich in einen Hinterhalt locken lassen wie ein Polizeischüler im ersten Ausbildungsjahr.

Er schaltete sein Walkie-Talkie ein und rief seine Beamten auf dem Gefangenentransporter.

»Hier spricht Inspektor Navarro. Befehl an alle Beamten, die noch einsatzfähig sind: Auf jeden schießen, der sich dem Schiff nähert!«

3

VIETNAM

Die massige Diesellokomotive kam von Norden und wurde, während sie sich dem Bahnübergang in einem Vorort von Hue näherte, langsamer. Juan Cabrillo zählte neun Personenwagen plus Lokomotive. Laut den detaillierten Anweisungen der Ghost Dragons sollten Juan und Eric Stone aufspringen, während der Zug den Übergang passierte, weil ihn anzuhalten zu viel unerwünschtes Aufsehen erregen würde.

Während Eric die Häuser in der Nähe auf mögliche Beobachter absuchte, blickte Juan konzentriert auf das Wegwerf-Telefon – ein billiges Modell mit Prepaid-SIM-Karte, das er in Hue gekauft hatte. Bisher war noch keine Nachricht von Eddie gekommen. Es bedeutete, dass man ihm entweder sein Mobiltelefon abgenommen hatte oder dass er sich in einer Situation befand, die nicht zuließ, dass er sich meldete.

»Wir haben noch immer nichts von unserem freundlichen Nachbarschaftsmaulwurf gehört«, sagte Juan. »Könnte es sein, dass er sich eingegraben hat?«

Wie Juan Cabrillo selbst und jeder andere Angehörige der Corporation trug Eddie einen subdermalen Ortungschip bei sich, den man ihn in den Oberschenkel eingesetzt hatte. Von seinem »Wirtsorganismus« mit Energie versorgt, sendete er jede Minute einen Impuls aus, der von herkömmlichen Lauschvorrichtungen nicht aufgespürt werden konnte. Mit modernster GPS-Technologie ließ sich seine Position jedoch bis auf ein paar Dutzend Meter genau bestimmen.

Eric warf einen Blick auf sein Tablet. »Ich habe ihn, Chairman. Das letzte Signal seines Chips kam von einer Position in der Nähe der Bahngleise, fünfzehn Kilometer südlich von uns.«

»Das muss der Punkt sein, wo uns die Chinesen abfangen wollen. Bis dahin müssen wir den Austausch vollzogen haben.«

Juan Cabrillo musste davon ausgehen, dass das chinesische Ministerium für Staatssicherheit ihre gesamte Kommunikation überwachte und aufzeichnete. Er schickte Eddie die Information über die Position des Zugs als Textnachricht.

Lok #9736. Verlässt Huong Thuy in 2 Minuten.

Er ließ das Telefon auf die Asphaltdecke der Straße fallen und zermalmte es mit mehreren Fußtritten. Eric beobachtete ihn dabei, gab jedoch keinen Kommentar. Er verstand, dass Juan um jeden Preis vor den MSS-Agenten verschleiern wollte, dass sich Eddies vermutete Kontaktperson noch nicht im Zug befand und zu den restlichen Ghost Dragons gestoßen war.

Wie alle Missionen, die von der Corporation ausgeführt wurden, war auch diese ein Unternehmen, das ihre Klienten nicht in Eigenregie abwickeln konnten. Nachdem er seine Position als aktiver Agent bei der CIA aufgegeben hatte, hatte Juan Cabrillo eine Söldnerorganisation gegründet, um Operationen durchzuführen, die sein alter Arbeitgeber nicht übernehmen konnte, weil er entweder nicht über die entsprechenden Möglichkeiten und Hilfsmittel verfügte, die für eine erfolgreiche Erledigung des Auftrags nötig waren, oder weil er im Fall eines Misserfolgs keine plausible Erklärung für seine Beteiligung liefern konnte. Die Corporation nahm zudem auch noch die Aufträge anderer Kunden an, solange sie nicht mit den Interessen der Vereinigten Staaten kollidierten.

Der Auftrag für diese Mission war von ganz oben gekommen.

Als die Ghost Dragons mit ihrem Verkaufsangebot über vertrauliche taiwanesische Kanäle an die amerikanische Regierung herangetreten waren, hegte die CIA gewichtige Zweifel, dass auf dem Speicher-Stick, den sie anboten, tatsächlich die Namen aller in den USA operierenden Undercoveragenten des MSS enthalten waren. Das Problem bestand darin, in Erfahrung zu bringen, was sich wirklich auf dem Flash-Speicher befand, während sie an der Ausführung des Auftrags arbeiteten. Die National Security Agency wusste seit langem von der Selbstlöschungs-Technologie, die China bei sensiblen Informationstransfers einsetzte, aber die einzige Möglichkeit, den Code und die Verschlüsselung zu knacken, boten hochleistungsfähige Supercomputer, die von der NSA speziell für diesen Zweck entwickelt worden waren. Da Juan den Inhalt des Flash-Speichers nicht auf einem gewöhnlichen Laptop überprüfen konnte, ohne ihn gleichzeitig zu löschen, könnte er zu keinem Zeitpunkt mit letzter Sicherheit entscheiden, ob er über fünfzig Millionen Steuerzahlerdollars für sensible chinesische Staatsgeheimnisse oder für den Einkaufszettel des Staatspräsidenten auf den Tisch legte.

Eddie Seng hatte mit dem MSS direkt Kontakt aufnehmen müssen, um eine Bestätigung zu erhalten, was auf dem Stick tatsächlich gespeichert war. Laut den Informationen, die Eddie ihnen übermittelt hatte, verfolgte der chinesische Geheimdienst einen riskanten Plan, um den Austausch zu verhindern und den Flash-Speicher an sich zu bringen. Das war für Juan der sichere Beweis dafür, dass die Ghost Dragons eine hochbrisante Ware zum Verkauf anboten.

Die Regularien für die Übergabe waren relativ simpel. Wenn der Zug am Bahnübergang sein Tempo drosselte, würden Juan und Eric auf die Plattform an seinem Ende aufspringen, sobald sie sich auf ihrer Höhe befand. Sie würden dann bis zum Speisewagen in der Mitte des Zuges gehen, wahrscheinlich von der Triade mittels versteckter Kameras genauestens überwacht, während sie einen Wagen nach dem anderen durchquerten. Sie dürften keine Waffen bei sich haben. Sobald zweifelsfrei feststand, dass sie allein und unbewaffnet waren, würde die Übergabe stattfinden. Sie würden den Speicher-Stick an sich nehmen, während fünfzig Millionen Dollar US-Regierungsgeld auf ein von der Triade angegebenes Konto überwiesen würden. Dann würde der Zug an einem anderen Bahnübergang abermals das Tempo drosseln, damit sie wieder abspringen konnten.

»Chairman«, sagte Eric, während er auf sein Telefon schaute. »Soeben erhalte ich die Bestätigung von Linc und Murph. Sie sind vor Ort und bereit.«

»Dann kann die Party losgehen.«

Für diesen Auftritt hatten sie eine äußere Erscheinung gewählt, die auf die Triade beruhigend wirken sollte. Eric war als ehemaliger Angehöriger der Navy, der während seiner kurzen Dienstzeit in der Abteilung für technologische Entwicklung tätig gewesen war, eins der jüngsten Mitglieder der Corporation. Mit seinem sorgfältig gescheitelten Haar, seiner dunkel geränderten Hornbrille, seinem blauen Button-down-Oberhemd und seiner baumwollnen Bügelfaltenhose sah er wie der schüchterne Computerfreak aus, der er wirklich war. Eric war an der Operation beteiligt, um nachzuprüfen, ob ihnen tatsächlich ein Flash-Speicher des MSS angeboten wurde, und er hatte absolut nichts Bedrohliches an sich.

Juan Cabrillo hingegen, mit blondem Haar, blauen Augen, sonnengebräunter Haut, die er sich bereits in seiner Jugend beim Wellenreiten vor der Küste seiner kalifornischen Heimat geholt hatte, und der athletischen Schwimmerstatur, vermittelte den Eindruck eines Mannes, der jederzeit in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen. Die Ghost Dragons würden als Käufer einen erfahrenen Agenten erwarten, doch anstelle des obligatorisch unauffälligen Businessanzugs hatte sich Juan für ein lässiges Outfit aus kurzärmeligem Oberhemd, Bluejeans und halbhohen Boots entschieden.

Während die Lokomotive mit dröhnendem Dieseltriebwerk an ihnen vorbeirollte, musterte der vietnamesische Lokführer sie mit gelangweilter, finsterer Miene aus seinem Führerhaus hoch über dem Gleis. Als Juan nach Hinweisen auf die Anwesenheit der Triadenmitglieder Ausschau hielt, staunte er über die luxuriöse Ausstattung der Personenwagen nicht wenig. Die Triade hatte anscheinend nicht nur erheblichen Einfluss, um diesen Zug chartern zu können, sondern sie wollte den Austausch offenbar auch in stilvoller Umgebung durchführen. In den ersten beiden Waggons war zwar niemand zu sehen, aber die Fenstervorhänge des dritten waren zugezogen. Der fünfte Waggon, in dem die Übergabe stattfinden sollte, war ein Speisewagen.

Die restlichen Wagen waren ebenfalls leer. Als sich der letzte Waggon auf ihrer Höhe befand, sprang Eric Stone auf, Juan folgte ihm.

»Wir sollten unsere Gastgeber nicht zu lange warten lassen«, sagte Juan.

Er und Eric gingen nach vorn, während der Zug wieder beschleunigte, bis er seine ursprüngliche Reisegeschwindigkeit erreichte. Juan registrierte die Kameras, die in den Fassungen der Deckenbeleuchtung versteckt waren, ließ sich jedoch nichts anmerken. Mit Hilfe ihrer drahtlos übermittelten Bilder wollten sich die Ghost Dragons vor einem möglichen Doppelspiel schützen. Eric schenkte ihnen ebenfalls keine Beachtung, sondern tippte eifrig auf sein Tablet, während sie die Waggons durchquerten.

Als sie den siebten Wagen erreichten, wurden sie von zwei Soldaten der Triade erwartet. Sie waren jung, von athletischer Statur und mit schwarzen Kampfanzügen bekleidet. Beide waren mit Brügger & Thomet MP9 Maschinenpistolen bewaffnet, die nicht viel größer waren als herkömmliche halbautomatische Pistolen, jedoch auf Dauerfeuer geschaltet werden konnten. Dann wären sie zwar nicht sehr präzise, in der Enge eines Eisenbahnwagens jedoch absolut tödlich. Juan und Eric hoben die Hände.

»Ich bin Thomas Cates«, stellte sich Juan vor und nannte den Namen, den er benutzt hatte, als er das Treffen vereinbarte. »Bringen wir es hinter uns.«

Während einer der Männer sie mit seiner Maschinenpistole in Schach hielt, trat der andere vorsichtig vor, tastete Eric ab und inspizierte das Tablet, das er in der Hand hielt, sowie die Schultertasche, in der sich sein Laptop befand. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Eric nicht bewaffnet war, tastete er Juan ab.

Als er Juans rechten Fuß berührte, blickte er überrascht hoch und befahl ihm mit einer Geste, das Hosenbein hochzuziehen, unter dem die Beinprothese unterhalb seines Knies zum Vorschein kam.

»Das verdanke ich den Kommunisten«, sagte Juan, was den Tatsachen entsprach. Sein fehlendes Bein war das Ergebnis einer Geschützgranate, die von einem chinesischen Zerstörer abgefeuert worden war. »Sehen Sie? Wir haben einen gemeinsamen Feind.«

Der Mann sagte nichts. Er zuckte lediglich die Achseln und nickte seinem Kumpan zu. Sie hatten die Überprüfung bestanden.

Der zweite Mann gab Juan und Eric mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie warten sollten, während der Mann, der sie abgetastet hatte, sich entfernte.

Juan war nicht entgangen, dass der Zug mittlerweile den zerklüfteten Küstenabschnitt ihrer Route erreicht hatte. Als er sich durch das Bergland schlängelte, war auf der einen Seite des Zugs nichts anderes zu sehen als nahezu undurchdringlicher Dschungel, während sich auf der anderen Seite das malerische Panorama des Ozeans erstreckte. Keiner der beiden Ghost Dragons schien sich für das zu interessieren, was sich auf gleicher Höhe außerhalb des Zugs befand. Das konnte Juan nur recht sein.

Die Ghost Dragons konzentrierten sich vielmehr auf das Gelände rechts und links des vorderen Zugendes, wo eher mit einem Hinterhalt zu rechnen wäre. Aber ihre Sicht war zu beiden Seiten auf wenige hundert Meter begrenzt. Es war äußerst zweifelhaft, dass sie auf den heruntergekommenen Trampdampfer achteten, der in etwa anderthalb Kilometern Entfernung zusammen mit zig anderen größeren und kleineren Schiffen durch die vietnamesischen Gewässer pflügte. Auf diese Entfernung hin würde es niemandem seltsam vorkommen, dass ein derart betagtes Frachtschiff mit dem Tempo eines modernen Eisenbahnzugs mithalten konnte.

Trotz seines anscheinend armseligen Zustands war Juan Cabrillo stolz darauf, Kapitän dieses Schiffes zu sein. Die Oregon tat nämlich genau das, wofür sie ausgerüstet worden war.

Sie versteckte sich und war trotzdem für alle sichtbar.

4

Marion MacDougal »MacD« Lawless war nur anderthalb Meter von Franklin Lincoln entfernt, aber er blieb vollkommen unsichtbar. Sein Ghillie-Anzug, normalerweise von Scharfschützen getragen, um sich zu tarnen, war sorgfältig darauf abgestimmt, mit dem vietnamesischen Urwald zu verschmelzen. Die Farbe, Dichte und Anordnung des künstlichen Pflanzenbewuchses auf seiner Außenseite boten eine perfekte Imitation der Sträucher und der Bodenvegetation des Geländes, in dem sie nur ein paar Schritte von den Bahngleisen entfernt Position bezogen hatten. Linc trug einen identischen Anzug und konnte kaum seine eigenen ausgestreckten Arme erkennen.

Ein Schlange glitt über den Lauf von Lincs Sturmgewehr, offensichtlich ohne die Person in ihrer Nähe wahrzunehmen. Linc hatte keine Ahnung, ob sie giftig war, und keine Lust, sie zu erschrecken, um sich darüber Klarheit zu verschaffen.

»Ich hasse den Dschungel«, murmelte der ehemalige Navy-SEAL mit seiner sonoren Baritonstimme. Die Schlange ringelte sich an seinem Versteck vorbei und verschwand zwischen den Bäumen.

»Wenigstens liegen wir nicht auf dem Bau einer Feuerameisenkolonie«, meinte MacD in seinem gedehnten weichen New-Orleans-Slang. »Das ist mir vor langer Zeit während eines Campingurlaubs in Louisiana passiert. Auf der Schulfete, die ein paar Tage später stattfand, sah ich aus, als hätte ich die Masern.«

Linc hatte große Zweifel, dass dieses Manko seiner Beliebtheit bei den weiblichen Partygästen im Mindesten geschadet hatte. Wenn MacD nicht zu den Army Rangers gegangen wäre, ehe er zur Corporation gestoßen war, hätte ihm seine leinwandträchtige attraktive Erscheinung in Hollywood sicherlich ein angenehmes Leben ermöglicht.

»Die gefährlichsten Tiere, mit denen wir es in Detroit zu tun hatten, waren Rottweiler und Pitbulls«, sagte Linc. Die Narbe in seinem rechten Oberschenkel, wo sich ein Wachhund festgebissen hatte, während er als Kind auf dem Heimweg von der Schule eine verbotene Abkürzung benutzte, war noch immer zu sehen.

Vorsichtig veränderte MacD seine Lage. Dabei erzeugte sein Anzug ein leises Rascheln, und für den Bruchteil einer Sekunde waren seine Konturen inmitten der dichten Vegetation vage zu erkennen. »Ganz unter uns, ich hätte liebend gern Eddies Job übernommen, wenn ich nicht so auffällig gewesen wäre wie der Papst beim Mardi Gras.«

»Diese dämlichen Erbanlagen«, schimpfte Linc. »Ständig vermasseln sie einem alles.«