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Sie sind jung, neugierig und hoch motiviert. Über Jahre engagieren sich Nicolai Boudaghi, heute 29, und Alexander Leschik, 21, in der AfD. Schnell steigen sie auf. Dabei stehen sie auf der Seite der Gemäßigten. Doch irgendwann müssen sie sich eingestehen, dass der radikale Flügel der Partei nicht zu stoppen ist. Vor der Bundestagswahl 2021 legen Boudaghi und Leschik einen atemberaubenden, teilweise verstörenden Insider-Bericht vor. Sie schildern ihre Wege und Fehler in der AfD-Jugendorganisation und bei der Mutterpartei. Und sie zeigen anhand exklusiver Quellen, wie die AfD tatsächlich tickt. Gemeinsam mit dem Investigativ-Journalisten und Bestseller-Autor Wigbert Löer konnten sie für dieses Buch Partei-Chats auf Telegram, Whatsapp und Facebook auswerten. Sie lasen Sitzungsprotokolle des AfD-Bundesvorstands und etliche weitere interne Papiere. So ist "Im Bann der AfD" die sehr persönliche Geschichte zweier junger Partei-Funktionäre und zugleich ein brisantes Enthüllungsbuch.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Nicolai Boudaghi•Alexander LeschikWigbert Löer
CHATS, WORTE, TATENZWEI KRONZEUGEN BERICHTEN
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
1. eBook-Ausgabe 2021
© 2021 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung von Screenshots der Autoren
Redaktion: Franz Leipold
Redaktionsschluss: 28.5.2021
Layout & Satz: Buchhaus Robert Gigler, München
Gesetzt aus der Alegreya Sans
Konvertierung: Bookwire
eISBN 978-3-95890-435-4
Alle Rechte vorbehalten
www.europa-verlag.com
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VORWORT
Worum es uns geht
Kapitel 1
SOZIALER AUFSTIEG
Der Weg in die AfD I: Von der Straße in die Professorenpartei
Kapitel 2
ZWISCHEN ANTIFA UND FLÜGLERN
Der Weg in die AfD II: Schule, Kirche und Karriere
Kapitel 3
ALS HALB-IRANER IN HAMM
Diskriminiert von den eigenen Leuten: Erfahrungen im Häuserwahlkampf
Kapitel 4
»HEIL HÖCKE, KAMERADEN«
In der WhatsApp-Gruppe »Junge Garde«: Führerkult, Nazischläger und ein wütender Sauerländer
Kapitel 5
KLATSCHAFFEN UND BESCHÄDIGUNGSFRAGEN
Das Ringen um Stimmen: Als Delegierte beim Bundesparteitag in Hannover
Kapitel 6
»STURM AUF BÜDINGEN«
Parteitag II: Unsere Wahl in den Bundesvorstand des AfD-Nachwuchses
Kapitel 7
DEN KAMPF FÜHREN
Im Bundesvorstand I: Wie wir uns gegen die Flügler wehren
Kapitel 8
DEN KAMPF VERLIEREN
Im Bundesvorstand II: Wie wir scheitern
Kapitel 9
ZWEI PROMIS SPRECHEN KLARTEXT
Tief in der Telegram-Gruppe: Uwe Junge, Georg Pazderski und die Seele der Gemäßigten
Kapitel 10
»… DA NOCH DREI VORRANGIGE PFÄNDUNGEN VORLIEGEN«
Millionenspenden, Schulden und die Bedeutung bezahlter Jobs: Die AfD und das Geld
Kapitel 11
DAS SCHEITERN DER GEMÄSSIGTEN
Mit bitteren Mitteln: Das Ringen um Mandate vor der Bundestagswahl
Kapitel 12
»FATAL UND HOCHGEFÄHRLICH«
In der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz: Wie der AfD-Chef und der Geheimdienst die AfD einschätzen
SCHLUSS
Zwei Austritte und ein Ausblick
DIE AUTOREN
Worum es uns geht
Der Parteikollege hatte sich schon mehrfach beklagt, aber jetzt konnte er nicht mehr. »Ich hab’s satt«, schrieb er im Juni 2018 in den WhatsApp-Chat »Walczak’s Sixteen«. In dieser Gruppe tauschten wir uns damals mit anderen gemäßigten jungen AfD-Mitgliedern aus. Der heutige Hamburger AfD-Bürgerschaftsabgeordnete Krzysztof Walczak hatte sie erstellt.
»Jeder normale Mensch greift sich doch an den Kopf und würde fragen, ob wir noch alle Latten am Zaun haben. Zu Recht!«, schimpfte der Parteikollege. »Ich habe so langsam keinen Bock mehr auf diesen Menschenmüll, der bei uns einläuft.« Mit »Menschenmüll« meinte er Rechtsextremisten, die massiv in die Junge Alternative (JA) drängten, die Nachwuchsorganisation der AfD.
Der Kollege zählte zu den Älteren in unserer WhatsApp-Gruppe, er kannte die Jugendorganisation und auch die Partei selbst bereits ziemlich gut. Seine Prognose über die Neonazis im AfD-Nachwuchs fiel eindeutig aus. »Die kriegen wir auch nicht raus«, schrieb er. Er werde »für keinerlei Konsens mehr bereitstehen mit diesen Affen«.
Wir haben den Kollegen damals gemeinsam beruhigt. »Defätismus einstellen«, gab ein erfahrenes Gruppenmitglied vor. »Nüchtern und rational bleiben.«
Der Parteikollege hat dann erst einmal weitergemacht. Auch wir haben weitergemacht, in der Jungen Alternative und in der AfD selbst. Der eine von uns war sechs, der andere sieben Jahre lang Mitglied der Alternative für Deutschland.
Wir haben mit Menschen zusammengearbeitet, die auf Facebook, WhatsApp oder Telegram Sätze gepostet haben wie diese:
»Schwule sind in meinen Augen meistens Viecher.«
»Es ist absurd zu behaupten, Juden sind Deutsche.«
»Das einzige Ticket, das ich einem Flüchtling wirklich geben würde, wäre ein Expresszug nach Auschwitz-Birkenau.«
Die Urheber dieser Aussagen würden vielleicht anmerken, die Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen, nur: Kein Zusammenhang kann solche Sätze erträglicher machen. Oder weniger lächerlich, wenn man an den Parteikollegen denkt, der heute stellvertretender Landesvorsitzender in der Jungen Alternative Bayern ist. Er forderte, Masturbation generell einzustellen, »da sie einen der schöpferischen Energie, vieler Nährstoffe und männlicher Kraft beraubt«.
Wir haben bei der AfD nicht nur unseren Mitgliedsbeitrag bezahlt, entsprechend gewählt und ab und an mal eine Versammlung besucht. Bei der Parteiarbeit zeigten wir Begeisterung, Kompetenz und vollen Einsatz. Wir stiegen auf, machten Karriere; in jungen Jahren ging es für uns ziemlich weit nach oben. Man vertraute uns, nahm uns ernst, und so bekamen wir vieles mit. Die AfD bestimmte bald unseren Alltag – und in Teilen sicher auch unser Denken.
Warum macht man über Jahre mit in einer Partei, in der derart verächtlich über Minderheiten geredet wird? In der sich bis heute Antisemiten tummeln, Rassisten und Menschen, die die Vernichtung der Juden durch die Deutschen kleinreden oder komplett infrage stellen? In einer Partei, in der die Idee nicht verschwunden ist, Deutschsein so zu definieren wie nach 1933?
Warum macht man mit in einer Partei, in der sich regelmäßig menschliche Abgründe auftun? Warum verlässt man sie nicht früher?
Es ist gar nicht so einfach, solche Fragen zu beantworten. In diesem Buch versuchen wir es.
Dabei werden wir bewusst zu Kronzeugen des Innenlebens einer Partei, deren Entwicklung sich ihre Gründer 2013 wohl anders vorgestellt haben. Wir wollen zeigen, wie die AfD jenseits der Schlagzeilen beschaffen ist und wie sie funktioniert. Wie und wohin sie sich entwickelt hat. Und wie in der AfD wirklich gesprochen, geschrieben und gedacht wird.
Unsere Erfahrungen und Erlebnisse schildern wir auf der Basis interner Dokumente. Die AfD kommuniziert zu großen Teilen schriftlich. Nahezu alles wird in den ungezählten Chats besprochen. Ein Spitzenpolitiker der AfD riet uns früh, alles Schriftliche aufzuheben. Er meinte, es könne nicht schaden, etwas in der Hand zu haben gegen den einen oder anderen Parteifreund. Wir müssen zum Glück aber niemandem mehr kompromittierendes Material vorhalten und ihn so gefügig machen.
Protokolle des AfD-Bundesvorstands und des Landesvorstands in Nordrhein-Westfalen, E-Mails und Sprachnachrichten, Screenshots und Chats: Mit solchen Dokumenten1 konnten wir das Handeln von Parteikollegen dokumentieren und zugleich unser eigenes Tun rekonstruieren. Manchmal sind wir dabei erschrocken.
Das Politische, der persönliche Aufstieg, das Menschliche – bei der AfD verschmilzt all das. Man engagiert sich in dieser Partei mit Haut und Haaren, das galt für uns und das gilt wohl auch für die allermeisten anderen dort. Man steigert sich hinein in die Sache, hält sein Wirken schnell für wichtig und richtig. Und man bekommt intern viel Bestätigung. Unbeschmutzt bleibt man dabei nicht. Man sagt dann, was opportun erscheint, oder, um es deutlicher zu machen: Man hetzt auch mal mit.
Es waren Ausnahmen, aber auch wir selbst haben Dinge gesagt, die unangemessen und falsch waren und im Grunde gar nicht gingen. Einer von uns schrieb auf Facebook »Deutschland erwache« unter ein Bild vom AfD-Infostand in der Fußgängerzone. Eine Nazi-Parole, unverzeihlich, auch wenn man 17 Jahre alt ist und den Ursprung des Slogans nicht kennt. Einer von uns verglich die Antifa mit der SA. Und einer von uns provozierte zum muslimischen Fastenmonat Ramadan auf Facebook mit dem Bild einer Schweinshaxe. Lustig gemeint, tatsächlich aber nur verächtlich und respektlos.
Gegen das Abdriften immer weiter nach rechts haben wir uns in der AfD allerdings vehement gestemmt. Auch davon erzählt dieses Buch: wie extrem rechte Kräfte in eine Partei sickern und dann irgendwann so stark sind, dass ohne sie nichts mehr funktioniert. Jörg Meuthen ist dafür ein gutes Beispiel. Er gibt heute den überzeugten Höcke-Gegner, hat dadurch das Vertrauen großer Teile der Partei verloren. Seine Position ist so schwach, dass er als Parteivorsitzender nicht einmal gewagt hat, sich um eine Kandidatur für den Bundestag zu bewerben.
Über das Schachern und Dealen haben wir in der AfD viel gelernt. Ein guter Teil der Aktiven rackert nicht der Inhalte, sondern bezahlter Posten, Stellen oder Mandate wegen. Am Ende geht es vielen Politikern dieser Partei schlicht um Einkünfte, die sie mithilfe des politischen Engagements erzielen wollen, entweder persönlich oder indirekt über andere.
Was uns wichtig war beim Recherchieren und Schreiben dieses Buches: Wir wollten die AfD so zeigen, wie sie sich selbst einschätzt. Dabei haben unsere eigenen Eindrücke geholfen, vor allem viele interne Aussagen. Die Basis spricht ungeschminkt, der Bundesvorsitzende manchmal auch. Am 21. April 2021 nahm Jörg Meuthen an einer Online-Veranstaltung mit jüngeren Parteimitgliedern teil. Das Zoom-Meeting hatte das Thema »Konservative Jugend im Gespräch mit Bundessprecher Jörg Meuthen«. Dieser sagte dann:
»Reden wir ehrlich miteinander. Da gibt es verschiedene Strömungen, und die sind so weit auseinander, dass die relativ wenig miteinander zu tun haben. Das gibt’s in der JA, das gibt’s in der AfD auch. Trotzdem sind wir unter einem Dach. Und es gibt Zeiten, in denen man diese Sachauseinandersetzung führen muss, um zu schauen, wo steht man. Und es gibt Zeiten, in denen das ruhen muss.«
Meuthen hatte an diesem Abend offenbar überhaupt keine Lust, irgendetwas schönzureden. Die tiefe, zuweilen hasserfüllte Gegnerschaft der beiden AfD-Lager leugnete er nicht. Allerdings bat er, dem Wähler davon nichts zu zeigen:
»Im Wahlkampf muss das ruhen. Denn wenn wir das allzu deutlich werden lassen, wie unterschiedlich die Strömungen sind und wie unversöhnlich – sind wir ehrlich – man sich zum Teil auch gegenübersteht, dann werden wir nicht gewählt.«
Der Parteichef Meuthen mag aus taktischen Gründen die Wirklichkeit verschweigen, das ist legitim. Unser Anliegen ist ein anderes.
Bochum und Münster, Mai 2021
Nicolai Boudaghi und Alexander Leschik
1Alle Zitate aus Chats, Briefen und anderen Quellen sind in korrekter Rechtschreibung und Zeichensetzung wiedergegeben.
Der Weg in die AfD I: Von der Straße in die Professorenpartei
Nicolai Boudaghi
Am 12. April 2013 saß ich in einem Zelt in Rommerskirchen-Anstel, einem Dorf im Rheinland zwischen Düsseldorf und Köln. Neben mir hatte ein älterer Unternehmer im dunklen Anzug Platz genommen, der an diesem Sonntag noch zum stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt werden sollte. Die Alternative für Deutschland hielt ihren ersten Landesparteitag im größten deutschen Bundesland ab. Professoren waren gekommen, Firmeninhaber, sicher auch viele Beamte. Die meisten waren Männer und Schlipsträger. Etwas Neues entstand, es herrschte Aufbruchsstimmung. Von 400 Teilnehmern hatte man vorher geschrieben, aber hier versammelten sich weitaus mehr Menschen. Und mittendrin ich. Drei Jahre zuvor hatte ich eine Zeit lang auf der Straße gelebt.
Mein Vater ist Iraner. Seine Familie stand an der Seite des Schah-Regimes, und als islamische Revolutionäre das Land 1979 übernahmen, floh mein Vater nach Deutschland. Meine Mutter kam als Kind aus Niederschlesien zuerst nach Hamburg, später nach Mettmann bei Düsseldorf. Bald nach meiner Geburt trennten sich meine Eltern.
Ich blieb bei meiner Mutter in Mettmann, die als alleinerziehende Sozialarbeiterin nicht gerade privilegiert war. Mein Vater weigerte sich standhaft, Unterhalt zu zahlen. Weil ich außerdem immer unter dem Eindruck stand, dass mein Vater mich gegen meinen Willen in den Iran entführen könnte, habe ich meine Kindheit als schwierig in Erinnerung. Mein Vater gründete schnell eine neue Familie. Heute habe ich sechs Halbschwestern und zu den meisten von ihnen ein gutes Verhältnis.
In meiner Jugend nahmen unsere finanziellen Probleme zu. Wir hatten Schulden. Meine Mutter konnte das nicht vor mir verbergen. Es ist mir unangenehm, ins Detail zu gehen, aber unsere Armut war im Alltag nahezu dauerhaft präsent. In die Schule schaffte ich es nicht immer. Irgendwann ging ich dann gar nicht mehr zum Unterricht. Meine Mutter konnte mir auch nicht helfen.
Im Januar 2010 fand ich mich nachts um drei Uhr am Essener Hauptbahnhof wieder. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Das Thermometer zeigte minus zehn Grad, und mir war klar, dass ich jetzt ganz unten angekommen war. Dass sich daran etwas ändern könnte, glaubte ich nicht. Mir fehlte jede Zuversicht.
Die Nächte der nächsten Monate verbrachte ich in einer Notunterkunft für Jugendliche. An solchen Orten sammeln sich Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen. Ich lernte einen heroinabhängigen 14-Jährigen kennen und einen Jugendlichen, der abgehauen war, weil seine Eltern ihm nicht glaubten, dass sein Onkel ihn missbrauchte.
Die Unterkunft öffnete am Abend und schloss morgens um neun Uhr. Bis dahin hatten wir Essen, Wärme und auch etwas Schlaf bekommen – und mussten nun die Zeit bis zum Abend überbrücken. Einige zogen dann in Grüppchen los, ich hielt mich jedoch tagsüber meistens fern von den anderen Jugendlichen. Gemeinschaft und Zusammenhalt waren zwar auch für mich wichtig unter diesen Umständen, aber ich befürchtete auch, dass mich solche Gruppen noch weiter in den Abgrund ziehen könnten. Ich wollte mir die Probleme der anderen nicht zu eigen machen, oder besser: ihre Mittel, um durch den Tag zu kommen, denn die meisten schafften das nur mithilfe von Alkohol und Drogen. Zum Glück ist mir das recht gut gelungen. Ich nahm nichts Hartes und trinke bis heute wenig.
Es dauerte fast drei Monate, bis ich in eine Sozialwohnung im Essener Norden ziehen konnte. Hier wohnte ich wieder mit meiner Mutter zusammen. Wir bezogen Sozialleistungen, und ich spürte, dass es endlich aufwärtsgehen könnte. Das Leben auf der Straße hatte ich jedenfalls hinter mir gelassen. Vergessen werde ich diese Erfahrung nicht.
An der Volkshochschule Bochum holte ich zuerst meinen Haupt- und danach auch meinen Realschulabschluss nach. Das kostete mich nicht allzu viel Energie, der Unterricht selbst hatte mich ja nie überfordert. Ich hatte nur nicht die Struktur zur Verfügung gehabt, die es braucht für einen regelmäßigen und erfolgreichen Schulbesuch. Nach dem Realschulabschluss nahm ich am Berufskolleg Castrop-Rauxel mein Abitur in Angriff.
Politik und Gesellschaft interessierten mich schon damals. Ich setzte mich mit dem Islam auseinander, der Religion meines Vaters und vieler Menschen im Essener Norden. Ich schaute WDR-Dokumentationen über die islamische Religionsgemeinschaft DITIB an und über die Islamisten-Bewegung Milli Görüş. Ich entdeckte den radikalen Prediger Pierre Vogel und verfolgte, wie er geschickt Anhänger rekrutierte. Meine Ablehnung verfestigte sich und nahm später noch zu, als die Terroristen des Islamischen Staates in Syrien auch radikalisierte Muslime aus Deutschland einsetzten.
2011 stand ich mit Nazanin Borumand vom Zentralrat der ExMuslime in Kontakt. Ich fuhr nach Hamburg und demonstrierte mit ihr und einer kleinen Gruppe von 150 Leuten gegen Tausende Salafisten. Die Demo war von einer Kleinpartei organisiert, die es damals noch nicht lange gab. Sie hieß »Die Freiheit«. Ich weiß noch, wie uns die Antifa damals überschrie. Die Salafisten müssen sich totgelacht haben, auch weil Nazanin Borumand politisch sehr weit links stand.
Im Spätsommer 2011 trat ich der Partei »Die Freiheit« bei. Sie galt als islamkritisch, für mich passte das genau. »Die Freiheit« wollte sich zwar dem radikalen Islam entgegenstellen, vertrat ansonsten aber westlich-liberale Werte. Sie hatte nichts gegen Frauenrechte und war nicht gegen Schwule und Lesben. Und sie erschien mir auch nicht völkisch-national. Erst später wurde sie in Bayern vom Verfassungsschutz beobachtet.
Ich wollte eine Jugendorganisation aufbauen, die »Generation Freiheit«, und konferierte mit ein paar anderen jungen Parteimitgliedern über Facebook und Skype. Wer loslegen wollte, konnte einfach loslegen, das gefiel mir.
In meinem neuen Milieu traf ich aber auch auf radikale Typen. Einmal ging ich bei einem »Marsch der Patrioten« mit, den die »German Defence League« organisiert hatte, eine Organisation, die später vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Dort schimpfte man auch über die Antifa, und ich schimpfte eifrig mit.
»Die Freiheit« verstrickte sich allerdings bald in Richtungs- und Machtkämpfe. Der Bundesverband blockierte dann sogar die Gründung eines Landesverbandes in Nordrhein-Westfalen. Schon in den E-Mails, die ich damals erhielt, klang die Zerstrittenheit an. Einmal lud man zu einem »Treffen des westlichen Ruhrgebiets« nach Mülheim an der Ruhr ein. In der Tagesordnung ging es um die »Klärung der Zuständigkeit der offiziellen Koordinatoren«, um »Ausgrenzung von Mitgliedern« und um »Kommunikationsbarrieren, von Koordinatoren verursacht«. Entsprechend konfliktfreudig verlief der Abend.
Mir gelang es erst einmal, derlei Grabenkämpfe auszublenden. Ich suchte Zugehörigkeit und thematische Übereinstimmung, beides bot mir diese Partei. Einmal hielt ich sogar eine Rede auf einer Kundgebung, bei der auch Mitglieder von »Pro NRW« auftraten. Diese Kleinpartei war bereits zur Heimat von Rechtsextremisten geworden.
Mit der »Freiheit« geschah dann letztlich dasselbe. Ich war 20 Jahre alt und in gewisser Weise sicher auch naiv. Aber irgendwann verstand ich, dass mit dieser Partei nichts zu gewinnen war und dass man sich von einigen Mitgliedern besser fernhielt. Leute wie der Bundesvorsitzende Michael Stürzenberger mischten meiner Meinung nach berechtigte politische Anliegen mit rechtsextremen Forderungen, die nicht zu akzeptieren waren. Anfang 2013 trat ich aus der »Freiheit« aus.
Ein paar Wochen später bekam ich mit, dass die AfD gegründet worden war – und meldete mich an. Ich tat das spontan und allein, ohne Bekannte oder Freunde. Soziale Kontakte sollte ich schnell knüpfen in der Alternative für Deutschland, auch wenn ich mir das beim ersten Landesparteitag in Rommerskirchen zwischen all den Anzugträgern noch nicht vorstellen konnte.
Die AfD wirkte höflich, fast schon vornehm. »Wie angekündigt, haben wir die hereingekommenen Kandidaturen zusammengefasst. Leider war es nicht möglich, diese per E-Mail an Sie zu senden«, entschuldigte man sich in der Einladung mit Blick auf die Wahlen des Landesvorstands – und bat dann freundlich um Unterstützung: »Es wäre schön, wenn sich im Kreise der Teilnehmer an unserem Gründungsparteitag der eine oder andere ambitionierte Fotograf oder gar Berufsfotograf befände und Bilder der Veranstaltung produzieren könnte.«
In Rommerskirchen stand an jenem Sonntagmorgen eine Menschentraube um einen etwa 60-jährigen Mann mit längerem weißem Haar herum. Martin Renner, einige Jahre CDU-Mitglied, nun einer der Gründer der AfD und draußen meistens mit einer Zigarette anzutreffen – den erkannte ich. Renner hatte auch das Parteilogo entwickelt und saß nun im Organisationskomitee zur Gründung des Landesverbandes. Sein Foto hatte unter der Einladung gestanden. Nun schien er die Aufmerksamkeit zu genießen.
Einige Wochen später sollte Renner mich zu sich in seinen Garten einladen, zusammen mit einem kleinen Kreis von Leuten. Jetzt meldete ich mich erst einmal freiwillig, um am Einlass die Namen der zum Parteitag erschienenen Mitglieder zu notieren. Darum, hatte Renner gesagt und auffordernd in die Runde geschaut, müsse sich jetzt bitte schnell mal jemand kümmern.
Am Ende des Tages hatte ich einen ersten Überblick gewonnen über die Leute, die in Nordrhein-Westfalen Politik mit der AfD machen wollten. Die überwiegende Mehrheit schien mir gutbürgerlicher Herkunft zu sein, mindestens. Einer erzählte, er müsse am Abend noch zum Flieger, es gehe nach Litauen, geschäftlich. Auf solche Menschen war ich im Essener Norden eher nicht gestoßen.
Mir ist aber auch ein Typ in Erinnerung, der nicht so recht hineinpasste in diese Ansammlung langjähriger FDP- und CDU-Wähler. Er sprach mich an, Torsten Lemmer, ein früherer Neonazi, Ex-Manager der Rechtsrockband »Störkraft«, dann zum Islam konvertiert und anschließend bei den Freien Wählern engagiert. Lemmer erzählte mir von Mandaten und guten Listenplätzen für die Kommunalwahl. Auf mich wirkte er eher schmierig.
Und noch jemand vom rechten Rand war erschienen, eine Frau, die irgendeine Funktion bei den »Republikanern« gehabt hatte. Ein Teilnehmer erkannte sie – und verfiel in Panik. »Da vorne sitze eine von den Republikanern«, krakeelte er. Sofort entstand Bewegung, und die Frau wurde mit Nachdruck aus dem Zelt gebeten. Sie musste den Parteitag verlassen. So unnachgiebig Rechtsradikalen gegenüber war die AfD damals.
Dem Anfang wohnte auch bei der AfD ein gewisser Zauber inne. Wir trafen uns fast wöchentlich, bald nach dem Parteitag schon wieder in einem Jazz-Club in der Stadt Hilden, nicht weit von Düsseldorf. In der Einladung stand, das Treffen solle als »politischer Clubabend« verstanden werden, »ohne großes, festgelegtes Programm und ohne ellenlange Ansprachen, aber mit vielen interessanten Einzelgesprächen«. Es gehe um die Gründung des AfD-Bezirksverbandes Düsseldorf und den Aufbau der Kreis- und Ortsstrukturen. »Jeder, der will, wird Gelegenheit haben, das Wort zu ergreifen, sich vorzustellen und zu sprechen. Ganz im Stile der politischen Clubs im alten England.«
Das klang feinsinnig und exklusiv. Tatsächlich ging es an dem Abend jedoch knallhart um die Frage, ob die AfD nicht die Anhänger der Freien Wähler aufsaugen könne. Martin Renner sprach recht offen über diesen Plan. Andere wussten ihn dann zu verhindern.
In Essen etablierten wir einen Kreisverband. Dass die Versammlung im reichen Süden der Stadt stattfand, nun ja: Das war völlig angemessen. Aus dem sozial schwachen Norden nahm wahrscheinlich nur ich daran teil. Ich schwankte manchmal ein wenig zwischen Begeisterung und Distanz. Einerseits bewegte sich etwas, das spürte ich, das spürten alle. Und das zog mich auch an. Diese Partei war kein halb totes Projekt wie die Freiheit. Andererseits fremdelte ich, wenn ich ehrlich zu mir war, mit den allermeisten Parteifreunden. Ich traf auf Wirtschaftsingenieure und eine Psychologin, ein Parteifreund arbeitete für die Kirche. Alles in allem vollkommen etablierte Leute, die nach der Eurokrise 2009 und den Hilfspaketen für Griechenland wohl Angst um ihr Geld hatten. Die Gespräche drehten sich manchmal sogar um Gold als Anlageform.
Ich wollte lieber über Migration reden. Es kamen damals, 2013, schon spürbar mehr Flüchtlinge nach Deutschland. Aus meinem Viertel im Essener Norden wusste ich ohnehin, dass die Integration alles andere als ein Selbstläufer ist. Einige radikale Muslime halten eine pluralistische Gesellschaft wie die deutsche grundsätzlich für schwach. Sie fühlen sich sozial überlegen und denken nicht im Traum daran, sich auch nur ein wenig anzupassen. Das liberale Klima nutzen sie für sich aus.
Diese Ansicht vertrat ich bei der Versammlung im feinen Essener Süden im Gespräch mit einem AfD-Mitglied. Der Mann, ein Herr Ende 40, erschrak regelrecht, als er mir zuhörte. »Hören Sie mal, wir dürfen uns auf keinen Fall nach rechts orientieren«, gebot er mir, und ich glaube nicht, dass er das nur aus taktischen Gründen sagte. Ich denke, nur ganz wenige in der Essener AfD hätten sich damals als politisch rechtsstehend bezeichnet. Man war liberal oder konservativ. Punkt.
Ich ließ mir allerdings schon damals ungern etwas vorschreiben. Dass dieser Parteifreund das Thema Migration kurzerhand zum Tabu erkor, gefiel mir gar nicht. Doch Leute wie er hatten das Sagen. Als die AfD in Nordrhein-Westfalen im Sommer zwölf Arbeitskreise zu Themenfeldern bildete, waren darunter Verbraucherschutz, Europäische Union und Gesundheit, Verteidigung und Familie. Heute ist es undenkbar, damals aber zählte Migration nicht zu den zwölf wichtigsten Themenkomplexen der AfD.
Ich machte trotzdem erst einmal weiter. Samstags hielt ich mich oft am Infostand auf und sprach potenzielle Wähler an. Enormen Zuspruch erhielt ich da, als habe die Welt nur gewartet auf eine Partei wie die unsere. Während der Woche machte ich mich nachmittags auf in den Essener Süden und klingelte an schicken Häusern. Die AfD musste Unterschriften sammeln, damit sie bei der Bundestagswahl im September 2013 antreten konnte, und in Stadtteilen wie Bredeney und Werden verorteten wir unsere Unterstützer. Kandidat war hier übrigens Martin Renner, der zwar ein wenig ehrpusselig wirkte, aber mit seiner CDU-Erfahrung im Kreuz auch grundsolide und bürgerlich.
Renner sollte in den nächsten Jahren in der AfD immer wieder Einfluss ausüben. Der frühere Werbeunternehmer machte sich allerdings schon damals keine Illusion darüber, dass die Alternative für Deutschland ganz fix ihre Gründungsideale hinter sich lassen könnte. In ein paar Jahren seien wir womöglich genauso wie CDU und SPD, sagte Renner bei dem Treffen in seinem Garten voraus. Er spielte wohl auf die Patronage an, auf die Bedeutung von Posten und Mandaten. Ich habe mich mit solchen Prozessen erst viel später befasst, in meiner Masterarbeit an der Universität Bochum. 2013 dachte ich nicht weiter über Renners pessimistische Prognose nach. Recht hat er aber behalten.
Wenn ich auch nicht immer gleich den Durchblick hatte – vollen Einsatz zeigte ich trotzdem, gerade bei meinem Lieblingsthema. Eine E-Mail von mir an den späteren Landesgeschäftsführer Andreas Keith aus dem Sommer 2013 liest sich, als habe sie der strebsamste Parteimann von allen verfasst. Ich regte einen Vortrag des Ex-Grünen und Islamkritikers Hans-Michael Höhne-Pattberg und ein Streitgespräch zum Thema an. »Habe einen Flyer in Arbeit, wo im Hintergrund oben die Stadt Essen, unten das Blau der AfD und das Logo zusammen mit dem Schriftzug ›Integration‹ stehen«, schrieb ich, und: »Würde bei Radio Essen und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung Werbung für die Sache machen. Dazu kurz vorher Infostand, wo wir noch mal die Werbung für die Veranstaltung mitverteilen.« Ich schlug sogar eine Band vor, die »eher anspruchsvollere Musik macht mit Bratsche usw., auch passend zum Publikum«. Im September 2013 verpasste die AfD mit 4,7 Prozent recht knapp den Einzug in den Bundestag. Im Jahr darauf schaffte es Marcus Pretzell aus meiner Sicht überraschend auf einen halbwegs aussichtsreichen Listenplatz für die Europawahl und dann auch tatsächlich ins Parlament. Der spätere Mann von Frauke Petry positionierte sich in der AfD als Gegner des Bundesvorsitzenden und Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke. Damit fuhr er gut.
Anfang 2015 machte unser Essener Vize-Kreisvorsitzender Stefan Keuter Schlagzeilen. Keuter, der schon bei einer Bank gearbeitet, Bier ausgeliefert und Pommes frittiert hatte, war ein undurchsichtiger Typ, der aber jederzeit den kumpeligen Ruhrgebietler geben konnte. Nun trat er bei Ausläufern von PEGIDA im Westen auf, zuerst in Düsseldorf. Die Bewegung PEGIDA, Abkürzung für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, war neu. Sie hatte sich in Sachsen gegründet und brachte dort teils im Wochenrhythmus Tausende Menschen auf die Straße. Die Leute, die bei PEGIDA mitgingen, misstrauten den Medien und schienen Journalisten regelrecht zu hassen. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen. Einer der Anführer der Bewegung war Lutz Bachmann, ein Mann, der bereits mehr als ein Dutzend Mal verurteilt wurde, unter anderem wegen Diebstahls und »wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen«.
Dass einer wie Bachmann sich hinstellte und die Bedrohung der inneren Sicherheit beklagte, war mehr als lächerlich. Aber im Osten funktionierte PEGIDA perfekt.
Keuters Auftritt in Düsseldorf habe ich als nicht weiter schlimm in Erinnerung. Anschließend aber sagte Keuter eine Rede bei einer PEGIDA-Kundgebung in Duisburg zu. Einige Parteifreunde aus Essen begleiteten ihn, darunter auch ich. Im Kreisvorstand hatte es vorher intensive Diskussionen gegeben, nicht wenige hielten überhaupt nichts von einem solchen Auftritt des stellvertretenden Kreisvorsitzenden. Ich hingegen stand hinter Keuters Entscheidung – bis die Kundgebung in Duisburg losging.
»Keine Waffen, ist klar«, das war die erste Botschaft des Veranstalters. Er stand auf der Ladefläche eines Lastwagens und wusste wohl, warum er das sagte. Unter den 300 Zuhörern befanden sich nämlich auch Mitglieder rechter Kameradschaften. Es war dem Veranstalter zudem wichtig zu erwähnen, dass »friedlich« demonstriert würde. Und dass keine Journalisten bedroht würden. Dann durfte Keuter ans Mikro. Er wetterte sichtlich mit Gefallen gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und biederte sich ansonsten seinem Publikum nicht mit Bratsche, sondern mit Plattitüden an. Polizei und Verfassungsschutz zählten unterdessen die Rechtsextremisten auf der Kundgebung. Das Ergebnis fiel für mich nicht überraschend aus – ich hatte ja gesehen, was sich da für Typen bei Schneeregen zusammengefunden hatten. Die Sicherheitsbehörden verorteten rund 200 der 300 Teilnehmer in der rechtsextremen Szene und in Hooligan-Kreisen.
Keuter trat später noch bei einer weiteren Demo vor Rechtsextremisten auf. In gewisser Weise war er Anfang 2015 seiner Zeit voraus. In unserem Kreisverband allerdings trat aus Protest gegen Keuters Reden vor Rechtsextremisten ein anderer Vize-Vorstand zurück. Der Mann schrieb als Begründung in einer internen E-Mail, er werde es nicht hinnehmen, dass ein Vorstandsmitglied der AfD-Essen »Lügenpresse« skandiere. »Der wiederholte und zielgerichtete Gebrauch dieses diffamierenden Begriffes ist angesichts der vielfältigen Presselandschaft in Deutschland Unsinn. Darüber hinaus ist die Pressefreiheit – auch die Freiheit, kritisch zu berichten – für die AfD ein wesentlicher Bestandteil unserer demokratischen Grundordnung, die wir vorbehaltlos unterstützen und verteidigen. Die Unterstellung, dass die überwiegende Mehrzahl der Journalisten die Bürger bewusst belügen würde, ist absurd. Durch seine drei Reden vor einem jeweils stärker radikalisierten Publikum habe Stefan Keuter die klare Grenze zum Rechtsextremismus, die für eine konservative und bürgerliche AfD wesentlich ist, verwischt, heißt es weiter in der E-Mail.
Was soll man sagen, der Mann hatte recht. Sein Rücktritt aber verhallte ohne Effekt. Keuter stieg sogar auf, er wurde noch im selben Jahr Kreisvorsitzender in Essen. Und ich rückte als Beisitzer ebenfalls in den Kreisvorstand auf.
Der Weg in die AfD II: Schule, Kirche und Karriere
Alexander Leschik
Meine Mutter war 19, als sie nach Deutschland kam, mit einem kleinen Fiat, zwei Koffern und ihrem Bruder. Zu Hause, in einem kleinen Dorf unweit von Opole (Oppeln) in Oberschlesien, das seit 1945 zu Polen gehört, zählte sie zur deutschen Minderheit. Sie hatte nur ein Urlaubsvisum. Meine Mutter kam als Flüchtling aus dem damals kommunistischen Polen.
Man mochte Leute wie meine Mutter nicht in Oberschlesien, nicht direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht 1970 nach dem Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos und auch noch nicht Mitte der 1980er-Jahre. Sie galten als Deutsche, als Nachfahren der Nationalsozialisten, auch wenn sie kein Wort Deutsch sprachen. In der Schule wurden sie und andere Schüler der deutschen Minderheit manchmal »Hitlerkinder« genannt. Wer auf dem Schulgelände deutsche Worte benutzte, bekam Ärger mit den Lehrern.
Meine Mutter hat ihre Heimat als fremden-, zumindest als deutschfeindlich in Erinnerung. 1985 verließ sie Oberschlesien. Ihre Mutter und weitere Geschwister kamen nach.
Mein Vater, ebenfalls im Südwesten Polens aufgewachsen, erreichte Deutschland im selben Jahr mithilfe eines Ausreiseantrags. Vom Auffanglager Friedland in Niedersachsen machte er sich nach Nordrhein-Westfalen auf, finanziell unterstützt von der Otto Benecke Stiftung, die Projekte zur Integration von DDR-Flüchtlingen und Spätaussiedlern durchführte. In Geilenkirchen bei Aachen lernte er auf einem Internat Deutsch. Und er traf meine Mutter. Beide machten ihr deutsches Abitur und zogen anschließend nach Münster, um zu studieren. Meine Mutter kam an der medizinischen Fakultät bis zum Physikum, mein Vater schaffte in Jura das Examen nicht und verließ die Universität ohne akademischen Abschluss. Er arbeitete erst einmal als SAP-Berater, dann als Bauleiter und Übersetzer auf Großbaustellen. Meine Mutter ist Krankenschwester.
Ich bin wie meine jüngere Schwester ein Kind zweier Flüchtlinge. Meine Eltern bekamen in Deutschland eine Chance. Warum wurde ich Mitglied einer Partei, die sich seit Jahren vor allem definiert, indem sie vor Flüchtlingen warnt, sie kritisiert und oft auch gegen sie hetzt? Ich versuche später, das zu erklären.
Meine Eltern lebten in Münster zuerst in einer kleinen Wohnung; später konnten sie ein Haus in einem gutbürgerlichen Viertel bauen. Chance bekommen, Chance ergriffen, sozialer Aufstieg gelungen – sie verkörpern, finde ich, perfekt das Aufsteigerideal der SPD. Und tatsächlich haben meine Eltern in Deutschland jahrelang die Sozialdemokraten gewählt.
2013 waren sie glühende Anhänger des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Mir ging es genauso. Ich sehe mich noch, wie ich versuchte, meine Tante mit Artikeln aus dem »Handelsblatt« zu überzeugen, sie solle bei der Bundestagswahl diesmal bloß Steinbrück wählen und nicht CDU.
In dieser Zeit begann ich damit, Bücher über die deutsche und die europäische Geschichte zu lesen. Ich googelte nach den Jugendorganisationen der Volksparteien. Als Erstes besuchte ich ein Treffen der Jusos und wurde dort auch freundlich begrüßt – man sah es gern, dass so junge Leute wie ich Interesse zeigten. Doch in politischen Fragen, das wurde mir schnell klar, war ich nicht immer einer Meinung mit dem SPD-Nachwuchs, beim Euro zum Beispiel oder bei der Inklusion. Ich hatte einige Wochen zuvor ein Praktikum bei dem Pastoralreferenten meiner Pfarrgemeinde gemacht und ihn auch in eine Förderschule begleitet, wo er Religionsunterricht gab. Dort hatte ich unglaublich liebe Kinder getroffen, die meist aus sehr schwierigen Verhältnissen kamen. Ein Junge war so verängstigt, dass er sich immer in die Hose machte, wenn ihn etwas überforderte oder wenn er auch nur mit jemandem diskutieren musste. Diese Kinder, das war mein Eindruck, brauchten eine eigene, besonders behütete Umgebung. Entsprechend wenig hielt ich von dem Vorhaben der damals rot-grünen Landesregierung, die Förderschulen aufzulösen und diese Kinder ohne Wahlmöglichkeit auf die Regelschulen zu schicken.
Auch meine Kritik an der Eurorettungspolitik brachte mir bei den Jusos nicht viele Sympathien. Mich wiederum störte, dass manche Jusos offenbar doch einiges für die Ideen des Kommunismus übrighatten. Meine Eltern waren ja im Kommunismus aufgewachsen, ich war deshalb durch mit derlei Ideen. Wir unterhielten uns aber freundlich. Anschließend ging ich zweimal zur Jungen Union.
Dort, beim CDU-Nachwuchs, kam ich vergleichsweise wenig zu Wort. Ich fühlte mich auch nicht sonderlich ernst genommen. Als ich dann in den Westfälischen Nachrichten las, dass die AfD Ende November 2014 zum Vortragsabend mit einem Professor einlud, fragte ich meinen Vater, ob er mich begleiten könne. Ich war damals 14. Vorher hatte ich gerade den AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke in der Talkshow »Hart aber fair« gesehen. Mein Vater kam mit, und nach dem Vortrag ging ich dann allein und regelmäßig zum wöchentlichen Stammtisch.
Die Münster-AfD traf sich zum Stammtisch damals genau wie die Junge Union immer in dem Traditionslokal »Kruse Baimken« zwischen Innenstadt und Aasee. Das war auch allgemein bekannt. Zu dieser Zeit musste sich die AfD noch nicht verstecken.
Das änderte sich allerdings. Wenn wir einen Referenten beim Stammtisch hatten, stand irgendwann auch ein Polizeiwagen vor der Tür. Eines Tages kamen schwarz vermummte Antifa-Leute in die Gaststätte, gingen von Tisch zu Tisch und verteilten ein Flugblatt. Die Überschrift war als Frage formuliert und lautete: »Keine Lust, die leckeren Kaltgetränke zwischen rechter Hetze und rassistischen Stammtischparolen zu genießen?« Fröhliche Menschen im Biergarten wurden in dem Papier als »die eine Seite des Kruse Baimken« dargestellt, die andere Seite finde sich oben im Lokal in einem Hinterzimmer. Dort halte die AfD ihren Stammtisch ab.
Die Autoren des Flugblatts leiteten aus Zitaten von AfD-Spitzenpolitikern »gnadenlosen Populismus gepaart mit Rassismus« her und kamen dann zurück zum Lokal. Das »Kruse Baimken« sei der »zentrale Versammlungsort der AfD. Ohne die Überlassung von Räumen durch die Gaststätte wäre der Wirkungskreis der AfD in Münster viel kleiner.« Das Flugblatt empfahl, »Haltung« zu zeigen »und nicht wiederkommen – so lange, wie das ›Kruse Baimken‹ die AfD beherbergt. Es gibt genug schöne Kneipen und Restaurants in Münster. Diese muss es nicht sein.«
Liege ich falsch, wenn ich diese Aktion auch heute noch perfide finde? Der Wirt jedenfalls war damit erst einmal unter Druck gesetzt. Er stand als Nazikumpel da, wenn man das Flugblatt ernst nahm. Später hörten wir, dass manche seiner Mitarbeiter nach Feierabend von selbst ernannten Antifaschisten nach Hause »begleitet« wurden. Der Vorwurf, den sich die Kellner anhören mussten: Sie hätten Rechtsradikale bedient.
Der Wirt des »Kruse Baimken« büßte offenbar tatsächlich an Umsatz ein. Im Herbst 2016 sagte er uns, er könne sich das nicht mehr länger leisten. Wir waren draußen. Und innerlich gefestigt.
Die Antifa, man kann das gar nicht anders sagen, hat für das Teambuilding der AfD über Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Wenn sich eine Gruppe ungerecht behandelt fühlt, ausgegrenzt, gar angegriffen, dann wächst sie zusammen. So war das bei den Katholiken unter Bismarck und auch bei der Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Mehr als ein Jahrhundert später ließ und lässt sich diese Reaktion auch bei der AfD beobachten.
Wir fanden in Münster kaum eine Gaststätte, in der wir uns treffen konnten. Dass einige Wirte die AfD so sehr ablehnten, dass sie nicht in Geschäftskontakt mit uns treten wollten, war sicher auch ein Grund dafür. Aber viele Kneipiers hatten schlicht Angst, von der Antifa bedroht oder gar durch Farbanschläge, Demos oder Plakataktionen gebrandmarkt zu werden. Das gab mir zu denken. Ich zählte hier offenbar zu einer Minderheit, der es nicht möglich sein sollte, sich öffentlich zu treffen. Natürlich ist »verfolgt« ein viel zu großes Wort dafür, aber »ausgestoßen« und »diskriminiert« fühlten wir uns durchaus.