Wir sind der Staat! - Daniela Dahn - E-Book

Wir sind der Staat! E-Book

Daniela Dahn

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Beschreibung

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es im Grundgesetz – aber sie kehrt nie zu ihm zurück. Wie auch, sie ist ja längst in den Händen des Big Business. Kaum jemand nimmt den Politikern, die wir wählen, noch ab, dass sie Banken und Konzernen wirklich Grenzen setzen können. Immer weniger Menschen glauben an die Kraft der Demokratien, Freiheit und Wohlstand für alle zu organisieren statt für immer weniger. Der soziale Friede ist selbst in Europa längst brüchig geworden. Die Berichte und Analysen zur Lage werden von Jahr zu Jahr bitterer und radikaler. Aber wenn es darum geht, die Konsequenzen daraus zu ziehen, verstummen die Debatten schnell. Die Politik muss wieder das Primat über die Wirtschaft gewinnen – aber wie? Die Bürger, mit und ohne Wut, müssen wieder mehr selbst entscheiden – aber wie? Wer wirklich etwas ändern will, so die streitbare Schriftstellerin, muss sich zunächst einigen unbequemen, aber unvermeidlichen Einsichten stellen. Darum geht es in diesem Buch: Daniela Dahn deckt tiefgreifende Blockaden auf, die den Staat daran hindern, die Dauerkrise zu lösen und sich in Freiheit weiterzuentwickeln – in ein Gemeinwesen, dessen Gesetze das Wohl aller in den Vordergrund stellen und nicht das Privateigentum, in dem die Allmacht der Parteien beendet wird. Einen Staat, der nicht mehr herrscht, wo er dienen sollte, und in dem die Bürger ihre wichtigen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Und sie macht konkrete Vorschläge, wie wir dahin gelangen können – in Deutschland, Europa und, wer weiß, darüber hinaus.

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Daniela Dahn

Wir sind der Staat!

Warum Volk sein nicht genügt

Inhaltsverzeichnis

1 . Der Staat als Herrschaftsinstrument

Haben wir die Freiheit, die wir verdienen?

2 . Wer herrscht?

Vom Phantom der Volkssouveränität

3 . Worüber wird geherrscht?

Der Staat sichert die Eigentumsordnung

4 . Wie wird geherrscht?

Die Bereicherungsmaschine der unsichtbaren Clans

5 . Über die Selbstermächtigung der Bürger

Alle Macht den Räten – Occupy the law

6 . Wer Souverän sein will, muss souverän sein

Eigentum und Recht und Freiheit: eine Lektion Volkshochschule

7 . Wer souverän ist, überschreitet Grenzen

Schritt für Schritt in eine unverfälschte Demokratie

8 . Warum Staat sein?

Von der Freiheit zur Umkehr

1.DER STAAT ALS HERRSCHAFTSINSTRUMENT

Haben wir die Freiheit, die wir verdienen?

Man muß, wenn von Freiheit gesprochen wird, immer wohl achtgeben, ob es nicht eigentlich Privatinteressen sind, von denen gesprochen wird.

G.W.F.Hegel

In der Gesellschaft sind alle gleich. Es kann keine Gesellschaft anders als auf den Begriff der Gleichheit gegründet sein, keineswegs auf den Begriff der Freiheit. Die Gleichheit will ich in der Gesellschaft finden; die Freiheit, nämlich die sittliche, daß ich mich subordinieren mag, bringe ich mit.

Johann Wolfgang Goethe

Die einst geforderte Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat genügt nicht mehr – heute geht es um die Pflicht des Staates zum Gehorsam gegen den Bürger. Warum? Durch Weigerung ist Macht nicht zu bekehren, die Konflikte haben Dimensionen angenommen, die nur noch durch Selbstermächtigung zu lösen sind.

Die Regierenden regieren nicht mehr. Die Repräsentanten repräsentieren nicht mehr. Wenn’s heikel wird, vollziehen die Vollziehenden nicht mehr. Den Gewinnern gehört das Casino. Die Wutbürger erproben ihre Macht nicht. Die einzige Begrenzung der Macht wäre die Gesetzgebung. Von der sind sie ausgeschlossen. Sie haben keine andere Wahl, als Leute zu wählen, die nicht die Absicht haben, ihre Versprechen einzuhalten. Die größte Partei ist die der Nichtwähler. Diese aber gelten nicht als das, was sie sind: Nein-Stimmen. Ihr Verweigern wird geflissentlich überhört, sie haben keine Sanktionsmöglichkeit.

Obwohl drei Viertel der Wähler es fordern, sind bundesweite Volksentscheide bisher nicht vorgesehen. Doch selbst wenn dies eines Tages durchgesetzt wird, müssen Bürger, die ja für eine Politik bürgen sollen, mehr dürfen als Fragen beantworten. Mit welchem Recht verweigert die Politik dem angeblichen Souverän, seinen Bürgerrechten Gesetzeskraft zu geben? In einer von Politikverdrossenheit gekennzeichneten Zeit leisten sich Regierungen und Gerichte die obrigkeitsstaatliche Auffassung, eine von den Bürgern initiierte Veränderung der Verfassung sei nicht erwünscht. Das heißt, der Staat verzichtet dankend auf Bekundungen der Bevölkerung, in welchem Sinne sie regiert werden will. Sie sollen sich mit dem Parteienkarussell, in dem wechselnde Eliten um dieselbe Macht kämpfen, begnügen. Die Wähler dürfen Abgeordneten zu Karrieren und Diäten verhelfen, sollen sie dann aber nicht weiter belästigen.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Die Teilung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative soll Missbrauch verhindern. Doch die Parlamente haben Macht an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben, alle haben Macht an die Profitwirtschaft abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er guckt in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals?

Im Jahr 2000 erhob der damalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Rolf Breuer, (nach den Medien als vierte) die Finanzwirtschaft zur fünften Gewalt. Sie sei eine wirkungsvollere Kontrollinstanz des Staates als die Wähler, da sie die berechtigten Interessen der in- und ausländischen Investoren besser gewährleisten könne. «Wenn die Politik im 21.Jahrhundert in diesem Sinne im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht.» So schlecht nicht für die Aktionäre. Sieben Jahre später schleppten die Banken die sich selbst ans Tau gehängt habende Politik in die Krise – ganz schlecht.

«Der jetzige Staat zerfällt in zwei Staaten, den der Armen und den der Reichen, die sich mit unversöhnlichem Hass verfolgen.» Wer hat es so schonungslos auf den Punkt gebracht? Occupy oder die Piratenpartei? Ein Sprecher des arabischen Frühlings oder Attac auf einem der Weltsozialforen? Der als wichtigster Intellektuelle der Welt gehandelte Anarchist Noam Chomsky oder gar der Milliardär Warren Buffett? Der in seinem berühmten Interview in der New York Times von 2006 zugab: «Es herrscht Klassenkampf, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.»

Es war Platon, in seinem Dialog-Buch «Politeia», 370 vor Christus, der den Hass im Staat beklagte.

Und er war nicht einmal der Erste. Seit 2500Jahren, seit der Verfassungsdebatte von Herodot, reiben sich die Menschen auf im Streit um die Frage, welche Herrschaftsform der Gerechtigkeit am nächsten kommt. Ist der Staat Zweck oder der Mensch in ihm? «Die sicherste Art, den Krieg der Armen gegen die Reichen zu verhindern wäre, sie an der Gesetzgebung teilnehmen zu lassen.» Was für den streitbaren Publizisten Ludwig Börne 1820 plausibel war, ist heute noch genauso einleuchtend. Aber das Plausible ist nicht das Praktizierte.

Zweifellos haben die technischen Revolutionen die Maßstäbe dafür, was Wohlstand, was Armut ist, in den Industrienationen verschoben. Und dennoch spitzen sich gerade hier die Missstände zu: Die USA haben ein Maß an Ungleichheit erreicht, das nur mit Afrika vergleichbar ist, sagt der Soziologe Colin Crouch (SZ vom 26.10.2012). Aus Spanien ist zu hören, dass auch dort inzwischen Menschen hungern. In Deutschland können sieben Millionen Beschäftigte von ihrer Vollzeit-Arbeit nicht leben. In Europa soll die Kluft zwischen Arm und Reich derzeit ähnlich groß sein wie vor der Französischen Revolution. Der beste Beweis dafür, dass all diese Betroffenen nicht den geringsten Anteil an der Gesetzgebung haben können. Man staunt über die Annahme, die Gedemütigten würden dies ewig so hinnehmen.

Weiter draußen in der Welt dulden, ja verschulden wir Satten den Einsatz der Massenvernichtungswaffe Hunger, der alle fünf Sekunden ein Kind zum Opfer fällt. Es ist ein Indiz unserer Verrohung, dass wir diese Hölle auf Erden hinnehmen, als sei sie unvermeidbar. Wo ist der Film, der uns diese Kinder im Sekundentakt vorführt? Von extremer Armut sind laut Weltbank 1,2Milliarden (1200000000) Menschen gezeichnet. Bei all dem Massentourismus ist es unausweichlich, über sie zu stolpern. Die indischen Bettelkinder hängen einem so verzweifelt am Rocksaum, dass man Sorge hat, sie reißen einem die Kleider vom Leib.

Doch weltweit werden die Millenniumsziele der UNO zur Bekämpfung der Armut unter Leitung der Industrienationen nicht nur verfehlt, sondern ins Gegenteil verkehrt. Gerade das, was alle verurteilen, geschieht seit Jahrhunderten immer aufs Neue. Die Kritik daran ist wirkungslos. Weil Kritik gegen verrechtlichte Privilegien nicht ankommt. Wenn Vernunft auf ein Interesse stößt, ist es immer wieder die Vernunft, die sich blamiert. Interessen an sich sind zwar nicht unvernünftig. Aber dominante Interessen von Minderheiten sind so schädlich wie alle Dominanz. Zu den dominanten Interessen gehört, den Menschen durch Brot und Spiele das Denken in Zusammenhängen abzugewöhnen. Wo ist die demokratische Plattform, auf der reicher Mann und armer Mann dastehen und sich ansehen können? Wo sagt der eine einsichtsbleich: «Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.»

Stattdessen werden Neiddebatten provoziert. Sie sollen genau diesen Gedankengang verhindern: Es geht vielen Leuten nur deshalb recht gut, weil es noch mehr Leute gibt, denen es recht schlecht geht. Ebendeshalb ist die Kommunikation zwischen oben und unten nicht zufällig gestört. Das Erleben von sozialem Abstieg, oder der Angst davor, gehört zum alltäglichen Unglück vieler Menschen, Massen inzwischen, ohne dass dieser Leidensdruck angemessen zur Kenntnis genommen wird. Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa erreicht demnächst arabische Dimensionen. Wie sollen diese Heranwachsenden die Erfahrung sozialer Achtung machen oder auch nur sich selbst achten, wenn sie jeden Tag aufs Neue bestätigt bekommen, dass niemand sie braucht? Junge Leute, die nicht einmal dafür taugen, ausgebeutet zu werden!

An den Universitäten finden sich Kinder finanzkräftiger Eltern in der Mehrheit. Und unter den Managern in Spitzenpositionen sind Abkömmlinge des gehobenen Bürgertums ebenfalls deutlich überrepräsentiert. Den Abgedrängten bleiben Aggression und Krankheit als normale Reaktion, Scham und Demut, gar Schuldgefühle als kranke. Jene haben die zugesprochene Nichtigkeit verinnerlicht, über die wahren Ursachen ihrer Lage hat sie niemand aufgeklärt. Schon gar nicht all die privat finanzierten Verblödungsprogramme des Fernsehens, die durch Zerstreuung nicht entschädigen, sondern schädigen. Wer nie die Chance hatte, seine Würde zu spüren, ist so unterwürfig, wie nur Untertanen es sein können. Und sein müssen, um Gesetze wie Hartz IV, um Leiharbeit und rentenunwirksame Schwarzarbeit ohne Protest hinzunehmen. Um an die Unabänderlichkeit ihres Schicksals zu glauben. Das wirkmächtigste Verbot aller Systeme, auch des westlichen, ist das Denkverbot. O nein, ein ungeschriebenes Gesetz ist das nicht – es steht geschrieben in jeder Zeile, jedem O-Ton der Mainstream-Avantgarde: Denke systemimmanent, jedes andere Denken ist undenkbar. Es ist des Teufels, denn die Verführung zu eigenen Fragen endet bekanntlich mit der Vertreibung aus dem Paradies. Wer schweigt, der bleibt.

Und weil das so ist, bleibt die soziale Frage so alt wie ungelöst. Also stellt sie sich immer wieder aufs Neue. In Krisenschüben wird sie zu einer akuten Frage. Zurzeit ist sie im wahrsten Wortsinn brandaktuell. Es brennt im arabischen Raum, es brennt in Europa, es zündelt überall. Heute sind acht von zehn Deutschen davon überzeugt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich die Demokratie gefährdet.

Diese Kluft steigert sich von einem deutschen Armuts- und Reichtumsbericht zum nächsten ins nicht mehr als steigerungsfähig Geglaubte. Die absolute Mehrheit der Menschen besitzt nur ein Prozent aller Vermögenswerte. Vor zehn Jahren, vor der Krise also, besaß sie wenigstens noch fast fünf Prozent. Schon damals räumte die Regierung zerknirscht ein, dass sie sich von der «Existenz von Armut, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung in einem wohlhabenden Land» herausgefordert fühle. Erlegen sind die Regierenden wechselnder Parteien allerdings einer ganz anderen Herausforderung: den einträglichen Offerten der großen Konzerne und Banken: Ihr bekommt Spenden, Privilegien und Posten gegen Gesetze, die uns nützlich sind.

Wie anders als durch Gesetzesfreiräume hätte sich das Privatvermögen in Deutschland in den letzten zehn kriselnden Jahren verdoppeln können – auf nunmehr zehn Billionen Euro. Würden sich die Inhaber diese Summe auszahlen lassen, ließe sich daraus, die Euroscheine aufeinandergeklebt, für deren Besitzer eine Treppe bis zum Mond bauen – und von dessen Rückseite wieder zurück. Auch das noch. Das One-Way-Ticket gilt nur für den Sturzflug ins Prekariat. Denn die Kluft zwischen Reich und Arm ist auch der Graben zwischen chancenreich und chancenlos. Sie ist die Schlucht zwischen gebildet und «bildungsfern», wie es heute politisch korrekt heißt.

«Wir sind das Volk» – das war die emanzipatorische Formel im Umbruchsjahr 1989, zufällig genau 200Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte durch die französische Nationalversammlung. Für einige Wochen hatten die vielen hunderttausend Aktiven erstmalig das Gefühl, Subjekt der Geschichte zu sein. Das Mandat der Politik war an die Runden Tische verlegt worden… Die repräsentative Demokratie hat dieses Möbel, mitsamt den daraufgeschriebenen Erneuerungsvorhaben, so schnell wie unbesehen entsorgt. Ihr das zu untersagen lag jenseits aller Vorstellungskraft der Agierenden. Die parlamentarische Demokratie galt als das goldene Vlies, das heilsgleiche Unterpfand der angestrebten Freiheit. Fast ein Vierteljahrhundert später ist klar: Dass wir das Volk sind, war schwer zu bestreiten. Es ist uns gern zugebilligt worden. Wir waren volksam. Unser Eigentum haben wir widerstandslos preisgegeben. Entsprechend wenig haben wir zu sagen. Wir mischen uns kaum ein, wohl wissend: Unsere Abgeordneten sind nicht darauf angewiesen, uns zuzuhören. Sie lauschen angestrengt auf die vom Echolot im Parteiapparat aufgefangenen Schallsignale. Wer aus der Tiefe der Hierarchie Karriere machen will, war immer schon gut beraten, die Einflüsterungen zum Gehorsam nicht zu überhören.

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat für den Fall, dass eigenes Wissen und Gewissen gegen dessen Maßnahmen sprechen, hat Henry David Thoreau vor 160Jahren trefflich, doch einsam, geschrieben. Er war der Erste, der einem Krieg und Sklaverei legitimierendem Staat Steuern verweigert hat. Viel später erst hat sein Leser Mahatma Gandhi der Theorie und Praxis des gewaltfreien Widerstandes zu weltweiter Nachahmung verholfen. Ziviler Ungehorsam war und ist wichtig, aber wie sich zeigt, nicht hinreichend. Wenn es hart auf hart kommt, ist er zu harmlos, erreicht nicht das Zentrum der Macht.

Zivile Übernahme heißt hingegen: Unvollkommene Demokratien beginnen, vollkommene Demokraten auszuwerfen. Diese sind unduldsamer, selbstbewusster, informierter, fordernder, unversöhnlicher als früher. Sie verlangen nicht mehr und nicht weniger, als ihre Verfassungen ihnen zubilligen – echte Teilhabe an der Macht. Sie verlangen die freiheitlich demokratische Grundordnung, die ihr Staat ihnen nicht mehr garantiert.

Ausgegangen ist alle Macht vom Volk und nie zurückgekehrt. Auch bei den Abgeordneten hat sie nur einen Zwischenstopp gemacht, 80Prozent von ihnen fühlen sich inzwischen selbst ohnmächtig. Die parlamentarische Macht hat Ausgang. Nicht selten werden Gesetze in privaten Anwaltskanzleien entworfen, deren Großkunden gleichzeitig Banken sind. Die lassen dann praktischerweise durchblicken, welche Gesetze genehm wären. Und falls sie dennoch nicht ganz genehm ausfallen, ist die Beratung inklusive, wie diese Großkunden die Gesetze umgehen können. Die Banken finanzieren die Schulden des Staates, deren Höhe ein Maß für Abhängigkeit ist. Zwei Billionen Euro – darf’s noch etwas mehr an Hörigkeit sein? Der Staat ist fremdbestimmt.

Hegel unterstellte: «Der Geist eines Volkes spricht sich im Staat aus.» Haben wir den Staat, den wir verdienen? Wenn ja, ist uns nicht zu helfen. Wenn nicht, wird es Zeit, die Sache in die Hand zu nehmen. Die Kampfansage gilt der allgegenwärtigen Oligarchie, also der Herrschaft von wenigen, die ihr enormes Vermögen legal in demokratisch nicht legitimierte Macht umwandeln können. Sie gilt dem Staat, der seine Herrschaft gerade dadurch ausübt, dass er sie aus der Hand gibt und sich vom Profitdenken der Privatwirtschaft instrumentalisieren lässt. Sie gilt dem politischen System, das mangels eigener Durchsetzungskraft, mangels eigener Wirksamkeit, letztlich mangels eigener Existenz, auch den Kapitalismus in die Nichtexistenz führen wird. Nicht der Kapitalismus ist am Ende, sondern die repräsentative Demokratie, die sich einmal mehr als unfähig erweist, die kreativen Potenzen dieses Wirtschaftssystems zu erhalten, indem sie seine zerstörerischen Potenziale unterdrückt.

Die Aufgabe scheint gewaltig und besteht doch nur darin, die Verfassung mit Leben zu erfüllen – alle Staatsgewalt hat vom Volke auszugehen. Das heißt, der Staat soll ein Herrschaftsinstrument des Volkes sein. Wie anders wäre dies zu bewältigen: Die Bürger müssen ihren Staat in Besitz nehmen. Auch, um die Demokratie auf die Wirtschaft auszudehnen. Wenn es zum europäischen oder sonst einem Frühling kommt, dann sollten die progressiven Gruppen nicht im Winterschlaf verharren. Was für ein Knospenknallen, sollten sie organisatorisch und programmatisch besser vorbereitet sein als die neoliberalen oder nationalen Fundamentalisten. Die linkeren Bürger, mit ihrer zwanghaften Lust an der kleinsten Differenz, sollten nicht so zerstritten sein, dass sie sich nicht, wie jetzt im arabischen Herbst, auf ein Programm, auf die dazu passenden Kandidaten, einigen können.

Ich erhebe nicht den Anspruch zu wissen, was richtig ist. Ich habe Informationen eingeholt, Erfahrungen zugelassen, Zweifel verinnerlicht und aus all dem weitgehend tabuisierte Schlüsse gezogen. Ich mache Vorschläge. Ich habe also viel Mühe gehabt, meinen nächsten Irrtum vorzubereiten… Wenn es gelänge, den Zweifel zu säen, hier und da aufgehen zu lassen, damit den unumkehrbar scheinenden Trott zu stören, wäre schon ein wenig gewonnen.

In ihrem Werbeslogan hat eine Drogeriekette, vermutlich unfreiwillig, den hohlen Sinn des Daseins im Kapitalismus zynisch auf den Punkt gebracht: Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein. Wir Bürger sollen unsere Freiheit gefälligst als Konsumenten ausleben. Das funktioniert ja leider auch recht gut. Eine faustische Steigerung wäre das nicht risikolose, aber dafür ehrenhaftere: Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein.

Dem wäre entgegenzuhalten, dass alles Elend der Welt durch Eingreifen gekommen ist. Ja, ließe sich widersprechen, alles fortschreitende Elend und aller elende Fortschritt.

2.WER HERRSCHT?

Vom Phantom der Volkssouveränität

Macht kann nicht sein, wo keine Ohnmacht ist.

Erich Mühsam

Die Gerechtigkeit bringt reine Ordnung, aber man möchte uns gar zu gern jede dumme Ordnung für Gerechtigkeit verkaufen.

Johann Gottfried Seume

Niemand liebt den Staat. Mit Ausnahme der Staatsbeamten. Vielleicht nicht mal sie. Wozu also überhaupt Staat? Immer wieder erblühten Utopien, ja Programme, die ihn abschaffen wollten oder sein Absterben voraussagten – wenn es eines Tages harmonische Gemeinschaften gäbe. Doch es ist dabei geblieben, dass die Anschauungen und Interessen der Menschen verschieden sind, oft gegensätzlich. Ohne Recht würden sich immer die Stärkeren durchsetzen. Deshalb bestreitet wohl niemand, dass Gerechtigkeit nur über Gesetze herzustellen ist. Und dass dafür eine Instanz erforderlich ist, die sie erlässt und durchsetzt. Die Praxis hat Kant nicht widerlegt: Recht fordert den Staat als Institution seiner Gewährleistung. Die Idee war, dass der Staat als Herrschaftsordnung eben deshalb erträglich wird, weil er zugleich Freiheitsordnung ist. Eine Freiheit, in der die mögliche Selbstbestimmung gerade aus der Akzeptanz der rechtlichen Begrenzung erwächst.

Doch der Staat als Friedensstifter ist auch eine schöne Utopie geblieben. Immer neigen die Funktionäre und Diener des Staatsapparates dazu, die Souveränität an sich zu reißen und mit dieser Machtfülle die Reichen und Einflussreichen nicht ohne Eigennutz zu bevorzugen. Adressat der Freiheit ist dann nicht der einzelne Bürger, sondern das einzelne System der Herrschaft. Eine so verstandene Freiheit ist Freiheit zur Unterdrückung. Kein Staat ist vor solcher Tendenz gefeit. Hegels Ideal vom sittlichen Staat scheitert immer wieder an der unkontrollierten Machtfülle einer Minderheit, für die Sittlichkeit nur um den Preis der Einbuße ihrer Privilegien zu erlangen wäre. Ihre Privilegien aber sind das Ende von Freiheit und Gerechtigkeit. Sittlich ist ein Staat nur, wenn tatsächlich alle Macht vom Volke ausgeht. Wenn die Bürger spürbar an der politischen Willensbildung und an staatlichen Entscheidungen teilhaben und mit ihren Abgeordneten in einem ständigen Austausch stehen, der sich in der Politik auch niederschlägt.

Wenn die normative Ordnungsidee des Staates die Gesetzestreue sein soll, dann müssen diese Gesetze eine hohe Akzeptanz haben. Die Teilnahme der Bürger an der gesetzgebenden Gewalt gilt im Staatsrecht als unverzichtbares Merkmal des Gesetzes. Inzwischen hat man aber den Eindruck, dass selbst die Teilnahme der Abgeordneten an der gesetzgebenden Gewalt zum verzichtbaren Merkmal geworden ist. Falls sie überhaupt zur Abstimmung anwesend sind, überblicken die meisten den Sachverhalt nicht und sind auf die Einflüsterung von Lobby-Gruppen angewiesen. Wenn, wie Forsa ermittelt hat, über 80Prozent der Wähler der Meinung sind, die Parlamentarier seien mit den Maßnahmen gegen die Krise und vielem anderen überfordert, woher sollen dann Vertrauen und Loyalität zum Staat kommen? Wenn in der Massendemokratie die paar Volksvertreter als Repräsentanten des ganzen Volkes nicht mehr anerkannt werden, ist dann nicht etwas faul im Selbstverständnis des Staates?

Um das Wesen des Staates besser zu verstehen, müssen wir wenigstens kurz den Scheinwerfer der Geschichte auf ihn richten. Es gibt amüsantere Themen, aber am Rand des Weges entschädigen überraschende Funde mit eigenem Unterhaltungswert. Jean-Jacques Rousseau mahnte einmal zu Beginn des Dritten Buches seines «Gesellschaftsvertrages»: «Ich mache den Leser darauf aufmerksam, dass dies Kapitel bedächtig zu lesen ist. Ich besitze nicht die Kunst, für jemand klar zu sein, der nicht aufmerksam sein will.» Falls einige bislang geneigte Leser also keine Aufmerksamkeit für den kuriosen Grundpfeiler des Staatsrechts aufzubringen gedenken, rücken sie, unter eigenverantwortetem Verzicht auf historische Zusammenhänge, gleich auf Seite 32 vor.

Das Staatsrecht ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder modifiziert worden und steht in manchen Anschauungen doch auch erstaunlich still. Ein solches Relikt ist nach Ansicht einiger Juristen die Doktrin vom Staat als juristische Person. Sie wurde 1837 formuliert, von Wilhelm Eduard Albrecht, einem der Göttinger Sieben. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts war sie zur zentralen Prämisse deutscher und später auch internationaler Staatsrechtslehre geworden. Bis heute staunen und spotten Juristen darüber, wie es deutschen Professoren ohne alle Beihilfe gelungen ist, den Staat zu einer Rechtsfiktion zu machen. Denn das ist eine juristische Person – sie ist rechts-, aber nicht handlungsfähig. Weshalb sie Organe braucht und für diese handelnde, natürliche Personen. Diese natürlichen oder eben normalen Menschen verfügen, juristisch völlig unabhängig, über das Staatsvermögen – das Vermögen einer nicht handlungsfähigen Fiktion, unfähig auch zum Widerspruch. Das macht die Staatsdiener ziemlich mächtig. Zumal die machtbegrenzenden Gesetze praktischerweise von einem ihrer Organe kommen, von der Legislative.

Volkssouveränität bedeutete ursprünglich, so der Rechtshistoriker Uwe Wesel (Fast alles, was Recht ist, S.58), «dass der Monarch diese höchste Gewalt nicht als Gnade von Gott, sondern als Auftrag vom Volk erhalten habe, durch einen Herrschaftsvertrag, der einst zwischen beiden geschlossen worden sein soll». Volkssouveränität war von Anfang an eine staatserhaltende Fiktion. Im Vormärz war es aber durchaus ein Fortschritt, den Monarchen an die Bestimmungen einer Verfassung zu binden, also die juristische Abstraktion des Staates von der Person des Fürsten zu trennen. Mit seiner Zauberformel gelang es Albrecht, dem Monarchen die Souveränität zu entziehen, ohne sie dem Volk zu geben, und stattdessen