Tamtam und Tabu - Daniela Dahn - E-Book

Tamtam und Tabu E-Book

Daniela Dahn

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Beschreibung

1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern. Die renommierte Essayistin und Mitbegründerin des "Demokratischen Aufbruchs" in der DDR Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge. Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert. Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie. Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie.

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Tamtam und Tabu

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Gestaltung: Buchgut, Berlin

ZUR EINSTIMMUNG

DANIELA DAHN

VolkslektüreEine Presseschau

DANIELA DAHN

Die Währungsunion war organisierte Verantwortungslosigkeit

RAINER MAUSFELD

Wende wohin?Die Realität hinter der Rhetorik

DANIELA DAHN

Ein Luxus anderer ArtWas bedeutet die Forderung nach einem Systemwechsel?

DANIELA DAHN RAINER MAUSFELD

Eine einmalige GelegenheitGespräch

FAKSIMILES

Das Jahr 1990 kann als einer der wichtigsten Momente der Nachkriegsgeschichte angesehen werden, da es einzigartige Chancen bot – sowohl für eine internationale Friedensordnung wie auch für eine erneuerte Demokratie, die dann diesen Namen verdiente. Heute wissen wir, dass diese Chancen aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner gezielt blockiert und somit verspielt wurden. Warum war dies, entgegen den großen Hoffnungen der Bevölkerung, so leicht?

Die Leichtigkeit, mit der eine kleine Minderheit von Besitzenden Macht über eine große Mehrheit von Nichtbesitzenden ausüben kann, gleiche einem »Wunderwerk«, bemerkte zur Zeit der Aufklärung der große schottische Philosoph David Hume. Diese Leichtigkeit der Machtausübung ist seit der Antike eines der großen Rätsel der politischen Philosophie, eines, das in einer Demokratie in noch größerem Maße erklärungsbedürftig ist.

Hume erkannte auch, wohin man den Blick zu richten hat, wenn man dieses Rätsel entschlüsseln will, nämlich nicht lediglich auf die rein physische Macht, die es auf den Körper abgesehen hat, sondern auf die Formen der Macht, die auf die Psyche zielen. Wer über Mittel verfügt, mit denen sich auf der Klaviatur des menschlichen Geistes so spielen lässt, dass Meinungen und Affekte in geeigneter Weise gesteuert werden können, verfügt über einen Einfluss, der kaum noch als Macht erkennbar ist und gerade darum eine besondere Wirksamkeit entfalten kann.

In diesem Buch geht es also zunächst erneut darum, wie sich Menschen in ihrer gesellschaftlichen Willensbildung beeinflussen lassen. Ein uraltes Problem, doch im Zeitalter der Massenmedien gravierender denn je. Zumal es historische Situationen wie den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gibt, in denen diese Probleme besonders grell aufleuchten und so weitere aufschlussreiche Details über die Machttechniken erkennbar werden, durch die sich »die verwirrte Herde auf Kurs halten lässt«. Mit diesen Worten beschrieb schon vor einem Jahrhundert der einflussreiche politische Intellektuelle Walter Lippmann die zentrale Herausforderung für die Eliten in einer – von ihm angestrebten – sogenannten »Elitendemokratie«. Heute ist die Elitendemokratie das Standardmodell kapitalistischer Demokratien.

Im Verlauf der Ereignisse von 1989/90 gelang es, die Stimmung eines Großteils der DDR-Bevölkerung in wenigen Wochen in die vom Westen gewünschte Richtung zu lenken. Diese Monate bieten also ein paradigmatisches Studienfeld zu den sozialtechnologischen Mitteln, mit denen Einstellungen und Verhalten einer ganzen Bevölkerung auf den Kopf gestellt wurden. Es geht in diesem Band folglich um die Rolle von Medien und deren Techniken der Affekt- und Meinungsmanipulation – Techniken, die sich heute gern hinter so harmlosen Begriffen wie »Perception Management« oder »Soft Power« verbergen. Es geht auch um eine partielle Rekonstruktion und Entschleierung des damaligen medialen Tamtams, mit dem sich eine freie Urteilsbildung behindern und Affekte lenken ließen. Und es geht schließlich darum, wie man emanzipatorische Alternativen, die die Stabilität der herrschenden Machtordnung zu gefährden drohten, aus dem öffentlichen Denkraum verbannen konnte. Kurz: Es geht um das Markieren von politischen Tabus. Diese Denkblockaden sind anhaltend wirksam. Immer wieder wurde festgestellt, dass sich heute die meisten Menschen eher das Ende der Welt als das Ende das Kapitalismus vorstellen können. Die politischen Tabus, wie sie vor allem in der Nachkriegszeit in kapitalistischen Demokratien errichtet wurden, blockieren die Entwicklung von angemessenen gesellschaftlichen Lösungen für die immer bedrohlicher werdenden ökologischen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Notlagen, die unsere gegenwärtige Wirtschaftsordnung hervorbringt. Die Bewältigung der damit verbundenen gewaltigen Probleme, die auch durch die Corona-Krise noch einmal scharf konturiert hervortreten, werden durch Tamtam und Tabu, also durch das Arsenal hochentwickelter Techniken des Meinungs- und Affektmanagements, der Indoktrination und Ablenkung, der Angsterzeugung und der Ächtung emanzipatorischer Alternativen, massiv erschwert. Gerade deshalb gilt es, diese Waffen immer wieder durch öffentliche Demontage ihres Zündmechanismus zu entschärfen – was hier am Exempel versucht werden soll. Der Leser wird dabei nicht, wie bei Bombenentschärfungen üblich, aus Sicherheitsgründen auf Distanz gebracht, sondern mit voller Absicht dem Risiko des Dabeiseins ausgesetzt.

Die Vorgänge um die Einheit bieten – vor allem in der Distanz – wie in einem Zeitraffer verdichtet Einsichten in strukturelle Probleme, deren gesellschaftliche Bedeutung weit über den damaligen historischen Kontext hinausgeht. Auch zeigen sie nach nunmehr dreißig Jahren, welcher gesellschaftliche Preis dafür zu entrichten ist, dass emanzipatorische Alternativen gesellschaftlich geächtet werden.

Eine der grundsätzlichen Fragen, um die es dabei geht, lautet: Wie lässt sich gewährleisten, dass »freie Wahlen« nicht nur formal frei sind, sondern dass sie auch psychologisch frei sind, also auf rationalen Urteilen basieren, die ungetrübt von Desinformation, Panikmache oder Heilsversprechen sind? Kann es in einer Gesellschaft, deren große Medien von parteipolitischen Repräsentanten ökonomischer Machtgruppen kontrolliert werden oder mehrheitlich im Besitz von Privateigentümern sind, die Geld sehen wollen, überhaupt psychologisch freie Wahlen geben? Und was bedeutet dieser Zweifel für die Demokratie?

Zwei sehr unterschiedliche Zugangsweisen verbinden sich in den Texten dieses Bandes. Der Beitrag von Daniela Dahn geht noch einmal – unter der Perspektive von Tamtam und Tabu – ganz nah an die damaligen Vorgänge heran. Er bettet sie in den großen Kontext von Manipulation, angeblicher Alternativlosigkeit zu organisierter Verantwortungslosigkeit ein und mündet folgerichtig bei der Aussicht auf einen Systemwechsel in Richtung des Gemeinwohls. Im Zentrum steht dabei eine punktuelle Quellenanalyse damaliger medialer Darstellungen, die in hoher Auflösung zeigt, wie der öffentliche Debattenraum, der die Basis der Meinungsbildung für die dann folgenden Wahlentscheidungen darstellte, verzerrt wurde – mit der Intention, westliche Macht- und Kapitalinteressen durchzusetzen. Eine solche Mikroanalyse medialer Darstellungen der Vorgänge um die deutsche Einheit ist in ihrer am historischen Quellenmaterial gewonnenen Konkretheit, ergänzt durch investigativ gewonnene Hintergründe, Neuland. Sie steht im Kontext der kritischen Analysen zur Vereinigung, die Daniela Dahn in ihren früheren Büchern und Beiträgen gegeben hat, und soll diese fortführend ergänzen und abrunden. Ihre Betrachtungen führen zu der Frage, wie sich der Denkraum emanzipatorischer Alternativen wieder so weiten lässt, dass der apokalyptischen Zerstörungswucht des Kapitalismus Einhalt geboten werden kann.

Der Beitrag von Rainer Mausfeld richtet aus abstrakterer Perspektive einen kritischen Blick auf die illusionserzeugende Kraft der westlichen Ideologie und damit auf das versprochene Paradies einer kapitalistischen Demokratie, zu deren Herrschaftsmethoden es gehört, die Gesellschaft zu spalten und mit Techniken der Indoktrination fundamentalen Dissens zu zersetzen. Er bringt die in der Zeit der Aufklärung gewonnene zivilisatorische Leitidee von Demokratie in Erinnerung, die auf eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch ungeteilte gesetzgebende Souveränität der Machtunterworfenen zielt. Diese egalitäre Leitidee entstand aus dem Bemühen, zivilisatorische Schutzbalken gegen ein Recht des Stärkeren zu errichten. Kapitalistische Elitendemokratien haben sie in ihr Gegenteil verkehrt. Heute werden die zerstörerischen Folgen einer auf dem Recht des Stärkeren basierenden kapitalistischen Weltordnung, wie sie der Westen unter Führung der USA zu errichten sucht, immer deutlicher erkennbar und spürbar. Das führt zu der Frage, wie sich die Idee einer radikalen Demokratisierung wieder gesellschaftlich wirksam machen lässt.

Der Beitrag ist eine Rede, die Rainer Mausfeld im Rahmen des Dresdner Palais Sommers zum dreißigsten Jahrestag der Einheit am 9. Oktober 2019 in der Kreuzkirche gehalten hat.

Die Initiative, beide Beiträge in einem Buch zusammenzubringen und durch ein verbindendes und vertiefendes Gespräch zu ergänzen, ist dem Westend Verlag zu verdanken.

Daniela Dahn und Rainer Mausfeld,

August 2020

Dreißig Jahre deutsche Vereinigung – es ist vermeintlich alles gesagt. Denn das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden (Kierkegaard). Staatlich üppig finanzierte Forschungsstellen haben zu allen erwünschten Themen erwartbare Studien geliefert, Fernsehsender haben sich daran orientiert, Schulbücher wurden umgeschrieben, Lehrstühle an Universitäten gewendet, Bücher in Bibliotheken ausgetauscht, die zeitgenössischen Museen erneuert, Straßen umbenannt. Nicht wenige Verlage, Redaktionen, Autoren und Filmemacher haben dem verordneten, konservativen Geschichtsbild widersprochen oder es zumindest differenziert. Weltweit hat es viele Tausend Veröffentlichungen gegeben.

Dreißig Jahre gelten unter Historikern als der minimale Abstand dafür, eine Zeit der Geschichtsschreibung zu übergeben. Und die verdient ihren Namen nur, wenn darin auch Schuld oder zumindest Verantwortlichkeit nicht verschwiegen werden. Betrachtungen zur Deutschen Einheit räumen zunehmend ein, dass auf ihrem Weg Fehler gemacht wurden, auch gravierende. Doch dieses Eingeständnis wird meist reflexartig mit der Behauptung relativiert, angesichts von Maueröffnung, massenhafter Abwanderung, wirtschaftlichem Niedergang und dem Wunsch nach der D-Mark habe es keine Alternativen gegeben. Dem ist entgegenzuhalten: Wer Alternativen nie auch nur versucht hat, kann nachträglich schlecht glaubhaft machen, es hätte keine gegeben.

Zumal zu einer der interessantesten Fragen bis heute keine eigene Untersuchung bekannt ist. Wie war es möglich, das in vierzig Jahren gewachsene Selbstbewusstsein einer Bevölkerung in einem Vierteljahr auf den Kopf zu stellen? Im November 1989 sprachen sich 86 Prozent der DDR-Bürger für den »Weg eines besseren, reformierten Sozialismus« aus, nur fünf Prozent für einen »kapitalistischen Weg« (erhoben von den Leipziger Instituten für Jugend- und Marktforschung). Diese bemerkenswerte Einmütigkeit wurde von einer Ende Dezember 1989 veröffentlichten Spiegel-Umfrage bestätigt, in der trotz Maueröffnung immer noch knapp drei Viertel der Ostdeutschen wünschten, dass die DDR ein selbständiger souveräner Staat bleiben sollte.

Bei der Volkskammerwahl im März 1990 wählten ebenso viele den Weg einer Einheit im Kapitalismus. Zu diesem Phänomen ist nicht alles gesagt. Es ist sogar fast gar nichts dazu gesagt. Ahnt man, warum? Wer ein Tabu übertritt, wird selbst tabu. Denn das Übertreten ist ansteckend. Der- oder diejenige muss gemieden werden, wird zur sozialen Gefahr.

Nun sind Umfragen und Wahlen bekanntlich keine in Stein gemeißelten Überzeugungen, sondern Momentaufnahmen von im Wind schwankenden Stimmungen. Aber welche Winde waren es, die in so atemberaubend kurzer Zeit Stimmungen derart kippen ließen? Welche Tatsachen, welche Behauptungen, welche Propaganda, welche taktischen Winkelzüge der zu Wählenden haben die Wähler derart aufgeklärt oder manipuliert?

Wenn hier von Alternativen die Rede sein wird, so geht es nicht darum, nachträglich noch mal die Deutsche Einheit in Frage zu stellen. Die Nachkriegsgeschichte, in der die Teilung ihren Platz hatte, lief ab. Geblieben ist eine vom Zeitgeist ungeliebte Frage: Gab es (ohne die hier dokumentierten, massiven medialen Mittel von Halb- und Desinformation, von richtigen Enthüllungen und falschen Versprechen, von Angstkampagnen und Zermürbungsstrategien) nicht einen bedachteren Weg zu einer Einheit, die insbesondere im Osten nicht derart katastrophalen wirtschaftlichen und mentalen Schaden angerichtet hätte?

Erstmalig waren revolutionäre Aktionen, die die Massen ergriffen hatten, im Herbst 1989 weitgehend live im Fernsehen zu verfolgen. Die Wende schlüpfte auch in die Kinderschuhe der digitalen Revolution. Zahlen zur Sehbeteiligung, die das DDR-Fernsehen immer erhoben hatte, wurden nun, da sie so erfreulich waren, veröffentlicht. Zu den Spitzenreitern gehörten plötzlich die Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« und Live-Übertragungen von politischen Ereignissen. Die Massenkundgebung vor dem ZK-Gebäude wurde von 54 Prozent der Gesamtzuschauer gesehen, die Kundgebung am 4. November mit 44 Prozent und die Talk-Show »Warum wollt ihr weg?« mit 43 Prozent. Die sonst nicht unbeliebte Sendung »Schöne Melodien gefragt« kam auf 1,6 Prozent.

Da die meisten Menschen sich ihr Weltbild über das Fernsehen formen, wäre vorrangig die Berichterstattung dieser Monate in den Ost- und West-Sendern zu untersuchen. Aber dazu bedürfte es wohl mehrerer Dissertationen und Zuarbeiten von ganzen Jahrgängen von Journalistik-Studenten. In den Mediatheken sind vorerst nur ausgewählte Dossiers zu finden. Schwierig genug, sich während des Corona-Lockdowns von Bibliotheks-Lesesälen einen groben Überblick über die Printmedien von damals zu verschaffen. Längst nicht alles ist schon digitalisiert, auch nicht die Bild-Zeitung, der als auflagenstärkste dennoch einige Aufmerksamkeit zukommen muss. Insgesamt kann hier nur mit wenigen Spots angedeutet werden, was durch künftige Forschung zu vertiefen wäre.

Erinnern wir uns zuvor an dieses Jahr 1989. Anfang Januar löst US-Präsident George Bush sen. seinen Vorgänger Ronald Reagan ab und verspricht, den Kurs der »neuen Nähe« gegenüber der Sowjetunion fortzusetzen. Ende Januar gewinnen SPD und Grüne die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, Walter Momper wird Regierender Bürgermeister. In der Sowjetunion ist die Perestroika in vollem Gange. Im Februar werden die letzten Soldaten aus Afghanistan abgezogen – neun Jahre nach dem Einmarsch. Beide Länder sind erheblich geschwächt. 1,2 Millionen Afghanen und 15.000 Rotarmisten haben ihr Leben verloren. Dennoch kann sich die linke Regierung von Mohammed Nadschibullāh militärisch und politisch halten. In Warschau beginnen im Februar Gespräche am Runden Tisch.

In der DDR finden im Mai Kommunalwahlen statt, wie immer nach der Einheitsliste der Nationalen Front. Schon bei der Vorstellung der Kandidaten vor den Wahlen gibt es Unmutsäußerungen, da man bei den letzten Wahlen zum Volksdeputiertenkongress in der Sowjetunion bereits zwischen verschiedenen Kandidaten wählen konnte. Kirchliche und oppositionelle Gruppen machen von ihrem Recht Gebrauch, die Auszählung der Stimmen zu beobachten. Dabei stellen sie in einzelnen Wahlkreisen Fälschungen fest. Das Vertrauen in die Regierung schwindet weiter, die Zahl der Ausreiseanträge steigt. Erich Honecker erkrankt an Krebs. In der DDR-Führung ist ein solcher Fall nicht vorgesehen, sie verfällt in den Sommer der Agonie.

Volkslektüre – eine Presseschau

»Welch ein Tag für Deutschland«, jubelt Bild am 2. Oktober auf dem Titel, mit Fotos von ausgereisten Besetzern der Prager Botschaft. »Menschen durften raus aus dem Schlamm, der Angst und einem geistigen Gefängnis, in dem sie zu ersticken drohten.« Zitiert wird ein Kfz-Elektriker aus dem Bezirk Halle: »Ich glaube, ich bin im Himmel. Endlich frei für immer.« Ein Ingenieur aus einer Brikettfabrik sagt es weniger pathetisch: »Wir haben eigentlich nicht schlecht gelebt. Es waren die vielen kleinen Dinge. Da willst du deinem Kind mal eine Banane oder Apfelsine mit in die Schule geben, aber die gibt es nur zweimal im Jahr. Richtige Butter gibt es im Delikat-Laden, aber da kostet sie sechs Mark.« Es sei ein Krisenmanagement zwischen New York und Oggersheim gewesen, die Ausreiseaktion sei in allen Einzelheiten von Kohl mitgesteuert worden. Bild macht selten ein Geheimnis daraus, wer ins rechte Licht gerückt und wer links liegen gelassen wird.

Frei für immer – wer wollte das nicht? Wie umkämpft der Weg dahin von Anfang an war, wie verschieden die Interessen und wie heillos verstrickt darin die Medien, dazu zunächst eine weitere Einstimmung.

Ab dem 4. Oktober, also lange vor dem Mauerfall, bietet Bild zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeit täglich in einer ganzseitigen Anzeige »Arbeitsplätze für Flüchtlinge« an. Gesucht werden Raumpflegerinnen, Tischler, Schumacher, Omnibusführer, Krankenschwestern, Bäcker, Köchinnen, Autolackierer, Fliesenleger, landwirtschaftliche Helfer (der einstige Begriff Knecht wird vermieden). Die künftige Arbeitsteilung zeichnet sich ab, es ist keine einzige hochqualifizierte Arbeit dabei. Die vielen Ärzte, die die DDR verlassen, sind auf solche Anzeigen nicht angewiesen.

Am 7. Oktober, dem vierzigsten Jahrestag der DDR, fragt Bild: »Stammen wir alle von einem behinderten Affen ab?« Neue Erkenntnisse französischer Forscher legen dies nahe. Aber die Lektüre dieser Zeitung genügt schon als Beleg. Sie berichtet genüsslich, womit der Westen Übersiedler aus der DDR herüberlockt. Während überall auf der Welt Geflüchtete ein schweres Los haben, werden die aus der DDR kommenden gegenüber den Einheimischen privilegiert – das schaffen wir, wird der Eindruck vermittelt. Verteidigungsminister Stoltenberg verspricht, dass geflüchtete junge Männer zwei Jahre lang nicht zum Bund müssen, der Verband der Haus- und Grundeigentümer bietet Hilfe bei der Wohnungssuche an, und selbst die Amerikaner richten Spendenkonten ein und bieten Arbeitsplätze. Für Leute, deren Weggang die DDR natürlich destabilisiert.

Einen Tag später annonciert Bild Lebensversicherungen für alle Fünfzig- bis Siebzigjährigen. Bis zu 40.000 D-Mark Auszahlung nach nur dreijähriger Aufbauzeit. Die Ostdeutschen sind gänzlich unerfahren mit solchen Angeboten und viele schwer beeindruckt. Auch von der Behauptung, auf der Leipziger Montagsdemo am 10. Oktober hätten 70.000 Menschen (also alle Anwesenden) skandiert: »Wir sind ein Volk.« Wer dabei war, weiß, das stimmt nicht. Zu der Zeit hatte das emanzipierte »Wir sind das Volk« unter den Demonstranten noch die absolute Mehrheit. Immerhin räumt Bild ein: »Einige stimmten auch den Ruf ›Modrow-Modrow‹ an.«

Bösewicht

Angriffe mit variierend hohem Anteil an Denunziation treffen nun die verschiedensten Männer und Frauen aus der DDR, Politiker, Schriftsteller, Sportler, Ärzte, Wissenschaftler, selbst Tierpark-Direktoren. Die Fälle und Charaktere sind selbstredend höchst verschieden, aber niemand kommt ungeschoren davon.

»Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition«, hat Honeckers Nachfolger Egon Krenz in seiner ersten Rede gesagt. Hat er noch nicht verstanden, dass das nicht mehr einer und nicht mehr eine Partei entscheidet? Für Springers Bild Grund genug, mit maßlosen Denunziationen den Volkszorn gegen ihn zu schüren. Am 20. Oktober, lange vor der Großdemo am 4. November, stellt das Blatt den »flotten Egon« vor. Krenz würde Links reden und Rechts leben. Er habe eine

»zweistöckige Zwölf-Zimmer-Villa, an den Wänden alte Meister, in der Videothek junge Pornos, elektronische Cocktailbar [?], afrikanisch-kubanische [was nun?] Edelholztäfelung, Fußböden aus teuerstem italienischem Carrara-Marmor. Und in der Remise steht ein Jaguar … für die Jagd auf neue Blusen.«

Bild will von Alkohol-Exzessen von »Don Promillo« und von sechs [!] Zwangs-Trockenlegungen wissen. Als folglich der Zucker-Spiegel bedrohlich angestiegen sei, habe sich Krenz »für eineinhalb Millionen Westmark von drei eingejetteten US-Spezialisten eine Insulin-Pumpe einbauen« lassen. Wer je den Missbrauch von Boulevard-Phantasien für politische Absichten beschreiben wollte, vergesse diese Passage nicht.

Erst dreizehn Jahre später hat der Autor dieses Artikels, Reginald Rudorf, in dem von ihm herausgegebenen Buch: Krenzfälle – die Grenzen der Justiz, öffentlich für diese Berichterstattung Abbitte geleistet. Kaum sei klar gewesen, dass Krenz Honecker folgen werde, seien die Journalisten

»mit Informationen der dritten Art über Krenz gefüttert [worden]. Man verlegte sich in den deutschen Medien – natürlich unverabredet aber instinktiv übereinstimmend – darauf, Krenz als Unsympathikus zu verzeichnen, als Mann eben, der nicht in Frage kommt.«

Rudorf hatte das von ihm beschriebene Haus nie gesehen, Krenz nicht gesprochen, von seiner angeblich angeschlagenen Gesundheit keine Ahnung. »Als Honecker ging und Krenz kam, faxte mir das Springer-Archiv hunderte Seiten Krenz-Materialien aus allen möglichen Nachrichten-Archiven zu, die zum größten Teil nicht stimmten.« Diese Fehlinformationen seien offenbar aus einer »Desinformationsquelle« gekommen, womöglich von der Stasi selbst, um den ungeliebten Honecker-Stürzer zu desavouieren. »Woher auch dieser Schwindel kam, er kam an«, so Rudorf.

Abenteuerliche Annahme, die Stasi habe nach Honeckers plötzlicher Ablösung, trotz nun also anderer, dringlicherer Sorgen, die Kapazitäten gehabt, innerhalb weniger Tage das Springer-Archiv mit Hunderten Fake-Seiten zu fluten. Auch hätte sie wohl kaum derart primitiv das Klischee von westlichem Luxus bedient, wusste sie doch wohl, dass Jugendfreund Egon mit einem Jaguar auf der Karl-Marx-Allee nicht weit gekommen wäre.

Aus denselben trüben Desinformationsquellen nährte sich nicht nur der Boulevard. Der Spiegel gibt in seiner Neujahrsausgabe 1990 vor zu wissen, Honecker sei »Eigner von vierzehn Luxuskarossen« gewesen. In Wahrheit besaß der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende privat nicht ein Auto. Das hätte auch keinen Sinn ergeben, waren doch die sich selbst ghettoisierenden Spitzenfunktionäre aus Sicherheitsgründen nur in Dienstwagen mit Fahrer unterwegs. Ob Honecker in seinem Jagdrevier auch mal mit Margots Wartburg durch den Wald preschen durfte, ist nicht überliefert.

(Später wird nach flächendeckenden Ermittlungen »die Reservierung von Jagdgebieten für hochrangige Politiker« der Hauptanklagepunkt in den eher milden 22 Urteilen zum Thema »Amtsmissbrauch/Korruption« sein. Das Wiederbeleben dieser feudalen Tradition war unter Honecker das Privileg, das sich die führenden Kleinbürger leisteten. Als ich im Jahr 2000 den damaligen Generalstaatsanwalt Schaefgen fragte, weshalb es nach 100.000 Ermittlungsverfahren gegen alle, die irgendeine Art Verantwortung in der DDR trugen und von denen nur sechs Prozent zu Anklagen führten, kein einziges Urteil wegen Regierungskriminalität gefällt wurde, erhielt ich die Antwort: »Letzten Endes ist in der DDR kaum pure Regierungskriminalität festgestellt worden.«)

Die einst eingezäunte »Bonzensiedlung« in Wandlitz war ursprünglich von den heimgekehrten Emigranten, KZ- und Zuchthausbefreiten wohl weniger aus Motiven des versteckten Luxus als der versteckten Angst vor dem Klassenfeind und den eigenen Staatsgegnern mitten in den Wald gesetzt worden. Ihr architektonisch wenig ambitionierter Nachkriegscharme kann heute besichtigt werden. In der Cafeteria der jetzt benachbarten Reha-Klinik sagte eine Westberlinerin enttäuscht: »Doll war das nicht – eher sozialer Wohnungsbau.« Dennoch ist allein die Existenz dieser Funktionärssiedlung, die im Laufe der Jahre zunehmend mit Westwaren beliefert wurde, die andere bestenfalls im Intershop bekamen, ein berechtigtes Ärgernis in diesem Herbst des Verlangens.

Eine Palette von Denkmöglichkeiten

Aber noch ist alles offen. Der SPD-Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel betont, es gäbe neben der Wiedervereinigung oder dem Weiterbestehen zweier deutscher Staaten »eine ganze Palette der Denkmöglichkeiten«. Die von dem revolutionären Aufbruch erfassten Bürger gehen weit über das Denken hinaus. Das Neue Deutschland berichtet: Zahllose Resolutionen, zuerst die der Mitglieder des Schriftstellerverbandes, fordern offenen Meinungsstreit und diverse Untersuchungskommissionen. Auf der von den Schauspielern des Deutschen Theaters organisierten Großdemo am 4. November werden mit viel Witz Meinungs-, Reise- und Wahlfreiheit gefordert. Die Sympathien mit der sowjetischen Perestroika werden endlich offen benannt, der georgische Film »Die Reue«, der mit dem Stalinismus abrechnet, kommt in die Kinos. Im Archiv findet sich nun nach über zwanzig Jahren auch Frank Beyers »Spur der Steine« mit Manfred Krug. Der einst als »Staatsfeind« geltende Walter Janka liest aus seinem Buch Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee wird geprobt, ebenso Plenzdorfs kein runter kein fern. Das Fernsehen zeigt den ebenfalls lange auf Eis gelegten Beyer-Film »Geschlossene Gesellschaft« mit Jutta Hoffmann und Armin Müller-Stahl.

Die Gründung eines neuen Studentenbundes wird vorbereitet wie auch der Entwurf eines neues Jugendgesetzes, eines Mediengesetzes und eines Polizeigesetzes. Das Präsidium der Akademie der Wissenschaften will nicht nur über die Grundwerte des Sozialismus nachdenken, sondern sich an Wirtschaftsreformen beteiligen. An einer Planung, die frei von Gängelei flexibel und eigenverantwortlich ist, an Preisen, die dem realen Aufwand und Verbrauch natürlicher Ressourcen entsprechen. Das alles ist so neu und aufregend, dass von der Stimmung des Aufbruchs, die manche auch als Euphorie empfinden, weit mehr als die eigentlichen Initiatoren ergriffen werden. Daran muss erinnert werden, wenn nachvollziehbar sein soll, wie tief der Propaganda-Hebel ansetzen muss, um eine Gemütslage zu kippen.

Am 23. Oktober weiß Bild dagegen wieder, wie die Stimmung zu stimmen hat, und titelt: »Deutsche Depressive Republik«. Eine US-Psychologin hat typische Arbeiterkneipen aus Ost- und Westberlin beobachtet (was Arbeitern bekanntlich gar nicht auffällt, wenn sie in ihrer vertrauten Umgebung von einer fremden Dame mit Notizblock-Augen beforscht werden). »Ost-Zecher waren erheblich trübsinniger, tranken in gedämpfter Verfassung. Bei nur 23 Prozent (im Westen 69 Prozent) verriet ein kleines Lächeln eine positive Stimmung.« Im Westen würde doppelt so oft gelacht und verrate eine »aufrechte Körperhaltung« zwölf Mal öfter eine »aufrechte Seelenlage«.

Dagegen verrät die Seelenlage einiger West-Politiker, dass bei ihnen über die Demokratisierungsversuche im östlichen Sozialismus wenig Freude aufkommt. Für die Zielrichtung scheinbar selbstloser Hilfen wird sich erst später der ehrlichere Begriff »Regime change« durchsetzen. Am 1. November 1989 lässt die Berliner Zeitung ihre Leser wissen, dass die USA für Polen 400 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe vorgesehen haben. Eine Delegation soll »Zielgebiete« für Reformen markieren und die »produktive Nutzung« der Hilfe garantieren. Damals klang das alles so nett. Wie auch die wirklich erfreuliche Meldung vom selben Tag, wonach die USA und die UdSSR ein Verbot von Chemiewaffen vorbereiten.

Erfreulich im Sinne der Bürgerrechtler auch die Debatte des EU-Parlaments in Straßburg, von der die FAZ am 26. Oktober berichtet. Denn dort geht es um die Einigung, die sie eigentlich meinen: Die Mehrheit der Parlamentarier befürwortet eine einheitliche europäische Währung mit einer gemeinsamen Zentralbank. Bis 1993 müsse ein Drei-Stufen-Modell beschlossen werden.

Am 2. November wird der tödliche Anschlag auf den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, gemeldet. Gleichzeitig beruhigt DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, dass die Spareinlagen der Bevölkerung sicher sind. Die DDR habe eine Auslandsschuld von neunzehn Milliarden Dollar, was ziemlich genau die Summe war, die die nun herrhausenlose Deutsche Bank später bestätigte. Dagegen hatte der mit pädagogischen Absichten Richtung SED-Führung fatal überzogene Bericht vom Chef der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, für viel Verwirrung gesorgt. Um die Bereitschaft zu Perestroika in der Wirtschaft zu beschleunigen, wurden in dem Bericht alle Valuta-Schulden aufgelistet, ohne die Guthaben gegenzurechnen. Deshalb fiel er doppelt so dramatisch aus, wie es der Realität entsprach. Mit diesen Schreckenszahlen fuhr der ahnungslose Krenz zum ahnungslosen Gorbatschow und beide waren erschrocken. Dann gelangte der Geheime-Verschlusssache-Bericht auch noch an die Öffentlichkeit und erschreckte dort auch. Bumerang von Fehlinformation Ost.

Im Neuen Deutschland träumt ein aufgekratzter Volker Braun: »Die Erfahrung der Freiheit erleben wir in unserer angstlosen Entschlossenheit.« Dies sei die größte demokratische Bewegung in Deutschland seit 1918 – »und die Bewegung geht wieder von unten nach oben«. Die Massen würden sich aus dem zentralistischen Sozialismus verabschieden. Unter der geplatzten, administrativen Larve der Gesellschaft rege sich ein ungelenkes, verwirrtes Wesen. Die Macht der Mehrheit! Ein kopfloses Ding, mit dem man nicht umgehen könne. (In der an die Repräsentanten abgegebenen Demokratie kann man das sehr wohl, diese Lektion wird unter manch anderer zu lernen sein.) »Ja, wir sind das Volk … Zeigen wir etwas von der Weisheit des Volkes?« Die losgelassenen Zeitungen seien schon dabei, »sich ihre glücklichen Namen zu verdienen«. »VOLKSEIGENTUM PLUS DEMOKRATIE; das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt. Das wird man meinen, wenn man sagt: Made in GDR. DIE VERFÜGUNGSGEWALT DER PRODUZENTEN.«

Daneben: Nun endlich ein Artikel über Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden. Ohne freie ungehemmte Presse sei die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar, wird sie zitiert. Ungehemmte Presse? Darf man noch fragen, wem sie gehört? Herrschaft der Massen? Ist das die Revolution? Oder etwa ein Dauerzustand? »Kombinate sollen sozialistische Industriekonzerne werden«, berichtet am selben Tag die FAZ von der zehnten Tagung des ZK der SED. Generaldirektoren haben mehr Eigenverantwortung verlangt und »gingen sogar so weit«, darüber nachdenken zu wollen, wie sich Werktätige am Anlagevermögen der Betriebe beteiligen können. Sind Geist und Macht kurzzeitig auf derselben Spur? Wie lange wird das geduldet?

Die Initiatoren der Großdemo vom 4. November, die Vertrauensleute des Deutschen Theaters, wenden sich zwei Wochen später in einem offenen Brief verärgert an Kohl: »Wir wollen Sie nicht unter den Trittbrettfahrern unserer Reformbewegung sehen […]. Was sollen das außerdem für freie Wahlen sein, die mit dem Geld der Bundesrepublik erkauft werden?« Das war eine mehr als hellsichtige Frage, wie zu zeigen sein wird. Am folgenden Tag besteht die Mitbegründerin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, in einem Interview in der Berliner Zeitung darauf, dass es jetzt um Selbstbestimmung gehe. Was uns vierzig Jahre verwehrt wurde und nun dabei sei, erfüllt zu werden, wolle man sich nun nicht von der BRD nehmen lassen.

Oberbösewicht

Wie nimmt man am besten? Da hat die Marktwirtschaft einen großen Erfahrungsvorsprung. Der Preis ist eine Variable des Images. Mit Öffnung der Mauer am 9. November war nun auch der Westpresse für alle das Tor geöffnet. Die Zeitungen wurden bald zum selben Preis in Ostmark angeboten oder auch verteilt.

Um das Image des neuen SED-Chefs hatten sie sich schon gekümmert. Nach dem Rücktritt der altgedienten DDR-Regierung hatte Egon Krenz im kleinen Kreis verlauten lassen, dass er sich als neuen Ministerpräsidenten Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski vorstellen könne, weil der sich bestens in der DDR-Wirtschaft auskenne. Wenig später, am 20. November, bringt der Spiegel zufällig einen langen »Enthüllungsreport« über den »1,90 Meter großen Zweizentner-Mann«, der im Hintergrund gewirkt habe und daher fast unbekannt sei, obwohl er zu den »mächtigsten Männern der DDR« gehörte. Der Bericht der Redakteure Georg Böhnisch und Ulrich Schwarz sei vom Bundesamt für Verfassungsschutz lanciert worden, schreiben später die Historiker Jürgen Danyel und Elke Kimmel in ihrem Buch über die »Waldsiedlung Wandlitz«. Nicht näher benannte »ostdeutsche Insider« wissen in dem Spiegel-Report, dass es im westlichen Management kaum Leute gibt, die »so eiskalt, berechnend, glashart sind« wie »der Schalck«. Der Deviseneintreiber hatte einst den Strauß-Kredit eingefädelt, spätestens seither hätten sich auch westliche Geheimdienste für ihn interessiert. Man habe dort gewusst, dass er »ein Netz illegaler SED-Tarnfirmen« aufgebaut hat, aus deren Gewinn die DKP und Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt finanziert werden.

Aber auch der erwünschte Luxus »der SED-Creme«. Ein nicht näher genannter Münchner Kaufmann will eigenhändig »mindestens fünfzig DDR-Bossen die komplette Einrichtung für ihre Datschen eingefahren« haben, das Teuerste sei gerade gut genug gewesen. Schalcks Leute im Westen hätten Schmiergelder kassiert, was westliche Konsumgüter wie italienische Schuhe für DDR-Käufer verteuert. Nebenbei geht es um beteiligte, schillernde Schwarzhändler wie Herschel Liebermann und Simon Goldenberg. Besagter Insider findet den Vergleich mit »Schutzgebühren der Mafia« nicht zu weit hergeholt. Andeutungsweise war das Imperium auch in Todesfälle verwickelt. »Unfein« und »kriminell« sind all die Machenschaften Schalck-Golodkowskis allemal.

Was den Volkszorn sicher am meisten geschürt hat, sind die anschaulich konkreten Behauptungen: Honeckers Sekretärin habe zu dessen 65. Geburtstag von den finanzkräftigen Westgeschäftspartnern 65 Kästen (!) Portwein des Jahrgangs 1912 erbeten. Und zum fünfzigsten Geburtstag von Margot Honecker habe ein Stasi-Mann bei einem Schalck-Partner Collier, Armband, Brosche und Ohrringe für 9405,40 D-Mark bestellt. Präsentiert wird eine namenlose Schmuckrechnung neben einem schmucklosen Foto von der Gattin. Verstöße gegen seriöse journalistische Beweisführungen allenthalben. Doch es geht um Wirkung und Verkaufszahlen.

Die Autoren hatten offenbar das Gefühl, dass die tatsächlich vorgefundenen Privilegien zum Empörungsmanagement nicht genügen. Kein Zweifel, dass dieser Artikel, sekundiert von der Bild-Zeitung, Schalcks Abgang beschleunigt hat. Aber es ging letztlich nicht um die Bloßstellung einzelner Führungsfiguren, sondern um das Vorführen einer ganzen, verkommenen Kaste. Von hier, von der ganzen PDS, ja von diesem ganzen duldsamen Osten, so die eigentliche Botschaft, ist keinerlei brauchbare Praxis oder gar weiterführende Idee zu erwarten.

Im Spiegel Nr. 50/1989 informiert eine Hausmitteilung darüber, dass dieser Bericht über Schalck in der DDR