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Daniela Dahn

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Beschreibung

In sieben Büchern hat Daniela Dahn sich mit der Einheit und den Folgen befasst, ein achtes war nicht geplant. Nun hat sie es dennoch geschrieben, denn die Zeiten sind danach: Nach dreißig Jahren Vereinigung ist die innere Spaltung zwischen Ost und West so tief wie eh und je; und es haben sich sogar neue Klüfte aufgetan, die unser Gemeinwesen erschüttern. Sie haben damit zu tun, dass die vermeintlichen Sieger der Geschichte das Erbe der beitrittsgeprüften "Brüder und Schwestern" komplett ausgeschlagen haben. Was hat die "friedliche Revolution" den Menschen in Ost und West also gebracht? Viele Annehmlichkeiten, sicher, so Daniela Dahn, aber revolutioniert wurde nichts.Die Geschichte des Anschlusses der DDR ist eine Geschichte von Demütigungen, einer tätigen Verachtung ihrer Kultur, Literatur, Wirtschaft und sozialen Infrastruktur, die immer weiter fortwirkt. Dagegen steht eine geschichtsvergessene Ignoranz, die das Denken in Alternativen entsorgt hat. Erstmals beschäftigt sich die Autorin auch mit der Frage, wie das Ende des sozialistischen Systems die Welt verändert hat. Die "siegreiche" Demokratie hat überall an Vertrauen verloren, weil sie von den Eliten, die sie tragen sollen, permanent entwertet wird. Und vor den großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre stand die konsequente Weigerung, auch nur ein wenig von dem zurückzugeben, was der "Raubmensch-Kapitalismus" sich zur Beute gemacht hat. Für das vereinigte Deutschland zeigt Daniela Dahn: Bevor der Rechtsextremismus die Mitte der Gesellschaft erreicht hat, kam er aus der Mitte des Staates. Aus Teilen des Sicherheitsapparates, der Bundeswehr, der Verwaltung. Eine gemeinsame Erinnerungskultur, die sich beschönigender oder dämonisierender Legenden verweigert, gibt es in Deutschland noch nicht. Was müsste sie berücksichtigen? Daniela Dahn gibt hier, streitbar und kompromisslos wie immer, mehr als nur Anregungen dazu.

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Daniela Dahn

Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute

Die Einheit – eine Abrechnung

Über dieses Buch

In sieben Büchern hat Daniela Dahn sich mit der Einheit und den Folgen befasst, ein achtes war nicht geplant. Nun hat sie es dennoch geschrieben, denn die Zeiten sind danach: Nach dreißig Jahren Vereinigung ist die innere Spaltung zwischen Ost und West so tief wie eh und je; und es haben sich sogar neue Klüfte aufgetan, die unser Gemeinwesen erschüttern. Sie haben damit zu tun, dass die vermeintlichen Sieger der Geschichte das Erbe der beitrittsgeprüften «Brüder und Schwestern» komplett ausgeschlagen haben.

Was hat die «friedliche Revolution» den Menschen in Ost und West also gebracht? Viele Annehmlichkeiten, sicher, so Daniela Dahn, aber revolutioniert wurde nichts. Die Geschichte des Anschlusses der DDR ist eine Geschichte von Demütigungen, einer tätigen Verachtung ihrer Kultur, Literatur, Wirtschaft und sozialen Infrastruktur, die immer weiter fortwirkt. Dagegen steht eine geschichtsvergessene Ignoranz, die das Denken in Alternativen entsorgt hat. Erstmals beschäftigt sich die Autorin auch mit der Frage, wie das Ende des sozialistischen Systems die Welt verändert hat. Die «siegreiche» Demokratie hat überall an Vertrauen verloren, weil sie von den Eliten, die sie tragen sollen, permanent entwertet wird. Und vor den großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre stand die konsequente Weigerung, auch nur ein wenig von dem zurückzugeben, was der «Raubmensch-Kapitalismus» sich zur Beute gemacht hat. Für das vereinigte Deutschland zeigt Daniela Dahn: Bevor der Rechtsextremismus die Mitte der Gesellschaft erreicht hat, kam er aus der Mitte des Staates. Aus Teilen des Sicherheitsapparates, der Bundeswehr, der Verwaltung.

Eine gemeinsame Erinnerungskultur, die sich beschönigender oder dämonisierender Legenden verweigert, gibt es in Deutschland noch nicht. Was müsste sie berücksichtigen? Daniela Dahn gibt hier, streitbar und kompromisslos wie immer, mehr als nur Anregungen dazu.

 

«Eine radikale Selbstdenkerin.» Der Tagesspiegel

 

«Das Buch ‹Wir sind der Staat› ist einfach nur sensationell – jedem ans Herz zu legen.» Max Uthoff

 

«Daniela Dahn ist eine Kritikerin der Verhältnisse par excellence, sie ist folglich unbequem. Scharfsinnig im Urteil und unabhängig in der Analyse, gehört sie zu den mutigen Publizisten dieser Zeit.» Jorge Semprún

Vita

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt sind bislang elf Essay- und Sachbücher erschienen, zuletzt «Wir sind der Staat!».

Inhaltsübersicht

Teil I Geht ein Kamel durchs NadelöhrWie der Mauerfall Himmel und Hölle öffneteWas will dieses Buch?Erfülltes und UnerfülltesBesser scheitern: VereinigungslegendenUnheilbares DeutschlandWahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem SozialismusEine größere Misswirtschaft als die der Treuhand hat es nie gegebenWas am meisten fehlte: BalanceKein Anschluss unter dieser NummerNarben gehören zum Leben – Ein Streitgespräch mit Wolfgang SchäubleDramatische Unterschiede zwischen Ost und WestAufbruch nach KohlrabienDer nie aufgearbeitete Jahrhundertbruch der ArbeiterparteienRevolution der Duckmäuser?Schlechte Gutachten, gute SchlächterOrgien persönlicher HerabwürdigungKein Marxist über diese SchwelleBürde statt Würde«Alles schwachsinnig, nicht mal intelligent»Gendern – Wir OstfrauenTeil II Keine gemeinsame ErinnerungskulturStasi forever?Der Waschzwang des StaatesGedenkstätten mit doppelter GegenwartEin Wegbereiter des Holocaust als Chef des KanzleramtesRechtslastige Signale aus allen staatlichen InstitutionenSkins mit Schlips und ScheitelHistorisches Gedächtnis im Osten bereinigtKapitulation oder Befreiung?Zwei Männer in Betrachtung des ZwingersAufregung in ChemnitzMonarchie in SachsenMythos DDR-AntifaschismusPro und contra VerordnungHolocaust in der DDR angeblich verschwiegen – Filme und BücherDer Schatten des Zeugen SchattmannAntisemitismus in der DDR? – Grundweg falsches BildIsrael und die zwei «Täterstaaten»Geächteter AntifaschismusVerordneter KapitalismusTeil III Neue schöne WeltMilitarisierung des Denkens11.9. – der Tag, der die Welt veränderteForschungsverbot für HistorikerCIA-Kampfbegriff: VerschwörungstheoretikerBin Ladens Kopf und der RechtsstaatDie Einheit im Jemen und bei uns – Ähnlichkeiten und UnterschiedeSchlimmste Leidenszone der WeltMedien als WaffeMein erster Angriffskrieg – JugoslawienDie Gegenseite zum Schweigen bringenGab es keinen Widerspruch?Das Fest des ewigen LebensBeteiligung an Staatsverbrechen?Humanitäre Intervention als kulturelle BarbareiDemokratie heißt auch selber schuld seinDie Autorität von Wahlen schmilzt wie PolkappenToskana-Fraktion versus Balaton-KlubVon metus punicus zu metus putinusDeutsche Einheit: Modell für EuropaEuropas Einigung: Modell für NeokolonialismusGeflüchtete: Willkommen und AbschiebungOffene Wunde der kapitalistischen GesellschaftLinke Illusion: AllmendeKapitalismus mit Ewigkeitsgarantie: Eine Warnung

Teil IGeht ein Kamel durchs Nadelöhr

Mit der Mauer war jegliche Zurückhaltung der Sieger gefallen. Seither werden Kamele ständig gezwungen, durch Nadelöhre zu gehen. Damit sie den Reichen ermöglichen, schon auf Erden ins Himmelreich zu kommen. Das ist offenbar gedeckt durch die christliche Leitkultur. Die Nächstenliebe.

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Im Neuen Testament ist dies so oder ähnlich eines der am häufigsten zitierten Gleichnisse Jesu. Es geistert durch die Evangelien – Markus, Lukas, Matthäus und das der Nazaräer –, es ist biblischer Fakt. Theologen haben sich jahrhundertelang verrenkt, dem verqueren Bild eine tiefe Bedeutung abzugewinnen, und sind zu den abenteuerlichsten Interpretationen gekommen.

Dieses Gleichnis hat ermutigt und eingeschüchtert, selbst Kinder. Als kleines Mädchen im Religionsunterricht erfasste meine Mutter blankes Entsetzen. Als Tochter zeitweilig halbwegs wohlhabender Kaufleute malte sie sich ihr Schicksal als Himmelverstoßene aus. Ihre Vorstellungskraft verschwendete sie allerdings nicht darauf, wie man vermeintlichen Reichtum teilen, sondern wie das Kamel doch noch durch das Nadelöhr passen könnte. Kindliche Phantasie ist bildhaft direkt: Selbst wenn man die allergrößte Pelznadel nähme, würden wohl beim Durchzwängen als Erstes die langen Ohren dran glauben müssen. Wenn das Kamel die breite Schnauze noch spitzen könnte, spätestens am Hals würde es erwürgt.

Doch das Gruselgleichnis hat womöglich mit Jesus gar nichts zu tun. Dieser sprach aramäisch, die Ursprache des Neuen Testaments ist Griechisch. Erst in den letzten Jahren hat sich die Forschung auf Übersetzungsfehler konzentriert, die wohl zahllos sind. Kamel heißt gamla. Aber gamta heißt Schiffstau oder Seil. Das hat der Übersetzer offenbar verwechselt. Eher geht ein Schiffstau durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. So erst wird das Bild stimmig, gewinnt Jesus seine Sensibilität für Sprache zurück. Und all die schlauen Ausleger des falschen Bildes sind blamiert.

Jesus’ angebliche Vorliebe für das Kamelgleichnis ein Fake? Ein Fakt ist so lange ein Fakt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Denn ob nun Schiffstau oder Kamel, Fakt ist, dass das Evangelium verkünden wollte, dass ein Reicher sich an den Armen versündigt und daher keinen Anspruch auf Vergebung hat. Bald nach der Wende hatte sich die Zahl der Sünder in der Bundesrepublik verdoppelt.

Und nicht nur da. Deshalb ist die Geschichte der deutschen Einheit nicht nur eine deutsche Geschichte und sollte auch nicht nur so erzählt werden. Die Mauer ist natürlich nicht einfach gefallen, plötzlich und unerwartet wie ein Soldat im Krieg. Seit dem Tag des Mauerbaus haben verschiedenste Kräfte an ihrem Fall gearbeitet. Es gab brenzlige, gefährliche Versuche – dass sich schließlich die Keine-Gewalt-Fraktion durchgesetzt hat, war auch Zeichen gewachsener politischer Reife der Beteiligten. Wir haben schon vergessen, welches Glück letztlich alle hatten. Insofern wird der Begriff des Fallens der Komplexität des Vorgangs natürlich nicht gerecht, aber er hat sich durchgesetzt. Wie so manch andere unangemessene Deutung auch.

Fakt ist, dass der sogenannte Mauerfall eine tektonische Erschütterung des ganzen Globusses war. Weil damit nicht nur die Teilung eines Landes aufgehoben wurde, sondern die der Welt in zwei sich mehr oder weniger feindlich gegenüberstehende Systeme. Die Mauer trennte längst nicht nur Deutschland. Hier verlief sie nur oberirdisch, sichtbar, in ihrer ganzen Hässlichkeit und Hilflosigkeit. Unterirdisch durchquerte sie die Kontinente, die Köpfe und Herzen. Aber die deutsche war auch nicht die einzige, die zeitweilig oder bis heute quer durch ein Land gegraben war, eine Sprache und Kultur zerriss und mit Munition gleicher geschichtlicher Herkunft bestückte Kanonen gegenseitig in Stellung brachte.

Die erste Mauer nach dem Epochenumbruch von 1945 fiel 30 Jahre später am 17. Breitengrad, nach einem US-Angriffskrieg, der die ganze Welt empörte. Als Sieger ging die Sozialistische Demokratische Republik Vietnam hervor. Die Vereinigung des sozialistischen Süd-Jemen mit dem kapitalistischen Nord-Jemen fand einige Monate vor unserer statt. Mit ähnlichen Fehlern, aber voller Gewalt. Ich komme darauf im dritten Teil zurück. Und die Mauer an Abschnitten der Militärischen Demarkationslinie zwischen Nord- und Süd-Korea besteht noch – mit atomarer Sprengkraft.

Da können wir Deutschen doch sehr zufrieden sein. «Keine Gewalt», stand auf allen Armbinden der Ordner der Großdemo vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Und das hat die «friedliche Revolution» durchgehalten. Sie war derart friedlich, dass sie im Westen alles beim Alten gelassen hat. Sie hat nur im Osten alle Tore weit aufgerissen, das Brandenburger Tor und das Betriebstor und das Scheunentor auch. Für den Investor aus dem Westen. Und den Liquidator. Den Experimentator und den Triumphator. Den Gladiator und den Plagiator, den Multiplikator und den Kalkulator, den Reformator und den Deklamator, den Senator und den Usurpator, den Imperator und den Kolonisator, den Polarisator und den Agitator. Weit, weit auf. Für viele Kamele.

Wie der Mauerfall Himmel und Hölle öffnete

Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten. Kaufen und sich kaufen lassen. Dieser Mechanismus funktioniert zuverlässig und gibt keinen Anlass zur Klage. Wer Geld in die Hand bekommt, kann sich nach freier Wahl Wünsche erfüllen, je mehr Geld, je schöner die Erfüllung. Dieses Versprechen ist eingehalten worden. Es hat den meisten Ostdeutschen bis dahin unerreichbaren, wenn auch oft überschaubaren Wohlstand und Bewegungsraum ermöglicht.

Man lässt sie allerdings spüren, dass es ein subventionierter Wohlstand ist, kein selbsterarbeiteter. Wie auch, wenn 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens in westliche Hände übergingen. Damit war über den Grad der Abhängigkeit der Neubundesbürger entschieden. Denn nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit – das aus dem antiken Rom stammende Fundament westlicher Funktionslogik erwies sich als immer noch stabil. Auf diese Steine konnten sie nicht bauen.

Die Einheit hatte lange gefälligst als Erfolgsgeschichte zu gelten. Nicht nur in den Großmedien, wohl auch bei der Mehrheit der Menschen in Ost und West und Nord und Süd. Doch die angeblich «nachholende Modernisierung» galt der Kopie eines Systems, das damals längst veraltet war. Und heute von allen Seiten erodiert. Diejenigen, die sich in der historischen Situation nach Öffnung der Mauer einen fortschrittlichen Schub für das ganze Land erhofften, hatten von Anfang an eine kritischere Sicht. Denn es war abzusehen, wohin das Veruneinheitlichen führen würde: Ein Prozent hyperreiche Haushalte verfügen über ein Drittel des volkswirtschaftlichen Gesamtvermögens. Die Quittung für soziale Kälte und politisches Versagen ist die AfD.

Heute lebt das Prekariat landesweit, von der Bildung der öffentlichen Meinung ist es ausgeschlossen. Auch deshalb konnte die Einheit lange als Erfolgsgeschichte verkauft werden. Inzwischen ist das Bild gekippt. Solange der Protest von links kam, konnte man ihn «gar nicht ignorieren», wie die Devise war, also vernachlässigen. Was jetzt von rechts kommt, ist nicht nur Protest. Es ist der Versuch, die Macht zu übernehmen. Die Geschichte umzudeuten. Vor Ort Pflöcke zu setzen. Kulturelle Vielfalt zu begrenzen. Das gelingt in den leergefegten Landstrichen schon beunruhigend. Die Beweglicheren, die Kreativeren sind gegangen. Die Bevölkerungszahl in Ostdeutschland entspricht heute der von 1905. Vorindustriell. Das ist ein Menetekel.

Das Leben ist eher postindustriell. Nachdem die riesigen Kombinate zerschlagen waren, blieben nur verlängerte Werkbänke, Mittel- und Kleinbetriebe, die mittlere und kleine Löhne zahlen. Ein Vollbeschäftigter verdient im Schnitt monatlich immer noch 1000 Euro weniger als im Westen, und das Vermögen ostdeutscher Eltern ist halb so groß wie das der Westeltern. Auch das ist nicht nur DDR-Erbe, sondern auch Erbe der Vereinigungs-Enteigner. Diese hatten wohl gehofft, durch die subventionierte Kaufkraft würden sich die Ostdeutschen mit der Deklassierung abfinden. Doch die Probleme von heute sind die Rache für die falschen Weichenstellungen des Anschlusses. Immerhin – die Luft konnte sich erholen. Um anderswo schlechter zu werden. Gerade erst alarmierte die UNO, dass pro Jahr sieben Millionen Tote durch verdreckte Luft zu beklagen seien. Himmel und Hölle.

Hierzulande ist es zweifellos zu begrüßen, wie die Mauerneurosen auf beiden Seiten einer Art staatlichen Normalität Platz gemacht haben. Wie herausgeputzt im Osten die einst vorwiegend grauen Städte und Gemeinden sind und alle Anteil an den positiven Neuerungen einer globalisierten und digitalisierten Welt haben. Wunderbar, wie junge Leute weltweit studieren, praktizieren, arbeiten, heiraten. Wie sie, wenn sie clever sind und möglichst von den Eltern finanziell unterstützt werden, in der Gründerszene Start-up-Karrieren machen. Wer nicht zu den Verlierern gehört, dessen individueller Spielraum hat sich zweifellos enorm erweitert.

Doch die weitverbreitete Annahme, dass sich daher in der jüngeren Generation die innere Einheit längst vollzogen hat und Vorbehalte nur verbitterte Ältere pflegen, ist weit gefehlt. Das Bild von einer eher angepassten, unpolitischen Jugend hat sich in jüngster Zeit zum Glück generell ins Gegenteil verkehrt. Wir sind konfrontiert mit der Generation Alarm – und das ist gut so. Die ostdeutschen Jugendlichen haben sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt, bedingt durch eigene Nachwendeerfahrungen und die ihrer Eltern.

Die absolute Mehrheit ist mit der Wirtschaftsordnung und der dieser untergeordneten Demokratie unzufrieden – weit mehr als im Westen. Bei den jungen Frauen sind das sogar fast zwei Drittel. Sie beklagen ein Defizit an Mitgestaltungsmöglichkeiten, haben kein Vertrauen zu etablierten Parteien und glauben nicht daran, dass das System die Zukunftsprobleme lösen kann. Die allermeisten jetzt Enddreißiger begrüßen die Einheit. Doch über 90 Prozent haben immer noch eine Doppelidentität. Sie fühlen sich halb als einstige DDR-Bürger und halb als Bundesbürger.

Die anhaltende Fremdheit resultiert eher aus der Begegnung als aus der Trennung. Schon früh wurde mir klar: Das Grundmissverständnis zwischen West und Ost bestand darin, dass die eine Seite dachte, sie gibt ihr Letztes, während die andere meinte, man nähme ihr das Letzte. Wer in Wahrheit gegeben und genommen hatte, sollte sich bald zeigen: Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre verdoppelte sich auf über eine Million, während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg. Die Konstrukteure des wirtschaftlichen Desasters haben es laut Experten fertiggebracht, dem Staat, also den Bürgern, für die Kosten dieser Einheit zwei Billionen Euro in Rechnung zu stellen.

So viel Geld hatte niemand. Ein Großteil der Ausgaben wurde über Kredite finanziert, die noch längst nicht abgezahlt sind. Sie sind in die Staatsschuld von derzeit ebenfalls gut zwei Billionen Euro eingegangen, hängen also kommenden Generationen als unerwünschte Mitgift am Hals. Aber auch uns Heutigen, wenn dringende Zukunftsinvestitionen mit Hinweis auf die einzuhaltende schwarze Null ausbleiben. Die reiche Bundesrepublik hat die im Maastricht-Vertrag angegebene Obergrenze für zulässige Schulden in der EU noch nie eingehalten. Dass überhaupt so viel investiert werden konnte, lag nicht nur an Deutschlands Wirtschaftskraft, sondern auch daran, dass unsere Finanzexperten den Euro so konstruiert haben, dass wir die Hauptnutznießer sind, also ärmere Europäer für uns arbeiten lassen.

Was will dieses Buch?

Dies ist kein Buch über die DDR, sondern über die 30 Jahre danach. Es gilt Bilanz zu ziehen, was nicht nur der Mauerfall, sondern der Wegfall des ganzen Realsozialismus in dem angeblich unbetroffenen Westen eigentlich bewirkt hat. Wie hat sich dieses Land, in diesem Europa, auf dieser Welt, in den letzten 30 Jahren verändert? Große Frage. Zumindest auf Tendenzen und einige Details einzugehen sollte möglich sein.

Als Methode für die mit akademischer Systematik in einem Buch kaum zu bewältigende Herausforderung hat sich der Gedankenstrom angeboten. Er fließt geradewegs, gerät gelegentlich auch in Stromschnellen oder Strudel, flüchtet in Seitenarme und rudert dann, bis er wieder im Fluss ist. Er springt von lebhafter Erinnerung zu Auffrischung von fast Vergessenem, von überprüfter Legende zu offenen Fragen und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Am Ende wird sich ein persönliches Panorama zur Lage der Nation und zum Stand des Internationalen abzeichnen, das den Abgleich mit dem Bild des Lesers erhofft.

Ich habe seit dem sogenannten Mauerfall nicht die Einheit als solche, sondern die Art ihrer Verhunzung in sieben kritischen Büchern beschrieben. Das siebente war meine Bilanz zum 20. Jahrestag. In «Wehe dem Sieger» kam ich zu dem Schluss, dass der siegreiche Westen der Verlierer der Einheit ist. Weil er ohne die Systemkonkurrenz vor lauter Gier seinen Halt verloren hat. Mit diesem unerbaulichen Fazit, so hatte ich beschlossen, wollte ich mich ein für alle Mal von diesem Thema verabschieden und künftig nur noch nach vorn schauen. Ankunft im Westen. Der fremde Blick. Das Staunen, das Genießen, das Zweifeln. Die neuen Probleme, die oftmals die alten sind. Das Vertagen der Hoffnung. Das würde hinreichend Stoff bieten für andersartige Analysen. In «Wir sind der Staat» hatte ich damit begonnen.

Aber dann füllte der Osten wieder die Schlagzeilen. Nach 30 Jahren ist sein vorherrschendes Image seine in vielen Regionen, ja in der Mitte der Gesellschaft angekommene Anfälligkeit für rechtsnationales, fremdenfeindliches Denken und Handeln. Nach Ursachen wurde gefragt und von Paradigmenwechsel gesprochen. Aber halbherzig. Deshalb wollte ich es nun doch noch einmal wissen. So soll der staatliche Umgang mit Faschismus und Antifaschismus vor und nach dem Beitritt im Mittelteil des Buches stehen. Welche Folgen hatte der Wandel von verordnetem zu geächtetem Antifaschismus? Es geht um den gefährlichen Mix aus fatal rechtsblinkenden staatlichen Signalen, einer flächendeckenden Entwertung, ja Denunziation östlicher Prägungen, begleitet von einer enteignungsgleichen Streichung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, Stellen, Immobilien und Betriebe und schließlich einer Desillusionierung über die Versprechen von demokratischer Teilhabe.

Geschichtsschreibung ist die Summe der Lügen, auf die die Mehrheit sich einigt, das wusste schon Napoleon. Die Mehrheit ist hierzulande immer die westdeutsche, in dem Fall die mit einer geradezu kolonialen Deutungshoheit. Zu jeder Herrschaft gehört die Herrschaft über die Geschichte. Volker Braun: «Was wir landläufig Geschichte nennen, ist Gegenstand einer Konstruktion, die von Jetztzeit geladen ist.» In diesem Buch soll möglichst der Fehler vermieden werden, den Kanzler Kohl erst spät einräumte: Zu behaupten, alles in der DDR war falsch und alles im Westen richtig, sei «idiotisch» gewesen. Laut Duden also einfältig, völlig unsinnig, auch hochgradig schwachsinnig. Insofern wird man auch um Betrachtungen verschiedener Befunde zur DDR nicht umhinkommen, aber immer unter dem Aspekt, wie mit ihnen in den letzten 30 Jahren umgegangen wurde. Hatte es in den Zeiten der Teilung auf beiden Seiten durchaus differenzierte Betrachtungen gegeben, so fehlte es plötzlich über Nacht an der simplen Bereitschaft, denen zuzuhören, die couragiert darauf hinwiesen, was in der DDR richtig war und was in der BRD falsch. Sie wurden als Diktatur-Verharmloser, als Altlast und Nostalgiker verhöhnt. Ich weiß, wovon ich spreche.

Am Anfang war es einfach: Alle Probleme ließen sich mit sozialistischen Altlasten erklären. Das wird nach 30 Jahren immer schwieriger. Umso mehr rücken nun diese Jahre ins Visier der Erklärungssucher. Denn östliche Eigenarten bleiben. Die russische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt: «Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den ‹alten› Menschen umzumodeln, den alten Adam. Und das ist gelungen …, es ist vielleicht das Einzige, das gelungen ist. … Man erkennt uns auf Anhieb! Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern.»

Auch wenn die DDR-Bürger das Ummodeln nicht 70, sondern nur 40 Jahre erlebt haben, hat das Spuren hinterlassen. Ich bekenne mich zu diesen Spuren und sehe sie nicht als Makel an. «Es ist nie darüber gesprochen worden, was für dramatische Unterschiede es in den ost- und westdeutschen Kulturen gibt», beklagte der Pop-Star Herbert Grönemeyer unlängst.[1]

Also sprechen wir von diesem Drama. Zu dem gehört, dass ein verzerrtes Geschichtsbild schwerlich durch ausgewogene Gesamtdarstellungen zu erschüttern ist. Mit dem hundertmal Gesagten muss heute niemand mehr gelangweilt werden, das hundertmal Verschwiegene wartet auf Kenntnisnahme. Das ist besonders schwierig und wird nur bedingt gelingen. Man steht nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Zeit des geneigten Lesers vor dem Dilemma, auf die verordnete Einseitigkeit zu reagieren und damit zu einer Art Gegeneinseitigkeit genötigt zu sein. Auf einen zerbeulten Topf gehört ein zerbeulter Deckel. Ich räume diesen unvermeidlichen Mangel mit der Bitte um Nachsicht ein, wohl wissend, dass ich auf solchen Ablass nicht hoffen kann.

Ich bestehe seit nunmehr 30 Jahren darauf, dass der westliche Diskurs den fremden Blick nicht nur aushalten, sondern als Bereicherung begreifen sollte. Denn er trifft auf blinde Flecken im westlichen Bewusstsein, oder zumindest auf nicht ohne Absicht unterbelichtete. Zu denen gehört, nicht so genau hinzuschauen, was das eigene Treiben bei anderen auslöst, nicht nur im Osten, nicht nur in Osteuropa. Bei allen Schwächeren, bis hin zum Jemen. Wo unsere gottverdammten Waffen Tod und Elend bringen. Allein in diesem Jahr durften alle an diesem Krieg beteiligten Feinde des Jemen eine Milliarde Euro an unsere Rüstungslobby zahlen. Koalitionsvereinbarung? Völkerrecht? Responsibility to protect? Hat die Nato mit ihrer neuen Doktrin die UNO entmachtet, seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt? Im letzten Teil des Buches gehe ich davon aus, dass man Geringeres nicht fragen darf, will man die Konsequenzen des Mauerfalls bilanzieren. Beginnend mit der kleinen ostdeutschen Bürgerbewegung, wird am Ende nach einer weltweiten gefragt. Die Generation Alarm ist schon da.

Erfülltes und Unerfülltes

Was im Osten überdrüssig und übermütig als friedliche Revolution begonnen hatte, wurde im Westen gekontert mit dem Wechsel auf eine Zukunft, die den über die Freiheit des Konsums hinausgehenden Erwartungen oft nicht standhielt. Sieht man sich heute die programmatischen Gründungsdokumente der damaligen Bürgerbewegungen, oppositionellen Gruppen, Runden Tische, neuen Parteien und die kirchlichen Stellungnahmen an, so erhebt das Unerfüllte immer noch Anspruch. Den dringlichen Forderungen nach Reise- und Meinungsfreiheit, nach einem Ende von Bevormundung und Privilegien der Funktionäre kann man, soweit das für Habenichtse möglich ist, mit der Einheit den Status: erfüllt zubilligen.

Das ist keinesfalls geringzuschätzen. Es war aber, angesichts des Sonderrechts Ost, der fehlenden Chancengleichheit und des Beharrens auf herkömmlichen Demokratieformen im beizutretenden Gebiet nicht eben revolutionär. In den ersten Jahren sprach nicht nur der Initiator der Leipziger Montagsdemo, Pfarrer Christian Führer, davon, dass der eigentliche Teil der Revolution noch ausstehe. Inzwischen sind solche Stimmen angesichts der Realitäten verstummt oder auch verstorben, wie Bärbel Bohley oder Wolfgang Ullmann.

Als oberstes Ziel aller Entwürfe wurde immer wieder ein «solidarisches Gemeinwesen» gewünscht. Das hat zweifellos den Status: nicht erfüllt. Die Konkurrenz-Gesellschaft atomisiert die strampelnden Einzelwesen und schleudert sie mit ihrer Zentrifugalkraft in immer neue, voneinander getrennte Umlaufbahnen. Auch die damaligen Vorstellungen über den Charakter von Freiheit lassen sich heute kaum als erfüllt betrachten. Die von der Schriftstellerin Christa Wolf formulierte Präambel des Verfassungsentwurfs der Vertreter des Runden Tisches und einer Expertengruppe aus namhaften, vorwiegend westdeutschen Juristen drückte die Überzeugung aus, «dass die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichem Handeln höchste Freiheit ist».

In der Möglichkeitsform ist diese Voraussetzung gegeben. Selbstbestimmung wird allerdings ohne eine angemessene Arbeit, und damit verbundene Vergütung, schon schwierig. Und die Mittel für verantwortungsvolle Teilhabe am politischen Geschehen werden bekanntlich mehrheitlich als so mangelhaft empfunden, dass von Fassadendemokratie die Rede ist und notwendiger Selbstermächtigung. Von «höchster Freiheit» wird also kaum jemand reden wollen. Reduziert man die Forderung auf die dennoch wichtige «Vergrößerung der bisherigen Spielräume persönlicher Freiheit», so lässt sich mit Genugtuung mehrheitlich bilanzieren – Status: erfüllt.

Revolutionär wurden die damaligen Forderungen auch dadurch, dass neben Verbesserungen im eigenen Leben auch die Belange des ganzen Landes und der Menschheit (Neues Forum) bedacht wurden. Zwar wünschte man sich ein vielfältigeres Warenangebot, man sah aber auch die ökologischen Kosten und plädierte für eine «Abkehr von ungehemmtem Wachstum». Der Sozialismus dürfe «nicht verlorengehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht» (Demokratie Jetzt). Doch alle systemrelevanten Veränderungen bekamen geradezu automatisch den Status: abgelehnt.

Der Energieverbrauch sollte spürbar reduziert werden wie auch die Vergeudung natürlicher Ressourcen. Wer Umweltschäden verursacht, sollte dafür haften, also die Schäden bezahlen und ausgleichen. «Wir müssen lernen, unsere Wirtschaft und unsere Bedürfnisse dem Schutz der Umwelt unterzuordnen.» Status: bedrohlich verschlimmert.

Die Marktwirtschaft sollte mit einem «strikten Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration ökonomischer Macht» belegt werden (DDR-SPD). Die Demokratisierung sollte auch vor der Wirtschaft nicht haltmachen. Sozialismus und Demokratie sollten miteinander versöhnt werden (Demokratischer Aufbruch). Status: abgelehnt.

Entschädigte Enteignungen zugunsten des Allgemeinwohls sollten möglich sein, die Privatisierung von Gemeineigentum aber streng reglementiert werden. Der überragenden Bedeutung einer sicheren Wohnung für ein menschenwürdiges Leben war besonderes Gewicht beizumessen. Status: In der Diskussion. Artikel 32 des Verfassungsentwurfs sah vor: «Das Eigentum und die Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen Flächen, die einhundert Hektar übersteigen, ist genossenschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen und den Kirchen vorbehalten.» Über das Privateigentum hinaus ging es um die «Pluralisierung der Eigentumsformen». Wobei das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln vorherrschend sein sollte (Böhlener Plattform). «Wir wenden uns entschieden dagegen, dass politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ersetzt wird.» Status: abgelehnt. Wertsteigerungen von Boden durch Umwandlung in Bauland stehen den Kommunen zu. Status: Ansätze von Diskussion.

Gefordert wurden politische Verhältnisse, die die Bürger kontrollieren, durchschauen und verändern können. Direkte Demokratie sollte gefördert, der Einfluss von Betriebs- und Bürgerräten erhöht, Volksentscheide, bei Zugang aller zur Öffentlichkeit, ermöglicht werden. Die Akten der Geheimdienste sollten auf beiden Seiten geöffnet werden. Status: unerfüllt und abgelehnt.

Der erreichte Stand der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sollte verteidigt und verbessert werden, ebenso das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft. Status: in der Diskussion.

Es ging um drastische Senkung der Militärausgaben (Demokratischer Aufbruch), um friedliche Konfliktlösung, um das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit und das Wachstum der Konversionsindustrie. Losung: Raketenschlepper zu Straßenkränen. Status: bedrohlich verschlimmert.

Immer wieder ging es darum, «Bewährtes zu erhalten» (Bund der Evangelischen Kirchen) und neue Wege zu einer partizipatorischen Gesellschaft zu suchen. Auch die Kirche stehe vor dem Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Leben erfülle sich nicht im Besitz, «sondern in dem, was ich für andere bin». Niemand habe gegenwärtig die Lösung. Status: unverändert.

Nebenbemerkung:Was ich wollte und was nicht

Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Mit entsprechend unvereinbaren Hoffnungen bin ich in den Sog der Einheit geraten. Zumal ich mit diesem doppelten Begehr natürlich zu einer Minderheit gehörte. Sollte sich jemand jenseits dieser Minorität versehentlich bis hierher verirrt haben, so kann ich nur um die Großzügigkeit bitten, dennoch ein wenig weiterzulesen. Und zu berücksichtigen, dass 30 Jahre ins Land gegangen sind, in denen viele Gewissheiten ins Wanken gerieten. Die Versöhnung von Sozialismus und Demokratie, einst ein Hauptanliegen nicht nur von Rosa Luxemburg, erfährt gerade zumindest rhetorisch eine Renaissance. Von Südafrika bis in die USA. Unter US-Linkeren wächst ein Konsens, wonach Kapitalismus Ungleichheit produziert, der zu Oligarchien führt, die den Weg zum Faschismus bahnen könnten. Auf der Plattform commondreams.org halten zwei junge Frauen ein Transparent hoch: Demokratischer Sozialismus – Kapitalismus hat uns im Stich gelassen! Neben das S-Wort ist ein knallrotes Herz gemalt. Immer wieder wird betont, Sozialismus müsse mehr Gleichheit bringen, ohne dabei die Freiheit zu knebeln.

Es gibt Erfahrungen, die nicht einfach umsonst gewesen sein sollen. Die Möglichkeiten, vermögend zu werden oder große Erbschaften zu machen, waren in der DDR genauso begrenzt wie die, großen Luxus zu kaufen. Das war nicht nur ein Nachteil. Es erleichterte den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und sparte Zeit und Lebensenergie, die man in Freundeskreise investieren konnte. Es ersparte den Familien erbitterte gerichtliche Erbstreitigkeiten, wie ich sie heute staunend verfolge. Die Zweitrangigkeit von Geld war unser Kapital. Mit dieser Diagnose durfte ich nach der Währungsunion zunächst nicht auf allzu viel Zustimmung hoffen. Der Weg ins Paradies schien mit der D-Mark gepflastert.

Niemand konnte sich dem Geld-Fokus entziehen. Schließlich hatte jeder den berechtigten Anspruch, nun endlich das gesunde Obst zu genießen, den zeitsparenden Geschirrspüler, den gerade erst aufgekommenen Computer. Auch Autos, Immobilien, Trüffel begannen zu locken. Problematisch wurde es erst, als klarwurde, da ist nichts, was sich nicht verzollen und zur Ware machen lässt: Informationen. Algorithmen. Kampagnen. Gesundheit. Bildung. Beziehung. Liebe. Einfluss. Kunst. Krieg. Freiheit. Demokratie. Alles käuflich. Und damit toxisch.

Ich fühle mich den Alt-89ern zugehörig, vertraut mit dem Demokratischen Aufbruch, der einst gemeint war, und dem demokratischen Abbruch, der ihm folgte. Ich versuche Argumente aufzugreifen, von denen, die zu wenig gehört werden – die Ostdeutschen, die Frauen, die Friedensbewegten, die Kapitalismus-Attacierenden, die Antifa, die Geflüchteten, die Putin- und Natur-Versteher.

Gern spielte man in den letzten Jahren auf den hauptstädtischen Bühnen Becketts Endspiel. Da ließ sich gut munkeln: Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.

Besser scheitern: Vereinigungslegenden

Die Umstände der Einheit sind Schnee von gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.

Verfestigt hat sich ein wohlbeabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: «Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.»

Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für «den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus», nur 5 Prozent wollten einen «kapitalistischen Weg», 9 Prozent einen «anderen Weg».[2] Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen: «Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. … Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.» Die Einheit sei nicht «Thema der Stunde», sondern beträfe «Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können».

Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution war geboren. Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.

Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner «Rede an die Deutschen in der DDR» warnte der langjährige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus: «Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren – die Aufkäufer sind da!»

Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im «Demokratischen Aufbruch» beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht, keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.

Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht untersucht.

Bei einem Besuch am 20. November in Berlin knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus Hartung in der taz: «Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.»

Unheilbares Deutschland

Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. «Für Euer Land, für unser Land», hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere schrieben: «Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem ‹Zehn-Punkte-Plan› die ‹Wiedervereinigung› zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. … Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.»

Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu: «Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.» Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis unters Dach. Was anfangs den Euphemismus «Revolution» verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere bisher praktizierte Regierungsform. «Das könnte ein Modell für die Welt werden», schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da.

Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die «Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung». Es werde unverhohlen ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde «die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden». Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD. Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun. Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.

Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert. Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen (wo immer die herkamen) rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: «Reinigen statt einigen», «Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät». Die meist etwas Älteren mit den Fahnen skandierten daraufhin: «Rote aus der Demo raus!» Die Jungen wehrten sich mit: «Nazis raus!» Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft?

Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war. Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch destabilisiert, dass täglich etwa 2000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.

Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. «Wir sind uns darüber im Klaren», notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst «nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln».[3] Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR «die Lage nicht im Griff» habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20000 Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.

Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus

Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.

Hatte sich der «Demokratische Aufbruch» (DA) in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, «die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen», so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die «Allianz für Deutschland» zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen?

Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma. Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen, Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu machen.

Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen, damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert. Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von «durchsichtigen Bankrottgerüchten». Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war Aufmacher jeder Zeitung.

Teltschik erklärt seinem Tagebuch: «Wir hatten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert» (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem Bundesbankpräsidenten? D. D.). «Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen.»[4] Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert. Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung «Kommt die D-Mark nicht nach hier – gehen wir zu ihr!» erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde.

Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff «Zahlungsunfähigkeit» ein völliges Novum war und große Irritation auslöste. In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.

Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab – von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.

Nebenbemerkung:Treffen mit Karl Otto Pöhl

In einem vierstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte, erklärte mir drei Jahre später der inzwischen bei der Privatbank Saal-Oppenheim arbeitende Karl Otto Pöhl, warum die Währungsunion eine Katastrophe war: «Würde man über Nacht in der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar einführen, wäre die deutsche Wirtschaft sofort ruiniert. Oder wenn Österreich die D-Mark übernehmen würde – der Schilling stand 1:7 –, wäre es sofort völlig pleite. Ich habe allein die Idee für phantastisch gehalten.» Pöhl war immer noch die Verbitterung anzumerken. Ohne ihm, dem Präsidenten der Bundesbank, beim persönlichen Gespräch am Tag zuvor auch nur eine Andeutung zu machen, hätten Kohl, sein CSU-Finanzminister Waigel und der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff aus dem hohlen Bauch und unter Umgehung des Parlaments die unverzügliche Währungsunion angeboten.

Er mache sich schwere Vorwürfe, dass er nicht sofort demonstrativ zurückgetreten sei. In der Schicksalsstunde der Nation glaubte er loyal sein zu müssen, habe ihr damit aber nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch geschadet. Denn «es war doch absehbar, dass man nach Angleichung der Preise auch die Löhne angleichen muss und damit jeder Standortvorteil entfallen würde, dass das Ganze nur zu einem Zig-Milliarden-Beschäftigungsprogramm für die Westwirtschaft würde und im Osten Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden.»

Auf meine Frage, wie man eigentlich den Bankrott einer Wirtschaft messe, meinte Pöhl: «Die DDR war ja nicht extrem verschuldet, uns haben die Auslandsschulden nie beunruhigt. Und die Innenschulden waren vollkommen belanglos, die spielten überhaupt keine Rolle, waren eine rein buchhalterische Betrachtungsweise.»[*] Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Verschuldung pro Kopf, seien die Westdeutschen sogar drei Mal so verschuldet in die Einheit gegangen. Von Zahlungsunfähigkeit zu sprechen, sei eine Unverschämtheit gewesen. Die DDR sei nicht wegen ihrer Schulden gekippt, sondern weil das System moralisch diskreditiert war und Gorbatschow die Hand weggezogen habe.

Zweifellos. Und weil der Westen seine vereinnahmende Hand sofort ausgestreckt hat. Eine Mischung aus angestautem Frust über die diktatorischen Machenschaften der DDR, aus neuen Gerüchten und Desinformationen hatte bewirkt, dass die Leute die Faxen satthatten. Sie ließen Hammer und Sichel fallen, die Gärten sollten nun andere zum Blühen bringen.

Eine größere Misswirtschaft als die der Treuhand hat es nie gegeben