Im Krieg verlieren auch die Sieger - Daniela Dahn - E-Book

Im Krieg verlieren auch die Sieger E-Book

Daniela Dahn

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Beschreibung

«Der Traum vom ewigen Frieden darf keine Utopie bleiben» – Daniela Dahn Es ist wieder Krieg in Europa. Und längst geht es nicht mehr um die Frage, ob wir involviert sind, sondern um das Wie. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die westliche Friedensarchitektur zusammengebrochen. Aber gab es sie denn jemals? Politiker Deutschlands, der USA, der NATO und die Leitmedien erklären unisono, in der Ukraine werde unsere Freiheit verteidigt, deshalb müsse sie siegreich aus dem aufgezwungenen Krieg hervorgehen. Aber geht das überhaupt? Erfüllt unsere Antwort mit Wirtschaftskrieg und Waffenlieferungen den beabsichtigten Zweck? Sind Verhandlungen geeigneter, den Krieg zu beenden?   Börne-Preisträgerin Daniela Dahn präsentiert neue Texte zum Krieg in der Ukraine und solche aus der unmittelbaren Zeit davor: über seine Vorgeschichte, den Maidan, die russischen und die westlichen Positionen. Sie zeigt, dass der Westen Teil des Problems ist und die UNO gestärkt werden muss. Und sie wendet sich gegen Denkverbote: «Wer den Opfern helfen will, sollte die Genesis von Krisen und Kriegen zur Kenntnis nehmen.» Daniela Dahn «ist eine Kritikerin der Verhältnisse par excellence, sie ist folglich unbequem. Scharfsinnig im Urteil und unabhängig in der Analyse gehört sie zu den mutigen Publizisten dieser Zeit.» Jorge Semprún  «Eine radikale Selbstdenkerin.» Der Tagesspiegel

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Seitenzahl: 251

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Daniela Dahn

Im Krieg verlieren auch die Sieger

Nur der Frieden kann gewonnen werden

 

 

 

Über dieses Buch

Krieg beginnt im Kopf, Frieden auch

Es ist wieder Krieg in Europa. Und längst geht es nicht mehr um die Frage, ob wir involviert sind, sondern um das Wie. Das Denken wird wieder reduziert auf Schwarz und Weiß, Böse und Gut, Die und Wir. Politiker Deutschlands, der USA, der Nato sowie die Leitmedien erklären unisono, in der Ukraine werde unsere Freiheit verteidigt, deshalb müsse sie siegreich aus dem aufgezwungenen Krieg hervorgehen. Aber es gibt im Krieg keine Sieger, sagt Daniela Dahn, es geht um Auswege, die einen Frieden möglich machen, der wirklich trägt. Frieden und Freiheit dürften nicht Sache der Militärs sein, sondern der Zivilgesellschaft. Deshalb könne man sie auch nicht allein Politikern überlassen.

Daniela Dahn präsentiert neue Texte zum Krieg in der Ukraine und solche aus der unmittelbaren Zeit davor: über seine Vorgeschichte, den Maidan, die russischen und die westlichen Positionen. Sie zeigt, dass der Westen Teil des Problems ist und die UNO gestärkt werden muss. Und sie wendet sich gegen Denkverbote: «Wer den Opfern helfen will, sollte die Genesis von Krisen und Kriegen zur Kenntnis nehmen.» Eine prominente Stimme der Friedensbewegung über die Kriegsursachen, die Ignoranz der Eliten und die Folgen für uns. Das Ende der Gewissheit darf nicht das Ende der Besonnenheit werden.

 

 

«Was im Kriegsgeschrei fast immer übertönt wird, ist, sich darum zu sorgen, wie der Frieden gewonnen werden kann. Frieden ist bekanntlich mehr als Waffenstillstand und Krisenmanagement. Pax – der lateinische Wortstamm erinnert daran, dass Frieden ursprünglich das Resultat eines Vertrages war. Frieden entsteht nicht im Selbstlauf, sondern bedarf verbindlicher Abmachungen. Wer Frieden schaffen will, sollte eine Idee davon haben, wie wir eigentlich leben wollen. Auch beim Frieden geht es um alles oder nichts, um Sein oder Nichtsein.» Daniela Dahn

 

Daniela Dahn «ist eine Kritikerin der Verhältnisse par excellence, sie ist folglich unbequem. Scharfsinnig im Urteil und unabhängig in der Analyse, gehört sie zu den mutigen Publizisten dieser Zeit.» Jorge Semprún

Vita

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Louise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt sind bislang dreizehn Essay- und Sachbücher erschienen, zuletzt «Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute» (2019).

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Frank Strickstrock

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung und Foto Seite 13 FinePic®, München

Foto Seite 119 de-wikipedia.org/Plflcn (CC BY-SA 4.0)

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01639-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Kassandra lässt grüßen – zur Einstimmung

I. Der Albtraum vom ewigen Krieg

Vom Wirbel des Krieges gepackt

Frieden muss gestiftet werden

Handke allein im Krieg

Krieg – ein Jahrhundertfehler

Gefechtsfeld Wahlen

Barbarossa im Wunderland

Modell Maidan – illegal, aber legitim?

Von allen Seiten Nebelkerzen

Der Atomwaffenverbotsvertrag

Kooperation oder Konfrontation mit Russland?

II. Der Traum vom ewigen Frieden

Frieden muss ein besseres Geschäft sein als Krieg

UN-Charta-Patrioten – ein neues Verständnis von Sicherheit

Brauchen wir die USA noch?

Der Befreiung ausgesetzt

Eine «Herdenimmunität» gegen rechts ist nicht zu erwarten

Das Wort «Fluchtursachen» ist aus dem Vokabular des Westens gestrichen

Willkommen und Abschiebung

Pressefreiheit ist auch die Freiheit zur Kritik an der Presse

Verrückte Maßstäbe

Die Pandemie als Krisenmodell

Die DDR – eine Utopie, an die sich anknüpfen lässt?

Frieden für das hungernde Afrika

Textnachweise

Kassandra lässt grüßen – zur Einstimmung

Dieses Buch vereint Essays über Krieg und Frieden. Die jüngsten sind nach der sogenannten Zeitenwende geschrieben, also während des bestürzenden Krieges in der Ukraine, andere in der unmittelbaren Zeit davor. Dass auch diese unverändert übernommen wurden, liegt an meiner Absicht und der des Verlages, zu zeigen, dass auch Überlegungen aus «Friedenszeiten» nicht ungültig geworden sein müssen. Im Gegenteil – es ist wichtig, daran zu erinnern, dass riskantes politisches Verhalten und viele Warnungen und Vorzeichen zu erkennen gewesen und vielfältig formuliert worden sind. Sie dokumentieren auch die völlige Ignoranz der politischen Eliten gegenüber Bedenken und Einsprüchen von Stimmen aus der Zivilgesellschaft – und weiblichen erst recht. Kassandra lässt grüßen.

Natürlich muss man die eigenen Einsichten und Schlussfolgerungen in diesen bewegten Zeiten permanent in Frage stellen und auch korrigieren – aber dieser Vorgang soll hier transparent bleiben. Wo es geboten erscheint, sind früheren Aufsätzen Kommentare und Ergänzungen vorangestellt. Kürzungen sind nur vorgenommen worden, wenn es innerhalb der Texte Dopplungen von Fakten oder Zitaten gab. Jeder Text steht für sich, aber die angebotene Reihenfolge soll zusätzlich Zusammenhänge und Widersprüche erhellen.

Über nichts ist in jüngster Zeit so viel öffentlich reflektiert worden wie über den russischen Angriffskrieg, eingebettet in vermeintliche Parallelen und Gegensätze aus Geschichte und Gegenwart. Und dennoch ist eine Selbstgleichschaltung der großen Medien unverkennbar. Klagen, von Kriegspropaganda eingehüllt zu sein, sind allgegenwärtig. Die im Sandkasten wie auch vor Gericht von alters her geltende Regel, wonach im Streitfall beide Seiten zu hören sind, ist komplett außer Kraft gesetzt. Was immer ein Russe sagt – es kann sich a priori nur um Propaganda handeln. Weshalb es als legitim, wenn nicht als überlebenswichtig gilt, so gut wie nie eine gegnerische Stimme zu zitieren und die Kommunikationspipelines und Sender des Feindes abzuschalten.

Den Bürgern wird die Fähigkeit, sich selbst durch Abgleich der Informationen eine Meinung zu bilden, nicht zugetraut und nicht zugestanden. Dabei besteht doch Freiheit gerade darin, sich unter allen Umständen in die Lage versetzen zu können, das Vernünftige zu tun. Frei nach Immanuel Kant erweist sich der Gottesbeweis in der Vernunft in uns. Daraus ließe sich derzeit ableiten, dass es mit der göttlichen Hegemonie gerade nicht weit her ist im christlichen Abendland. Der Dualismus von Gut und Böse beherrscht das Denken. Ja, derart Gelenkte könnten nicht ganz ohne Berechtigung einen Freispruch vom Vorwurf der Unvernunft einfordern. Selbst Schreibende könnten für ihre Äußerungen um mildernde Umstände bitten. Das Phänomen wird allerdings seit Generationen beklagt. Mark Twain: «Wenn man keine Zeitung liest, ist man uninformiert. Wenn man Zeitung liest, ist man desinformiert.»

Dienlicher ist freilich der kräftezehrende Versuch, die Barrieren zu durchbrechen. Viele, gerade junge Menschen, haben die Kenntnisnahme der Mainstream-Medien eingeschränkt bis eingestellt und investieren nicht wenig Zeit, sich im Netz, in Chats oder in den a-sozialen Medien ihre eigenen Quellen zu erschließen. Da kommt es sehr auf die Fähigkeit an, die seriösen unter ihnen zu erkennen. Bei dieser Art kommunikativer Individualversorgung wird die Frage, was man als bekannt voraussetzen kann, für Publizisten unübersichtlich. Zumal der eine oder andere weiße Fleck in Sachen Vorgeschichte und Verlauf des Krieges langsam auch dann und wann in den «Leitmedien» Farbe annimmt. Deshalb schien es mir angebracht, die Fakten und Quellen zu erwähnen, die nachvollziehbar zur Logik eigener Erwägungen und Schlüsse geführt haben und von denen anzunehmen ist, dass sie noch nicht Allgemeingut sind.

Was im Kriegsgeschrei fast immer übertönt wird, ist, sich darum zu sorgen, wie der Frieden gewonnen werden kann. Frieden ist bekanntlich mehr als Waffenstillstand und Krisenmanagement. Pax – der lateinische Wortstamm erinnert daran, dass Frieden ursprünglich das Resultat eines Vertrages war. Frieden entsteht nicht im Selbstlauf, sondern bedarf verbindlicher Abmachungen. Wer Frieden schaffen will, sollte eine Idee davon haben, wie wir eigentlich leben wollen. Eine Idee ist keine Ideologie, aber eine Anschauung von der Welt ist kein Nachteil. Wer den Frieden gewinnen will, dem muss der Alltag groß sein, und das Große alltäglich.

Ein friedliches Leben wäre für mich eins von Freien und Gleichen, die sich – nicht zuletzt befähigt durch eine blühende Kunst und Kultur – mit hohen moralischen Ansprüchen begegnen: großzügig und tolerant, gebildet und uneigennützig, aber auch ungenügsam und vorwärtsdrängend. Sozialer Friede wird nur unter der Dominanz von Gemeinwohl und Gemeineigentum gelingen. In einer solchen Welt müsste man in den Städten wieder atmen können, in den Flüssen baden und in den Wäldern Schatten finden. Alle Kreaturen, auch Pflanzen und Tiere, brauchen Frieden. Man könnte sich ihn leisten, wenn Waffen auf allen Seiten nur noch in Museen das Gruseln lehren.

Emanzipation von Vormundschaft durch Staat und Medien, Demokratie als Souveränität der Bürger, ein zweckdienlicher Umgang mit Klimabedrohungen und Pandemien, Solidarität mit den Schwachen, Bekämpfung von Fluchtursachen und Neokolonialismus, und ja, Entnazifizierung auch bei uns.

Da gibt es fast kein Thema, das nicht dazugehört und bedacht werden muss. Beim Frieden geht es um alles oder nichts, um Sein oder Nichtsein. Weshalb hier nur einzelne Puzzles aus dem großen Mosaik geboten werden können, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Und mit der Bitte um Ergänzung. Gebraucht wird ein von möglichst Vielen zusammengesetztes Mosaik, damit der Traum vom ewigen Frieden keine Utopie bleibt.

I.Der Albtraum vom ewigen Krieg

Ukraine zwischen Russland und Nato

Vom Wirbel des Krieges gepackt

Lasst euch nicht in den Ruin führen – das Menschenrecht auf Leben verteidigen

(September 2022) Der Krieg, so nicht mehr für möglich gehalten, blamiert unsere Gewissheiten, offenbart unseren Gleichmut, entlarvt unser Halbwissen, belegt unsere Ohnmacht, spottet jeder Beschreibung. Zuvor schon im Krisenmodus alarmiert, sind wir in Haft genommen mitanzusehen, wie viele glücksuchende Leben ausgelöscht werden, wie viele kostbare Güter der Menschheit in Rauch aufgehen. Wenn wieder einmal Grund ist, an unserer Lernfähigkeit zu zweifeln, dann jetzt.

«Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden.» So Sigmund Freud 1915, im Ersten Weltkrieg, unter der Überschrift «Die Enttäuschung des Krieges». Versprachen sich damals noch viele Getäuschte von einem Krieg patriotischen Gewinn, so hegen heute hoffnungsvolle Erwartungen höchstens noch politische Eliten, mit ihren für die Völker maßlos überzogenen Prioritäten geopolitischer Erwägungen.

Der gegenwärtige Krieg ist eine einzige Katastrophe – für die ganze Welt, aber vor allem für die Ukraine. Wer immer darüber nachdenkt, fragt sich, wie dem geschundenen Land und seinen Menschen am wirksamsten zu helfen ist. Von Anfang an standen sich zwei diametrale Sichtweisen über die zweckmäßige Unterstützung gegenüber – Waffen oder Waffenstillstand. Das unbestrittene Recht auf bewaffnete Verteidigung gegen einen Angriffskrieg oder bestreitbare diplomatische Lösungen. Ein Kriegsende als «Siegfrieden» nach opferreichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld oder mit Blick auf die allseitigen Fehler in der Vorgeschichte sieglos, mit beidseitigen Kompromissen am Verhandlungstisch. Die gängige Polemik auf den Punkt gebracht, steht ein «naiver Pazifismus» einem «skrupellosen Bellizismus» gegenüber.

 

«Deeskalation jetzt! Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!» – ich gehöre zu den Unterzeichnerinnen des ersten offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz, der am 22. April in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde.[1] Es ist legitim und legal, den Verteidigungskampf eines angegriffenen Landes mit Waffen zu unterstützen, aber was legitim und legal ist, muss noch nicht sinnvoll sein. Wir verurteilten den Überfall und zeigten uns besorgt, weil die Ukraine zum Schlachtfeld zwischen Nato und Russland geworden sei. Der gleichzeitig entfesselte Wirtschaftskrieg gefährde die Existenz vieler Menschen weltweit. Wenn die Eskalation nicht gestoppt würde, stünde womöglich am Ende der ganz große Krieg, der die menschliche Zivilisation verwüstet. «So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzige realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg.» Stopp aller Waffenlieferungen, die Augen links, für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.

Unserem Brief folgten, mit differenzierten Argumenten und Forderungen, weitere, vielbeachtete Briefe, auch Gegenbriefe. «Wir sehen mit großer Sorge, dass in der politischen Debatte in Deutschland zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine immer wieder Forderungen nach einer nicht näher definierten und sofortigen ‹politischen Lösung› oder nach einem ‹Waffenstillstand› um jeden Preis aufkommen», hieß es in einer Erklärung, die initiiert wurde vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, bekannt als militaristische Speerspitze im Lande, mitfinanziert von der Nato. Was nebenbei miterledigt werden sollte, verschwiegen die dortigen Neocons nicht, es solle «eine Neuauflage des TTIP zwischen der EU und den USA zur Stärkung der transatlantischen Wirtschaftszone stärker verfolgt werden». Die Wellen schlugen hoch.

Die Waffengegner waren damals in der Minderheit, beriefen sich auf die Geschichte. «Besser hundert Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen», war ein Lebensfazit des einstigen Wehrmachtsoffiziers Helmut Schmidt. Bei den russisch-ukrainischen Verhandlungen Ende März in Istanbul fühlte sich unsereins ermutigt: Präsident Selenskyj machte weitgehende Angebote. Auf dem US-Sender ABC erklärte er seine Bereitschaft, im Falle eines Waffenstillstandes Gespräche zu führen über eine mögliche Neutralität der Ukraine bei ausreichenden Sicherheitsgarantien, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den künftigen Status der Donbass-Republiken. «Wir werden auf Verhandlungen bestehen, bis wir einen Weg finden, unseren Menschen zu sagen: So kommen wir zum Frieden.»

Der Verhandlungsleiter der russischen Delegation, Wladimir Medinskij, so war im DLF zu hören, erklärte, die Ukraine sei «im Kern mit den prinzipiellen Forderungen Russlands einverstanden». Der Kreml war in der Defensive, kündigte in den Verhandlungen ein Vertragsangebot an, mit Abzug der russischen Truppen aus den Regionen um Kiew und Tschernihiw, beides bedeutende Standorte der ukrainischen Armee.

Doch eine Woche später reiste Boris Johnson als erster westlicher Regierungschef seit Kriegsbeginn nach Kiew. Während seiner Auszeichnung mit dem «Freiheitsorden» beschwor er eine «weltweite Allianz» zur militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine. Großbritannien werde hochmoderne Rüstung liefern und für einen weiteren Weltbank-Kredit bürgen. Das werde es ermöglichen, die russischen Streitkräfte zurückzudrängen. Der Westen müsse «auf Kurs» bleiben. Wie auch bei seinen Kiew-Besuchen im Juni und August war er strikt dagegen, dass europäische Verbündete die Ukraine drängen, «ein schlechtes Friedensabkommen» mit Russland zu akzeptieren. «Das Vereinigte Königreich ist mit euch und wird mit euch sein, bis ihr siegt» (ntv 17.6.2022).

Waren es diese und ähnliche illusorische Aufmunterungen, die Präsident Selenskyj bewogen, nicht mehr auf Verhandlungen zu bestehen, sondern auf schweren Waffen und womöglich leichtem Sieg? Ein Vermittlungsangebot von Präsident Macron im Juni wies sein Berater Podoljak zurück – solange die Ukraine ihre militärische Position nicht gestärkt habe, ergäben Verhandlungen keinen Sinn. Wenn das die ukrainische Position sei, so der russische Außenminister Lawrow, gebe es nichts mehr zu besprechen. Seither herrscht ein Verhandlungspatt.

Für die frühe Position, wonach Waffenlieferungen den Krieg nur verlängern, wurden wir bestärkt und beschimpft wie wohl nie zuvor. Am direktesten angesprochen fühlte ich mich, wenn ukrainische Künstler sich empört an die Briefschreiber wandten mit Kommentaren, die hochverständlich sehr emotional waren, zum Teil auch mit verletzenden Unterstellungen argumentierten. Aber das Bedürfnis zu verletzen wächst eben in Kriegszeiten. So erreichten mich Fragen der Kunstplattform TU aus Mariupol, die an der Documenta in Kassel teilnahm oder der offene Brief von Serhij Zhadan (Zeit online 6.7.22) aus Charkiw, dem diesjährigen Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Wenn ich versuche, mich trotz eigener Unsicherheiten suchend diesen Fragen zu stellen, so in dem Bewusstsein, dass es mir nicht zusteht, Ratschläge zu geben, dass wir angesprochenen Briefschreiber aber auch keine zu ignorierende Minderheit mehr sind. Inzwischen sind immer mehr Deutsche davon überzeugt, dass Waffenlieferungen den Krieg nur ausweiten und verlängern, an der Wirksamkeit von Sanktionen zu zweifeln ist und es nur eine diplomatische Lösung geben kann. Dagegen steht der zentrale Vorwurf von Serhij Zhadan:

«Die deutschen Intellektuellen, die der Ukraine westliche Waffen zur Verteidigung nicht zukommen lassen wollen und einen Waffenstillstand fordern, sprechen der Ukraine das Existenzrecht ab.»

Wir betonen in unserem Brief, dass wir Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen sind, wir ringen in diesen Wochen um eigene Erklärungen – es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht im Namen aller Briefschreiber antworte und schon gar nicht aller angesprochenen, «deutschen Intellektuellen». Ich kenne allerdings niemanden, der der Ukraine das Existenzrecht abspricht. Es geht vielmehr darum, welche Existenz gemeint ist. Dazu sind im Vorfeld viele widersprüchliche Aussagen gemacht worden.

Wladimir Putin hat in seinem Aufsatz «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer» vom 12. Juni 2021 vor einem von westlichen Interessen geleiteten Ukraine-Projekt gewarnt, nämlich einem «Anti-Russland», das «aggressiv gegen Russland gestimmt» ist, ja ein «Aufmarschgebiet gegen Russland» würde. «Echte Souveränität der Ukraine», so sein drohendes Versprechen, sei «möglich in Partnerschaft mit Russland». Statt auszuloten, was damit gemeint sein könnte, kamen aus Washington nur Signale, die darauf zielten, dass Russland seinen Herrschaftsanspruch über die Ukraine aufzugeben habe. Ganz im Geiste des US-Geostrategen Zbigniew Brezeziński: Ohne die Ukraine hört Russland auf, eine Großmacht zu sein. Und das ist für die amerikanische Führungsrolle unerlässlich.

Was uns Briefschreiber eint, ist die Sorge «vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt» und sehr absehbaren für die Ukraine selbst. Nach einem halben Kriegsjahr ist die Infrastruktur weitgehend zerstört, liegt die Wirtschaft am Boden, ist mehr als ein Drittel der «Werktätigen» arbeitslos, ist das Land praktisch zahlungsunfähig. Hatte die große Ukraine schon vor dem Krieg nach dem kleinen Moldawien pro Kopf das niedrigste Bruttosozialprodukt in Europa, so ist ihre derzeitige Leistungsfähigkeit kein Garant für eine souveräne Existenz mehr. Sie wird auf Jahrzehnte hinaus von der Weltbank oder einem der geopolitischen Blöcke abhängig sein wie ein Protektorat. Erfolgten die westlichen Waffenlieferungen anfangs als kostenlose Militärhilfe, so muss die Ukraine nach dem Lend-Lease Act von 2022 dafür bei den USA längst Kredite aufnehmen, verschuldet sich und vertieft ihre Abhängigkeit.

In einer Reportage aus dem besetzten Donbass sagte unter ihrem Kopftuch eine alte Frau: Mir ist ganz egal, wer hier regiert, Hauptsache, ich kann ein auskömmliches Leben in Frieden führen. Das dürfte die Stimmung vieler treffen. Ob diesem bescheidenen Wunsch die Schocktherapien des Neoliberalismus eher gerecht werden als die dirigistische Marktwirtschaft eines postsozialistischen Oligarchen-Kapitalismus, sei dahingestellt. Die Politikverdrossenheit ist generell groß, und die Vorstellung, es gäbe für die Menschen nichts Wichtigeres als die Frage, welcher Teil der korrupten Elite demnächst über sie herrschen darf, ist eine Anmaßung. Das wichtigste Menschenrecht ist das Recht auf Leben. Wer das Leben verliert, für den haben sich auch alle anderen Rechte erledigt. Daraus ergibt sich eine zu bedenkende Hierarchie von Zielvorstellungen, wenn es um Kompromisse geht. Serhij Zhadan ist kompromisslos, wenn er fortfährt:

«Indem sie einem falsch verstandenen Pazifismus anhängen – der nach zynischer Gleichgültigkeit stinkt –, legitimieren die Verfasser des Briefes die Putinschen Propagandanarrative, die besagen, dass die Ukraine kein Recht auf Freiheit» hat.

Niemand schreibt offene Briefe aus Gleichgültigkeit. Ich hätte gern zurückgefragt, von welcher Freiheit in seinem offenen Brief die Rede ist. Wer Vorkriegsanalysen über die Ukraine kennt, gerade aus den USA, für den lässt sich das von den Medien gezeichnete Bild einer aufstrebenden Demokratie nach westlichem Vorbild kaum aufrechterhalten. Der IWF prangerte Präsident Selenskyj als Führer einer korrupten Regierung an. Ein Bericht des US-Außenministeriums von 2020 präzisierte, sprach von schwerwiegenden Korruptionsfällen und strukturellen Gefahren; letztlich bestimmten sechs Milliardäre die Wirtschaft und damit die Politik. (Als der Generalstaatsanwalt 2015 dagegen Untersuchungen einleiten wollte, hat der damalige US-Vizepräsident Biden handstreichartig erreicht, dass er entlassen wird.[2]) Es gebe große Verwerfungen im Sozialen, schlimmste Formen von Kinderarbeit; Millionen Wirtschaftsflüchtlinge hätten das Land lange vor dem Krieg verlassen und arbeiteten zu Niedrigstlöhnen in Westeuropa.

Die Meinungsfreiheit hat es seit 2014 zunehmend schwerer, die Kommunistische Partei und regierungskritische Medien und Organisationen sind pauschal als «prorussisch» ausgegrenzt und verboten worden. Wer den Bandera-Kult kritisiert, wird verfolgt. Ebenso, wer meint, die Krim gehöre zu Russland. Freie Diskussionen seien nicht selbstverständlich in der Ukraine. Bis zum Krieg war im Parlament immerhin die zweitgrößte Partei die «Oppositionsplattform für das Leben». Dass sie wegen ihrer Nähe zu Russland nun auch verboten wurde, mag man verstehen. Hat aber dieses Verbot vielleicht den Weg dafür frei gemacht, dass das Parlament ausgerechnet jetzt das Gesetz zu einer «Arbeitsmarktreform» verabschiedet, das schon ein Jahr vor dem Krieg von der Regierungspartei eingebracht wurde? Er zerstört alle Arbeitnehmerrechte besonders in Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern. In diesem «Feldzug gegen sowjetische Überbleibsel» werden die Gewerkschaften entmachtet und enteignet, Tarifverträge ignoriert, die Arbeitszeit nach Belieben verlängert, Streiks und Demonstrationen verboten. Die Beschäftigten sollen ihre Beziehungen zu den Unternehmern selber regeln, wie üblich, wenn ein Staat «frei, europäisch und marktorientiert» ist. Vorbild soll die Deregulierungswelle nach dem Putsch 1973 in Chile sein. «Dass Augusto Pinochet ihr persönliches Vorbild darstellt, sprechen Politiker der ukrainischen Regierungspartei Diener des Volkes immer wieder offen aus.»[3]

Der europäische Gewerkschaftsdachverband kritisierte im August in einem Schreiben an die Brüsseler Kommission scharf, dass die ukrainische Regierung mit dieser Reform gegen europäische und internationale Regeln verstößt und die Beschäftigten in einen Zweifrontenkrieg treibt – gegen die russische Armee und gegen die eigenen Oligarchen und Politiker. Und er bezweifelt, dass diese Maßnahmen, wie behauptet, nur für die Zeit des Kriegsrechtes gelten werden.

In dieser angespannten Situation haben sich die Rada-Abgeordneten gerade einstimmig ihre Bezüge um 70 Prozent erhöht.[4] Die Ukraine hat sich einem neoliberalen Konsens verschrieben, der welthistorisch zu Ende geht. Auch deshalb gilt meine uneingeschränkte Solidarität zwar den Ukrainern, aber nur eingeschränkt der jetzigen Ukraine.

Zumal der US-Bericht schon vor zwei Jahren schwerwiegende Menschenrechtsprobleme benannte, insbesondere in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz. Es gäbe willkürliche Inhaftierungen und gar Tötungen, Folter und unmenschliche Behandlung durch Vollzugsbeamte bis zu lebensbedrohlichen Bedingungen in Gefängnissen.

Auch die UNO hat erhebliche Mängel bei der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte festgestellt, es herrsche ein Klima der Straflosigkeit, der fehlenden Rechenschaftspflicht bei Gewalt gegen Frauen, gegen ethnische Minderheiten oder Homosexuelle, auch gegen antisemitisch motivierte Angriffe. Linke Gruppierungen seien völlig marginalisiert, eine Stiftung ist von Ultrarechten angegriffen und ihr Büro mehrfach vom ukrainischen Geheimdienst eingeschüchtert worden. Auch Grüne haben das Land, das sie nun zum Sieg führen wollen, schon kritischer gesehen. «Die demokratischen Institutionen in der Ukraine erleben eine schlimme Zeit» warnte der Leiter der Kiewer Heinrich-Böll-Stiftung, Sergej Sumlenny, vor drei Jahren (bpb 18.7.19). Freunde aus Kiew bestätigen, dass der russische Überfall ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war. Aber worauf beruht dieser Nationalstolz? Das einzig Perfekte in diesem Krieg ist die Propaganda.

2018 konnte ich in Moskau das Sacharow-Museum und die NGO Memorial noch besuchen, was Anlass bot, mich zu fragen, ob ich zu nachsichtig mit der inneren Entwicklung in Russland gewesen bin. Die Mitarbeiter erzählten, sie bekämen kein Geld von russischen Behörden, stattdessen prüfe der Staat ihre Geldquellen, die aus dem Ausland stammen und von Crowdfunding. Noch behindere er nicht ihre Inhalte, sie hätten durch den großen Namen Andrej Sacharow einen gewissen Schutz, aber man habe Angst, dass sich das ändern werde. Inzwischen sind auch sie verboten, wird das Gesetz über «ausländische Agenten» (ursprünglich übernommen von den USA und Israel) exzessiv instrumentalisiert zur Unterdrückung von Widerspruch. Andersdenkende und -lebende haben es extrem schwer, ob in Medien oder in der LGBTQ-Community, die Rolle von einflussreichen Oligarchen bleibt undurchsichtig, in der Duma kommt echte Opposition kaum vor, die Gewaltenteilung ist praktisch aufgehoben.

Was aber die relativen Freiheiten in der politischen Praxis der Vorkriegsukraine betrifft, die zu verteidigen der Westen nun vorgibt, so wäre es wichtig, sie genauer zu analysieren, um denen widersprechen zu können, die meinen, das politische System der Ukraine sei nur der schwächere Abglanz des russischen gewesen. Das wäre für die Konkretisierung der Kriegsziele nicht ganz unwichtig. Freunde aus Kiew:

«Unter dem Einfluss von Propaganda verstehen hier viele nicht, weshalb die Briefschreiber und andere Zweifler sich so schwer damit tun, in diesem ‹unprovozierten Krieg› Partei zu ergreifen, weshalb sie von ‹Hasardeuren auf beiden Seiten› sprechen.»

Die Wendung «unprovozierter Krieg» hätte nach meinem Ranking gute Chancen, zum Unwort des Jahres zu werden. Wenn dieser Krieg irgendetwas ist, dann seit vielen Jahren vom Westen provoziert. Um aus der großen Auswahl nur an einige Provokationen zu erinnern: 1999 der völkerrechtswidrige Bombenkrieg gegen Russlands Verbündeten Serbien; die wider alle Zusagen permanente Osterweiterung der Nato von 16 auf 28 Mitglieder; 2004 die Orangene Revolution in Kiew «nach Drehbuch» der US-Organisation Freedom House und der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten, der bei den nächsten Wahlen aber wiedergewählt wurde; 2008 die Gipfelerklärung der Nato, in der der Ukraine und Georgien der Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt wird (Angela Merkel unlängst im Berliner Ensemble: Ich war sicher, dass Putin das nicht mitmacht, er wird es als Kriegserklärung auffassen); 2014 der Maidan-Putsch zum erneuten Sturz des Präsidenten; 2019 die Aufnahme des Ziels eines Nato-Beitritts in die ukrainische Verfassung, obwohl die Mehrheit der Ukrainer dagegen war; Nato-Manöver auf dem Boden des De-facto-Mitgliedes Ukraine; dauerhafte Präsenz von Nato-Truppen im Baltikum; einseitige Kündigung von Abrüstungskontrollverträgen; Inkonsequenz des Westens gegenüber der Ukraine, die hauptverantwortlich für das Nichteinhalten des Minsk-II-Abkommens war; Nichtachtung russischer Verhandlungsangebote. Fünf Tage vor dem russischen Angriff verlangte Präsident Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz einen klaren Zeitrahmen für den Nato-Beitritt und drohte, die Ukraine könne sich wieder eigene Atomwaffen anschaffen. Auch verschiedene Regierungen der Ukraine waren an den Provokationen beteiligt.

Schon am Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine am 24. Februar gab US-Präsident Biden im Gespräch mit Präsident Selenskyj das Wording vor: Dieser «unprovozierte Angriff» sei die dunkelste Stunde seit dem Zweiten Weltkrieg. Am selben Tag nahm der britische Premier Johnson auf Twitter die Wort-Order auf, mit ihm der belgische und der australische Regierungschef. Bald übernahm die Nato die Sprachregelung «unprovoziert», auch in Deutschland ist sie üblich.

Weshalb dieser Eifer im Leugnen des Offensichtlichen? Was würde es denn ändern, wenn man einräumt, dass dem Krieg Provokationen vorausgegangen sind? Keine Provokation rechtfertigt ein Verbrechen. In der Literatur zum Strafrecht heißt es etwas umständlicher: Auch eine noch so gravierende, rechtswidrige Provokation ändert nichts daran, dass sich der Angreifer durch seine aggressive Reaktion ins Unrecht setzt. Die Provokationen von Teilen der politischen Klasse im Westen ändern nichts daran, dass der russische Überfall auf die Ukraine völkerrechtlich verbrecherisch ist, politisch reaktionär, militärisch verheerend und menschlich katastrophal. Weshalb also der Eifer?

«Unprovoziert» ist ein politischer Terminus, kein juristischer. Das Strafrecht und die hinter ihm stehende Moral schützen einen aggressiven Provozierten nicht, machen aber unter Umständen mildernde Umstände geltend. Es kennt zudem den Tatbestand der «unzulässigen Tatprovokation». Der bezieht sich meist auf sogenannte agents provocateurs, die im staatlichen Auftrag einen potentiellen Täter so lange in Versuchung bringen, bis dieser in die provozierte Falle tappt und entlarvt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2014 (im Fall «Furcht gegen Deutschland») die Rechte von angestifteten Tätern gestärkt; sie dürften nicht verurteilt werden, wenn der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt wurde. Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 10.6.15 nachgezogen. Wenn eine Tat provoziert war, ist dies ein «wesentlicher Strafmilderungsgrund». Wenn es sich sogar um eine «rechtsstaatswidrige Provokation» handelt, muss das Verfahren gegen den Straftäter eingestellt werden.

Nun kennt die Politik das Delikt «rechtsstaatswidrige Provokation» nicht, im Gegenteil. Wer den Gegner besonders clever austrickst, gilt als cooler Player. Im Völkerrecht gibt es den Vorwurf «unzulässige Tatprovokation» bisher nicht. In der Praxis wird es einfach Außenpolitik genannt. Provokante Sanktionen sollen die Funktion übernehmen, die einst Diplomatie hatte. Wer im Zivilrecht gegen Verträge verstößt, wird dafür belangt; gegen zwischenstaatliche Abkommen können Politiker so lange verstoßen, wie sie lustig sind. Siehe das Minsker Abkommen.

Im Völkerrecht kann man Regierungen nur durch gutes Zureden dazu bringen, sich an die Rechtslage zu halten. Diese Rechtslage wird in der «Realpolitik» oft auch dadurch verändert, dass laufende Verträge einseitig gekündigt oder nicht verlängert werden. Rechtlich spielt also die Frage, ob ein Krieg provoziert oder unprovoziert begonnen wurde, bisher keine Rolle. Aber das könnte sich ändern. Im Juli 2018 haben die Vertragsstaaten des «Römischen Statuts» des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) die Zuständigkeit dieses Gerichts erweitert. War es bis dahin «nur» für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig, kann nun erstmalig auch «das Verbrechen der Aggression» angeklagt werden. Nicht ausgeschlossen, dass in der Interpretation dann auch Gesichtspunkte der Provokation aus dem Strafrecht entlehnt werden. Sollte die politische Klasse mit ihrer sofortigen Sprachregelung «unprovoziert» so weitsichtig gewesen sein? Oder war das eher Indiz für ein diffuses Gefühl der Mitschuld, das für die Öffentlichkeit umgehend getilgt werden musste?

Moralisch sind die Provokationen auch heute schon nicht zu ignorieren. Der Westen ist Teil des Problems. Und wir, die Briefschreiber, die Autoren, man kann es in dem Zusammenhang auch die deutschen Intellektuellen nennen, sind für die Überprüfung der Aktivitäten unserer Seite zuständig. Auf die russische haben wir erst recht keinen Einfluss. Will man künftigen Konflikten vorbeugen und nicht immer wieder, schlafwandelnd oder absichtlich, dieselben Fallen aufstellen, bleibt diese Analyse unverzichtbar.

Nochmals die Stimmen aus Kiew:

«Ursachen liegen nie nur auf einer Seite, aber man sollte nicht allen, die jetzt unmissverständlich zwischen Gut und Böse unterscheiden, unterstellen, sie seien Opfer ukrainischer Regierungspropaganda oder auch russischer Kriegspropaganda. Propaganda ist nur ein Faktor unter vielen, die Lage ist komplex.»

Sehr einverstanden. Genau deshalb tun wir uns alle schwer. Wir, die wir von außen schauen, sind gehalten, unsere Propaganda unter die Lupe zu nehmen. In Bezug auf Russland sei «die deutsche Presse die bösartigste überhaupt», sagte Michail Gorbatschow schon 2009 im DLF. Was die Parteinahme für Gut und gegen Böse betrifft, ist generell Vorsicht geboten. Das ist zwar ein dominantes, aber nicht minder ungeeignetes Modell zur Erklärung von irgendwas. Geheimdienste treten aus ihrer Rolle und werden zu Nachrichtenagenturen. John Pilger, einer der prominentesten englischsprachigen Journalisten, benennt im Interview mit Talking Post die simple Spielregel im laufenden Propagandakrieg: Alles, was die Ukraine tut, ist zu glorifizieren, alles was Russland tut, zu verunglimpfen. Das mit einiger Selbstverständlichkeit für die einzig zutreffende, wahre Realitätsbeschreibung zu halten, darauf hat sich unser Denken schon eingespurt. Dabei könne man nichts, aber auch gar nichts, was man in der westlichen Presse über den Krieg liest, glauben, so Pilger. Die dualistische Feindbild-Sicht hat lange vor dem Krieg begonnen, ja sie ist seine Voraussetzung.

Russiagate war die größte Story seit Watergate, Journalisten wurden befördert und Medien ausgezeichnet. So die New York Times und die Washington Post mit dem begehrten Pulitzerpreis. Als Beweis für Russiagate galt das «Steele-Dossier», das angeblich auf «Deep-Cover-Quellen» in Russland basierte. Es besagte, dass Trump eine Marionette Putins sei. Mit seiner Kritik an der US-Interventionspolitik oder der Zusammenarbeit mit Al-Qaida in Syrien spucke Trump russische Propaganda aus. Unter Missachtung aller journalistischen Standards wurde wie im Rausch über das Dossier berichtet, und die Einschaltquoten und Auflagen schnellten in die Höhe.