Im Banne der Essstörung - Carmen Rauscher - E-Book

Im Banne der Essstörung E-Book

Carmen Rauscher

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Beschreibung

Hungern, fressen, kotzen, Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung: So sah mein Alltag aus. Zwänge, Rituale und selbstzerstörerische Gedanken machten mein Leben zur Hölle. Mit dem Streben nach dem Schönheitsideal entfernte ich mich mehr und mehr von mir selbst. In Folge hatte mich die Essstörung unter Kontrolle. Die Kontrolle über mein Leben hatte ich verloren. Im Banne der Essstörung musste ich tagtäglich qualvolle seelische und körperliche Leiden ertragen, bis ich das Endstadium erreicht hatte. Mit meinem Buch möchte ich Betroffenen eine Hilfestellung vor, während und nach Ihrer Krankheit geben. Auch Angehörige und andere Interessierte erhalten durch mein Buch Einblicke in diese schwere Erkrankung und können diese dann besser verstehen.

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Carmen Rauscher

Im Banne der Essstörung

Mein Weg zurück ins Leben

ACABUS | Biographie

Rauscher, Carmen: Im Banne der Essströrung. Mein Weg zurück zum Leben, Hamburg, ACABUS Verlag 2008

Originalausgabe

ISBN (Print): 978-3-941404-83-0 Umschlagmotiv: Ulrich Benschen, Diplomica Verlag Covermotiv © emmi - Fotolia.com

Der ACABUS-Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2008. Alle Rechte vorbehalten.

www.acabus.de

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Vorwort

Ich bin eine von tausenden Menschen, die unter einer Essstörung leiden, beziehungsweise gelitten haben. Aber ich bin eine der wenigen, die es tatsächlich geschafft haben, der Krankheit den Rücken zu kehren.

Als ich aus der Krankheit herausgekommen bin, wollte ich nichts mehr von Essstörungen wissen. Nichts mehr von den Fress- und Kotzattacken, und was sonst noch dazu gehört. Ich konnte keine Kalorientabellen und Waagen mehr sehen, aus Angst, ich könnte wieder rückfällig werden. Doch das zeugt nicht von Stärke, sondern von Schwäche. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird immer ein Teil von mir sein, zumal die Erinnerung mich fast täglich einholt, in Gesprächen mit essgestörten Menschen und durch Menschen, die an dieser Krankheit leiden und die ich einfach so auf der Strasse sehe.

Nach fünf Jahren erfolgreicher Krankheitsbewältigung habe ich mich weitere zwei Jahre später dazu entschlossen, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen und diese in Form eines Buches niederzuschreiben.

Ich möchte mit diesem Buch all den Menschen, ob essgestört oder nicht, zeigen, wie heimtückisch und lebensgefährlich diese Krankheit doch sein kann, und ich hoffe vor allem, dass ich den essgestörten Menschen durch meine persönliche Erfahrung eine Stütze bei der Krankheitsbewältigung sein kann.

Natürlich möchte ich mit diesem Buch auch den Menschen, die noch nicht oder am Anfang der Krankheit sind, Einblicke geben, damit sie nicht diesen Weg einschlagen und sich dadurch Lösungen für ihre Probleme zu erhoffen.

1. Kapitel

Der Anfang

Man kann nie sagen. wo alles anfing. Es sind immer mehrere Faktoren die dazu beitragen, dass man aus der Bahn gerät. Deshalb werde ich meine Geschichte von meiner Kindheit an erzählen.

Oberflächlich gesehen war ich eher ein braves, ruhiges und schüchternes Kind. Von vier Kindern war ich das Nesthäkchen. Aber genauer betrachtet eher ein Mitläufer in der Familienkette. Ein paar Jahre nachdem ich auf die Welt gekommen bin hat meine Mutter wieder zu arbeiten angefangen.

Meine Eltern waren selbstständig und, wie das nun mal so ist, auch selten zuhause. Wenn ich Probleme in der Schule hatte, bin ich eher zu meinen Geschwistern als zu meinen Eltern gesprungen. Was aber nicht heißen soll dass sie uns Kinder nicht geliebt haben. Im Gegenteil, wir haben immer alles bekommen was wir wollten - aber eben wenig Zeit mit ihnen. Und wenn wir mal Zeit mit ihnen verbrachten, zum Beispiel beim Abendessen, konnte man nicht richtig intensiv mit ihnen sprechen, da wir ständig durch Kundengespräche am Tisch und das ewige Klingeln an der Haustür und am Telefon unterbrochen wurden. Irgendwann wird man dadurch zum Eigenbrödler. Jeder macht sein Ding, man lebt zwar in der Familie läuft aber nebeneinander her. In einer Zeit, wo ich meine Eltern am dringendsten für meine Entwicklung benötigt hätte, waren sie mir emotional so fremd.

Damals konnte ich nicht verstehen, warum meine Eltern nicht viel Zeit für uns hatten. Heute weiß ich, sie haben für uns Kinder gelebt und leben immer noch für uns, damit wir eine bessere Zukunft haben.

Eigentlich wurden wir zur Selbstständigkeit erzogen, zumindest dem Anschein nach, da wir meistens alleine waren. Doch gab es malProbleme, dann hat sie uns unsere Mutter immer sofort abgenommen und erledigt - was aber auch nicht immer gut ist. Man gewöhnt sich zu schnell daran und man lernt erst recht spät, was es heißt, auf eigenen Beinen zu stehen.

Wie schon erwähnt, uns hat es bei meinen Eltern an nichts gefehlt, außer an Aufmerksamkeit und an emotionaler Nähe. Es war damals einfach so, und so habe ich es auch empfunden. Im Grunde war ich als Kind extrem sensibel und schwach. Meine Eltern hätten mir viel mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, aber sie waren mit ihrer Selbstständigkeit viel zu sehr beschäftigt, um nach mir zu schauen. Aber dennoch hat es uns an materiellen Dingen nie gefehlt. Ich habe alles bekommen, was ich mir gewünscht habe, doch die eigentliche Erziehung, die in diesem Alter sehr wichtig gewesen wäre, blieb auf der Strecke.

Ich möchte hiermit meine Eltern nicht verurteilen. Ich beschreibe nur, wie ich die Situation damals und nicht heute empfunden habe.

Irgendetwas ist damals schon schief gelaufen. Ich hab mich einsam gefühlt und mich immer mehr zurückgezogen. Bin oft nach der Schule nach Hause gekommen, saß dann nachmittags alleine in meinem Zimmer und hab so vor mich hin geträumt. Immer seltener habe ich mit meinen Freunden etwas unternommen. Schon als zehnjährige habe ich mir Gedanken um meine Zukunft gemacht, anstatt einfach nur meine Kindheit zu genießen. Aber bei den Gedanken an meine Zukunft ist es nicht geblieben.

Nach einiger Zeit hatte ich dermaßen große Zukunftsängste, dass ich oft in einer Ecke saß und geweint habe. Ständig habe ich mich mit der Frage gequält, was ich wohl in der Zukunft machen werde. Welchen Beruf werde ich erlernen? Werde ich alleine sein oder einen Partner haben? Wo werde ich leben? Werde ich viele Freunde haben oder einsam sein? Werde ich reich oder arm sein? Werde ich Erfolg haben? Oft habe ich andere Kinder beobachtet und mich gefragt: denken diese Kinder auch so wie ich?

All diese Gedanken haben mich fast wahnsinnig gemacht. Um Luft abzulassen habe ich gegessen, ferngesehen, oder in einer Eckegesessen und so lange geweint, bis ich nicht mehr wusste, warum ich eigentlich weinte.

Plötzlich war es geschehen. Mit elf Jahren (1991) hatte ich 85 Kilogramm bei einer Größe von 1,63 Metern auf den Rippen. Ich kann mich noch genau an eine Szene von damals erinnern. Es war spät abends und ich ging ins Badezimmer und habe mich gewogen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. 85 Kilogramm zeigte die Waage an. In meinem Alter und bei meiner Größe war das eindeutig zu viel. Aus lauter Frust und Traurigkeit ging ich an den Kühlschrank und holte mir einen Fleischsalat mit viel Mayonnaise und zwei Brötchen heraus. Dann hab ich mich auf mein Bett gesetzt und angefangen zu essen. Später kam meine Mutter ins Zimmer und wollte mir noch gute Nacht sagen. Ich schaute sie an und musste weinen. Sie wusste nicht, was mit mir los war. Ich meinte dann zu ihr: "Ich bin so fett", aber anscheinend war sie nicht der gleichen Meinung. Sie erwiderte nur: "Nein, bist du nicht". Doch ich wusste, dass ich zu fett war und etwas daran ändern musste.

Somit begann ich schon mit elf Jahren, eine Diät nach der anderen auszuprobieren. Die nächsten zwei Jahre war ich fast ausschließlich damit beschäftigt, Sport zu machen und Diät zu halten. Und ich hatte auch Erfolg. Doch zu welchem Preis! Wenn andere Kinder draußen gespielt oder mit ihrer Familie etwas unternommen haben, stand ich in meinem Zimmer und habe Aerobic gemacht und die nächste Mahlzeit geplant.

Mit 13 Jahren (1993) hatte ich auf 73 Kilogramm abgenommen. Ich habe mich darüber gefreut, aber ich wollte mehr. Ich wollte auch so schlank und normal sein wie die anderen Kinder.

Damals hatte ich eine Freundin, deren Mutter an Bulimie erkrankt war. Von da an glaubte ich, die perfekte Lösung für mein Problem gefunden zu haben. Meine Freundin hat mir davon erzählt, wie man das Fressen und Kotzen praktiziert. Dann habe ich es auch mal ausprobiert - und es war so ekelhaft. Es war erst einmal ein Versuch. Nachdem ich etwas gegessen hatte, bin ich auf das Klo gestürzt und habe mir den Finger in den Hals gesteckt. Am Anfangkam überhaupt nichts. Als ich dann über eine Viertelstunde auf dem Klo hing, bewegte sich doch etwas in meinem Magen, und schon landete die ekelhaft riechende, schleimige Masse in der Kloschüssel. Ein Teil davon verteilte sich noch auf meinem Unterarm. Es war einfach scheußlich. Trotz allem habe ich mir gedacht: Wenn ich auf diese Art und Weise abnehmen kann, dann nehme ich diesen Aufwand in Kauf.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie stolz ich darauf war, zu kotzen. Das erste Vierteljahr bin ich sogar noch ganz euphorisch zu meiner Familie gesprungen und habe ihnen erzählt, dass ich kotze. Doch damit bin ich logischerweise auf Unverständnis gestoßen. Heute weiß ich, was ich damit erreichen wollte. Ich wollte Aufmerksamkeit und Mitleid zugleich erregen. Sie haben es mir verboten. Komischerweise habe ich auch darauf gehört und es erst einmal gelassen.

Doch damit hatte die Sache noch lange kein Ende. Zwar hatte ich seltener Fress- und Kotzattacken, aber ich war immer noch von dem Gedanken besessen, abzunehmen. Als ich mit meinen Diäten nicht mehr abgenommen habe, habe ich angefangen, einfach nichts mehr zu essen. Der längste Zeitraum, den ich durchgehalten habe, waren sechs Tage. Aber natürlich war das nicht einfach. Der Hunger hat mich immer begleitet.

Man kann sich dabei überhaupt nicht mehr konzentrieren, weil einen der Gedanke an das Essen Tag und Nacht verfolgt. Als ich dann wieder einen Tag etwas aß, gab es für mich natürlich auch keine Grenze bei der Nahrungsaufnahme. Ich habe alles gegessen, was mir in die Hände fiel. Nach dieser Fressattacke war ich dann voll gestopft und träge, zugleich aber auch aggressiv und wütend auf mich, weil ich viel zu viel gegessen hatte. Der Gedanke, alles was ich gegessen habe, würde sich in Form von Fett an meinem Körper festsetzen, war unerträglich für mich. Also musste mein Magen wieder durch selbst herbeigeführtes Erbrechen entleert werden. Allerdings kamen diese Attacken zu diesem Zeitpunkt noch selten vor.

Mittlerweile stellten sich auch Probleme in meinem sozialen Umfeld ein. Freunde hatte ich zu diesem Zeitpunkt kaum noch. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um raus zu gehen und mich mit gleichaltrigen Kindern zu treffen. Meine schulischen Leistungen sanken in den Keller, weil ich nicht mehr gelernt, sondern mich nur noch um mein Aussehen gekümmert habe. In der Schule gab es nun auch Sticheleien und Hänseleien gegen mich. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich abgenommen hatte, war ich für mein Alter und meine Größe immer noch zu dick.

Nun kam alles zusammen. Die Pubertät setzte ein. Mein Gesicht war übersät von lauter kleinen, eitrigen Pickelchen. Meine damaligen Schulkameraden haben mich damit natürlich noch zusätzlich gehänselt. Ich musste mir damals einige Sachen anhören: " Du fette Sau, du siehst aus wie ein Streuselkuchen!", "Du bist hässlich!", "Dein Arsch ist so fett wie der von einem Pferd!", und, und, und. Das sind nur kleine Auszüge von dem, was ich mir damals anhören musste. Sie haben mir außerdem immer einen ganz bestimmten Namen zugerufen. Eine ältere Frau in unserem Dorf hieß damals so. Sie war klein, fett und hässlich. Als Kind war das natürlich nicht schön, mit einer solchen Frau verglichen zu werden. Sehr oft bin ich nach Hause gekommen und habe tagelang geweint, weil es mir so wehtat. Über ein Jahr haben mich meine Schulkameraden mit diesem Namen gequält.

Damals kam ich mit den ganzen Sticheleien und Hänseleien einfach nicht klar. Einerseits war ich so angespannt und wütend, und andererseits innerlich so leer und hilflos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um das ertragen zu können. Es war so gemein und ich fragte mich oft, warum mir diese Kinder das antun.

Also habe ich meinem Körper und meinem Aussehen die Schuld gegeben. Nun wollte ich nicht nur abnehmen, sondern schwer krank werden. Deshalb machte ich es mir zum Ziel, an Magersucht zu erkranken. Ich habe mir eingebildet, dass, wenn ich magersüchtig bin, mich alle Menschen um mich herum lieben und Mitleid mit mir haben werden. Ich habe mir immer vorgestellt, wie ich im Krankenhaus liege. Alle Kinder, die mich gehänselt haben, stehen in meiner Vorstellung an meinem Bett und bekommen dann so ein schlechtes Gewissen, weil sie mir all das angetan haben.

Aber soweit war es noch nicht, zunächst war dieses Bild nur ein Wunschgedanke. Also musste mich bis dahin mein Aussehen zufrieden stellen und ich musste versuchen, noch mehr abzunehmen.

Um wenigstens einigermaßen attraktiv auf die Gesellschaft zu wirken, habe ich mich in einigen Dingen eingeschränkt. Ich habe nicht mehr nach mir geschaut, sondern eher danach, wie ich anderen gefallen kann. Das fing schon bei der Kleidung an. Ich habe fast ausschließlich schwarz getragen. Es stimmt schon, dass man dadurch etwas schlanker wirkt, aber wenn man fett ist, dann ist man nun mal fett. Und das bisschen, was man mit der Kleidung kaschieren kann, reißt es auch nicht mehr raus.

Was ich als sehr anstrengend empfunden habe, war der Sommer. Selbst bei 30 Grad im Schatten bin ich mit meinen schwarzen langen Hosen und T-Shirts herumgelaufen. So wenig Haut wie möglich zeigen war die Devise. Der Schweiß rieselte mir den ganzen Körper herunter. Anstatt etwas Leichtes, Luftiges anzuziehen, habe ich die dunkle, lange Variante gewählt, aus Angst, irgendjemand könnte sehen, wie fett ich in Wirklichkeit bin.

Schrecklich, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Ich habe mich damals so sehr eingeschränkt, weil ich viel zu wenig Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl hatte. Ich hatte ständig Angst, nicht zu genügen. Ich bin in Selbstmitleid versunken, habe mich immer ein Level tiefer gestellt, als die anderen. Ich war einfach zu schwach und zu sensibel. Aber das war noch lange nicht alles. Jede Woche hatte meine Klasse abwechselnd Schwimm- und Turnunterricht. Zuhause habe ich so gerne Sport gemacht, aber in der Schule habe ich mich nicht getraut. Alle zwei Wochen kam ich mit einer Entschuldigung, damit ich nicht am Sportunterricht teilnehmen musste. Doch 99 Prozent der Entschuldigungen waren nur Ausreden.

Durch mein fülliges Volumen habe ich mich geschämt, mich in Sportkleidung zu zeigen und mich darin auch noch zu bewegen. Es sah furchtbar aus, wenn ich meine Runden gesprungen bin. Meine Brüste waren fette Ballons, die die ganze Zeit rechts und links ausschwenkten. Durch meine Sporthose konnte man die Cellulite sehen - und ich hatte schon in dem Alter eine sehr starke und hässliche Form der Cellulite. Mein Gesicht war auch ein Fall für sich. Ich habe ein sehr rundes Gesicht, das mit den Fettreserven gut gepolstert war. Bei jeder kleinsten Bewegung haben sich meine Backen selbstständig gemacht. Von den Schwimmunterrichten möchte ich erst gar nicht reden. Der Weg von der Umkleidekabine bis in das Schwimmbecken war das allerschlimmste. Wenn ich im Wasser war, hat es mir aber tatsächlich Spaß gemacht.

Dies sind nur kleine Einblicke in das, wie ich mir mein Leben selbst zur Hölle gemacht habe. Mit der Zeit habe ich mich immer mehr von mir selbst entfernt. Anstatt ich selbst zu sein, einfach mein Teenagerdasein zu genießen, habe ich es bevorzugt, andere zu kopieren. Ich habe mir ein Idol, ein Vorbild, herausgesucht, das alles hatte was ich nicht hatte. Es war ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie war schön, blond, hatte blaue Augen und eine makellose Figur. Viele Jungs aus der Schule sind ihr hinterhergelaufen, weil sie so schön aussah. Bei ihr war alles perfekt. Sie war eine der Klassebesten, hatte viele Freunde, und zu der Zeit schon einen Freund. Selbst die Lehrer haben sie gerne angeschaut. Um alles, was sie hatte, habe ich sie beneidet. Ich habe sie sogar dafür gehasst. Heute weiß ich, warum ich sie all die Jahre auf der Schule gehasst habe: weil ich genau das wollte, was sie hatte.

Dies hat natürlich zusätzlich meinen Abnehmwahn angekurbelt. Ich wollte dadurch meinem Ziel, genauso schön und beliebt zu sein wie sie, näher kommen.

Zwischen meinem 14. und 16. Lebensjahr

Als ich dann 14 Jahre alt war (1994), haben die Sticheleien und Hänseleien langsam aufgehört und ich habe weitere elf Kilogramm abgenommen. Ich bin auch noch etwas gewachsen und hatte schließlich bei einer Größe von 1,65 Metern ein Gewicht von 62 Kilogramm.

Nun könnte man meinen, es sei wieder alles okay gewesen. Ich hatte ein normales Gewicht erreicht und fühlte mich zum ersten Mal in meiner Haut einigermaßen wohl. Die Situation in meinem sozialen Umfeld hatte sich sehr gebessert. Die Kinder, die mich damals gehänselt hatten, sind erstaunlicherweise zu Freunden geworden, mit denen ich viel unternommen habe. Oberflächlich gesehen war nun wieder alles in Ordnung. Ich hatte meine Akne einigermaßen unter Kontrolle, mein Gewicht war normal und ich hatte wieder Freunde. Doch die vorherigen Jahre haben Spuren auf meiner Seele hinter lassen. Mit 14 Jahren sind meine Ess- Brech- Anfälle wieder häufiger geworden. Über mehrere Wochen hatte ich täglich drei bis vier Attacken. Natürlich wollte ich noch weiter abnehmen, immer noch war ich besessen von dem Gedanken, spindeldürr zu sein. Über die Risiken, die dabei eine sehr große Rolle spielen, habe ich mir keine Gedanken gemacht. Häufig hatte ich mit Schwindel und Schwächeanfällen zu kämpfen. Den ganzen Tag über war ich total müde und schwach und nachts litt ich unter Schlaflosigkeit. Wenn ich mal geschlafen habe, hatte ich fast immer Alpträume. Sehr oft habe ich sogar von meinen Fress- und Kotzattacken geträumt. Immer wenn ich mit dem Kopf über der Kloschüssel hing, bin ich aufgewacht.

Immer stärker hatte ich das Gefühl, dass sich ein Teil von mir entfernt. Ich stand sozusagen neben mir, ich war nicht mehr ich selbst. Auch meine Gefühle konnte ich nicht mehr ordnen. Das war sehr, sehr schlimm für mich. Egal was passierte, sei es etwas schlimmes oder etwas schönes, ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht mehr sagen, ob ich mich freue oder nicht, ob ich unglücklich binoder glücklich. Oft hatte ich das Gefühl, jemand anders lebt in mir und steuert mich. Wenn andere gelacht haben, habe ich auch mitgelacht, wusste aber nicht warum. So langsam hat sich eine innere Leere in mir entwickelt, mit der ich überhaupt nicht umgehen konnte.

Mit der Zeit habe ich angefangen, mir Schmerzen zuzufügen. Ich wollte wenigstens irgendetwas spüren und mich dafür bestrafen, wie ich mein Leben bisher gelebt und dass ich keine Lösung für meine Probleme gefunden habe.

Am Anfang habe ich mir mit einer Nadel kleine Risse in meine Unterarme geritzt. Wenn ich im Sommer Mückenstiche an den Beinen hatte, habe ich solange herum gekratzt, bis das Blut aus der Haut herausschoss. Das allerschlimmste und schmerzhafteste was ich mir durch die Schnippelei je angetan habe, waren zwei große, lange, tiefe Schnittwunden an meinem Unterarm. Dabei habe ich eine große Schere zu Hilfe genommen. Am Ende der Spitze fehlte ein Stück auf der Schnittfläche, sodass es wie ein Haken aussah. Den Haken bohrte ich in die Haut hinein, biss auf die Zähne und zog mit meiner ganzen Wut in Richtung Finger. Somit entstand eine 8 Zentimeter lange und sehr tiefe Wunde. Aber das hatte nicht gereicht. Ein paar Minuten später setzte ich die Schere noch mal an und zog mir eine zweite Schnittwunde zu. Bevor ich diese Aktion gestartet habe, hatte ich etwas Alkohol getrunken, somit konnte ich die Schmerzen nicht zu sehr spüren. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie alles ablief. Ich saß in meinem Kinderzimmer auf dem Bett und habe diesen Prozess vollzogen. Als alles vorbei war und sich schon die ersten Bluttropfen am Boden sammelten, kam meine Mutter herein. Aus ihrer ganzen Hilflosigkeit hat sie angefangen zu weinen und hat sofort nach meinem Vater geschrieen. Der kam angesprungen und machte gerade das Gegenteil von meiner Mutter. Er wusste auch nicht mehr was er tun sollte und brüllte im ganzen Zimmer herum.

Aber versetzen wir uns mal in die Lage der Eltern. Plötzlich und aus heiterem Himmel entdecken sie, wie sich ihre Tochter selbstzerstört. Das erste, was man in dieser Situation macht, ist, aus der ganzen Verzweiflung und Hilflosigkeit heraus entweder zu schreien oder zu weinen. Welche Eltern gehen schon diplomatisch und ruhig an die Sache ran, wenn sie so etwas sehen. So gut wie keine. Und wenn, dann haben sie zu wenig Gefühl gegenüber ihrem Kind.

Ich vermute mal, ich wollte meinen Eltern mit dieser Aktion zeigen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Ich wollte, dass sie sich mehr um mich kümmern. Aber so genau wusste ich auch nicht, was ich damit wollte. Also, wenn ich selbst schon nicht wusste was mit mir los war, wie sollten es dann meine Eltern wissen.

Am nächsten Tag ging ich total fertig und zerstreut in die Schule. Saß wie in Trance auf meinem Stuhl. Meine Wunde hatte ich mir mit ganz viel Salbe und einem Verband versorgt. Mein Klassenlehrer kam auf mich zu und fragte mich, ob alles okay sei. Ich stellte mich so an als ob nichts passiert wäre. Später habe ich dann erfahren, dass meine Mutter in der Schule angerufen und zu dem Lehrer gesagt hat, dass er ein Auge auf mich haben soll, nicht dass noch mehr passiert.

In diesem Alter hatte eine sehr rebellische und stürmische Zeit begonnen. Nun war ich nicht mehr das brave, schüchterne Mädchen, sondern ein Kind, das alles tat, was es nicht tun sollte.

Damals habe ich mich mit den Jungs aus meiner Klasse getroffen und das Rauchen ausprobiert. Aber wenn ich schon damals gewusst hätte, wie abhängig das Zeug einen macht, hätte ich es lieber gelassen.

In dieser Zeit begann auch meine Sturm- und Drangzeit. Ich bin mit meinen Freunden auf fast jedes Fest in unserer Umgebung gegangen. Diese Gelegenheit habe ich dann dazu genutzt, mich sinnlos mit Alkohol zu betrinken. Ich fand es toll, mir in meinem Vollrausch mal keine Gedanken über meine Fress- und Kotzattacken zu machen, sondern einfach nur lustig zu sein. Später hat man mir den Namen Rauschkugel gegeben, weil ich immer soviel getrunken habe. Allerdings sollte das kein Name sein, worauf man stolz ist, ich war es damals aber. Zum ersten Mal stand ich im Mittelpunkt und ich habe es in vollen Zügen genossen. Selbst die Eltern meiner Freundinnen haben es nicht gerne gesehen wenn sie mit mir etwas unternommen haben, weil ich geraucht und ab und zu Alkohol getrunken habe, aber das war mir egal. Nun genoss ich mein Teenagerdasein. Selbst das Mädchen aus meiner Klasse, das ich so beneidet habe, stand nicht mehr so im Mittelpunkt. Nun war ich dran.

Auf meine Eltern habe ich nicht mehr gehört, ich hab gemacht was ich wollte. Wenn sie zu mir sagten, ich darf nur bis 22 Uhr wegbleiben, hab ich immer eine Stunde drangesetzt. Ich dachte mir immer: Wird schon nicht so schlimm sein, sie meinen es ja bestimmt nicht so. Aber ich denke mal schon, dass sie sich etwas dabei gedacht haben.

Ich machte zu der Zeit mehrere schlimme Phasen durch, begleitet von Selbstmordgedanken. Zum einen wollte ich an Magersucht erkranken, damit alle Mitleid mit mir bekommen und sich Selbstvorwürfe machen. Zum anderen wollte ich ein schnelles Ende haben und habe einige Sachen durchdacht, wie ich mich umbringen könnte.

An eine Situation kann ich mich noch gut erinnern: Es war mal wieder soweit, das Leben schien mir aussichtslos und sinnlos zu sein. Neben meinem Elternhaus gab es ein älteres Haus mit einem alten Dachboden mit Heu. An der Leiter, die am Boden befestigt war, stieg ich hoch. Als ich dann auf dem Stroh oben auf dem Dachboden saß, schaute ich herunter. Nun war mir aber nicht mehr so ganz wohl bei der ganzen Sache. Auf einmal habe ich Angst davor bekommen, dem ganzen ein Ende zu setzen. Aber ich bin dann doch gesprungen. Und worauf bin ich gefallen!? Nicht auf den blanken, harten Scheunenboden, sondern in einen Heuballen hinein. Und was war passiert!? Nichts, fast nicht. Ich bin mit einem verstauchten Knöchel davongekommen. Heute muss ich sagen: zum Glück. Ich glaube auch nicht, dass ich mich wirklich umbringen wollte, ich wollte nur ein Zeichen setzen, um Hilfe schreien, dass man sich mehr um mich kümmert.

Natürlich hat meine Familie bemerkt, dass ich zum einen sehr labil und zum anderen sehr aggressiv war. Sie haben sich Sorgen gemacht. Als ich dann aus dem Dachboden herausgekommen bin, haben schon alle meine Geschwister nach mir gesucht. Ich wollte aber einfach nur noch in Ruhe gelassen werden.

Mit 15 Jahren (1995) sind meine Fress- und Kotzattacken teilweise sehr stark und häufig vorgekommen. Und irgendwie habe ich auch selbst bemerkt, wie ich mich langsam von der Realität entfernte. Ich hatte ständig merkwürdige Gedanken, die nicht normal waren. Natürlich wusste ich, dass die Essstörung nicht gut ist, aber es sein lassen konnte ich auch nicht mehr. Ich hatte damit angefangen und wollte es auch zu Ende bringen.

Auf die Fressanfälle werde ich später noch intensiver eingehen. Mir ist erst einmal wichtig, wie so eine Essstörung entstehen kann. Aber es sei an diesem Punkt noch einmal gesagt, dass die Ursache von Fall zu Fall unterschiedlich und individuell ausfallen kann. Man kann nie sagen, dass eine Essstörung genau aus dem und dem Grund entsteht und es so bei allen ist. Das wäre falsch.

Ich war ich tagtäglich von dem Gedanken besessen, dem weiblichen Ideal "schön, schlank und erfolgreich" näher kommen zu müssen. Und ich hasste mich für diesen Gedanken, weil ich mich blenden ließ und mehr Zeit dafür verschwendete, Leute zu kopieren und neidisch auf sie zu sein, anstatt, meine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu entdecken. Heute ist das leichter gesagt als früher getan. Ich war sehr leicht beeinflussbar von der Gesellschaft und das hat mich fast ins Grab gebracht.